C. M. Wielands
Werke.Vierzehnter Band.
Leipzig.G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.1855.
Buchdruckerei der J. G. Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart und Augsburg.
Inhalt
des zweiten Theils.Seite
Viertes Buch.
Der Proceß um des Esels Schatten.Erstes Kap.
Veranlassung des Processes und Facti Species . . . . . .3
Zweites Kap.Verhandlung vor dem Stadtrichter Philippides7
Drittes Kap.Wie die Parteien sich höhern Orts um
Unterstützung bewerben . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Viertes Kap. Gerichtliche Verhandlung. Relation des
Beisitzers Miltias. Urthel, und was daraus erfolgt . . .19
Fünftes Kap. Gesinnungen des Senats. Tugend der schönen
Gorgo und ihre Wirkungen. Der Priester Strobylus tritt
auf, und die Sache wird ernsthafter . . . . . . . . . . 26
Sechstes Kap. Verhältniß des Latonentempels zum Tempel
des Jason. Contrast in den Charakteren des Oberpriesters
Strobylus und des Erzpriesters Agathyrsus. Strobylus
erklärt sich für die Gegenpartei des letztern, und wird
von Salabanda unterstützt, welche eine wichtige Rolle
in der Sache zu spielen anfängt . . . . . . . . . . . . 29
Siebentes Kap. Ganz Abdera theilt sich in zwei Parteien.
Die Sache kommt vor Rath . . . . . . . . . . . . . . . .37
Achtes Kap. Gute Ordnung in der Kanzlei von Abdera.
Seite Präjudicialfälle, die nichts ausmachen. Das Volk
will das Rathhaus stürmen, und wird von Agathyrsus
besänftigt. Der Senat beschließt, die Sache dem großen
Rath zu überlassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .43
Neuntes Kap. Politik beider Parteien. Der Erzpriester
verfolgt seinen erhaltenen Vortheil. Die Schatten ziehen
sich zurück.Der entscheidende Tag wird festgesetzt . . 53
Zehntes Kap. Was für eine Mine der Priester Strobylus
gegen seinen Collegen springen läßt. Zusammenberufung
der Zehnmänner. Der Erzpriester wird vorgeladen, findet
aber Mittel, sich sehr zu seinem Vortheil aus der
Sache zu ziehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
Eilftes Kap. Agathyrsus beruft seine Anhänger zusammen.
Substanz seiner Rede an sie. Er ladet sie zu einem großen
Opferfest ein. Der Archon Onolaus will sein Amt
niederlegen. Unruhe der Partei des Erzpriesters über
dieses Vorhaben. Durch was für eine List sie solches
vereiteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .74
Zwölftes Kap. Der Entscheidungstag. Maßregeln beider
Parteien. Die Vierhundert versammeln sich, und das Gericht
nimmt seinen Anfang. Philantropisch-patriotische Träume
des Herausgebers dieser merkwürdigen Geschichte . . . . 83
Dreizehntes Kap. Rede des Sykophanten Physignatus . . . 90
Vierzehntes Kap. Antwort des Sykophanten Polyphonus . . 102
Fünfzehntes Kap. Bewegungen, welche die Rede des Polyphonus
Seite verursachte. Nachtrag des Sykophanten Physignatus.
Verlegenheit der Richter . . . . . . . . . . . . . . . .108
Sechzehntes Kap. Unvermuthete Entwickelung der ganzen
Komödie und Wiederherstellung der Ruhe in Abdera . . . .113
Fünftes Buch. Die Frösche der Latona.Erstes Kap.
Erste Quelle des Uebels, welches endlich den Untergang
der Abderitischen Republik nach sich zog. Politik
des Erzpriesters Agathyrsus. Er läßt einen eignen öffentlichen
Froschgraben anlegen. Nähere und entferntere Folgen
dieses neuen Instituts . . . . . . . . . . . . . . . . .119
Zweites Kap. Charakter des Philosophen Korax. Nachrichten
von der Akademie der Wissenschaften zu Abdera. Korax
wirft in derselben eine verfängliche Frage in Betreff
der Latonenfrösche,und sich selbst zum Haupt der Gegenfröschler
auf. Betragen der Latonenpriester gegen diese Secte,
und wie sie bewogen wurden, selbige für unschädlich
anzusehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .127
Drittes Kap. Ein unglücklicher Zufall nöthigt den Senat von
der unmäßigen Froschmenge in Abdera Notiz zu nehmen.
Unvorsichtigkeit des Rathsherrn Meidias. Die Majora beschließen
ein Gutachten der Akademie einzuholen. Der
Nomophylax Hypsiboas protestirt gegen diesen Schluß,
und eilt den Oberpriester Stilbon dagegen in Bewegung
zu setzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Viertes Kap. Charakter und Lebensart des Oberpriesters Stilbon.
Seite
Verhandlung zwischen den Latonenpriestern und den Rathsherren
von der Minorität. Stilbon sieht die Sache aus
einem eignen Gesichtspunkt an, und geht dem Archon selbst
Vorstellungen zu machen. Merkwürdige Unterredung zwischen
den Zurückgebliebenen . . . . . . . . . . . . . . . . .141
Fünftes Kap. Was zwischen dem Oberpriester und dem Archon
vorgefallen — eines der lehrreichsten Kapitel in dieser
ganzen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Sechstes Kap. Was der Oberpriester Stilbon that, als er wieder
nach Hause gekommen war . . . . . . . 159
Siebentes Kap. Auszüge aus dem Gutachten der Akademie.
Ein Wort über die Absichten, welche Korax dabei gehabt,
mit einer Apologie, woran Stilbon und Korax gleich viel
Antheil nehmen können . . . . . . . . . . 167
Achtes Kap. Das Gutachten wird bei Rath verlesen, und nach
verschiednen heftigen Debatten einhellig beschlossen,daß es
den Latonenpriestern communicirt werden sollte . . 182
Neuntes Kap. Der Oberpriester Stilbon schreibt ein sehr dickes
Buch gegen die Akademie. Es wird von niemand gelesen:
im übrigen aber bleibt vor der Hand alles beim Alten187
Zehntes Kap. Seltsame Entwickelung dieses ganzen
tragikomischen Possenspiels . . . . . . . . . . . . 192
Der Schlüssel zur Abderitengeschichte . . . . . . . 201
Geschichte der Abderiten.
Zweiter Theil.Viertes Buch.
Der Proceß um des Esels Schatten.
Erstes Kapitel.
Veranlassung des Processes und Facti Species.
Kaum hatten sich die guten Abderiten von dem wunderbaren
Theaterfieber, womit sie des ehrlichen, arglosen Euripides
Götter- und Menschenherrscher Amor heimgesucht hatte,
wieder ein wenig erholt; kaum sprachen die Bürger wieder
in Prosa mit einander auf den Straßen, kaum verkauften die
Droguisten wieder ihre Niesewurz, schmiedeten die Waffenschmiede
wieder ihre Rappiere und Transchirmesser, machten
sich die Abderitinnen wieder keusch und emsig an ihr Purpurgewebe,
und warfen die Abderiten ihr leidiges Haberrohr
weg, um ihren verschiednen Berufsarbeiten wieder mit ihrem
gewöhnlichen guten Verstande obzuliegen: als die Schicksalsgöttinnen
ganz insgeheim, aus dem schalsten, dünnsten, unhaltbarsten
Stoffe, der jemals von Göttern oder Menschen
versponnen worden ist, ein so verworrenes Gespinnst von
Abenteuern, Händeln, Verbitterungen, Verhetzungen, Cabalen,
Parteien und anderm Unrath heraus zogen, daß endlich ganz
Abdera davon umwickelt wurde, und, da das heillose Zeug
durch die unbesonnene Hitze der Helfer und Helfershelfer nun
gar in Flammen gerieth, diese berühmte Republik darüber
beinahe, und vielleicht gänzlich, zu Grunde gegangen wäre,
wofern sie nach des Schicksals Schluß durch eine geringere
Ursache als — Frösche und Ratten hätten vertilgt werden
können.Die Sache fing sich (wie alle großen Weltbegebenheiten)
mit einer sehr geringfügigen Veranlassung an. Ein gewisser
Zahnarzt, Namens Struthion, von Geburt und Voreltern
aus Megara gebürtig, hatte sich schon seit vielen Jahren in
Abdera häuslich niedergelassen; und weil er vielleicht im ganzen
Lande der einzige von seiner Profession war, so erstreckte sich
seine Kundschaft über einen ansehnlichen Theil des mittäglichen
Thracien. Seine gewöhnliche Weise, denselben in
Contribution zu sehen, war, daß er die Jahrmärkte aller
kleinen Städte und Flecken auf mehr als dreißig Meilen in
der Runde bereiste, wo er, neben seinem Zahnpulver und
seinen Zahntincturen, gelegentlich auch verschiedene Arcana
wider Milz- und Mutterbeschwerungen, Engbrüstigkeit, böse
Flüsse u. s. w. mit ziemlichem Vortheil absetzte. Er hatte zu
diesem Ende eine wohlbeleibte Eselin im Stalle, welche bei
solchen Gelegenheiten zugleich mit seiner eignen kurz-dicken
Person, und mit einem großen Quersack voll Arzneien und
Lebensmittel beladen wurde.Nun begab sich's einsmals, da er den Jahrmarkt zu
Gerania besuchen sollte, daß seine Eselin Abends zuvor ein
Füllen geworfen hatte, folglich nicht im Stande war, die
Reise mitzumachen. Struthion miethete sich also einen andern
Esel, bis zu dem Orte, wo er sein erstes Nachtlager nehmen
wollte, und der Eigenthümer begleitete ihn zu Fuße, um
das haftbare Thier zu besorgen und wieder nach Hause zu
reiten. Der Weg ging über eine große Haide. Es war mitten
im Sommer und die Hitze des Tages sehr groß. Der Zahnarzt,
dem sie unerträglich zu werden anfing, sah sich lechzend
nach einem schattigen Platz um, wo er einen Augenblick absteigen
und etwas frische Luft schöpfen könnte. Aber da war
weit und breit weder Baum noch Staude, noch irgend ein
andrer schattengebender Gegenstand zu sehen. Endlich, als
er seinem Leibe keinen Rath wußte, machte er Halt, stieg ab,
und setzte sich in den Schatten des Esels.Nu, Herr, was macht ihr da, sagte der Eseltreiber,
was soll das?Ich setze mich ein wenig in den Schatten, versetzte
Struthion, denn die Sonne prallt mir ganz unleidlich auf
den Schädel.Nä, mein guter Herr, erwiederte der andre, so haben
wir nicht gehandelt! Ich vermiethete euch den Esel, aber des
Schattens wurde mit keinem Worte dabei gedacht.Ihr spaßt, guter Freund, sagte der Zahnarzt lachend;
der Schatten geht mit dem Esel, das versteht sich.Ei, beim Jason! das versteht sich nicht, rief der Eselmann
ganz trotzig; ein andres ist der Esel, ein andres ist
des Esels Schatten. Ihr habt mir den Esel um so und so
viel abgemiethet. Hättet ihr den Schatten auch dazu miethen
wollen, so hättet ihr's sagen müssen. Mit Einem Wort,
Herr, steht auf und setzt eure Reise fort, oder bezahlt mir
für des Esels Schatten was billig ist.Was? schrie der Zahnarzt, ich habe für den Esel bezahlt,
und soll jetzt auch noch für seinen Schatten bezahlen? Nennt
mich selbst einen dreifachen Esel wenn ich das thue! Der
Esel ist einmal für diesen ganzen Tag mein, und ich will mich
in seinen Schatten setzen so oft mir's beliebt, und darin sitzen
bleiben so lange mir's beliebt, darauf könnt ihr euch verlassen!Ist das im Ernst eure Meinung? fragte der andre mit
der ganzen Kaltblütigkeit eines Abderitischen Eseltreibers.In ganzem Ernste, versetzte Struthion.So komme der Herr nur gleich stehenden Fußes wieder
zurück nach Abdera vor die Obrigkeit, sagte jener, da wollen
wir sehen wer von uns beiden Recht behalten wird. So wahr
Priapus mir und meinem Esel gnädig sey, ich will sehen, wer
mir den Schatten meines Esels wider meinen Willen abtrotzen
soll!Der Zahnarzt hatte große Lust, den Eseltreiber durch die
Stärke seines Arms zur Gebühr zu weisen. Schon ballte er
seine Faust zusammen, schon hob sich sein kurzer Arm; aber
als er seinen Mann genauer ins Auge faßte, fand er für
besser den erhobnen Arm allmählich wieder sinken zu lassen,
und es noch einmal mit gelindern Vorstellungen zu versuchen.
Aber er verlor seinen Athem dabei. Der ungeschlachte Mensch
bestand darauf, daß er für den Schatten seines Esels bezahlt
seyn wollte; und da Struthion eben so hartnäckig dabei blieb
nicht bezahlen zu wollen, so war kein andrer Weg übrig,
als nach Abdera zurückzukehren, und die Sache bei dem
Stadtrichter anhängig zu machen.Zweites Kapitel.Verhandlung vor dem Stadtrichter Philippides.Der Stadtrichter Philippides, vor welchen alle Händel
dieser Art in erster Instanz gebracht werden mußten, war ein
Mann von vielen guten Eigenschaften; ein ehrbarer, nüchterner,
seinem Amte fleißig vorstehender Mann, der jedermann
mit großer Geduld anhörte, den Leuten freundlichen
Bescheid gab, und in allgemeinem Rufe stand, daß er unbestechlich
sey. Ueberdieß war er ein guter Musikus, sammelte
Naturalien, hatte einige Schauspiele gemacht, die, nach Gewohnheit
der Stadt, sehr wohl gefallen hatten, und war beinahe
gewiß, beim ersten Erledigungsfalle Nomophylax zu
werden.Bei allen diesen Verdiensten hatte der gute Philippides
nur einen einzigen kleinen Fehler, und der war: daß, so oft
zwei Parteien vor ihn kamen, ihm allemal derjenige Recht
zu haben schien, der zuletzt gesprochen hatte. Die Abderiten
waren so dumm nicht daß sie das nicht gemerkt hätten: aber
sie glaubten, einem Manne, der so viele gute Eigenschaften
besitze, könne man ja wohl einen einzigen Fehler zu gut halten.
Ja, sagten sie, wenn Philippides diesen Fehler nicht hätte,
er wäre der beste Stadtrichter den Abdera jemals gesehen
hat!Indessen hatte doch der Umstand, daß dem ehrlichen
Manne immer beide Parteien Recht zu haben schienen, natürlicherweise
die gute Folge, daß ihm nichts angelegner war,
als die Händel, die vor ihn gebracht wurden, in Güte auszumachen;
und so würde die Blödigkeit des guten Philippides
ein wahrer Segen für Abdera gewesen seyn, wenn die Wachsamkeit
der Sykophanten, denen mit seiner Friedfertigkeit
übel gedient war, nicht Mittel gefunden hätte, ihre Wirkung
fast in allen Fällen zu vereiteln.Der Zahnarzt Struthion und der Eseltreiber Anthrax
kamen also wie brennend vor diesen würdigen Stadtrichter
gelaufen, und brachten beide zugleich mit großem Geschrei ihre
Klage vor. Er hörte sie mit seiner gewöhnlichen Langmuth
an; und, da sie endlich fertig oder des Schreiens müde
waren, zuckte er die Achseln, und der Handel däuchte ihm
einer der verworrensten von allen die ihm jemals vorgekommen.
Wer von euch beiden ist denn eigentlich der Kläger?
fragte er.Ich klage gegen den Eselmann, antwortete Struthion,
daß er unsern Contract gebrochen hat.
Und ich, sagte dieser, klage gegen den Zahnarzt, daß er
sich unentgeltlich einer Sache angemaßt hat die ich ihm
nicht vermiethet hatte.Da haben wir zwei Kläger, sagte der Stadtrichter, und
wo ist der Beklagte? Ein wunderlicher Handel! Erzählt mir
die Sache noch einmal mit allen Umständen — aber einer nach
dem andern — denn es ist unmöglich klug daraus zu werden,
wenn beide zugleich schreien.Hochgeachteter Herr Startrichter, sagte der Zahnarzt,
ich habe ihm den Gebrauch des Esels auf einen Tag abgemiethet.
Es ist wahr, des Esels Schatten wurde dabei nicht
erwähnt. Aber wer hat auch jemals gehört, daß bei einer
solchen Miethe eine Clausel wegen des Schattens wäre eingeschaltet
worden? Es ist ja, beim Hercules! nicht der erste
Esel, der zu Abdera vermiethet wird.Da hat der Herr Recht, sagte der Richter.Der Esel und sein Schatten gehen miteinander (fuhr
Struthion fort) und warum sollte der, der den Esel selbst
gemiethet hat, nicht auch den Nießbrauch seines Schattens
haben?Der Schatten ist ein Accessorium, das ist klar, versetzte
der Stadtrichter.Gestrenger Herr, schrie der Eseltreiber, ich bin nur ein
gemeiner Mann, und verstehe nichts von euren Arien und
Orien. Aber das geben mir meine vier Sinne, daß ich nicht
schuldig bin meinen Esel umsonst in der Sonne stehen zu
lassen, damit sich ein andrer in seinen Schatten setze. Ich
habe dem Herrn den Esel vermiethet, und er hat mir die
Hälfte voraus bezahlt; das gesteh' ich. Aber ein andres ist
der Esel, ein andres ist sein Schatten.Auch wahr, murmelte der Stadtrichter.Will er diesen haben, so mag er halb so viel dafür bezahlen
als für den Esel selbst; denn ich verlange nichts als
was billig ist, und ich bitte mir zu meinem Rechte zu verhelfen.Das Beste, was ihr hierbei thun könnt, sagte Philippides,
ist, euch in Güte mit einander abzufinden. Ihr, ehrlicher
Mann, laßt immerhin des Esels Schatten, weil es doch nur
ein Schatten ist, mit in die Miethe gehen; und ihr, Herr
Struthion, gebt ihm eine halbe Drachme dafür: so können
beide Theile zufrieden seyn.Ich gebe nicht den vierten Theil von einem Blaffert,
schrie der Zahnarzt, ich verlange mein Recht!Und ich, schrie sein Gegenpart, besieh' auf dem meinigen.
Wenn der Esel mein ist, so ist der Schatten auch mein, und
ich kann damit als mit meinem Eigenthum schalten und
walten; und weil der Mann da nichts von Recht und Billigkeit
hören will, so verlang' ich jetzt das Doppelte, und ich
will doch sehen ob noch Justiz in Abdera ist!Der Richter war in großer Verlegenheit. Wo ist denn
der Esel? fragte er endlich, da ihm in der Angst nichts andres
einfallen wollte, um etwas Zeit zu gewinnen."Der steht unten auf der Gasse vor der Thüre, gestrenger
Herr!"Führt ihn in den Hof herein, sagte Philippides.Der Eigenthümer des Esels gehorchte mit Freuden; denn
er hielt es für ein gutes Zeichen, daß der Richter die Hauptperson
im Spiele sehen wollte. Der Esel wurde herbeigeführt.
Schade, daß er seine Meinung nicht auch zu der Sache sagen
konnte! Aber er stand ganz gelassen da, schaute mit gereckten
Ohren erst den beiden Herren, dann seinem Meister ins Gesicht,
verzog das Maul, ließ die Ohren wieder sinken, und sagte
kein Wort.Da seht nun selbst, gnädiger Herr Stadtrichter, rief
Anthrax, ob der Schatten eines so schönen, stattlichen Esels
nicht seine zwei Drachmen unter Brüdern werth ist, zumal
an einem so heißen Tage wie der heutige?Der Stadtrichter versuchte die Güte noch einmal, und
die Parteien fingen schon an es allmählich näher zu geben:
als unglücklicherweise Physignatus und Polyphonus, zwei von
den namhaftesten Sykophanten in Abdera, dazu kamen, und,
nachdem sie gehört wovon die Rede war, der Sache auf einmal
eine andere Wendung gaben.Herr Struthion hat das Recht völlig auf seiner Seite,
sagte Physignatus, der den Zahnarzt für einen wohlhabenden
und dabei sehr hitzigen und eigensinnigen Mann kannte. Der
andre Sykophant, wiewohl ein wenig verdrießlich, daß ihm sein
Handwerksgenosse so eilfertig zuvorgekommen war, warf einen
Seitenblick auf den Esel, der ihm ein hübsches wohlgenährtes
Thier zu seyn schien, und erklärte sich sogleich mit dem größten
Nachdruck für den Eseltreiber. Beide Parteien wollten nun
kein Wort mehr vom Vergleichen hören, und der ehrliche
Philippides sah sich genöthigt, einen Rechtstag anzusetzen.
Sie begaben sich hierauf jeder mit seinem Sykophanten nach
Hause; der Esel aber mit seinem Schatten, als dem Object
des Rechtshandels, wurde bis zu Austrag der Sache in den
Marstall gemeiner Stadt Abdera abgeführt.—————
Drittes Kapitel.Wie die Parteien sich höhern Orts um Unterstützung bewerben.Nach dem Stadtrechte der Abderiten wurden alle über
Mein und Dein unter den gemeinen Bürgern entstandnen
Händel vor einem Gerichte von zwanzig Ehrenmännern abgethan,
welche sich wöchentlich dreimal in der Vorhalle des
Tempels der Nemesis versammelten. Alles wurde, aus billiger
Rücksicht auf die Nahrung der Sykophanten, schriftlich vor
diesem Gerichte verhandelt; und weil der Gang der Abderitischen
Justiz eine Art von Schneckenlinie beschrieb, und sich
auch mit der Geschwindigkeit der Schnecke fortbewegte; zumal
die Sykophanten nicht eher zum Beschließen verbunden waren,
bis sie nichts mehr zu sagen hatten: so währte das Libelliren
gemeiniglich so lange, als es die Mittel der Parteien wahrscheinlicher
Weise aushalten konnten. Allein dießmal kamen
so viele besondere Ursachen zusammen der Sache einen schnellern
Schwung zu geben, daß man sich nicht darüber zu verwundern
hat, wenn der Proceß über des Esels Schatten binnen weniger
als vier Monaten schon so weit gediehen war, daß nun am
nächsten Gerichtstage das Endurtheil erfolgen sollte.Ein Rechtshandel über eines Esels Schatten würde sonder
Zweifel in jeder Stadt der Welt Aufsehen machen. Man denke
also, was er in Abdera thun mußte!Kaum war das Gerücht davon erschollen, als von Stund'
an alle andern Gegenstände der gesellschaftlichen Unterhaltung
fielen, und jedermann mit eben so viel Theilnehmung von
diesem Handel sprach, als ob er ein Großes dabei zu gewinnen
oder zu verlieren hätte. Die einen erklärten sich für den
Zahnarzt, die andern für den Eseltreiber. Ja, sogar der
Esel selbst hatte seine Freunde, welche dafür hielten, daß derselbe
ganz wohl berechtigt wäre, interveniendo einzukommen,
da er durch die Zumuthung, den Zahnarzt in seinem Schatten
sitzen zu lassen und unterdessen in der brennenden Sonnenhitze
zu stehen, offenbar am meisten prägravirt worden sey. Mit
Einem Worte, der besagte Esel hatte seinen Schatten auf
ganz Abdera geworfen, und die Sache wurde mit einer Lebhaftigkeit,
einem Eifer, einem Interesse getrieben, die kaum
größer hätten seyn können, wenn das Heil gemeiner Stadt
und Republik auf dem Spiele gestanden hätte.Wiewohl nun diese Verfahrungsweise überhaupt niemanden,
der die Abderiten aus der vorgehenden wahrhaften Geschichtsdarstellung
kennen gelernt hat, befremden wird, so
glauben wir doch solchen Lesern, welche eine Geschichte nur alsdann
recht zu wissen glauben, wenn ihnen das Spiel der Räder
und Triebfedern mit dem ganzen Zusammenhange der Ursachen
und Folgen einer Begebenheit aufgeschlossen wird, keinen unangenehmen
Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen etwas umständlicher
erzählen, wie es zugegangen, daß dieser Handel —
der in seinem Ursprunge nur zwischen Leuten von geringer
Erheblichkeit und über einen äußerst unerheblichen Gegenstand
vorwaltete — wichtig genug werden konnte, um zuletzt die
ganze Republik in seinen Strudel hineinzuziehen.Die sämmtliche Bürgerschaft von Abdera war (wie von
jeher die meisten Städte in der Welt) in Zünfte abgetheilt,
und vermöge einer alten Observanz gehörte der Zahnarzt
Struthion in die Schusterzunft. Der Grund davon war,
wie die Gründe der Abderiten immer zu seyn pflegten, mächtig
spitzfindig. In den ersten Zeiten der Republik hatte nämlich
diese Zunft bloß die Schuster und Schuhflicker in sich begriffen.
Nachmals wurden alle Arten von Flickern mit dazu genommen;
und so kam es, daß in der Folge auch die Wundärzte, als
Menschenflicker, und zuletzt (ob paritatem rationis) auch die
Zahnärzte zur Schustergilde geschlagen wurden. Struthion
hatte demnach (bloß die Aerzte ausgenommen, mit denen er
immer stark über den Fuß gespannt war) die ganze löbliche
Schusterzunft, und besonders alle Schuhflicker auf seiner Seite,
die (wie man sich noch erinnern wird) einen sehr ansehnlichen
Theil der Bürgerschaft von Abdera ausmachten. Natürlicher
Weise wandte sich also der Zahnarzt vor allen andern sogleich
an seinen Vorgesetzten, den Zunftmeister Pfriem; und dieser
Mann, dessen patriotischer Eifer für die Freiheiten der Republik
niemanden unbekannt ist, erklärte sich sogleich mit seiner
gewöhnlichen Hitze: daß er sich eher mit seiner eigenen
Schusterahle erstechen, als geschehen lassen wollte, daß die
Rechte und Freiheiten von Abdera in der Person eines seiner
Zunftverwandten so gröblich verletzt würden."Billigkeit, sagte er, ist das höchste Recht. Was kann
aber billiger seyn, als daß derjenige, der einen Baum gepflanzt
hat, wiewohl es dabei eigentlich auf die Früchte angesehen
war, nebenher auch den Schatten des Baums genieße? Und
warum soll das, was von einem Baume gilt, nicht eben
sowohl von einem Esel gelten? Wo, zum Henker, soll
es mit unsrer Freiheit hinkommen, wenn einem künftigen
Bürger von Abdera nicht einmal frei stehen soll, sich in den
Schatten eines Esels zu setzen? Gleich als ob ein Eselsschatten
vornehmer wäre als der Schatten des Rathhauses
oder Jasontempels, in den sich stellen, setzen und legen mag
wer da will. Schatten ist Schatten, er komme von einem
Baum oder von einer Ehrensäule, von einem Esel oder von
Sr. Gnaden dem Archon selbst! Kurz und gut, setzte Meister
Pfriem hinzu, verlaßt euch auf mich, Herr Struthion; der
Grobian soll euch nicht nur den Schatten, sondern zu eurer
gebührenden Saxfation den Esel noch obendrein lassen, oder
es müßte weder Freiheit noch Eigenthum mehr in Abdera
seyn; und dahin soll's, beim Element! nicht kommen, so
lang' ich der Zunftmeister Pfriem heiße!"Während daß der Zahnarzt sich der Gunst eines so wichtigen
Mannes versichert hatte, ließ es der Eseltreiber Anthrax
seines Orts auch nicht fehlen, sich um einen Beschützer zu bewerben,
der jenem wenigstens das Gleichgewicht halten könnte.
Anthrax war eigentlich kein Bürger von Abdera, sondern nur
ein Freigelassener, der sich in dem Bezirke des Jasontempels
aufhielt; und er stand als ein Schutzverwandter desselben unter
der unmittelbaren Gerichtsbarkeit des Erzpriesters dieses bekanntermaßen
zu Abdera göttlich verehrten Heros. Natürlicherweise
war also sein erster Gedanke, wie er dazu gelangen
könnte, daß der Erzpriester Agathyrsus sich seiner mit Nachdruck
annehmen möchte. Allein der Erzpriester Jasons war
zu Abdera eine sehr große Person, und ein Eseltreiber konnte
schwerlich hoffen, ohne einen besondern Canal den Zutritt zu
einem Herrn von diesem Range zu erhalten.Nach vielen Berathschlagungen mit seinen vertrautesten
Freunden wurde endlich folgender Weg beliebt. Seine Frau,
Krobyle genannt, war mit einer Putzmacherin bekannt, deren
Bruder der begünstigte Liebhaber des Kammermädchens einer
gewissen Milesischen Tänzerin war, welche (wie die Rede ging)
bei dem Erzpriester in großen Gnaden stand. Nicht als ob
er etwa — wie es zu gehen pflegt — — sonderlich weil die
Priester des Jason unverheirathet seyn mußten — Kurz, wie
die Welt argwöhnisch ist, man sprach freilich allerlei; aber
das Wahre von der Sache ist: der Erzpriester Agathyrsus
war ein großer Liebhaber von pantomimischen Solotänzen;
und weil er die Tänzerin, um kein Aergerniß zu geben, nicht
bei Tage zu sich kommen lassen wollte, so blieb ihm nichts
andres übrig, als sie — mit der erforderlichen Vorsicht — bei
Nacht durch eine kleine Gartenthür in sein Cabinet führen
zu lassen. Da nun einst gewisse Leute eine dicht verschleierte
Person in der Morgendämmerung wieder herausgehen gesehen
hatten, so war das Gemurmel entstanden, als ob es die
Tänzerin gewesen sey, und als ob der Erzpriester eine besondere
Freundschaft auf diese Person geworfen habe, welche in der
That fähig gewesen wäre, in jedem andern als einem Erzpriester
noch etwas mehr zu erregen. — Wie nun dem auch
seyn mochte, genug, der Eseltreiber sprach mit seiner Frau,
Frau Krobyle mit der Putzmacherin, die Putzmacherin mit
ihrem Bruder, der Bruder mit dem Kammermädchen; und,
weil das Kammermädchen alles über die Tänzerin vermochte,
von welcher vorausgesetzt wurde daß sie alles über den Erzpriester
vermöge, der alles über die Magnaten von Abdera
und — ihre Weiber vermochte, so zweifelte Anthrax keinen
Augenblick, seine Sache in die besten Hände von der Welt
gelegt zu haben.Aber unglücklicher Weise zeigte sich's, daß die Favoritin
der Tänzerin ein Gelübde gethan hatte, ihre Allvermögenheit
eben so wenig unentgeltlich auszuleihen, als Anthrax den
Schatten seines Esels. Sie hatte eine Art von Taxordnung,
vermöge deren der geringste Dienst, den man von ihr verlangte,
wenigstens eine Erkenntlichkeit von vier Drachmen
voraussetzte; und im gegenwärtigen Falle war ihr um so weniger
zuzumuthen, auch nur eine halbe Drachme nachzulassen,
da sie ihrer Schamhaftigkeit eine so große Gewalt anthun
sollte, eine Sache zu empfehlen, worin ein Esel die Hauptfigur
war. Kurz, die Iris bestand auf vier Drachmen, welches
gerade doppelt so viel war, als der arme Mann im
glücklichsten Falle mit seinem Proceß zu gewinnen hatte. Er
sah sich also wieder in der vorigen Verlegenheit. Denn wie
konnte ein schlechter Eseltreiber hoffen, ohne eine haltbarere
Stütze als die bloße Gerechtigkeit seiner Sache gegen einen
Gegner zu bestehen, der von einer ganzen Zunft unterstützt
wurde, und sich überall rühmte daß er den Sieg bereits in
Händen habe?Endlich besann sich der ehrliche Anthrax eines Mittels,
wie er vielleicht den Erzpriester ohne Dazwischenkunft der
Tänzerin und ihres Kammermädchens auf seine Seite bringen
könnte. Das Beste daran däuchte ihm, daß er es nicht weit
zu suchen brauchte. Ohne Umschweife — er hatte eine Tochter,
Gorgo genannt, die, in Hoffnung auf eine oder andre
Weise beim Theater unterzukommen, ganz leidlich singen und
die Cither spielen gelernt hatte. Das Mädchen war eben
keine von den schönsten. Aber eine schlanke Figur, ein Paar
schwarze große Augen, und die frische Blume der Jugend
ersetzten (seinen Gedanken nach) reichlich was ihrem Gesicht
abging; und in der That, wenn sie sich tüchtig gewaschen hatte,
sah sie in ihrem Festtagsstaat, mit ihren langen pechschwarzen
Haarzöpfen und mit einem Blumenstrauß vor dem Busen,
so ziemlich dem wilden Thracischen Mädchen Anakreons ähnlich.
Da sich nun bei näherer Erkundigung fand, daß der
Erzpriester Agathyrsus auch ein Liebhaber vom Citherspielen
und von kleinen Liedern war, deren die junge Gorgo eine
große Menge nicht übel zu singen wußte: so machten sich
Anthrax und Krobyle große Hoffnung, durch das Talent und
die Figur ihrer Tochter am kürzesten zu ihrem Zwecke zu
kommen.Anthrax wandte sich also an den Kammerdiener des Erzpriesters,
und Krobyle unterrichtete inzwischen das Mädchen,
wie sie sich zu betragen hätte, um wo möglich die Tänzerin
auszustechen, und von der kleinen Gartenthür ausschließlich
Meister zu bleiben.Die Sache ging nach Wunsch. Der Kammerdiener, der
durch die Neigung seines Herrn zum Neuen und Mannichfaltigen
nicht selten ins Gedränge kam, ergriff diese gute Gelegenheit
mit beiden Händen; und die junge Gorgo spielte ihre
Rolle für eine Anfängerin meisterlich. Agathyrsus fand eine
gewisse Mischung von Unschuld und Muthwillen und eine Art
wilder Grazie bei ihr, die ihn reizte weil sie ihm neu war.
Kurz, sie hatte kaum zwei- oder dreimal in seinem Cabinette
gesungen, so erfuhr Anthrax schon von sichrer Hand, Agathyrsus
habe seine gerechte Sache verschiedenen Richtern empfohlen,
und sich mit einigem Nachdruck verlauten lassen: wie
er nicht gesonnen sey, auch den allergeringsten Schutzverwandten
des Jasontempels den Chicanen des Sykophanten Physignatus
und der Parteilichkeit des Zunftmeisters Pfriem Preis zu geben.—————
Viertes Kapitel.Gerichtliche Verhandlung. Relation des Beisitzers Miltias. Urthel, und
was daraus erfolgt.Inzwischen war der Gerichtstag herbeigekommen, an dem
dieser seltsame Handel durch Urthel und Recht entschieden
werden sollte. Die Sykophanten hatten in Sachen geschlossen,
und die Acten waren einem Referenten, Namens Miltias,
übergeben worden, gegen dessen Unparteilichkeit die Mißgönner
des Zahnarztes verschiednes einzuwenden hatten. Denn es
war nicht zu läugnen, daß er mit dem Sykophanten Physignatus
sehr vertraut umging; und überdieß wurde ganz laut
davon gesprochen, daß die Dame Struthion, die für eine von
den hübschen Weibern in ihrer Classe galt, ihm die gerechte
Sache ihres Mannes zu verschiedenen Malen in eigner Person
empfohlen habe. Allein da diese Einwendungen auf keinem
rechtsbeständigen Grunde beruhten, und der Turnus nun einmal
an diesem Miltias war, so blieb es bei der Ordnung.Miltias trug die Geschichte des Streits so unbefangen,
und beides, sowohl Zweifels-als Entscheidungsgründe, so ausführlich
vor, daß die Zuhörer lange nicht merkten wo er eigentlich
hinaus wolle. Er läugnete nicht, daß beide Parteien vieles
für und wider sich hätten. Auf der einen Seite scheine
nichts klärer, sagte er, als daß derjenige, der den Esel, als
das Principale gemiethet, auch das Accessorium, des Esels
Schatten, stillschweigend mit einbedungen habe; oder (falls
man auch keinen solchen stillschweigenden Vertrag zugeben
wollte), daß der Schatten seinem Körper von selbst folge, und
also demjenigen, der die Nutznießung des Esels an sich gebracht,
auch der beliebige Gebrauch seines Schattens ohne
weitere Beschwerde zustehe; um so mehr, als dem Esel selbst
dadurch an seinem Seyn und Wesen nicht das mindeste benommen
werde. Hingegen scheine auf der andern Seite nicht
weniger einleuchtend: daß, wiewohl der Schatten weder als
ein wesentlicher noch außerwesentlicher Theil des Esels anzusehen
sey, folglich von dem Abmiether des letztern keineswegs
vermuthet werden könne, daß er jenen zugleich mit diesem
stillschweigend habe miethen wollen, gleichwohl, da besagter
Schatten schlechterdings nicht für sich selbst ohne besagten
Esel bestehen könne, und ein Eselsschatten im Grunde nichts
anders als ein Schattenesel sey, der Eigenthümer des leibhaften
Esels mit gutem Fug auch als Eigenthümer des von
jenem ausgehenden Schattenesels betrachtet, folglich keineswegs
angehalten werden könne, letztern unentgeltlich an den
Abmiether des erstern zu überlassen. Ueberdieß, und wenn
man auch zugeben wollte, daß der Schatten ein Accessorium
des mehr eröfterten Esels sey, so könne doch dem Abmiether
dadurch noch kein Recht an denselben zuwachsen; indem er
durch den Miethcontract nicht jeden Gebrauch desselben, sondern
nur denjenigen, ohne welchen die Absicht des Contracts,
nämlich seine vorhabende Reise, unmöglich erzielt werden
könne, an sich gebracht habe. Allein, da sich unter den Gesetzen
der Stadt Abdera keines finde, worin der vorliegende
Fall klar und deutlich enthalten sey, und das Urtheil also
lediglich aus der Natur der Sache gezogen werden müsse: so
komme es hauptsächlich auf einen Punkt an, der von den
beiderseitigen Sykophanten aus der Acht gelassen, oder wenigstens
nur obenhin berührt worden, nämlich auf die Frage:
ob dasjenige, was man Schatten nenne, unter die gemeinen
Dinge, an welche jedermann gleiches Recht hat, oder unter
die eigenthümlichen, zu welchen einzelne Personen ein ausschließendes
Recht haben oder erwerben können, zu zählen sey?
Da nun, in Ermangelung eines positiven Gesetzes, die Uebereinstimmung
und allgemeine Gewohnheit des menschlichen Geschlechts,
als ein wahres Orakel der Natur selbst, billig die
Kraft eines positiven Gesetzes habe; vermöge dieser allgemeinen
Gewohnheit aber die Schatten der Dinge (auch derjenigen,
die nicht nur einzelnen Personen, sondern ganzen Gemeinheiten,
ja den unsterblichen Göttern selbst eigenthümlich zugehören)
bisher aller Orten einem jeden, wer er auch sey, frei
ungehindert und unentgeltlich zur Benutzung überlassen worden:
so erhelle daraus, daß, ex Consensu et Consuetudine Generis
Humani, besagte Schatten, eben so wie freie Luft, Wind
und Wetter, fließendes Wasser, Tag und Nacht, Mondschein,
Dämmerung, und dergleichen mehr, unter die gemeinen Dinge
zu rechnen seyen, deren Genuß jedem offen stehe, und auf
welche — insofern etwa besagter Genuß, unter gewissen Umständen,
etwas Ausschliessendes bei sich führe — der erste, der
sich ihrer bemächtige, ein momentanes Besitzrecht erhalten
habe. — Diesen Satz (zu dessen Bestätigung der scharfsinnige
Miltias eine Menge Inductionen vorbrachte, die wir unsern
Lesern erlassen wollen)— diesen Satz zum Grunde gelegt,
könne er also nicht anders als dahin stimmen: das der Schatten
aller Esel in Thracien, folglich auch derjenige, der zu vorliegendem
Rechtshandel unmittelbaren Anlaß gegeben, eben
so wenig einen Theil des Eigenthums einer einzelnen Person
ausmachen könne, als der Schatten des Berges Athos oder
des Stadtthurms von Abdera; folglich mehrbesagter Schatten
weder geerbt, noch gekauft, noch inter vivos oder mortis causa
geschenkt, noch vermiethet, noch auf irgend eine andre Art
zum Gegenstand eines bürgerlichen Contracts gemacht werden
könne; und daß also aus diesen und andern angeführten Gründen,
in Sachen des Eseltreibers Anthrax, Klägers, an einem,
entgegen und wider den Zahnarzt Struthion, Beklagten, am
andern Theil, pcto. des von Beklagten zu Klägers angeblicher
Gefährde und Schaden angemaßten Eselschattens (salvis tamen
melioribus) zu Recht zu erkennen sey: daß Beklagter sich des
besagten Schattens zu seinem Gebrauch und Nutzen zu bedienen
wohl befugt gewesen; Kläger aber, Einwendens ungeachtet,
nicht nur mit seiner unbefugten Forderung abzuweisen,
sondern auch in alle Kosten, wie nicht weniger zum Ersatz
alles dem Beklagten verursachten Verlusts und Schadens, nach
vorgängiger gerichtlicher Ermäßigung, zu verurtheilen sey.V. R. W. Wir überlassen es dem geneigten und rechtserfahrnen
Leser, über dieses (zwar nur auszugsweise) mitgetheilte
Gutachten des scharfsinnigen Miltias nach Belieben seine
Betrachtungen anzustellen. Und da wir in dieser Sache uns
keines Urtheils anzumaßen, sondern bloß die Stelle eines
unparteiischen Geschichtschreibers zu vertreten entschlossen sind:
so begnügen wir uns zu berichten, daß es seit undenklichen
Zeiten Observanz bei dem Stadtgerichte zu Abdera war, das
gutachtliche Urtheil des Referenten, wie es auch beschaffen
seyn mochte, jedesmal entweder einhellig, oder doch mit einer
großen Mehrheit der Stimmen zu bestätigen. Wenigstens
hatte man seit mehr als hundert Jahren kein Beispiel vom
Gegentheil gesehen. Es konnte auch, nach Gestalt der Sachen,
nicht wohl anders seyn. Denn während der Relation, welche
gemeiniglich sehr lange dauerte, pflegten die Herren Beisitzer
eher alles andre zu thun, als auf die Rationes dubitandi et
decidendi des Referenten Acht zu geben. Die meisten standen
auf, guckten zum Fenster hinaus, oder gingen weg, um in
einem Nebenzimmer Kuchen oder kleine Bratwürste zu frühstücken,
oder machten einen fliegenden Besuch bei einer guten
Freundin; und die wenigen, welche sitzen blieben und einigen
Theil an der Sache zu nehmen schienen, hatten alle Augenblicke
etwas mit ihrem Nachbar zu flüstern, oder schliefen wohl
gar über dem Zuhören ein. Kurz, es waltete eine Art von
stillschweigendem Compromiß auf den Referenten vor, und es
geschah bloß um der Form willen, daß einige Minuten, eh' er
zur wirklichen Conclusion kam, sich jedermann wieder auf seinem
Platz einfand, um mit gehöriger Feierlichkeit das abgefaßte
Urthel bekräftigen zu helfen.So war es bisher immer, auch bei ziemlich wichtigen
Händeln, gehalten worden. Allein dem Proceß über des Esels
Schatten widerfuhr die unerhörte Ehre, daß das ganze Gericht
beisammenblieb, und (drei bis vier Beisitzer ausgenommen,
welche dem Zahnarzt ihre Stimme schon versprochen hatten,
und ihr Recht, in der Session zu schlafen, nicht vergeben wollten)
jedermann mit aller Aufmerksamkeit zuhörte, die eines
so wundervollen Processes würdig war; und als die Stimmen
gesammelt wurden, fand sich, daß das Urthel nur mit einem
Mehr von zwölf gegen acht bekräftiget wurde.Sogleich nach geschehener Publication ermangelte Polyphonus,
der klägerische Sykophant, nicht, seine Stimme zu
erheben, und gegen das Urthel, als ungerecht, parteiisch und
mit unheilbaren Nullitäten behaftet, an den großen Rath von
Abdera zu appelliren. Da nun der Proceß über eine Sache
geführt wurde, die der Kläger selbst nicht höher als zwei
Drachmen geschätzt hatte, und dieses (auch mit Einschluß aller
billig mäßigen Kosten und Schäden) noch lange nicht Summa
appellabilis war, so erhob sich hierüber ein großer Lärm im
Gerichte. Die Minorität erklärte sich, daß es hier gar nicht
auf die Summe, sondern auf eine allgemeine Rechtsfrage ankomme,
die das Eigenthum betreffe und noch durch kein Gesetz
in Abdera bestimmt sey, folglich, vermöge der Natur der Sache,
vor den Gesetzgeber selbst gebracht werden müsse, als welchem
allein es zukomme, in zweifelhaften Fällen dieser Art den
Ausspruch zu thun.Wie es zugegangen, daß der Referent, bei aller seiner
Zuneigung zur Sache des Beklagten, nicht daran gedacht, daß
die Gönner des Gegentheils sich dieses Vorwandes bedienen
würden die Sache vor den großen Rath zu spielen — davon
wissen wir keinen andern Grund anzugeben, als daß er ein
Abderit war, und, nach der allgemeinen althergebrachten Gewohnheit
seiner Landsleute, jedes Ding nur von Einer Seite,
und auch da nur ziemlich obenhin, anzusehen pflegte. Doch
kann vielleicht noch zu seiner Entschuldigung dienen, daß er
einen Theil der letzten Nacht bei einem großen Gastmahle zugebracht,
und, als er nach Hause gekommen, der Dame Struthion
noch eine ziemlich lange Audienz hatte geben müssen, und also
vermuthlich — nicht ausgeschlafen hatte. Genug, nach langem
Streiten und Lärmen erklärte sich endlich der Stadtrichter
Philippides: daß er, bewandten Umständen nach, nicht umhin
könne, die Frage, ob die von Klägern eingewandte Appellation
stattfinde? vor den Senat zu bringen. Hiermit stand er auf;
das Gericht ging ziemlich tumultuarisch auseinander; und
beide parteien eilten, sich mit ihren Freunden, Gönnern und
Sykophanten zu berathen, was nun weiter in der Sache
anzufangen sey.—————
Fünftes Kapitel.Gesinnungen des Senats. Tugend der schönen Gorgo und ihre Wirkungen.
Der Priester Strobylus tritt auf, und die Sache wird
ernsthafter.Der Proceß über des Esels Schatten, der anfangs die
Abderiten bloß durch seine Ungereimtheit belustigt hatte, fing
nun an eine Sache zu werden, in welche die Gerechtsamen,
die vermeinte Ehre, und allerlei Leidenschaften und Interessen
verschiedner zum Theil ansehnlicher Glieder der Republik
verwickelt wurden.Der Zunftmeister Pfriem hatte seinen Kopf darauf gesetzt,
daß sein Zunftangehöriger gewinnen müßte; und da er
sich meistens alle Abende in den Versammlungsorten der gemeinen
Bürger einfand, hatte er schon beinahe die Hälfte
des Volks auf seine Seite gebracht, und sein Anhang nahm
täglich zu.Der Erzpriester hingegen hatte den Handel bisher nicht
für wichtig genug gehalten, sein ganzes Ansehen zu Gunsten
seines Beschützten anzuwenden. Allein da die Sachen zwischen
ihm und der schönen Gorgo ernsthafter zu werden anfingen,
indem sie, anstatt einer gewissen Gelehrigkeit die er bei ihr
zu finden gehofft hatte, einen Widerstand that, dessen man
sich zu ihrer Herkunft und Erziehung nicht hätte vermuthen
sollen, ja sich sogar vernehmen ließ: "wie sie Bedenken trage,
ihre Tugend noch einmal den Gefahren eines Besuchs durch
die kleine Gartenthür auszusetzen," — so war es ganz
natürlich, daß er nun nicht langer säumte, durch den Eifer,
womit er die Sache des Vaters zu unterstützen anfing, sich ein
näheres Recht an die Dankbarkeit der Tochter zu erwerben.Der neue Lärm, den der Eselsproceß durch die Provocation
an den großen Rath in der Stadt machte, gab ihm Gelegenheit,
mit einigen von den vornehmsten Rathsherren aus
der Sache zu sprechen. "So lächerlich dieser Handel an sich
selbst sey, sagte er, so könne doch nicht zugegeben werden, daß
ein armer Mann, der unter dem Schutze Jasons stehe, durch
eine offenbare Cabale unterdrückt werde. Es komme nicht
auf die Veranlassung an, die oft zu den wichtigsten Begebenheiten
sehr gering sey; sondern auf den Geist, womit man
die Sache treibe, und auf die Absichten, die man im Schilde
oder wenigstens in Petto führe. Die Insolenz des Sykophanten
Physignatus, der eigentlich an diesem ganzen Skandal
Schuld habe, müsse gezüchtigt, und dem herrschsüchtigen, unverständigen
Demagogen Pfriem noch in Zeiten ein Zügel angeworfen
werden, eh' es ihm gelinge die Aristokratie gänzlich
über den Haufen zu werfen u. s. w.Wir müssen es zur Steuer der Wahrheit sagen, anfangs
gab es verschiedene Herren des Raths, welche die Sache ungefähr
so ansahen wie sie anzusehen war, und es dem Stadtrichter
Philippides sehr verdachten, daß er nicht Besonnenheit
genug gehabt, einen so ungereimten Zwist gleich in der Geburt
zu ersticken. Allein unvermerkt änderten sich die Gesinnungen;
und der Schwindelgeist, der bereits einen Theil der
Bürgerschaft auf die Köpfe gestellt hatte, ergriff endlich
auch den größern Theil der Rathsherren. Einige fingen an
die Sache für wichtiger anzusehen, weil ein Mann wie der
Erzpriester Agathyrsus sich derselben so ernstlich anzunehmen
schien. Andre setzte die Gefahr, die der Aristokratie aus den
Unternehmungen des Zunftmeisters Pfriem erwachsen könnte,
in Unruhe. Verschiedene ergriffen die Partei des Eseltreibers
bloß aus Widersprechungsgeist; andre aus einem wirklichen
Gefühl daß ihm Unrecht geschehe; und noch andre erklärten
sich für den Zahnarzt, weil gewisse Personen, mit denen sie
nie einer Meinung seyn wollten, sich für seinen Gegner erklärt
hatten.Mit allem dem würde dennoch dieser geringfügige Handel,
so sehr die Abderiten auch — Abderiten waren, niemals eine
so heftige Gährung in ihrem gemeinen Wesen verursacht haben,
wenn der böse Dämon dieser Republik nicht auch den Priester
Strobylus angeschürt hätte, sich, ohne einigen nähern
Beruf als seinen unruhigen Geist und seinen Haß gegen den
Erzpriester Agathyrsus, mit ins Spiel zu mischen.Um dieß dem geneigten Leser verständlicher zu machen,
werden wir die Sache (wie jener alte Dichter seine Ilias) ab
ovo anfangen müssen; um so mehr, als auch gewisse Stellen
in unsrer Erzählung des Abenteuers mit dem Euripides, und
gewisse Ausdrücke, die dem Priester Strobylus gegen Demokrit
entfielen, ihr gehöriges Licht dadurch erhalten werden.—————
Sechstes Kapitel.Verhältnis des Latonentempels zum Tempel des Jason. Contrast in den
Charakteren des Oberpriesters Strobylus und des Erzpriesters Agathyrsus.
Strobylus erklärt sich für die Gegenpartei des letztern, und wird von
Salabanda unterstützt, welche eine wichtige Rolle in der Sache zu
spielen anfängt.Der Dienst der Latona war (wie Strobylus den Euripides
versichert hatte) so alt zu Abdera, als die Verpflanzung
der Lycischen Colonie; und die äußerste Einfalt der Bauart
ihres kleinen Tempels konnte als eine hinlängliche Bekräftigung
dieser Tradition angesehen werden. So unscheinbar dieser
Latonentempel war, so gering waren auch die gestifteten
Einkünfte seiner Priester. Wie aber die Noth erfindsam ist,
so hatten die Herren schon von langem her Mittel gefunden,
zu einiger Entschädigung für die Kargheit ihres ordentlichen
Einkommens, den Aberglauben der Abderiten in Contribution
zu setzen; und da auch dieses nicht zureichen wollte, hatten sie
es endlich dahin gebracht, daß der Senat (weil er doch von
keiner Besoldungszulage hören wollte) zu Unterhaltung des
geheiligten Froschgrabens gewisse Einkünfte aussetzte, deren
größten Theil die genügsamen und billig denkenden Frische
ihren Versorgern überließen.Eine ganz andre Beschaffenheit hatte es mit dem Tempel
des Jason, dieses berühmten Anführers der Argonauten, welchem
in Abdera die Ehre der Erhebung in den Götterstand
und eines öffentlichen Dienstes widerfahren war, ohne daß
wir hiervon einen andern Grund anzugeben wissen, als daß
verschiedne der ältesten und reichsten Familien in Abdera ihr
Geschlechtsregister von diesem Heros ableiteten. Einer von
dessen Enkeln hatte sich, wie die Tradition sagte, in dieser
Stadt niedergelassen, und war der gemeinsame Stammvater
verschiedner Geschlechter geworden, von welchen einige noch in
den Tagen unserer gegenwärtigen Geschichte in voller Blüthe
standen. Dem Andenken des Helden, von dem sie abstammten,
zu Ehren, hatten sie anfangs, nach uraltem Gebrauch, nur
eine kleine Hauscapelle gestiftet. Mit der Länge der Zeit war
eine Art von öffentlichem Tempel daraus geworden, den die
Frömmigkeit der Abkömmlinge Jasons nach und nach mit vielen
Gütern und Einkünften versehen hatte. Endlich, als Abdera
durch Handelschaft und glückliche Zufälle eine der reichsten
Städte in Thracien geworden war, entschlossen sich die
Jasoniden, ihrem vergötterten Ahnherrn einen Tempel zu erbauen,
dessen Schönheit der Republik und ihnen selbst bei der
Nachwelt Ehre machen könnte. Der neue Jasontempel wurde
ein herrliches Werk, und machte mit den dazu gehörigen Gebäuden,
Gärten, Wohnungen der Priester, Beamten, Schutzverwandten
u. s. w. ein ganzes Quartier der Stadt aus. Der
Erzpriester desselben mußte allezeit von der ältesten Linie der
Jasoniden seyn: und da er, bei sehr beträchtlichen Einkünften,
auch die Gerichtsbarkeit über die zu dem Tempel gehörigen
Personen und Güter ausübte, so ist leicht zu erachten, daß die
Oberpriester der Latona alle diese Vorzüge nicht mit gleichgültigen
Augen ansehen konnten, und daß zwischen diesen beiden
Prälaten eine Eifersucht obwalten mußte, die auf die Nachfolger
forterbte, und bei jeder Gelegenheit in ihrem Betragen sichtbar
wurde.Der Oberpriester der Latona wurde zwar als das Haupt
der ganzen Abderitischen Priesterschaft angesehen; allein der
Erzpriester Jasons machte mit seinen Untergebenen ein besonderes
Collegium aus, welches zwar unter dem Schutze der
Stadt Abdera stand, aber von aller Abhängigkeit, wie sie
Namen haben mochte, frei war. Die Feste des Latonentempels
waren zwar die eigentlichen großen Festtage der Republik;
allein da die Mäßigkeit seiner Einkünfte keinen sonderlichen
Aufwand zuließ, so war das Fest des Jason, welches mit ungemeiner
Pracht und großen Feierlichkeiten begangen wurde,
in den Augen des Volks wo nicht das vornehmste, wenigstens
das worauf es sich am meisten freute; und alle die
Ehrerbietung, die man für das Alterthum des Latonendienstes
hegte, und der große Glaube des Pöbels an den Oberpriester
desselben und seine heiligen Frösche, konnte doch nicht
verhindern, daß die größere Figur, die der Erzpriester machte,
ihm nicht auch einen höhern Grad von Ansehen gegeben haben
sollte. Und wiewohl das gemeine Volk überhaupt mehr Zuneigung
zu dem Latonenpriester trug, so wurde doch dieser
Vorzug dadurch wieder überwogen, daß der Priester Jasons
mit den aristokratischen Häusern in einer Verbindung stand,
die ihm so viel Einfluß gab, daß es einem ehrgeizigen Manne
an diesem Platz ein Leichtes gewesen wäre, einen kleinen Tyrannen
von Abdera vorzustellen.Zu so vielen Ursachen der althergebrachten Eifersucht und
Abneigung zwischen den beiden Fürsten der Abderitischen
Klerisei, kam bei Strobylus und Agathyrsus noch ein persönlicher
Widerwille, der eine natürliche Frucht des Contrastes
ihrer Sinnesarten war.Agathyrsus, mehr Weltmann als Priester, hatte in der
That vom letztern wenig mehr als die Kleidung. Die Liebe
zum Vergnügen war seine herrschende Leidenschaft. Denn,
wiewohl es ihm nicht an Stolz fehlte, so kann man doch von
niemand sagen daß er ehrgeizig sey, so lange sein Ehrgeiz
eine andere Leidenschaft neben sich herrschen läßt. Er liebte
die Künste und den vertraulichen Umgang mit Virtuosen aller
Arten, und stand in dem Ruf, einer von den Priestern zu
seyn, die wenig Glauben an ihre eignen Götter haben. Wenigstens
ist nicht zu läugnen, daß er öfters ziemlich frei über die
Frösche der Latona scherzte; und es war jemand, der es beschwören
wollte, aus seinem eignen Munde gehört zu haben:
"Die Frösche dieser Göttin wären schon längst alle in elende
Poeten und Abderitische Sänger verwandelt worden." — Daß
er mit Demokriten in ziemlich gutem Vernehmen lebte, war
auch nicht sehr geschickt, seine Orthodoxie zu bestätigen. Kurz,
Agathyrsus war ein Mann von munterm Temperament, hellem
Kopf und ziemlich freiem Leben, beliebt bei dem Abderitischen
Adel, noch beliebter bei dem schönen Geschlecht, und,
wegen seiner Freigebigkeit und Jasonmäßigen Figur, beliebt
sogar bei den untersten Classen des Volks.Nun hätte die Natur in ihrer launigsten Minute keinen
völligern Gegenfüßler von allem, was Agathyrsus war, hervorbringen
können, als den Priester Strobylus. Dieser Mann
hatte (wie viele seinesgleichen) ausfindig gemacht, daß eine
in Falten gelegte Miene und ein steifes Wesen unfehlbare
Mittel sind, bei dem großen Haufen für einen weisen und unsträflichen
Mann zu gelten. Da er nun von Natur ziemlich sauertöpfisch
aussah, so hatte es ihm wenig Mühe gekostet, sich diese
Gravität anzugewöhnen, die bei den meisten weiter nichts beweist
als die Schwere ihres Witzes und die Ungeschliffenheit
ihrer Sitten. Ohne Sinn für das Große und Schöne, war
er ein geborner Verächter aller Talente und Künste die diesen
Sinn voraussetzten; und sein Haß gegen die Philosophie
war bloß eine Maske für den natürlichen Groll eines Dummkopfes
gegen alle, die mehr Verstand und Wissenschaft haben
als er. In seinen Urtheilen war er schief und einseitig, in
seinen Meinungen eigensinnig, im Widerspruch hitzig und
grob, und, wo er entweder in seiner eignen Person oder in
den Fröschen der Latona beleidigt zu seyn glaubte, äußerst rachgierig;
aber nichtsdestoweniger bis zur Niederträchtigkeit
geschmeidig, sobald er eine Sache, an der ihm gelegen war,
nicht ohne Hülfe einer Person die er haßte durchsetzen konnte.
Ueberdieß stand er mit einigem Grund in dem Rufe, daß er
mit einer gehörigen Dose von Dariken und Philippen zu allem
in der Welt zu bringen sey, was mit dem Aeußerlichen seines
Charakters nicht ganz unverträglich war.Aus so entgegengesetzten Gemüthsarten und aus so vielen
Veranlassungen zu Neid und Eifersucht auf Seiten des
Priesters Strobylus, entsprang nothwendig bei beiden ein
wechselseitiger Haß, der den Zwang, den ihnen ihr Stand
und Platz auferlegte, mit Mühe ertrug, und nur darin verschieden
war, daß Agathyrsus den Oberpriester zu sehr
verachtete, um ihn sehr zu hassen, und dieser jenen zu sehr
beneidete, um ihn so herzlich verachten zu können als er
wohl gewünscht hätte.Zu diesem allen kam noch, daß Agathyrsus, kraft seiner
Geburt und ganzen Lage, für die Aristokratie, Strobylus
hingegen, ungeachtet seiner Verhältnisse zu einigen Rathsherren,
ein erklärter Freund der Demokratie, und nächst dem
Zunftmeister Pfriem derjenige war, der durch seinen persönlichen
Charakter, seine Würde, seine schwärmerische Hitze
und eine gewisse populäre Art von Beredsamkeit den meisten
Einfluß auf den Pöbel hatte.Man sieht nun leicht voraus, daß die Sache mit dem
Eselsschatten oder Schattenesel nothwendig eine ernsthafte
Wendung nehmen mußte, sobald ein paar Männer wie die
beiden Hohenpriester von Abdera darein verwickelt wurden.Strobylus hatte, so lange der Proceß vor den Stadtrichtern
geführt wurde, nicht anders Theil daran genommen,
als daß er sich gelegentlich erklärte, er würde an des Zahnarztes
Platz eben so gehandelt haben. Aber kaum erfuhr er
durch die Dame Salabanda, seine Nichte, daß Agathyrsus
die Sache seines in der ersten Instanz verurtheilten Schutzverwandten
zu seiner eignen mache: so fühlte er sich auf einmal
berufen, sich mit an die Spitze der Partei des Beklagten
zu stellen, und die Cabale des Zunftmeisters mit allem
Ansehen, das er bei den Rathsherren sowohl als bei dem
Volke hatte, zu unterstützen.Salabanda war zu sehr gewohnt ihre Hand in allen Abderitischen
Händeln zu haben, als daß sie unter den letzten
gewesen seyn sollte, die in dem gegenwärtigen Partei nahmen.
Außer ihrem Verhältnisse zu dem Priester Strobylus hatte sie
noch eine besondere Ursache, es mit ihm zu halten; eine Ursache,
die darum nicht weniger wog, weil sie solche in Petto
behielt. Wir haben bei einer andern Gelegenheit erwähnt,
daß diese Dame, es sey nun aus bloß politischen Absichten,
oder daß sich vielleicht auch ein wenig Koketterie — und wer
weiß, ob nicht auch zuweilen das, was man in der Sprache
der neuern Französischen feinen Welt das Herz einer Dame
nennt, mit einmischen mochte: genug, ausgemacht war es,
daß sie immer eine Anzahl demüthiger Sklaven an der Hand
hatte, unter denen (wie man glaubte) doch immer wenigstens
der eine oder andre wissen müsse, wofür er diene. Die geheime
Chronik von Abdera sagte, der Erzpriester Agathyrsus
hätte eine geraume Zeit die Ehre gehabt, einer von den letztern
zu seyn; und in der That kamen eine Menge Umstände
zusammen, warum man dieses Gerücht für etwas mehr als
eine bloße Vermuthung halten konnte. So viel ist gewiß,
daß die vertrauteste Freundschaft seit geraumer Zeit unter
ihnen obgewaltet hatte, als die Milesische Tänzerin nach
Abdera kam, und dem flatterhaften Jasoniden in kurzem so
merkwürdig wurde, daß Salabanda endlich nicht länger umhin
konnte sich selbst für aufgeopfert zu halten.Agathyrsus besuchte zwar ihr Haus noch immer auf dem
Fuß eines alten Bekannten, und die Dame war zu politisch,
um in ihrem äußern Betragen gegen ihn die geringste Veränderung
durchscheinen zu lassen. Aber ihr Herz kochte Rache.
Sie vergaß nichts, was den Erzpriester immer tiefer in die
Sache verwickeln und immer mehr in Feuer setzen konnte;
heimlich aber beleuchtete sie alle seine Schritte und Tritte,
und alle großen und kleinen Vorder- und Hinterthüren, die
zu seinem Cabinet führen konnten, so genau, daß sie seine
Intrigue mit der jungen Gorgo gar bald entdeckte, und den
Priester Strobylus in den Stand setzen konnte, den Eifer
des Erzpriesters für die Sache des Eseltreibers in ein eben
so verhaßtes Licht zu stellen, als sie selbst unter der Hand
bemüht war, ihm einen lächerlichen Anstrich zu geben.Agathyrsus, so wenig es ihm kostete, politische und ehrgeizige
Vortheile dem Interesse seiner Vergnügungen aufzuopfern,
hatte doch Augenblicke, wo der kleinste Widerstand in
einer Sache, an der ihm im Grunde gar nichts gelegen
war, seinen ganzen Stolz aufrührisch machte; und so oft dieß
geschah, pflegte ihn seine Lebhaftigkeit gemeiniglich unendlich
weiter zu führen, als er gegangen wäre, wenn er die Sache
einiger kühlen Ueberlegung gewürdiget hätte. Die Ursache,
warum er sich anfangs mit diesem abgeschmackten Handel bemengt
hatte, fand jetzt zwar nicht länger statt. Denn die
schöne Gorgo hatte, ungeachtet des Unterrichts ihrer Mutter
Krobyle, entweder nicht Geschicklichkeit oder nicht Ausdaurungskraft
genug gehabt, den anfänglich entworfnen Vertheidigungsplan
gegen einen so gefährlichen und erfahrnen
Belagerer gehörig zu befolgen. Allein er war nun einmal in
die Sache verwickelt; seine Ehre war dabei betroffen; er empfing
täglich und stündlich Nachrichten, wie unziemlich der
Zunftmeister und der Priester Strobylus mit ihrem Anhang
wider ihn loszögen, wie sie drohten, wie übermüthig sie die
Sache durchzusetzen hofften, und dergleichen —und dieß war
mehr als es brauchte, um ihn dahin zu bringen, daß er seine
ganze Macht anzuwenden beschloß, um Gegner, die er so sehr
verachtete, zu Boden zu werfen, und für die Verwegenheit,
sich gegen ihn aufgelehnt zu haben, zu züchtigen.
Der Cabalen der Dame Salabanda ungeachtet (die nicht fein
genug gesponnen waren, um ihm lange verborgen zu bleiben),
war der größte Theil des Senats auf seiner Seite: und wenn
gleich seine Gegner nichts unterließen, was das Volk gegen
ihn erbittern konnte, so hatte er doch, zumal unter den Zünften
der Gerber, Fleischer und Bäcker, einen Anhang von derben
stämmichten Gesellen, die eben so hitzig vor der Stirne
als nervig von Armen, und auf jeden Wink bereit waren,
für ihn und seine Partei, je nachdem es nöthig wäre, zu
schreien oder zuzuschlagen.Siebentes Kapitel.Ganz Abdera theilt sich in zwei Parteien. Die Sache kommt vor Rath.In dieser Gährung befanden sich die Sachen, als auf
einmal die Namen Schatten und Esel in Abdera gehört, und
in kurzem durchgängig dazu gebraucht wurden, die beiden
Parteien zu bezeichnen.Man hat über den wahren Ursprung dieser Uebernahmen
keine zuverlässige Nachricht. Vermuthlich, weil doch Parteien
nicht lange ohne Namen bestehen können, hatten die Anhänger
des Zahnarztes Struthion unter dem Pöbel den Anfang gemacht,
sich selbst, weil sie für sein Recht an des Esels Schatten
stritten, die Schatten, und ihre Gegner, weil sie den
Schatten gleichsam zum Esel selbst machen wollten, aus Spott
und Verachtung, die Esel zu nennen. Da nun die Anhänger
des Erzpriesters diese Benennung nicht verhindern konnten,
so hatten sie (wie es zu gehen pflegt) sich unvermerkt daran
gewöhnt, sie, wiewohl anfänglich bloß zum Scherz, selbst zu
gebrauchen; nur mit dem Unterschied, daß sie den Spieß
umdrehten, und das Verächtliche mit dem Schatten, und
das Ehrenvolle mit dem Esel verknüpften. Wenn es ja
eins von beiden seyn soll, sagten sie, so wird jeder brave
Kerl doch immer lieber ein wirklicher leibhafter Esel mit
allem seinem Zubehör, als der bloße Schatten von einem
Esel seyn wollen.Wie es auch damit zugegangen seyn mag, genug, in wenig
Tagen war ganz Abdera in diese zwei Parteien getheilt; und
so wie sie einen Namen hatten, nahm auch der Eifer auf beiden
Seiten so schnell und heftig zu, daß es gar nicht mehr erlaubt
war, neutral zu bleiben. Bist du ein Schatten oder
ein Esel? war immer die erste Frage, welche die gemeinen
Bürger an einander thaten, wenn sie sich auf der Straße oder
in der Schenke antrafen; und wenn einen Schatten gerade das
Unglück traf, an einem solchen Orte der einzige seinesgleichen
unter einer Anzahl von Eseln zu seyn, so blieb ihm, wofern
er sich nicht gleich mit der Flucht rettete, nichts übrig, als
entweder auf der Stelle zu apostasiren, oder sich mit tüchtigen
Stößen zur Thür hinauswerfen zu lassen.Wie viele und große Unordnungen hieraus entstehen
mußten, kann man sich ohne unser Zuthun vorstellen. Die
Erbitterung ging in kurzem so weit, daß ein Schatten sich
lieber vor Hunger zum wirklichen Gespenst abgezehrt, als
einem Bäcker von der Gegenpartei für einen Dreier Brod
abgekauft hätte.Auch die Weiber nahmen, wie leicht zu erachten, Partei,
und gewiß nicht mit der wenigsten Hitze. Denn das
erste Blut, das bei Gelegenheit dieses seltsamen Bürgerkriegs
vergossen wurde, kam von den Nägeln zweier Hökerweiber
her, die einander auf öffentlichem Markte in die Physiognomie
gerathen waren. Man bemerkte indessen, daß bei weitem
der größte Theil der Abderitinnen sich für den Erzpriester
erklärte; und wo in einem Hause der Mann ein Schatten
war, da konnte man sich darauf verlassen, die Frau war
eine Eselin, und gemeiniglich eine so hitzige und unbändige
Eselin, als man sich eine denken kann. Unter einer Menge
theils heilloser theils lächerlicher Folgen dieses Parteigeistes,
der in die Abderitinnen fuhr, war keine der geringsten, daß
mancher Liebeshandel dadurch auf einmal abgebrochen wurde,
weil der eigensinnige Seladon lieber seine Ansprüche als
seine Partei aufgeben wollte; so wie hingegen auch mancher,
der sich schon Jahre lang vergebens um die Gunst einer
Schönen beworben und ihre Antipathie gegen ihn durch
nichts, was gewöhnlich von einem unglücklichen Liebhaber
versucht wird, hatte überwinden können, jetzt auf einmal
keines andern Titels bedurfte um glücklich zu werden, als
seine Dame zu überzeugen daß er — ein Esel sey.Inzwischen wurde die Präjudicialfrage, ob die von Klägern
eingewandte Abberufung an den großen Rath stattfinde
oder nicht? vor den Senat gebracht. Wiewohl dieß das erstemal
war, daß es über die Eselssache vor diesem ehrwürdigen
Collegium zur Sprache kam: so zeigte sich doch bald, daß
jedermann schon seine Partei genommen hatte. Der Archon
Onolaus war der einzige, der in Verlegenheit zu seyn schien,
wie er der Sache einen leidlichen Anstrich geben könnte. Denn
man bemerkte daß er viel leiser als gewöhnlich sprach, und
am Schlusse seines Vortrags in die merkwürdigen und ominösen
Worte ausbrach: er besorge sehr, der Eselsschatten, über
welchen jetzt mit so vieler Hitze gestritten werde, möchte den
Ruhm der Republik auf viele Jahrhunderte verfinstern. Seine
Meinung war, man würde am besten thun, die eingelegte
Appellation als unstatthaft abzuweisen, den Spruch des Stadtgerichts
(bis auf den Punkt der Kosten, die gegen einander
aufgehoben werden könnten) zu bestätigen, und beiden Parteien
ein ewiges Stillschweigen aufzulegen. Indessen setzte er
doch hinzu: wofern die Majora dafür hielten, daß die Gesetze
von Abdera nicht zureichend wären einen so geringfügigen
Handel auszumachen, so müsse er sich gefallen lassen daß der
große Rath den Ausspruch darüber thue; jedoch wollte er darauf
angetragen haben, vorher im Archiv nachsuchen zu lassen,
ob sich nicht etwa schon in ältern Zeiten dergleichen ungewöhnliche
Fälle ereignet, und wie man sich dabei benommen habe.Diese Mäßigung des Archon — die ihm von der unparteiisch
richtenden Nachwelt einstimmig als ein Beweis von
wahrer Regentenweisheit zum Verdienst angerechnet werden
wird — wurde damals, da der Parteigeist alle Augen verblendet
hatte, als Schwachheit und phlegmatische Gleichgültigkeit
ausgelegt. Verschiedene Senatoren von der Partei des
Erzpriesters ließen sich weitläuftig und mit großem Eifer vernehmen:
man könne nichts geringfügig nennen, was die
Rechte und Freiheiten der Abderiten betreffe; wo kein Gesetz
sey, finde auch kein gerichtliches Verfahren statt; und das
erste Beispiel, wo den Richtern gestattet würde einen Handel
nach einer willkürlichen Billigkeit zu entscheiden, würde das
Ende der Freiheit von Abdera seyn. Wenn der Streit auch
noch was Geringeres beträfe, so komme es nicht auf die Frage
an, wie viel oder wenig er werth sey, sondern welche von den
Parteien Recht habe; und da kein Gesetz vorhanden sey, welches
in vorliegendem Fall entscheide, ob des Esels Schatten
stillschweigend in der Miethe begriffen sey oder nicht, so könne
sich weder das Untergericht noch der Senat selbst ohne die
offenbarste Tyrannei anmaßen, dem Abmiether etwas zuzusprechen,
woran der Vermiethet wenigstens eben so viel Recht
habe; oder vielmehr ein ungleich besseres, da aus der Natur
ihres Contracts keineswegs nothwendig folge, daß die Meinung
des letztern gewesen sey, jenem auch den Schatten seines
Esels zu vermiethen u. s. w. Einer von diesen Herren ging
so weit, daß er in der Hitze herausfuhr: er sey jederzeit ein
eifriger Patriot gewesen; aber eh' er zugeben würde, daß
einer seiner Mitbürger sich anmaßen sollte, nur den Schatten
einer tauben Nuß dem andern willkürlich abzusprechen, ehe
wollt' er ganz Abdera in Feuer und Flammen sehen.Jetzt verlor der Zunftmeister Pfriem alle Geduld. Das
Feuer, sagte er, womit man die ganze Stadt mit solcher Verwegenheit
bedrohe, sollte mit demjenigen angezündet werden,
der sich so zu reden unterstehe. "Ich bin kein studirter
Mann, fuhr er fort; aber, bei allen Göttern, ich lasse mir
Mäusedreck nicht für Pfeffer verkaufen! Man muß den Verstand
verloren haben, um einem gesunden Menschen weiß
machen zu wollen, daß es ein eignes Gesetz brauche, wenn
die Frage ist, ob sich einer auf eines Esels Schatten setzen
dürfe, der mit baarem Geld das Recht erkauft hat, auf dem
Esel selbst zu sitzen. Ueberhaupt ist es Schande und Spott,
daß so viel ernsthafte und gescheidte Männer sich den Kopf
über einen Handel zerbrechen, den jedes Sind auf der Stelle
entschieden haben würde. Wann ist denn jemals in der
Welt erhört worden, daß Schatten unter die Dinge gehören,
die man einander vermiethet?"Herr Zunftmeister, fiel der Rathsherr Buphranor ein, ihr
schlagt euch selbst auf den Mund, wenn ihr das behauptet.
Denn wenn des Esels Schatten nicht vermiethet werden konnte,
so ist klar, daß er nicht vermiethet worden ist; denn a non
posse ad non esse valet consequentia. Der Zahnarzt kann
also, nach eurem eignen Grundsatze, kein Recht an den Schatten
haben, und das Urthel ist an sich null und nichtig.Der Zunftmeister stutzte; und weil ihm nicht gleich einfiel
was sich auf dieses feine Argument antworten ließe, so
fing er desto lauter an zu schreien, und rief Himmel und
Erde zu Zeugen an, daß er eher seinen grauen Bart Haar
für Haar ausraufen, als sich noch in seinen alten Tagen zum
Esel machen lassen wollte. Die Herren von seiner Partei
unterstützten ihn aus allen Kräften: allein sie wurden überstimmt;
und alles, was sie endlich, mit Beihülfe des Archon
und des Rathsherrn der immer leise auftrat, erhalten
konnten, war: "Daß die Sache einstweilen in statu quo
bleiben sollte, bis man im Archiv nachgesehen hätte, ob sich
kein Praejudicium fände, wodurch dieser Handel ohne größere
Weitläuftigkeit entschieden werden könnte."—————
Achtes Kapitel.Gute Ordnung in der Kanzlei von Abdera. Präjudicialfälle, die nichts
ausmachen. Das Volk will das Rathhaus stürmen, und wird von
Agathyrsus besänftigt. Der Senat beschließt, die Sache dem großen
Rath zu überlassen.Die Kanzlei der Stadt Abdera — weil es doch die Gelegenheit
mit sich bringt, ihrer hier mit zwei Worten zu erwähnen —
war überhaupt so gut eingerichtet und bedient,
als man es von einer so weisen Republik erwarten wird.
Indessen hatte sie doch mit vielen andern Kanzleien zwei
Fehler gemein, über welche zu Abdera schon seit Jahrhunderten
fast täglich Klage geführt wurde, ohne daß jemand
auf den Einfall gekommen wäre: ob es nicht etwa möglich
seyn könnte, dem Uebel auf eine oder andre Weise abzuhelfen?Das eine dieser Gebrechen war, daß die Urkunden und
Acten in einigen sehr dumpfen und feuchten Gewölben
verwahrt lagen, wo sie aus Mangel der Luft verschimmelten,
vermoderten, von Schaben und Würmern gefressen, und nach
und nach ganz unbrauchbar wurden; das andre, daß man,
alles Suchens ungeachtet, nichts darin finden konnte. So
oft dieß begegnete, pflegte irgend ein patriotischer Rathsherr,
meistens mit Beistimmung des ganzen Senats, die Anmerkung
zu machen: "es komme bloß daher, weil keine Ordnung
in der Kanzlei gehalten werde." In der That ließ sich
schwerlich eine Hypothese erdenken, vermittelst welcher diese
Erscheinung auf eine leichtere und begreiflichere Weise zu erklären
gewesen wäre. Daher kam es nun, daß fast allemal
wenn bei Rath beschlossen wurde daß in der Kanzlei nachgesehen
werden sollte, jedermann schon voraus wußte und meistens
sicher darauf rechnete, daß sich nichts finden würde.
Unb eben daher kam es auch, daß die gewöhnliche Erklärung,
die bei der nächsten Rathssitzung erfolgte, "es habe sich, alles
Suchens ungeachtet, nichts in der Kanzlei gefunden," mit
der kaltsinnigsten Gelassenheit, als eine Sache die man erwartet
hatte und die sich von selbst verstand, aufgenommen
wurde.Dieß war nun auch dermalen der Fall gewesen, da die
Kanzlei den Auftrag erhalten hatte: in den ältern Acten
nachzusehen, ob sich nicht vielleicht ein Präjudicium finde, das
der Weisheit des Senats bei Entscheidung des höchst beschwerlichen
Handels über den Eselsschatten zur Fackel dienen könnte.
Es hatte sich nichts gefunden, ungeachtet verschiedene Herren
in der letzten Session ganz positiv versicherten: es müßten
unzählige ähnliche Fälle vorhanden seyn.Indessen hatte gleichwohl der Eifer eines Rathsherrn von
der Partei der Esel die Acten von zwei alten Rechtshändeln
aufgetrieben, die einst vielen Lärm in Abdera gemacht, und
mit dem gegenwärtigen einige Aehnlichkeit zu haben schienen.Der eine betraf einen Streit zwischen den Besitzern zweier
Grundstücke in der Stadtflur, über das Eigenthumsrecht an
einen zwischen beiden gelegnen kleinen Hügel, der ungefähr
fünf oder sechs Schritte im Umfang betrug, und mit Verlauf
der Zeit aus etlichen zusammengeflossenen Maulwurfshaufen
entstanden seyn mochte. Tausend kleine Nebenumstände
hatten nach und nach eine so heftige Erbitterung zwischen
den beiden im Streite befangenen Familien erregt, daß
jeder Theil entschlossen war, lieber Haus und Hof als sein
vermeintes Recht an diesen Maulwurfshügel zu verlieren.
Die Abderitische Justiz wurde dadurch in eine desto größere
Verlegenheit gesetzt, da Beweis und Gegenbeweis von einer
so ungeheuern Combination unendlich kleiner, zweifelhafter
und unaufklärbarer Umstände abhing, daß nach einem Proceß
von fünfundzwanzig Jahren die Sache nicht nur der Entscheidung
nicht um einen Schritt näher gekommen, sondern im
Gegentheil gerade fünfundzwanzigmal verworrener geworden
war als anfangs. Wahrscheinlicherweise würde sie auch nie
zu Ende gebracht worden seyn, wenn sich nicht beide Parteien
endlich gezwungen gesehen hätten, die Grundstücke,
zwischen welchen das Objectum litis lag, mit allen Zubehören,
Gerechtsamen und Ansprüchen, worunter auch das im Streite
befangene Recht an den Maulwurfshügel war, ihren Sykophanten
für Proceßkosten und Advocatengebühren abzutreten.
Denn nunmehr verglichen sich die Sykophanten noch selbigen
Tages in Güte, dieses Hügelchen der großen Themis zu heiligen,
einen Feigenbaum darauf zu pflanzen, und unter denselben,
auf gemeinschaftliche Kosten, die Bildsäule besagter
Göttin aus gutem Föhrenholz, mit Steinfarbe angestrichen,
setzen zu lassen. Auch wurde, unter Garantie des Abderitischen
Senats, festgesetzt, daß die Besitzer beider Grundstücke
zu ewigen Zeiten schuldig seyn sollten, besagte Bildsäule
nebst dem Feigenbaume gemeinschaftlich zu unterhalten. Gestalten
denn auch beide, und zwar der Feigenbaum in sehr
ansehnlichen, die Bildsäule aber in sehr verfallnen und wurmstichigen
Umständen, zum ewigen Gedächtniß dieses merkwürdigen
Handels, noch zur Zeit des gegenwärtigen zu sehen
waren.Der andere Proceß schien mit dem vorliegenden noch eine
nähere Verwandtschaft zu haben. Ein Abderit, Namens Pamphus,
besaß ein Landgut, dessen vornehmste Annehmlichkeit
darin bestand, daß es auf der südwestlichen Seite eine herrliche
Aussicht über ein schönes Thal hatte, welches zwischen
zwei waldigen Bergen hinlief, in der Ferne immer schmäler
wurde, und sich endlich in das Aegeische Meer verlor. Pamphus
pflegte oft zu sagen, daß ihm diese Aussicht nicht um
hundert Attische Talente feil wäre; und er hatte um so mehr
Ursache, sie so hoch zu taxiren, da das Gut an sich selbst so
unerheblich war, daß ihm niemand, der bloß auf den Nutzen
sah, fünf Talente dafür würde gegeben haben. Unglücklicherweise
fand ein ziemlich begüterter Abderitischer Bauer, der
auf eben dieser südwestlichen Seite sein Nachbar war, sich
veranlaßt, eine Scheune bauen zu lassen, die dem guten Pamphus
einen so großen Theil seiner Aussicht entzog, daß sein
Landgütchen, seiner Rechnung nach, wenigstens um achtzig
Talente dadurch schlechter wurde. Pamphus wandte alles Mögliche
an, den Nachbar in Güte und Ernst von einem so fatalen
Bau abzuhalten. Allein der Bauer bestand auf seinem
Rechte, seinen erbeigenthümlichen Grund und Boden zu überbauen
wo und wie es ihm beliebte. Es kam also zum Proceß.
Pamphus konnte zwar nicht erweisen, daß die streitige
Aussicht ein nothwendiges und wesentliches Pertinenzstück seines
Gutes sey; oder, daß ihm Luft und Licht durch den neuen
Bau entzogen werde; oder, daß sein Großvater, der es käuflich
an seine Familie gebracht, um besagter Aussicht willen
nur eine Drachme mehr bezahlt habe, als das Gut nach damaligem
Preise an sich selbst werth war; noch, daß ihm
sein Nachbar, der Bauer, mit einiger Servitut verhaftet
sey, kraft deren er ein Recht hätte ihm den Bau niederzulegen.
Allein sein Sykophant behauptete, daß die Entscheidungsgründe
dieser Sache viel tiefer lägen, und aus der ersten
ursprünglichen Quelle alles Eigenthumsrechts unmittelbar
geschöpft werden müßten. Wäre die Luft nicht ein
durchsichtiges Wesen, sagte der Sykophant, so möchte Elysium
und der Olympus selbst dem Landgute meines Principals gegenüber
liegen, er würde so wenig jemals davon zu sehen
bekommen haben, als ob unmittelbar vor seinen Fenstern
eine Mauer stände, die bis an den Himmel reichte. Die
durchsichtige Natur und Eigenschaft der Luft ist also die erste
und wahre Grundursache der schönen Aussicht, die das Gut
meines Principals beseligt. Nun ist aber die freie durchsichtige
Luft, wie jedermann weiß, eines von den gemeinen
Dingen, an welche ursprünglich alle ein gleiches Recht haben:
und eben darum ist jede noch von niemand in Besitz
genommene Portion derselben als eine res nullius, als eine
Sache, die noch Niemanden eigenthümlich zugehört, anzusehen,
und wird folglich ein Eigenthum des ersten der sich
ihrer bemächtiget. Seit unfürdenklichen Zeiten haben die
Vorfahren meines Principals an diesem Gute die dermalen
im Streit verfangne Aussicht inne gehabt, besessen und genossen,
von männiglichen ungehindert und unangefochten.
Sie haben also die dazu erforderliche Portion der Luft mit
ihren Augen occupirt, und sie ist durch diese Occupation sowohl,
als durch einen ununterbrochnen Besitz seit unfürdenklicher
Zeit, ein eigenthümlicher Theil des mehr besagten Gutes
geworden, wovon solchem nicht das Geringste entzogen
werden kann, ohne die Grundgesetze aller bürgerlichen Ordnung
und Sicherheit umzustoßen. — Der Senat von Abdera
fand diese Gründe ganz bedenklich; es wurde lange für und
wider mit großer Subtilität gestritten; und da Pamphus einige
Zeit darauf in den Rath gewählt worden war, schien die
Sache um so viel verwickelter und seine Gründe von Zeit zu Zeit
immer bedenklicher zu werden. Der Bauer starb ohne den
Ausgang des Handels zu erleben; und seine Erben, welche
zuletzt merkten, daß gemeine Bauersleute wie sie gegen einen
so großen Herrn, als ein Rathsherr von Abdera war, nichts
gewinnen könnten, ließen sich endlich von ihrem Sykophanten zu
einem Vergleich bereden: vermöge dessen sie die Proceßkosten
bezahlten, und von dem Bau der streitigen Scheune um
so mehr abstanden, da sie — kein Geld mehr dazu hatten,
und der Proceß von ihrem Erbgute so viel weggefressen hatte,
daß sie keiner neuen Scheune mehr bedurften, um die wenigen
Früchte, die ihnen noch zu bauen übrig blieben, aufzubehalten.Nun war es zwar ziemlich klar, daß diese beiden Rechtshändel
zu Entscheidung des vorliegenden sehr wenig Licht geben
konnten; zumal da in keinem von beiden definitiv gesprochen
worden war, sondern beide durch gütlichen Vergleich ihre
Endschaft erreicht hatten: allein der Rathsherr, der sie producirte,
schien auch keinen andern Gebrauch davon machen zu
wollen, als dem Senat zu zeigen: daß diese beiden Händel,
die sowohl in Rücksicht auf die Wichtigkeit des Gegenstandes
als die Subtilität der Rechtsgründe sehr viele Aehnlichkeit
mit dem Eselsproceß zu haben schienen, so viele Jahre lang
vor dem Abderitischen kleinen Rath geführt und verhandelt
worden seyen, ohne daß sich jemand habe beigehen lassen an
den großen Rath zu provociren, oder nur zu zweifeln, ob
der kleine auch wohl Fug und Macht habe in Sachen dieser
Art zu erkennen.Die sämmtlichen Esel unterstützten diese Meinung ihres
Parteiverwandten mit desto größerm Eifer, da sie die Stimmenmehrheit
in Händen hatten, wofern die Sache vor Rath
abgethan worden wäre. Allein eben darum beharrten die
Schatten desto hartnäckiger bei ihrem Widerspruch.Der ganze Morgen wurde mit Streiten und Schreien
zugebracht; und die Herren würden endlich (wie ihnen öfters
zu begegnen pflegte) um Essenszeit unverrichteter Dinge auseinander
gegangen seyn, wenn eine große Anzahl gemeiner
Bürger von der Schattenpartei, die sich auf Veranstaltung
des Zunftmeisters Pfriem vor dem Rathhause versammelt
hatte und durch eine Menge herbeigelaufenen Pöbels von
der niedrigsten Gattung verstärkt worden war, der Sache
nicht endlich den Ausschlag gegeben hätte. Die Partei des
Erzpriesters legte in der Folge dem Zunftmeister zur Last,
daß er geflissentlich ans Fenster getreten sey und das Volk
durch gegebne Zeichen zum Aufruhr angereizt habe. Allein
die Gegenpartei läugnete diese Beschuldigung schlechterdings,
und behauptete: das unziemliche Geschrei, das einige Esel
auf einmal erhoben hätten, habe die unten versammelten
Bürger auf die Gedanken gebracht, als ob den Herren von
ihrem Anhang Gewalt geschehe, und dieser Irrthum habe
den ganzen Lärm veranlaßt.Wie dem auch seyn mochte, auf einmal schallte ein brüllendes
Geschrei zu den Fenstern des Rathhauses hinauf: Freiheit,
Freiheit! Es lebe der Zunftmeister Pfriem! Weg mit
den Eseln! Weg mit den Jasoniden! u. s. w.Der Archon kam ans Fenster und gebot den Aufrührern
Ruhe. Aber ihr Geschrei nahm überhand; und einige der
frechsten drohten das Rathhaus auf der Stelle anzuzünden,
wenn die Herren nicht unverzüglich auseinander gehen, und
die Sache dem großen Rath und dem Volk anheim stellen
würden. Etliche lose Buben und Häringsweiber drangen
wirklich mit Gewalt in die benachbarten Häuser, rissen
Brände von den Feuerherden, und kamen damit zurück, um
den gnädigen Herren zu zeigen, daß es mit ihrer Drohung
im Ernste gemeinet sey.Indessen hatte der Auflauf, der hierdurch verursacht
wurde, eine Anzahl Esel herbeigerufen, die den Herren von
ihrer Partei mit Knitteln, Feuerzangen, Hämmern, Fleischmessern,
Mistgabeln, und dem ersten dem besten was ihnen
in die Hände gefallen war, zu Hülfe kommen wollten: und
wiewohl sie von den Schatten bei weitem übermehrt waren,
so trieb sie doch ihre Herzhaftigkeit und die Verachtung,
womit sie die ganze Partei der Schatten ansahen, die wörtlichen
Beleidigungen mit so nachdrücklichen Hieben und Stößen
zu erwiedern, daß es blutige Köpfe absetzte, und das Handgemeng
in wenig Augenblicken allgemein wurde.Bei so gestalten Sachen war nun freilich in der Rathsstube
nichts andres zu thun, als einhellig zu beschließen:
daß man lediglich aus Liebe zum Frieden und um des gemeinen
Besten willen, für dießmal citra praejudicium sich
gefallen lassen könne, daß der Handel wegen des Eselschattens
vor den großen Rath gebracht, und der Entscheidung
desselben überlassen würde.Inzwischen war den guten Rathsherren so eng in ihrer
Haut, daß sie, sobald man sich (wiewohl auf eine sehr tumultuarische
Weise) zu diesem Schlusse vereiniget hatte, den
Zunftmeister Pfriem mit aufgehobnen Händen baten, sich herunter
zu begeben und das aufgebrachte Volk zu beruhigen.
Der Zunftmeister, dem es mächtig wohl that die stolzen Patricier
so tief unter die Gewalt des Knieriemens gedemüthiget
zu sehen, zögerte zwar nicht, ihnen diese Probe seines
guten Willens und seines Ansehens bei dem Volke zu geben;
aber der Tumult war schon so groß, daß seine Stimme, wiewohl
eine der besten Bierstimmen von ganz Abdera, eben so
wenig gehört wurde, als das Geschrei eines Schiffjungen im
Mastkorb unter dem donnernden Geheul des Sturms und
dem Brausen der zusammenprallenden Wellen. Er würde
sogar in der ersten Wuth, in welcher der Pöbel (der ihn
nicht sogleich erkannte) bei seinem Anblick aufbrannte, seines
eignen Lebens nicht sicher gewesen seyn, wenn nicht glücklicher
Weise der Erzpriester Agathyrsus — der diesen zufälligen
Tumult für den geschicktesten Augenblick hielt der Gegenpartei
in die Flanke zu fallen — mit seinem vergoldeten Hammelsfell
an einer Stange vor sich her und mit seiner ganzen Priesterschaft
hinterdrein, in eben diesem Augenblick herbeigekommen
wäre, dem Aufruhr Einhalt zu thun; indem er dem
Pöbel die Versicherung gab daß ihnen genug geschehen sollte,
und daß er selbst der erste sey, der darauf antrage, daß die
Sache vor dem großen Rath abgethan werden müsse.Diese öffentliche Versicherung des Prälaten, und seine
Herablassung und Leutseligkeit, nebst der Ehrfurcht, die das
Abderitische Volk für das vergoldete Hammelsfell zu tragen gewohnt
war, that eine so gute Wirkung, daß in wenig Augenblicken
alles wieder ruhig war, und der ganze Markt von
einem lauten: es lebe der Erzpriester Agathyrsus! erschallte.
Die Verwundeten schlichen sich ganz ruhig nach Hause, um
sich ihre Köpfe verbinden zu lassen; der übrige Troß strömte
hinter dem zurückkehrenden Erzpriester her; der Zunftmeister
aber hatte den Verdruß zu sehen, daß ein großer Theil seiner
sonst so treu ergebenen Schatten, von der Ansteckung des
übrigen Haufens hingerissen, den Triumph seines Gegners
vergrößern half, und in diesem Augenblick des Taumels leicht
dahin hätte gebracht werden können, allen den wilden Muthwillen,
den sie kurz zuvor an ihren vermeintlichen Feinden, den
Eseln, auszuüben bereit waren, nun an ihren eignen Freunden,
den Schatten, auszulassen.—————
Neuntes Kapitel.Politik beider Parteien. Der Erzpriester verfolgt seinen erhaltenen Vortheil.
Die Schatten ziehen sich zurück. Der entscheidende Tag wird
festgesetzt.Dieser unvermuthete Vortheil, den der Erzpriester über
die Schatten gewann, kränkte diese um so viel empfindlicher,
da er ihnen nicht nur die Freude und Ehre des Sieges, den
sie im Senat erhalten hatten, verkümmerte, sondern ihre
Partei selbst merklich schwächte, und ihnen überhaupt zu erkennen
gab, wie wenig sie sich auf die Unterstützung eines
leichtsinnigen Pöbels verlassen dürften, der von jedem Wind
auf eine andere Seite geworfen wird, und selten recht weiß
was er selbst will, geschweige was diejenigen mit ihm machen
wollen, von denen er sich treiben läßt.Agathyrsus, der nun das erklärte Haupt der Esel war
hatte durch seine Emissarien erfahren, daß die Gegenpartei
durch nichts mehr bei der gemeinen Bürgerschaft gewonnen
habe, als durch den Widerstand, den die Beschützer des Eseltreibers
anfänglich thaten, da die Sache vor den großen Rath
gespielt werden sollte.Da dieser Rath aus vierhundert Männern bestand, welche
als die Repräsentanten der gesammten Bürgerschaft von Abdera
angesehen wurden, und wovon die Hälfte wirklich bloße Krämer
und Handwerksleute waren: so glaubte sich jeder gemeine
Mann durch die vermeinte Absicht, die Vorrechte desselben
einschränken zu wollen, persönlich beleidigt; und die Vorspieglung
des Zunftmeisters Pfriem, daß es auf einen gänzlichen
Umsturz ihrer demokratischen Verfassung abgezielt sey,
fand desto leichter Eingang.In der That war es auch um das, was in der Abderitischen
Staatseinrichtung demokratisch schien, bloßes Schattenwerk
und politisches Gaukelspiel. Denn der kleine Rath, dessen
zwei Drittel aus alten Geschlechtern bestanden, machte im
Grunde alles was er wollte; und die Fälle, wo die Vierhundert
zusammenberufen werden mußten, waren in dem Authentischen
Grundgesetz auf solche Schrauben gestellt, daß es beinahe
gänzlich von dem Urtheil des kleinen Raths abhing, wann
und wie oft sie die Vierhundertmänner zusammenberufen wollten,
um zu dem, was jener schon beschlossen hatte, ihre treugehorsamste
Beistimmung zu geben. Denn gewöhnlich war dieß
alles, was man diesen wackern Leuten zumuthete, die (nach
einer billigen Voraussetzung) zu viel mit ihren eigenen Angelegenheiten
zu thun hatten, um sich über Gesetzgebungs- und
Staatsverwaltungssachen die Köpfe zu zerbrechen. Aber eben
darum, weil dieses Vorrecht der Abderitischen Gemeinen nicht
viel zu bedeuten hatte, waren sie desto eifersüchtiger darauf,
und um so nöthiger war es, dem Volke das Gängelbande zu
verbergen, an welchem man es führte, indem es allein zu
gehen glaubte.Es war also ein wahrer Meisterstreich von dem Erzpriester,
daß er sich nun auf einmal und in einem Augenblicke, wo die
Wirkung davon plötzlich und entscheidend seyn mußte, dem
Volk in einer Sache zu Willen erklärte, auf die es einen so
hohen Werth legte. Und da er, anstatt etwas dabei zu
wagen, vielmehr dadurch einen starken Riß in den Plan der
Gegenpartei machte, so hatte diese nunmehr alle Ursache, auf
neue Mittel und Wege zu denken, wie sie den Erzpriester und
seinen Anhang wieder aus dem Vortheil heben, und den
günstigen Eindruck auslöschen möchte, den er auf das gemeine
Volk gemacht hatte.Die Häupter der Schatten kamen noch an selbigem Abend
in dem Hause der Dame Salabanda zusammen, und beschlossen:
daß man, anstatt die Ernennung eines nahen Tages
zur Zusammenberufung der Vierhundert bei dem Archon zu
betreiben, sich vielmehr (falls es nöthig seyn sollte) verwenden
wolle, solche zu verzögern, um dem Volke Zeit zu geben sich
wieder abzukühlen. Inzwischen wollte man die Bürgerschaft
unter der Hand und mit aller Gelassenheit zu überzeugen
suchen: wie thöricht sie wären, sich von dem Erzpriester und
seinen Miteseln als etwas Verdienstliches anrechnen zu lassen,
was doch nichts weniger als guter Wille, sondern eine bloße
Folge ihrer Schwäche sey. Wenn die Esel es in ihrer Gewalt
gehabt hätten die Sache dem großen Rath aus den Händen
zu reißen, so würden sie es gethan, und sich wenig darum
bekümmert haben, ob es dem Volke lieb oder leid sey. Dieser
plötzliche Absprung von ihrem vorigen stadtkundigen Betragen
sey ein allzugrober Kunstgriff die Volkspartei zu trennen, als
daß man sich dadurch betrügen lassen könne. Vielmehr habe
man um desto mehr Ursache auf seiner Hut zu seyn, da es
augenscheinlich darauf angesehen sey, das Volk durch süße
Worte einzuschläfern, und unvermerkt dahin zu bringen, daß
es unwissenderweise ein Werkzeug seiner eignen Unterdrückung
werde.Der Oberpriester Strobylus, der bei dieser Berathschlagung
zugegen war, billigte zwar alles, was man thun
könnte, um das Ansehen seines Nebenbuhlers bei der Bürgerschaft
zu vermindern und seine Absichten verdächtig zu machen:
"Allein ich zweifle sehr, setzte er hinzu, daß wir die gehofften
Früchte davon erleben werden. Ich bereite ihm aber eine
andere und schärfere Lauge zu, die desto besser wirken wird,
weil sie ihm ganz unversehens über den Kopf kommen soll.
Es ist noch nicht Zeit, mich deutlicher zu erklären. Laßt mich
nur machen! Mag er sich doch eine Weile mit der Hoffnung
schmeicheln, den Priester Strobylus im Triumph hinter sich
her zu schleppen! Die Freude soll ihm übel versalzen werden,
darauf verlaßt euch! Inzwischen, wenn wir (wie ich hoffe)
ehrlich an einander handeln, und wenn es uns Ernst ist den
Sieg über unsre Feinde zu erhalten, so müssen wir reinen
Mund über das halten, was ich euch von meinem geheimen
Anschlag habe merken lassen und seiner Zeit davon entdecken
werde. Agathyrsus muß sicher gemacht werden. Er muß
glauben, das wir nur noch mit Einem Flügel schlagen, und
daß alle unsre Hoffnung auf unserm Vertrauen das Uebergewicht
im großen Rathe zu machen, beruhe."Jedermann fand, daß der Oberpriester die Sache richtig
gefaßt habe, und die Gesellschaft trennte sich, sehr neugierig
was das wohl für ein Anschlag seyn könne, den er gegen den
Erzpriester in Petto behalte, aber auch sehr überzeugt, daß,
wenn es auf den Sturz des letztern angesehen sey, die Sache
in keine bessern als in des Priesters Strobylus Hände gestellt
werden könne.Agathyrsus ermangelte inzwischen nicht, aus dem kleinen
Siege, den er durch eine ihm eigene Gegenwart des Geistes
zu so gelegener Zeit über seine Gegner erhalten hatte, allen
möglichen Vortheil zu ziehen. Er hatte unter den Haufen
des gemeinen Volks, der ihn bis in den Vorhof des erzpriesterlichen
Palastes begleitete, Brod und Wein austheilen lassen,
bevor er sie mit einer ernstlichen Vermahnung, ruhig zu seyn,
wieder nach Hause gehen ließ; wo sie nun vom Lobe seiner
Person, seiner Leutseligkeit und Freigebigkeit gegen ihre
Nachbarn und Bekannten überflossen. Aber, wiewohl er den
Geist der Republiken zu gut kannte um die Gunst des Pöbels
für nichts zu achten, so wußte er doch wohl, daß er damit
noch nicht viel gewonnen hatte. Das Nothwendigste war, sich
der Zuneigung des größten Theils der Vierhundert gänzlich
zu versichern; theils weil jetzt auf diese alles ankam, theils
weil man, wenn sie einmal gewonnen waren, mehr Staat
auf sie machen konnte als auf das übrige Volk. Er hatte
zwar bereits einen ansehnlichen Anhang unter ihnen: aber,
außer einer Anzahl erklärter und eifriger Schatten, mit denen
er sich nicht einlassen mochte, befanden sich noch sehr viele —
und sie bestanden meistens aus den Vermöglichsten und Angesehensten
von der Bürgerschaft — die sich entweder noch gar
nicht erklärt hatten, oder nur darum gegen die Partei der
Schatten hin schwankten, weil ihnen die Häupter der Gegenpartei
als herrschsüchtige, gewaltthätige Leute beschrieben
worden waren, die diese ganze lächerliche Onoskiamachie bloß
darum angezettelt hätten, um die Stadt in Verwirrung zu
setzen, und Unruhen, wovon sie selbst die Urheber wären, zum
Vorwand und Werkzeug ihrer ehrgeizigen Absichten zu gebrauchen.Diese Leute auf seine Seite zu bringen, schien ihm nun
eben so leicht, als es für den Triumph seiner Partei entscheidend
war. Er ließ sie alle noch an selbigem Abend zu
Gaste bitten. Die meisten erschienen; und der Erzpriester,
der eine besondere Gabe hatte seiner Politik einen Firniß von
Offenheit und aufrichtigem Wesen anzustreichen, machte ihnen
kein Geheimniß daraus, daß er sie zu sich gebeten habe, um
mit Hülfe so braver und verständiger Männer die Vorurtheile
zu zerstreuen, die (wie er höre) der Bürgerschaft wider ihn
beigebracht worden. "Daß man, sagte er, in dem Handel
zwischen einem Eseltreiber und einem Zahnarzt, und in einem
Handel, wo es bloß um den Schatten eines Esels zu thun
sey, einen Mann seines Standes zum Haupt einer Partei
machen wolle, komme ihm allzu lächerlich vor, als daß er sich
jemals einfallen lassen werde, eine so alberne Beschuldigung
von sich abzulehnen. Indessen sey der arme Anthrax ein
Schutzverwandter des Jasonstempels, und er habe ihm also
nicht versagen können, sich seiner, so weit es die Gerechtigkeit
erfordere, anzunehmen. Ohne die bekannte auffahrende Hitze
des Zunftmeisters Pfriem, der sich etwas unzeitig zum Sachwalter
des Zahnarztes aufgeworfen — nicht weil dieser Recht
habe, sondern bloß weil er bei den Schustern zünftig sey —
würde eine so unbedeutende Sache unmöglich zu solcher Weitläuftigkeit
gekommen seyn. Sey aber einmal ein Feuer angezündet,
so fänden sich immer Leute, denen damit gedient sey
es anzublasen und zu nähren. Er seines Orts habe sich immer
zum Gesetz gemacht, sich in nichts zu mischen das ihn nichts
angehe. Daß er sich aber dazu verwendet habe, den gefährlichen
Tumult, der diesen Morgen von den Anhängern des
Zunftmeisters vor dem Rathhause erregt worden, durch seine
Dazwischenkunft und göttliches Zureden zu stillen, werde ihm
hoffentlich von keinem Billigdenkenden als eine ungeziemende
Anmaßung, sondern vielmehr als die That eines guten Bürgers
und Patrioten ausgelegt werden; zumal, da es dem
Charakter eines Priesters immer anständiger sey, Friede zu
stiften und Unordnungen zu verhüten, als Oel ins Feuer zu
gießen, wie von manchen bekannt sey die er nicht zu nennen
nöthig habe. Im übrigen läugne er nicht, daß er — da die
Sache mit dem Eselsschatten nun einmal in erster Instanz
verdorben worden, und zu einem Handel erwachsen sey, an
welchem ganz Abdera Antheil zu nehmen sich gleichsam genöthigt
sehe — immer gewünscht habe, daß die Sache je eher
je lieber vor den großen Rath gebracht würde; nicht sowohl,
damit der arme Anthrax die gebührende Genugthuung erhalte
(wiewohl nicht zu zweifeln sey, daß ihm solche bei dieser
hohen Gerichtsstelle nicht entstehen könne), als damit dem
zügellosen Muthwillen der Sykophanten endlich einmal durch
irgend ein angemess'nes Gesetz Schranken gesetzt, und dergleichen
schnöden Händeln, die der Stadt Abdera zu schlechter
Ehre gereichten, fürs künftige nach Möglichkeit vorgebaut
werden möchte."Agathyrsus brachte alles dieß mit so vieler Gelassenheit
und Mäßigung vor, daß seine Gäste sich nicht genug über die
Ungerechtigkeit derjenigen verwundern konnten, welche einen
so gutdenkenden Herrn zum vornehmsten Anstifter dieser
Unruhen hätten machen wollen. Sie hielten sich nun alle
von dem Gegentheil vollkommen überzeugt; und es gelang
ihm in wenigen Stunden, diese wackern Leute, ohne daß sie
es selbst merkten und indem sie noch immer ganz unparteiisch
zu seyn glaubten, zu so guten Eseln zu machen als es vielleicht
in ganz Abdera gab; zumal nachdem die köstlichen
Weine, womit er sie bei der Abendmahlzeit beträufte, jeden
Schatten des Mißtrauens vollends ausgelöscht, und jede Seele
zur Empfänglichkeit aller Eindrücke, die er ihnen geben wollte,
geöffnet hatten.Man kann sich leicht vorstellen, daß dieser Schritt des
Agathyrsus die Gegenpartei nicht wenig beunruhigen mußte.
Da die Revolution, welche unter demjenigen Theile der
Bürgerschaft, der bisher gleichgültig geblieben, dadurch bewirkt
worden war, bald darauf sehr merklich zu werden anfing,
und alle Batterien, die man mit verdoppeltem Eifer dagegen
spielen ließ, nicht nur ohne Wirkung blieben, sondern gerade
die gegentheilige Wirkung thaten, und die Uebelgesinntheit der
Schatten, durch die Vergleichung mit der Mäßigung und
patriotischen Gesinnung des Prälaten, nur desto auffallender
machten: so würden die besagten Schatten äußerst verlegen
gewesen seyn, was sie anfangen wollten, um ihrer beinahe
ganz gesunkenen Partei wieder einen Schwung zu geben, wenn
der Priester Strobylus sie nicht bei Muth erhalten, und versichert
hätte, daß er, sobald der Gerichtstag festgesetzt sey,
dem kleinen Jason (wie er ihn zu nennen pflegte) ein Gewitter
über den Hals schicken wolle, dessen er sich mit aller seiner
Schlauheit gewiß nicht versehe, und wodurch die Sache sogleich
ein ganz anderes Ansehen gewinnen werde.Die Schatten schienen sich nun so ruhig zu halten, daß
Agathyrsus und sein Anhang diese anscheinende Niedergeschlagenheit
ihrer Geister sehr wahrscheinlich der wenigen
Hoffnung zuschreiben konnte, welche ihnen nach dem über sie
erhaltnen zwiefachen Vortheil übrig geblieben. Sie verdoppelten
daher ihre Bemühungen bei dem Archon Onolaus (dessen
Sohn ein vertrauter Freund des Erzpriesters und einer der
hitzigsten Esel war), einen nahen Tag zur Versammlung des
großen Raths anzuberaumen; und sie erhielten endlich durch
ihr ungestümes Anhalten, daß diese Feierlichkeit auf den
sechsten Tag nach der letzten Rathssitzung festgesetzt wurde.Diejenigen, welche die Weisheit eines Plans oder einer
genommenen Maßregel nach dem Erfolg zu beurtheilen pflegen,
werden vielleicht in Sicherheit des Erzpriesters bei der plötzlichen
Unthätigkeit seiner Gegenpartei einen Mangel an Klugheit
und Vorsicht finden, von welchem wir ihn allerdings nicht
gänzlich freisprechen können. Ganz gewiß würde es behutsamer
von ihm gewesen seyn, diese Unthätigkeit vielmehr irgend
einem wichtigen Anschlag, über welchem sie in der Stille brütete,
als einem zu Boden gesunkenen Muthe zuzuschreiben.
Allein es war einer von den Fehlern dieses Jasoniden, daß
er, aus allzu lebhaftem Gefühl seiner eignen Stärke, seine
Gegner immer mehr verachtete als die Klugheit erlaubt. Er
handelte fast immer wie einer, der es nicht der Mühe werth
hält, zu berechnen was ihm seine Feinde schaden können, weil
er sich überhaupt bewußt ist, daß es ihm nie an Mitteln
fehlen werde, das Aergste, was sie ihm thun können, von sich
abzutreiben. Indessen ist doch im gegenwärtigen Falle zu vermuthen,
daß tausend andre, an seinem Platz und bei so günstigen
Anscheinungen, eben so gedacht, und, wie er, geglaubt
hätten sehr wohl daran zu thun, wenn sie sich den guten
Willen ihrer neuen Freunde zu Nutze machten, bevor er wieder
erkaltete, und ihren Feinden keine Zeit ließen, wieder
zu sich selbst zu kommen.Daß der Erfolg seiner Erwartung nicht gemäß war, kam
von einem Streiche des Priesters Strobylus her, den er mit
aller seiner Klugheit nicht voraussehen konnte; und der, so
sehr er auch in dem Charakter dieses Mannes gegründet
seyn mochte, doch so beschaffen war, daß man nur durch die
unmittelbare Erfahrung dahin gebracht werden konnte, ihn
dessen für fähig zu halten.—————
Zehntes Kapitel.Was für eine Mine der Priester Strobylus gegen seinen Collegen springen
läßt. Zusammenberufung der Zehnmänner. Der Erzpriester wird vorgeladen,
findet aber Mittel, sich sehr zu seinem Vortheil aus der Sache
zu ziehen.Tages vorher, ehe der Proceß über den Eselsschatten, der
seit einigen Wochen die unglückliche Stadt Abdera in so weit
aussehende Unruhen gestürzt hatte, vor dem großen Rath entschieden
werden sollte, kam der Oberpriester Strobylus, mit
zwei andern Priestern der Latona und verschiedenen Personen
aus dem Volke, in großer Gemüthsbewegung und Eilfertigkeit
früh Morgens zu dem Archon Onolaus, um Seiner Gnaden
ein Wunderzeichen zu berichten, welches (wie man die
höchste Ursache habe zu fürchten) die Republik mit irgend
einem großen Unglück bedrohe.Es hätten nämlich schon in der ersten und zweiten Nacht
vor dieser letztern einige zum Latonentempel gehörige Personen
zu hören geglaubt, daß die Frösche des geheiligten Teiches —
anstatt des gewöhnlichen Wreckeckeck Koax Koax,
welches sie sonst mit allen andern natürlichen Fröschen, und
selbst mit denen in den Stygischen Sümpfen (wie aus dem
Aristophanes zu ersehen) gemein hätten — ganz ungewöhnliche
und klägliche Töne von sich gegeben; wiewohl besagte
Leute sich nicht getraut hätten, so nahe hinzuzugehen, um
solche genau unterscheiden zu können. Auf die Anzeige, die
ihm, dem Oberpriester, gestern Abends hiervon gemacht
worden, habe er die Sache wichtig genug gefunden, um mit
seiner untergebnen Priesterschaft die ganze Nacht bei dem geheiligten
Teiche zuzubringen. Bis gegen Mitternacht habe die
tiefste Stille auf demselben geruht: allein um besagte Zeit habe
sich plötzlich ein dumpfes, unglückweissagendes Getön aus dem
Teich erhoben; und da sie näher hinzu getreten, hätten sie
insgesammt die Töne: Weh! Weh! Pheu! Pheu! Eleleleleleu!
ganz deutlich unterscheiden können. Dieses Wehklagen habe
eine ganze Stunde lang gedauert, und sey, außer den Priestern,
noch von allen denen gehört worden, die er als Zeugen
eines so unerhörten und höchst bedenklichen Wunders mir sich
gebracht habe. Da nun gar nicht zu bezweifeln sey, daß die
Göttin ihr bisher geliebtes Abdera durch dieses drohende und
wundervolle Anzeichen vor irgend einem bevorstehenden großen
Unglück habe warnen, oder vielleicht zur Untersuchung und
Bestrafung irgend eines noch unentdeckten Frevels auffordern
wollen, der den Zorn der Götter auf die ganze Stadt ziehen
könnte: so wolle er, kraft seines Amtes und im Namen der
Latona, Seine Gnaden hiermit ersucht haben, das ehrwürdige
Collegium der Zehnmänner unverzüglich zusammenberufen zu
lassen, damit die Sache ihrer Wichtigkeit gemäß erwogen, und
die weitern Vorkehrungen, die ein solcher Vorfall erfordere,
getroffen werden könnten.Der Archon, der in dem Rufe stand sich in Betreff der
geheiligten Frösche ziemlich stark auf die freien Meinungen
Demokrits zu neigen, schüttelte bei diesem Vortrage den Kopf,
und ließ die Priester eine ziemliche Weile ohne Antwort.
Allein der Ernst, womit diese Herren die Sache vorbrachten,
und der seltsame Eindruck, den solche bereits auf die gegenwärtigen
Personen aus dem Volke gemacht zu haben schien,
ließen ihn leicht voraussehen, daß in wenig Stunden die ganze
Stadt von diesem vorgeblichen Wunder voll seyn und in
schreckenvolle Ahndungen gesetzt werden dürfte, bei welchen
ihm nicht erlaubt seyn würde gleichgültig zu bleiben. Es
blieb ihm also nichts übrig, als sogleich in Gegenwart der Priester
den Befehl zu geben, daß die Zehnmänner sich wegen
eines außerordentlichen Vorfalls binnen einer Stunde in dem
Tempel der Latona versammeln sollten.Inzwischen hatte, durch Veranstaltung des Oberpriesters,
das Gerücht von einem furchtbaren Wunderzeichen, welches
seit drei Nächten in dem Haine der Latona gehört werde, sich
bereits durch ganz Abdera verbreitet. Die Freunde des Erzpriesters
Agathyrsus, die nicht so einfältig waren sich durch
ein solches Gaukelwerk täuschen zu lassen, wurden dadurch erbittert,
weil sie nicht zweifelten, daß irgend ein böser Anschlag
gegen ihre Partei darunter verborgen liege. Verschiedene
junge Herren und Damen von der ersten Classe affectirten
über das vorgegebene Wunder zu spotten, und machten Partien,
in der nächsten Nacht der neumodischen Trauermusik im
Froschteiche der Latona beizuwohnen. Aber auf das gemeine
Volk und auf einen großen Theil der Vornehmern, die in
Sachen dieser Art allenthalben gemeines Volk zu seyn pflegen,
that die Erfindung des Oberpriesters ihre vollständige Wirkung.
Das Pheu! Pheu! Elelelelelen! der Latonenfrösche unterbrach
auf einmal alle bürgerlichen und häuslichen Beschäftigungen.
Alte und Junge, Weiber und Kinder liefen auf den Gassen
zusammen, und forschten mit erschrocknen Gesichtern nach den
Umständen des Wunders. Und da beinahe ein jedes die Sache
aus dem eignen Munde der ersten Zeugen gehört haben wollte,
und der Eindruck, den man dergleichen Erzählungen auf die
Zuhörer machen sieht, eine natürliche Anreizung für den Erzähler
zu seyn pflegt, immer etwas das die Sache interessanter
macht hinzuzuthun: so wurde das Wunder in weniger als
einer Stunde in den verschiedenen Gegenden der Stadt mit
so furchtbaren Umstanden gefüttert, daß den Leuten beim
bloßen Hören die Haare zu Berge standen. Einige versicherten,
die Frösche, als sie den fatalen Gesang angestimmt, hätten
Menschenköpfe aus dem Teich emporgereckt; andere, daß sie
ganz feurige Augen von der Größe einer Wallnuß gehabt hätten;
noch andere, daß man zu eben der Zeit allerlei fürchterliche
Gespenster, ungeheure heulende Töne von sich gebend,
im Hain umherfahren gesehen; wieder andere, daß es bei
hellem Himmel ganz erschrecklich über dem Teich geblitzt und
gedonnert habe; und endlich betheuerten einige Ohrenzeugen:
daß sie ganz deutlich die Worte: weh dir, Abdera! zu wiederholtenmalen
hätten unterscheiden können. Kurz, das Wunder
wurde (wie gewöhnlich) immer größer je weiter es sich fortwälzte,
und fand desto mehr Glauben, je ungereimter, widersprechender
und unglaublicher die Berichte waren, die davon
gegeben wurden. Und da man bald darauf die Zehnmänner
zu einer ungewöhnlichen Zeit in großer Hast und mit bedeutungsvollen
Gesichtern dem Tempel der Latona zueilen sah;
so zweifelte nun niemand mehr, daß Begebenheiten von der
größten Wichtigkeit in dem Becher des Abderitischen Schicksals
gemischt würden, und die ganze Stadt schwebte in zitternder
Erwartung der Dinge, die da kommen sollten.Das Collegium der Zehnmänner war aus dem Archon,
den vier ältesten Rathsherren, den zwei ältesten Zunftmeistern,
dem Oberpriester der Latona, und zwei Vorstehern des geheiligten
Teiches zusammengesetzt, und stellte das ehrwürdigste
unter allen Abderitischen Tribunalen vor. Alle Sachen, bei
denen die Religion von Abdera unmittelbar betroffen war,
standen unter seiner Gerichtsbarkeit, und sein Ansehen war
beinahe unumschränkt.Es ist eine alte Bemerkung, daß verständige Leute durchs
Alter gewöhnlich weiser, und Narren mit den Jahren immer
alberner werden. Ein Abderitischer Nestor hatte daher selten
viel dadurch gewonnen, daß er zwei oder drei neue Generationen
gesehen hatte; und so konnte man ohne Gefahr voraussetzen,
daß die Zehnmänner von Abdera, im Durchschnitt genommen,
den Ausschuß der blödesten Köpfe in der ganzen
Republik ausmachten. Die guten Leute waren so bereitwillig,
die Erzählung des Oberpriesters für eine Thatsache, die gar
keinem Einwurf ausgesetzt seyn könne, anzunehmen, daß sie
die Abhörung der Zeugen für eine bloße Formalität anzusehen
schienen, womit man so schnell als möglich fertig zu werden
suchen müssen. Da nun Strobylus die Herren von der Richtigkeit
des Wunders schon zum voraus so wohl überzeugt
fand, so glaubte er um so weniger zu wagen, wenn er ohne
Zeitverlust zu demjenigen fortschritte, weßwegen er sich die
Mühe genommen die ganze Fabel zu erfinden."Von dem ersten Augenblick an, sagte er, da meine eignen
Ohren Zeugen dieses Wunderzeichens gewesen sind, welches
(wie ich wohl sagen kann) in den Jahrbüchern von Abdera
niemals seinesgleichen gehabt hat, stieg der Gedanke in
mir auf: daß es eine Warnung der Göttin seyn könnte vor
den Folgen ihrer Rache, die, wegen irgend eines geheimen
unbestraften Verbrechens, über unsern Häuptern schweben
möchte; und dieß setzte mich in die Nothwendigkeit, des Archons
Gnaden zu gegenwärtiger Versammlung des sehr ehrwürdigen
Zehnmännergerichts zu veranlassen. Was damals
bloß Vermuthung war, hat sich seit einer einzigen Stunde zur
Gewißheit aufgeklärt. Der Frevler ist bereits entdeckt, und
das Verbrechen durch Augenzeugen erweislich, gegen deren
Wahrhaftigkeit um so weniger einiger Zweifel vorwaltet, da
der Thäter ein Mann von zu großem Ansehen ist, daß etwas
Geringeres als die Furcht der Götter Leute von gemeinem
Stande dahin bringen könnte, als Zeugen wider ihn aufzutreten.
Sollten Sie es jemals für möglich gehalten haben,
hochgeachtete Herren, daß jemand mitten unter uns verwegen
genug seyn könne, unsern uralten, von den ersten Stiftern
unsrer Stadt auf uns angeerbten, und durch so viele Jahrhunderte
unbefleckt erhaltenen Gottesdienst und dessen Gebräuche
und heilige Dinge zu verachten, und, ohne Ehrerbietung
weder für die Gesetze noch den gemeinen Glauben und
die Sitten unsrer Stadt, muthwilliger Weise zu mißhandeln,
was uns allen heilig und ehrwürdig ist? Mit Einem Worte,
können Sie glauben, daß ein Mann mitten in Abdera lebt,
der, dem Buchstaben des Gesetzes zu Trotz, Störche in seinem
Garten unterhält, die sich täglich mit Fröschen aus dem Teiche
der Latona füttern?"Erstaunen und Entsetzen drückte sich bei diesen Worten
auf jedem Gesicht aus. Wenigstens mußte der Archon, um
nicht der Einzige zu seyn der die Ausnahme machte, sich
eben so bestürzt anstellen als es seine übrigen Collegen wirklich
waren. Ist's möglich? schrien drei oder vier von den
ältesten zugleich: und wer kann der Bösewicht seyn, der sich
eines solchen Verbrechens schuldig gemacht hat?"Verzeihen Sie mir, erwiederte Strobylus, wenn ich Sie
bitte diesen harten Ausdruck zu mildern. Ich meines Orts
will lieber glauben, daß nicht Gottlosigkeit, sondern bloßer
Leichtsinn, und was man heutzutage, zumal seit Demokrit sein
Unkraut unter uns ausgestreut hat, Philosophie zu nennen
pflegt, die Quelle dieser anscheinenden Verachtung unsrer
heiligen Gebräuche und Ordnungen sey. Ich will und muß
dieß um so mehr glauben, da der Mann, der des besagten
Frevels durch das einhellige Zeugniß von mehr als sieben
glaubwürdigen Personen überwiesen werden kann, selbst ein
Mann von geheiligtem Stande, selbst ein Priester, mit Einem
Worte, daß es — der Jasonide Agathyrsus ist."Agathyrsus? riefen die erstaunten Zehnmänner aus Einem
Munde. Drei oder vier von ihnen erblaßten, und schienen
verlegen zu seyn, einen Mann von solcher Bedeutung, und
mit dessen Hause sie immer in gutem Vernehmen gestanden,
in einen so schlimmen Handel verwickelt zu sehen.Strobylus ließ ihnen keine Zeit sich zu erholen. Er befahl,
die Zeugen hereinzurufen. Sie wurden einer nach dem
andern abgehört; und es ergab sich: daß Agathyrsus allerdings
seit einiger Zeit zwei Störche in seinen Gärten unterhielt;
daß man sie öfters über dem geheiligten Teiche schweben sehen,
und daß wirklich einer seiner quakenden Bewohner, der sich
eben am Ufer sonnen wollte, von einem derselben verschlungen
worden sey.Wiewohl nun hierdurch die Wahrheit der Beschuldigung
außer allem Zweifel gesetzt schien: so glaubte der Archon Onolaus
dennoch, die Klugheit erfordere, zu Verhütung unangenehmer
Folgen, mit einem Manne wie der Erzpriester Jasons
säuberlich zu verfahren. Er trug also darauf an, daß man
sich begnügen sollte, ihm von Seiten der Zehnmänner freundlich
bedeuten zu lassen: "man sey geneigt für dießmal zu
glauben, daß die Sache, worüber man sich zu beklagen habe,
ohne sein Vorwissen geschehen sey; man verspreche sich aber
von seiner bekannten billigen Denkart, er werde keinen Augenblick
Anstand nehmen, die verbrecherischen Störche an die
Vorsteher des heiligen Teiches auszuliefern, und den Zehnmännern
sowohl als der ganzen Stadt hierdurch eine gefällige
Probe seiner Achtung gegen die Gesetze und religiösen Gebräuche
seiner Vaterstadt zu geben."Drei Stimmen von neunen bekräftigten den Antrag des
Archon: aber Strobylus und die übrigen setzten sich mit großem
Eifer dagegen. Sie behaupteten: außerdem, daß es auf
keine Weise zu billigen sey eine so übermäßige Gelindigkeit
gegen einen Bürger von Abdera zu gebrauchen, der eines
Verbrechens von solcher Schwere überwiesen sey, so erfordere
auch die Gerichtsordnung, daß man ihn nicht eher verurtheile,
eh' er gehört und zur Verantwortung gelassen worden. Diesem
zufolge trug Strobylus darauf an: daß der Erzpriester vorgeladen
werden sollte, unverzüglich vor den Zehnmännern zu
erscheinen, und sich auf die wider ihn angebrachte Klage zu
verantworten; und dieser Antrag ging, alles Einwendens der
Minorität ungeachtet, mit sechs Stimmen gegen viere durch.
Der Erzpriester wurde also mit allen in solchen Fällen üblichen
Förmlichkeiten vorgeladen.Agathyrsus war nicht unvorbereitet, als die Abgeordneten
der Zehnmänner in seinem Haus erschienen. Nachdem er sie
über eine Stunde hatte warten lassen, wurden sie endlich in
einen Saal geführt, wo der Erzpriester, in seinem ganzen
Ornat, auf einem erhöhten elfenbeinernen Lehnstuhle sitzend,
das stotternde Anbringen ihres Worthalters mit großer Gelassenheit
anhörte. Als sie damit fertig waren, winkte er mit
der Hand einen Bedienten, der seitwärts hinter seinem Stuhle
stand. Führe die Herren, sagte er zu ihm, in die Gärten,
und zeige ihnen die Störche von denen die Rede ist, damit
sie ihren Principalen sagen können, daß sie solche mit eignen
Augen gesehen haben; hernach bringe sie wieder hierher.Die Abgeordneten machten große Augen; aber die Ehrfurcht
vor dem Erzpriester band ihre Zungen, und sie folgten
dem Diener stillschweigend, als Leute denen nicht ganz wohl
bei der Sache war. Als sie wieder zurückgekommen, fragte sie
Agathyrsus, ob sie die Störche gesehen hätten? und da sie
insgesammt mit Ja geantwortet hatten, fuhr er fort: nun
so geht, macht dem sehr ehrwürdigen Gericht der Zehnmänner
mein Compliment, und sagt denen, die euch geschickt haben:
ich lasse ihnen wissen, daß diese .Störche, wie alles übrige
was in dem Umfang des Jasontempels lebt, auch unter Jasons
Schutze stehen; und daß ich die Anmaßung, einen Erzpriester
dieses Tempels vorzuladen und nach den Abderitischen Gesetzen
richten zu wollen, sehr lächerlich finde. Und damit winkte er
ihnen, sich wegzubegeben.Diese Antwort — deren sich die Zehnmänner um so mehr
hätten versehen sollen, da ihnen nicht unbekannt seyn konnte,
daß der Jasontempel mit seiner Priesterschaft von der Gerichtsbarkeit
der Stadt Abdera gänzlich befreit war —setzte sie
in eine unbeschreibliche Verlegenheit; und der Oberpriester
Strobylus gerieth darüber in einen so heftigen Zorn, daß er
vor Wuth gar nicht mehr wußte was er sagte, und endlich
damit endigte, der ganzen Republik den Untergang zu drohen,
wofern dieser unleidliche Stolz eines kleinen aufgeblasenen
Pfaffen, der (wie er sagte) nicht einmal als ein öffentlicher
Priester anzusehen sey, nicht gedemüthigt, und der beleidigten
Latona die vollständigste Genugthuung gegeben werde.Allein der Archon und seine drei Rathsherrn erklärten
sich: daß Latona (für deren Frösche sie übrigens alle schuldige
Ehrerbietung hegten) nichts damit zu thun habe, wenn die
Zehnmänner die Gränzen ihrer Gerichtsbarkeit überschritten,.
"Ich hab' euch's vorhergesagt, sprach der Archon, aber ihr
wolltet nicht hören. Würde mein Vorschlag angenommen
worden seyn, so bin ich gewiß, der Erzpriester hätte uns eine
höfliche und gefällige Antwort gegeben; denn ein gut Wort
findet eine gute Statt. Aber der ehrwürdige Oberpriester
glaubte eine Gelegenheit gefunden zu haben, seinen alten Groll
an dem Erzpriester auszulassen; und nun zeigt es sich, daß er
und diejenigen, die sich von seinem unzeitigen Eifer hinreißen
ließen, dem Gericht der Zehnmänner einen Schandfleck zugezogen
haben, den alles Wasser des Hebrus und Nestus in
hundert Jahren nicht wieder abwaschen wird. Ich gesteh' es
(setzte er mit einer Hitze hinzu, die man in vielen Jahren
nicht an ihm wahrgenommen hatte), ich bin es müde, der Vorsteher
einer Republik zu seyn, die sich von Eselsschatten und
Fröschen zu Grunde richten läßt, und ich bin sehr gesonnen,
mein Amt, eh' es Morgen wird, niederzulegen; aber so lang'
ich es noch trage, Herr Oberpriester, sollt ihr mir für jede
Unordnung haften, die von diesem Augenblick an auf den
Straßen von Abdera entstehen wird." — Und mit diesen
Worten, die mit einem sehr ernstlichen Blick auf den betroffnen
Strobylus begleitet waren, begab sich der Archon mit seinen
drei Anhängern hinweg, und ließ die übrigen in sprachloser
Bestürzung zurück.Was ist nun anzufangen? sagte endlich der Oberpriester,
den die Wendung, die das Werk seiner Erfindung wider alles
Vermuthen genommen hatte, nicht wenig zu beunruhigen
anfing; was ist nun zu thun, meine Herren?Das wissen wir nicht, sagten die beiden Zunftmeister und
der vierte Rathsherr, und gingen ebenfalls davon; so daß
Strobylus und die zwei Vorsteher des geheiligten Teiches
allein blieben, und, nachdem sie eine Zeit lang alle drei zugleich
gesprochen hatten ohne selbst recht zu wissen was sie sagten,
endlich des Schlusses eins wurden: vor allen Dingen bei dem
einen der Vorsteher — die Mittagstafel einzunehmen, und
sodann mit ihren Freunden und Anhängern zu Rathe zu gehen,
wie sie es nun anzufangen hätten, um die Bewegung, worein
das Volk diesen Morgen gesetzt worden war, auf einen Zweck
zu lenken, der den Sieg ihrer Partei entscheiden könnte.—————
Eilftes Kapitel.Agathyrsus beruft seine Anhänger zusammen. Substanz seiner Rede an
sie. Er ladet sie zu einem großen Opferfest ein. Der Archon Onolaus
will sein Amt niederlegen. Unruhe der Partei des Erzpriesters über
dieses Vorhaben. Durch was für eine List sie solches vereiteln.Inzwischen ließ Agathyrsus, sobald die Abgeordneten der
Zehnmänner sich wieder wegbegeben hatten, unverzüglich die
Vornehmsten von seinem Anhang im Rath und unter der
Bürgerschaft nebst allen Jasoniden zu sich berufen. Er erzählte
ihnen, was ihm so eben auf Anstiften des Priesters Strobylus
mit den Zehnmännern begegnet war, und stellte ihnen vor, wie
nothwendig es nun, für das Ansehen ihrer Partei sowohl, als für
die Ehre und selbst für die Erhaltung der Stadt Abdera sey, die
Anschläge dieses ränkevollen Mannes zu vereiteln, und dem
Volke, welches er durch die lächerliche Fabel von der Wehklage
der Latonenfrösche in Unruhe gesetzt, wieder einen entgegengesetzten
Stoß zu geben. Es falle einem jeden von selbst in
die Augen, daß Strobylus dieses armselige Mährchen nur
deswegen ersonnen habe, um die eben so ungereimte, aber
wegen der abergläubischen Vorurtheile des Volkes desto
gefährlichere Anklage, die er gegen ihn, den Erzpriester, bei den
Zehnmännern angebracht, vorzubereiten, und eine wichtige,
die Wohlfahrt der ganzen Republik betreffende Sache daraus
zu machen. Aber auch dieß sey im Grunde doch nur ein
Mittel, wozu er in der Verzweiflung gegriffen habe, um
seiner darniedergesunkenen Partei wieder auf die Füße zu
helfen, und von den Bewegungen, welche in der Stadt dadurch
erregt worden, bei bevorstehender Entscheidung des Eselschatten-Handels
Vortheil zu ziehen. Weil nun aus eben diesem
Grunde leicht vorauszusehen sey, daß der unruhige Priester
aus dem, was diesen Morgen mit den Zehnmännern vorgegangen,
neuen Stoff hernehmen werde, ihn, den Erzpriester,
bei dem Volke verhaßt zu machen, und im Nothfalle wohl
gar einen abermaligen noch gefährlichern Aufstand zu erregen:
so habe er für nöthig gehalten, seine und des gemeinen Wesens
zuverlässigsten Freunde in den Stand zu setzen, dem
Volke und allen die dessen bedürften richtigere Begriffe von
dem heutigen Vorgang und dessen etwanigen Folgen geben
zu können. Was also die Störche anbelange, so wären solche
ohne sein Zuthun von selbst gekommen, und hätten sich auf
einem Baume seines Gartens ein Nest gebaut. Er habe sich
nicht für berechtigt gehalten sie darin zu stören; theils weil
die Störche seit undenklichen Zeiten bei allen gesitteten Völkern
im Besitz einer Art von geheiligtem Gastrechte ständen;
theils weil die Freiheit des Jasontempels und der Schutz
dieses Gottes alle lebenden und leblosen Dinge angehe, die sich
in dem Umfang seiner Mauern befänden. Das Gesetz, wodurch
die Zehnmänner vor einigen Jahren die Störche aus dem
Gebiet von Abdera verwiesen hätten, gehe ihn nichts an;
indem die Gerichtsbarkeit dieses Tribunals sich nur über dasjenige
erstrecke, was auf den Dienst der Latona und die Gebräuche
desselben Bezug habe. Und überhaupt sey bekannt,
daß der Jasontempel nur insofern, als die Republik bei dessen
Stiftung versprochen habe, ihn gegen alle gewaltsamen Unternehmungen
einheimischer oder auswärtiger Feinde zu beschützen,
mit derselben in Verbindung stehe, übrigens aber von allem
Gerichtszwange der Abderitischen Tribunale und von aller
Oberherrlichkeit der Republik vollkommen und auf ewig befreit
sey. Er habe also, indem er die unbefugte Vorladung von
sich abgewiesen, nichts gethan als was seine Würde von ihm
erfordere; die Zehnmänner hingegen hätten durch diesen unbesonnenen
Schritt, wozu die Mehrheit derselben von dem
Priester Strobylus verleitet worden, ihn in den Fall gesetzt,
von der Republik wegen einer so groben Verletzung seiner
erzpriesterlichen Vorrechte im Namen Jasons und aller Jasoniden
die strengste und vollständigste Genugthuung zu fordern.
Die Sache wäre von wichtigern Folgen, als die Anhänger des
Zunftmeisters Pfriem und Strobylus mit seinen Froschpflegern
sich vielleicht vorstellten. Das goldne Vließ, welches die
Jasoniden als ihr wichtigstes Erbgut in diesem Tempel aufbewahrten,
wäre seit Jahrhunderten als das Palladium von
Abdera betrachtet und verehrt worden. Die Abderiten hätten
sich also wohl vorzusehen, keine Schritte zu thun noch zuzulassen,
wodurch sie vielleicht durch eigne Schuld desjenigen
beraubt werden könnten, an welches, nach einem uralten und
zur Religion gewordnen Glauben, das Schicksal und die
Erhaltung ihrer Republik gebunden sey.Der Erzpriester empfing auf diesen Vortrag von allen
Anwesenden die stärksten Versicherungen ihres Eifers sowohl
für die gemeine Sache als für die Rechte und Freiheiten des
Jasontempels. Man besprach sich über die verschiednen Maßregeln,
die man nehmen wollte, um die Bürgerschaft in ihren
guten Gesinnungen zu befestigen, und diejenigen wieder zu
gewinnen, die entweder das vorgegebne Wunderzeichen mit
den Fröschen der Latona irre gemacht, oder Strobylus gegen
die Störche des Erzpriesters aufgewiegelt haben würde. Die
Versammlung trennte sich hierauf, und jeder begab sich an
seinen Posten, nachdem Agathyrsus sie alle zu einem feierlichen
Opfer eingeladen hatte, welches er diesen Abend dem
Jason in seinem Tempel bringen wollte.Während dieß im Palaste des Erzpriesters vorging, war
der Archon, äußerst mißvergnügt über die nicht allzu ehrenfeste
Rolle die er wider Willen hatte spielen müssen, nach Hause
gekommen, und hatte alle seine Verwandten, Brüder, Schwäger,
Söhne, Tochtermänner, Neffen und Vettern, zu sich berufen
lassen, um ihnen anzukündigen: wie er fest entschlossen sey,
morgenden Tages vor dem großen Rath seine Würde niederzulegen,
und sich auf ein Landgut, das er vor einigen Jahren
auf der Insel Thasus gekauft hatte, zurückzuziehen. Sein
ältester Sohn und noch etliche von der Familie waren bei
diesem Familienconvent nicht zugegen, weil sie eine halbe
Stunde zuvor zu dem Erzpriester waren gebeten worden.
Da nun die übrigen sahen, daß Onolaus, aller ihrer Bitten
und Vorstellungen ungeachtet, unbeweglich auf seinem Vorsatz
beharrte: so schlich sich einer von ihnen weg, um der Versammlung
im Jasontempel Nachricht davon zu geben, und sie
um ihren Beistand gegen einen so unverhofften widrigen Zufall
zu ersuchen.Er langte eben an, da die Versammlung im Begriff war
auseinanderzugehen. Diejenigen, denen die Gemüthsart des
Archon von langem her bekannt war, fanden die Sache bedenklicher
als sie beim ersten Anblick den meisten vorkam.
Seit zehn Jahren, sagten sie, ist dieß vielleicht das erstemal,
daß der Archon eine Entschließung aus sich selbst genommen
hat. Gewiß ist sie ihm nicht plötzlich gekommen! Er brütet
schon eine geraume Zeit darüber, und der heutige Vorgang
hat nur die Schale gesprengt, die über kurz oder lang doch
hätte brechen müssen. Kurz, diese Entschließung ist sein eignes
Werk; man kann also sicher darauf rechnen, daß es nicht so
leicht seyn wird, ihn davon zurückzubringen.Die ganze Versammlung gerieth darüber in Unruhe.
Man fand, daß dieser Streich in einem so schwankenden Zeitpunkte,
wie der gegenwärtige, der ganzen Partei und der
Republik selbst sehr nachtheilig werden könnte. Es wurde
also einhellig beschlossen: daß man zwar so viel von diesem
Vorhaben des Archon unter das Volk kommen lassen müßte,
als vonnöthen sey solches in Furcht und Ungewißheit zu setzen;
zugleich aber wollte man auch veranstalten, daß noch vor dem
Opfer im Jasontempel die angesehensten von den Räthen und
Bürgern beider Parteien sich zu dem Archon begeben, und
ihn im Namen des ganzen Abdera beschwören sollten, das
Ruder der Republik nicht mitten in einem Sturme zu verlassen,
wo sie eines so weisen Steuermanns am meisten vonnöthen
hätten.Der Gedanke, die Vornehmsten von beiden Parteien
hierin zu vereinigen, wurde dadurch nothwendig, weil man
voraussah, daß ohne dieses Mittel alle ihre Arbeit an dem
Archon fruchtlos seyn würde. Denn wiewohl er von Jugend
an der Aristokratie eifrig ergeben war, so hatte er sich doch
zu einem Grundsatz gemacht, nicht dafür angesehen seyn zu
wollen; und die Popularität, die er zu diesem Ende schon so
lange spielte, daß sie ihm endlich ganz natürlich ließ, war es
eben, was ihn beim Volke so beliebt gemacht hatte, als noch
wenige von seinen Vorfahren gewesen waren. Besonders
hatte er, seitdem sich die Stadt in die zwei Parteien der
Esel und der Schatten getheilt fand, einen ordentlichen Ehrenpunkt
darein gesetzt, sich so zu betragen, daß er keiner von
beiden Parteien Ursache gäbe, ihn zu der ihrigen zu zählen;
und wiewohl beinahe alle seine Freunde und Anverwandten erklärte
Esel waren, so blieben die Schatten doch überzeugt,
daß sie nichts dadurch bei ihm verlören, und die Esel nichts
dabei gewönnen; indem diese letztern genöthigt waren, alle
ihre Schritte vor ihm zu verbergen, und bei jedem Vortheil,
den sie über die Schatten erhielten, sich darauf verlassen
konnten, daß er, um die Sachen wieder ins Gleichgewicht
zu bringen, sich auf die Seite ihrer Gegner neigen würde,
wiewohl er keinen einzigen von ihnen persönlich liebte.Die Bekanntmachung der Entschließung des Archons hatte
alle die Wirkung, die man sich davon versprochen hatte. Das
Volk gerieth darüber in neue Bestürzung. Die meisten sagten:
man brauche nun weiter nicht nachzuforschen was die Wehklage
der geheiligten Frösche vorbedeute; wenn der Archon die
Republik in dem betrübten Zustande, worin sie sich befinde,
verlasse, so sey alles verloren.Der Priester Strobylus und der Zunftmeister Pfriem
erhielten die Nachricht von dem großen Opfer, das der Erzpriester
veranstalte, und das Gerücht von dem Entschlusse des
Archon, seine Stelle niederzulegen, zu gleicher Zeit. Sie übersahen
beim ersten Blick die Folgen dieses gedoppelten Streichs,
und eilten den einen zu erwiedern und dem andern zuvorzukommen.
Strobylus ließ das Volk zu einer Expiation einladen,
welche auf den Abend in dem Tempel der Latona mit
großen Feierlichkeiten angestellt werden sollte, um die Stadt
von geheimen Verbrechen zu reinigen, und die schlimme Vorbedeutung
des Eleleleleleu der geheiligten Frösche abzuwenden.
Meister Pfriem hingegen ging, die Räthe, Zunftmeister und
angesehensten Bürger von seiner Partei aufzusuchen, und sich
mit ihnen zu berathen, wie der Archon auf andere Gedanken
zu bringen seyn möchte. Die meisten waren schon durch die
geheimen Werkzeuge der Gegenpartei vorbereitet, welche als
ein großes Geheimniß herumgeflüstert hatten: man wüßte
ganz gewiß, daß die Esel sich alle mögliche Mühe gäben, den
Archon unter der Hand in seinem Entschluß zu bestärken. Die
Schatten hielten sich dadurch überzeugt, daß ihre Gegner einen
aus ihrem Mittel zu der höchsten Würde in der Republik zu
erheben gedachten, und also der Mehrheit im großen Rath,
bei welchem die Wahl stand, schon ganz gewiß seyn müßten.
Diese Betrachtung setzte sie in so großen Allarm, daß sie,
mit einer Menge Volks hinter ihnen her, zur Wohnung des
Onolaus eilten, und, während der Pöbel ein Vivat nach dem
andern erschallen ließ, hinaufgingen, um Seine Gnaden im
Namen der ganzen Bürgerschaft flehentlich zu bitten, den
unglücklichen Gedanken an Resignation aufzugeben, und sie
niemals, am wenigsten zu einer Zeit zu verlassen, wo seine
Weisheit zu Beruhigung der Stadt unentbehrlich sey.Der Archon zeigte sich über diesen öffentlichen Beweis
der Liebe und des Vertrauens seiner werthen Mitbürger sehr
vergnügt. Er verhielt ihnen nicht, daß kaum vor einer Viertelstunde
der größte Theil der Rathsherren, der Jasoniden, und
aller übrigen alten Geschlechter von Abdera, bei ihm gewesen,
und eben diese Bitte in eben so geneigten und dringenden
Ausdrücken an ihn gethan hätten. So große Ursache er auch
habe, der beschwerlichen Regierungslast müde zu seyn, und
zu wünschen daß sie auf stärkere Schultern als die seinigen
gelegt werden möchte: so habe er doch kein Herz, das diesem
so lebhaft ausgedrückten Zutrauen beider Parteien widerstehen
könne. Er sehe diese ihre Einmüthigkeit in Absicht auf seine
Person und Würde als eine gute Vorbedeutung für die baldige
Wiederherstellung der allgemeinen Ruhe an, und werde
seines Orts alles Mögliche mit Vergnügen dazu beitragen.Als der Archon diese schöne Rede geendigt hatte, sahen
die Schatten einander mit großen Augen an, und fanden
sich, zu ihrem empfindlichsten Mißvergnügen, auf einmal um
die Hälfte klüger als zuvor; denn sie merkten nun, daß sie
von den Eseln betrogen und zu einem falschen Schritte verleitet
worden waren. Sie hatten, in der Meinung daß sie
diesen Schritt allein thäten, den Archon ganz dadurch auf
ihre Seite zu ziehen gehofft; und nun fand sich's, daß er
ihren Gegner eben so viel Verbindlichkeit hatte als ihnen;
welches gerade so viel war als ob er ihnen gar keine hätte.
Aber dieß war noch nicht das ärgste. Das hinterlistige Betragen
der Esel war ein offenbarer Beweis, wie viel ihnen
daran gelegen sey daß die Stelle des Archons nicht ledig
würde. Nun konnte ihnen aber an der Person des Onolaus
nicht viel gelegen seyn; denn er hatte nie das Geringste für
ihre Partei gethan. Wenn sie also eifrig wünschten, daß er
seinen Platz behalten möchte, so konnt' es aus keiner andern
Ursache geschehen, als weil sie sich versichert hielten, daß die
Schatten Meister von der Wahl des neuen Archon bleiben
würden. Diese Betrachtungen, die sich ihnen jetzt mit einem
Blicke darstellten, waren von einer so verdrießlichen Art, daß
die armen Schatten alle Mühe von der Welt hatten ihren
Unmuth zu verbergen, und sich, zu großem Vergnügen des
Archons, ziemlich eilfertig wegbegaben, ohne daß es diesem
eingefallen wäre sich darüber zu wundern, oder die Veränderung
in ihren Gesichtern wahrzunehmen.Der heutige Tag war ein großer Tag für den weisen und
ziemlich schwer beleibten Onolaus gewesen, und er war nun
vollkommen wieder mit Abdera zufrieden. Er befahl also daß
seine Thür geschlossen werden sollte, zog sich in sein Gynäceum
zurück, warf sich in seinen Lehnstuhl, schwatzte mit seiner
Frau und seinen Töchtern, aß zu Nacht, ging zeitig zu Bette,
und schlief, wohlgetröstet und unbesorgt um das Schicksal
von Abdera, bis an den hellen Morgen.—————
Zwölftes Kapitel.Der Entscheidungstag. Maßregeln beider Parteien. Die Vierhundert
versammeln sich, und das Gericht nimmt seinen Anfang. Philanthropisch-patriotische
Träume des Herausgebers dieser merkwürdigen Geschichte.Die verschiedenen Maschinen, welche man diesen Tag über
auf beiden Seiten hatte spielen lassen, brachten den Abderitischen
Staatskörper, bei dem Anschein der größten innerlichen
Bewegung, durch die Stöße, die er nach entgegengesetzter Richtung
erhielt, in eine Art von wagerechtem Schwanken, vermöge
dessen um die Zeit, da die Vierhundert zu Entscheidung
des Eselsschattenhandels zusammen kamen, sich alles ungefähr
in eben dem Stande befand, worin es einige Tage zuvor
gewesen war, das ist, daß die Esel den größten Theil
des Raths, die Patricier und die Ansehnlichsten und Vermöglichsten
von der Bürgerschaft auf ihrer Seite hatten, die
Schatten hingegen ihre meiste Stärke von der größern Anzahl
zogen. Denn, seit dem feierlichen Umgang um den
Froschteich der Latona, welchen Strobylus den Abend zuvor
veranstaltet, und dem die sämmtlichen Schatten, mit dem
Nomophylax Gryllus und dem Zunftmeister Pfriem an ihrer
Spitze, sehr andächtig beigewohnt hatten, war der Pöbel
wieder gänzlich für die letztere Partei erklärt.Es würde bei Gelegenheit dieses Umgangs dem Priester
Strobylus und den übrigen Häuptern derselben ein Leichtes
gewesen seyn, mittelst ihres Ansehens über einen fanatischen
Haufen Volks, welcher größtentheils bei gänzlicher Zerrüttung
der Republik mehr zu gewinnen als zu verlieren hatte, noch
an selbigem Abend viel Unheil in Abdera anzurichten. Allein
— außerdem, daß der Oberpriester im Namen des Archons
noch einmal nachdrücklichst angewiesen worden war, den Pöbel
in gehöriger Ordnung zu erhalten, und dafür zu sorgen, daß
der Tempel und alle Zugänge zu dem geheiligten Teiche noch
vor Sonnenuntergang geschlossen wären — so waren sie auch
selbst weit entfernt, die Sache ohne höchste Noth aufs
äußerste treiben, oder die ganze Stadt in Blut und Flammen
sehen zu wollen; und so klug waren sie doch, trotz ihrer
übrigen Abderitheit, um einzusehen, daß, wenn ihnen der Pöbel
einmal die Zügel aus den Händen gerissen hätte, es nicht
mehr in ihrer Gewalt seyn würde, der ungestümen Wuth
eines so blinden reißenden Thiers wieder Einhalt zu thun.
Der Zunftmeister begnügte sich also, da der Umgang vorbei
war und die Thüren des Tempels geschlossen wurden, dem
aus einander gehenden Volke zu sagen: er hoffe, daß sich alle
redlichen Abderiten morgen um neun Uhr auf dem Markte bei
dem Urtheil über den Handel ihres Mitbürgers Struthion
einfinden, und, soviel an ihnen wäre, dazu mit helfen würden,
daß seine gerechte Sache den Sieg davon trage.Die Einladung war zwar, ungeachtet der glimpflichen
und (seiner Meinung nach) sehr behutsamen Ausdrücke worin
er sie vorbrachte, nicht viel besser als ein höchst gesetzwidriges
Verfahren eines aufrührischen Zunftmeisters, der im Nothfall
die Richter durch die unmittelbare Gefahr eines Tumults
nöthigen wollte, das Urtheil nach seinem Sinn abzufassen.
Allein dieß war es auch, worauf es ankommen zu lassen die
Schatten fest entschlossen waren; und da die andere Partei
hiervon völlig überzeugt war, so hatten sie ihrerseits alle möglichen
Maßregeln genommen, sich auf das Aeußerste, was
geschehen konnte, gefaßt zu halten.Der Erzpriester ließ, sobald das Gericht den Anfang
nahm, alle Zugänge zum Jasontempel von einer Schaar handfester
Gerber und Fleischer, die mit tüchtigen Knütteln und
Messern versehen waren, besetzen; und in den Häusern der
vornehmsten Esel hatte man sich in eine Verfassung gesetzt,
als ob man eine Belagerung auszuhalten gedenke. Die Esel
selbst erschienen mit Dolchen unter ihren langen Kleidern auf
dem Gerichtsplatze; und einige von denen, die am lautesten
sprachen, hatten die Vorsicht gebraucht, sogar einen Panzer
unter ihrem Brustlatze zu tragen, um ihren patriotischen
Busen mit desto größerer Sicherheit den Stößen der Feinde
der guten Sache entgegen setzen zu können.Die neunte Stunde kam nun heran. Ganz Abdera stand
in zitternder Bewegung, erwartungsvoll des Ausgangs, den
ein so unerhörter Handel nehmen würde; niemand hat sein
Frühstück ordentlich zu sich genommen, wiewohl alles schon
mit Tagesanbruch auf den Füßen war. Die Vierhundert
versammelten sich auf dem erhöhten Vorplatze der Tempel
des Apollo und der Diana (dem gewöhnlichen Ort, wo der
große Rath unter freiem Himmel gehalten wurde), dem großen
Marktplatze gegenüber, von welchem man auf einer breiten
Treppe von vierzehn Stufen zur Terrasse hinauf stieg. Auch
der Kläger und Beklagte mit ihren nächsten Anverwandten
und mit ihren beiden Sykophanten hatten sich bereits eingefunden,
und ihren gehörigen Platz eingenommen; indessen
sich der ganze Markt mit einer Menge Volks anfüllte, dessen
Gesinnungen durch ein lärmendes Vivat, so oft ein Rathsherr
oder Zunftmeister von der Schattenpartei einher gestiegen
kam, sich deutlich genug verriethen.Alles wartete nun auf den Nomophylax, der, nach den
Gewohnheiten der Stadt Abdera, in allen Fällen, wo die
Versammlung des großen Rathes nicht unmittelbare Angelegenheiten
des gemeinen Wesens betraf, den Vorsitz bei demselben
führte. Die Esel hatten zwar alles angewandt, den
Archon Onolaus dahin zu bringen, daß er, weil es doch um
ein neues Gesetz zu thun wäre, den elfenbeinernen Lehnstuhl
(der, um drei Stufen über die Bänke der Räthe erhöht, für
den Präsidenten gesetzt war) mit seiner eignen ehrwürdigen
Person ausfüllen möchte. Aber er erklärte sich: daß er lieber
das Leben lassen, als sich dazu verstehen wolle, über ein
Eselsschattengericht zu präsidiren. Man hatte sich also gezwungen
gesehen seiner Delicatesse nachzugeben.Der Nomophylax —als ein großer Anhänger der Etikette,
gewohnt, bei dergleichen Gelegenheiten auf sich warten zu
lassen — hatte dafür gesorgt, daß die Versammlung indessen
mit einer Musik von seiner Composition unterhalten, und
(wie er sagte) zu einer so feierlichen Handlung vorbereitet
würde. Dieser Einfall, wiewohl er eine Neuerung war,
wurde dennoch sehr wohl aufgenommen, und that (gegen die
Absicht des Nomophylax, der seine Partei dadurch in verstärkte
Bewegungen von Muth und Eifer hatte setzen wollen) eine sehr
gute Wirkung. Denn die Musik gab denen von der Partei
des Erzpriesters zu einer Menge spaßhafter Einfälle Anlaß,
über welche sich von Zeit zu Zeit ein großes Gelächter erhob.
Einer sagte: dieses Allegro klingt ja wie ein Schlachtgesang,
—zu einem Wachtelkampfe, fiel ein anderer ein. Dafür tönt
aber auch, sagte ein dritter, das Adagio, als ob es dem
Zahnbrecher Struthion und Meister Knieriemen, seinem Schutzpatron,
zu Grabe singen sollte. Die ganze Musik, meinte ein
vierter, verdiene von Schatten gemacht, und von Eseln gehört
zu werden u. s. w. Wie frostig nun auch diese Scherze
waren, so brauchte es doch bei einem so jovialischen und so
leicht anzustellenden Völkchen nichts mehr, um die ganze
Versammlung unvermerkt in ihre natürliche komische Laune
umzustimmen; eine Laune, die der Parteiwuth, wovon sie
noch besessen waren, unvermerkt ihren Gift benahm, und
vielleicht mehr als irgend etwas andres zur Erhaltung der
Stadt in diesem kritischen Augenblicke beitrug.Endlich erschien der Nomophylax mit seiner Leibwache von
armen, ausgemergelten und bresthaften Handwerkern, welche,
mit stumpfen Hellebarden und mit einer friedsamen Art von
eingerosteten Degen bewaffnet, mehr das Ansehen der lächerlichen
Figuren hatten, womit man in Gärten die Vögel
schreckt, als von Kriegsmännern, die dem Gerichte beim Pöbel
Würde und Furchtbarkeit verschaffen sollten. Wohl indessen
der Republik, die zu Beschirmung ihrer Thore und innerlichen
Sicherheit keiner andern Helden nöthig hat als solcher!Der Anblick dieser grotesken Milizer, und die ungeschickte
possierliche Art, wie sie sich in dem kriegerischen Aufzuge,
worein man sie nicht ohne Mühe verkleidet hatte, gebärdeten,
erweckte der dem zuschauenden Volke einen neuen Anstoß von
Lustigkeit; so daß der Herold viele Mühe hatte, die Leute
endlich zu einer leidlichen Stille, und zu dem Respect, den
sie dem höchsten Gerichte schuldig waren, zu bringen.Der Präsident eröffnete nunmehr die Sitzung mit einer
kurzen Rede, der Herold gebot ein abermaliges Stillschweigen;
und die Sykophanten beider Theile wurden namentlich aufgefordert,
sich mit ihrer Klage und Verantwortung mündlich
vernehmen zu lassen.Den Sykophanten, welche für große Meister in ihrer
Art galten, mußte die Gelegenheit, ihre Kunst an einem
Eselsschatten sehen zu lassen, an sich allein schon eine große
Aufmunterung seyn. Man kann also leicht denken, wie sie
sich nun vollends zusammengenommen haben werden, da
dieser Eselsschatten ein Gegenstand geworden war, woran die
ganze Republik Antheil nahm, und um dessen willen sie sich
in zwei Parteien getrennt hatte, deren jede die Sache ihres
Clienten zu ihrer eignen machte. Seit ein Abdera in der
Welt war, hatte man noch keinen Rechtshandel gesehen, der
so lächerlich an sich selbst, und so ernsthaft durch die Art wie
er behandelt wurde, gewesen wäre. Ein Sykophant müßte
auch ganz und gar kein Genie und keinen Sykophantensinn
gehabt haben, der bei einer solchen Gelegenheit nicht sich
selbst übertroffen hätte.Um so mehr ist es zu beklagen, daß der übel berüchtigte
Zahn der Zeit, dem so viele andere große Werke des Genie's
und Witzes nicht entgehen konnten noch künftig entgehen
werden, leider! auch der Originale dieser beiden berühmten
Reden nicht verschont hat! —wenigstens so viel uns bekannt
ist. Denn wer weiß, ob es nicht vielleicht einem künftigen
Fourmont, Sevin oder Villoison, der auf Entdeckung alter
Handschriften ausgeht, dereinst gelingen mag, eine Abschrift
derselben in irgend einem bestäubter Winkel einer alten
Klosterbibliothek aufzuspüren? Oder, wenn dieß nicht zu
hoffen stände, wer kann sagen, ob nicht in der Folge der
Zeiten Thracien selbst wieder in die Hände christlicher Fürsten
fallen wird, die sich eine Ehre daraus machen werden, mächtige
Beförderer der Wissenschaften zu seyn, Akademien zu
stiften, versunkne Städte ausgraben zu lassen u. s. w. Wer
weiß, ob nicht alsdann diese gegenwärtige Abderitengeschichte
selbst (so unvollkommen sie ist), in die Sprache dieses künftigen
bessern Thraciens übersetzt, die Ehre haben wird Gelegenheit
zu geben, daß ein solcher Neuthracischer Musaget
auf den Einfall kommt, die Stadt Abdera aus ihrem Schutte
hervorzurufen? da denn ohne Zweifel auch die Kanzlei und
das Archiv dieser berühmten Republik, und in demselben die
sämmtlichen Originalacten des Processes um des Esels Schatten,
nebst den beiden Reden, deren Verlust wir beklagen,
sich wieder finden werden. —Es ist wenigstens angenehm, auf
den Flügeln solcher patriotisch-menschenfreundlicher Träume
sich in die Zukunft zu schwingen, und seinen Antheil an den
Glückseligkeiten vorauszunehmen, die unsern Nachkommen
noch bevorstehen; Glückseligkeiten, für welche die immer
steigende Vervollkommnung der Wissenschaften und Künste,
und die von ihnen sich über alles Fleisch ergießende Erleuchtung,
Verschönerung und Sublimirung der Denkart,
des Geschmacks und der Sitten, uns augenscheinliche Bürgschaft
leisten!Inzwischen gereicht es uns doch zu einigem Troste, aus
den Papieren, aus welchen gegenwärtige Fragmente der Abderitengeschichte
genommen sind, wenigstens einen Auszug
dieser Reden liefern zu können, dessen Aechtheit um so unverdächtiger
ist, da kein Leser, der eine Nase hat, den Duft
der Abderitheit, der daraus emporsteigt, verkennen wird.
Ein innerliches Argument, das am Ende doch immer das
beste zu seyn scheint, das für das Werk irgend eines Sterblichen,
er sey nun ein Ossian oder ein Abderitischer Feigenredner,
sich geben läßt!—————
Dreizehntes Kapitel.Rede des Sykophanten Physignatus.Der Sykophant Physignatus, der als Sachwalter des
Zahnarztes Struthion zuerst sprach, war ein Mann von
Mittelgröße, starken Muskeln und mächtiger Lunge. Er
wußte sich viel damit, daß er ein Schüler des berühmten
Gorgias gewesen war, und machte Ansprüche, einer der
größten Redner seiner Zeit zu seyn. Aber in diesem Stücke
war er, wie in vielen andern, ein offenbarer Abderit. Seine
größte Kunst bestand darin, daß er, um seinem wortreichen
Vortrag durch die mannichfaltige Modulation seiner Stimme
mehr Lebhaftigkeit und Ausdruck zu geben, in dem Umfang
von anderthalb Octaven von einem Intervall zum andern
wie ein Eichhorn herumsprang; und so viel Grimassen und
Gesticulationen dazu machte, als ob er seinen Zuhörern nur
durch Gebärden verständlich werden könnte.Indessen wollen wir ihm doch das Verdienst nicht abläugnen,
daß er mit allen den Handgriffen, womit man die
Richter zu seinem Vortheil einnehmen, ihren Verstand verwirren,
seinen Gegentheil verhaßt, und überhaupt eine Sache
besser, als sie ist, scheinen machen kann, ziemlich fertig umzuspringen,
auch bei Gelegenheit keine unfeinen Gemälde zu
machen wußte; wie der scharfsinnige Leser aus seiner Rede
selbst ohne unser Erinnern am besten abnehmen wird.Physignatus trat mit der ganzen Unverschämtheit eines
Sykophanten auf, der sich darauf verläßt, daß er Abderiten
zu Zuhörern hat, und fing also an:"Edle, ehrenfeste und weise, großmögende Vierhundertmänner!"Wenn jemals ein Tag war, an welchem sich die Vortrefflichkeit
der Verfassung unsrer Republik in ihrem größten
Glanz enthüllt hat, und wenn jemals ich mit dem Gefühl,
was es ist ein Bürger von Abdera zu seyn, unter euch aufgetreten
bin: so ist es an diesem großen Tage, da vor dieses
ehrwürdige höchste Gericht, vor diese erwartungsvolle und
theilnehmende Menge des Volks, vor diesen ansehnlichen Zusammenfluß
von Fremden, die der Ruf eines so außerordentlichen
Schauspiels schaarenweis herbeigezogen hat, ein Rechtshandel
zur Entscheidung gebracht werden soll, der in einem
minder freien, minder wohleingerichteten Staate, der selbst
in einem Theben, Athen oder Sparta, nicht für wichtig genug
gehalten worden wäre, die stolzen Verwalter des gemeinen
Wesens nur einen Augenblick zu beschäftigen. Edles, preiswürdiges,
dreimal glückliches Abdera! du allein genießest
unter dem Schutz einer Gesetzgebung, der auch die geringsten,
auch die zweifelhaftesten und spitzfindigsten Rechte und Ansprüche
der Bürger heilig sind, du allein genießest das Wesen
einer Sicherheit und Freiheit, wovon andere Republiken (was
auch sonst die Vorzüge seyn mögen, womit sich ihre patriotische
Eitelkeit brüstet) nur den Schatten zum Antheil haben."Oder, saget mir, in welcher andern Republik würde
ein Rechtshandel zwischen einem gemeinen Bürger und einem
der geringsten aus dem Volke, ein Handel, der dem ersten
Anblick nach kaum zwei oder drei Drachmen beträgt, über
einen Gegenstand, der so unbedeutend scheint, daß die Gesetze
ihn bei Benennung der Dinge, welche ins Eigenthum kommen
können, gänzlich vergessen haben, ein Handel über etwas, dem
ein subtiler Dialektiker sogar den Namen eines Dinges streitig
machen könnte, — mit Einem Wort, ein Streit über den
Schatten eines Esels — saget mir, in welcher andern Republik
würde ein solcher Rechtshandel zum Gegenstand der
allgemeinen Theilnehmung, zur Sache eines jeden, und also,
wenn ich so sagen darf, gleichsam zur Sache des ganzen
Staats geworden seyn? In welcher andern Republik sind die
Gesetze des Eigenthums so scharf bestimmt, die gegenseitigen
Rechte der Bürger vor aller Willkür der obrigkeitlichen Personen
so sicher gestellt, die geringfügigsten Ansprüche oder Forderungen
selbst des ärmsten, in den Augen der Obrigkeit so
wichtig und hoch angesehen, daß das höchste Gericht der Republik
selbst es nicht unter seiner Würde hält, sich feierlich
zu versammeln, um über das zweifelhaft scheinende Recht an
einen Eselsschatten zu erkennen?"Wehe dem Manne, der bei diesem Worte die Nase
rümpfen, und, aus albernen kindischen Begriffen von dem
was groß oder klein ist, mit unverständigem Hohnlächeln ansehen
könnte, was die höchste Ehre unsrer Justizverfassung,
der Ruhm unsrer Obrigkeit, der Triumph des ganzen Abderitischen
Wesens und eines jeden guten Bürgers ist! Wehe
dem Manne, ich wiederhol' es zum zweiten- und drittenmal,
der keinen Sinn hätte, dieß zu fühlen! Und Heil der Republik,
in welcher, sobald es auf die Gerechtsame der Bürger, auf
einen Zweifel über Mein und Dein, die Grundfeste aller bürgerlichen
Sicherheit, ankommt, auch ein Eselsschatten keine
Kleinigkeit ist!"Aber, indem ich solchergestalt auf der einen Seite, mit
aller Wärme eines Patrioten, allem gerechten Stolz eines
ächten Abderiten, fühle und erkenne, welch ein glorreiches
Zeugniß von der vortrefflichen Verfassung unsrer Republik sowohl,
als von der unparteiischen Festigkeit und nichts übersehenden
Sorgfalt, womit unsre ruhmwürdige regierende
Obrigkeit die Wage der Gerechtigkeit handhabet, dieser vorliegende
Handel bei der spätesten Nachkommenschaft ablegen
wird: wie sehr muß ich auf der andern Seite die Abnahme
jener treuherzigen Einfalt unsrer Voreltern, das Verschwinden
jener mitbürgerlichen und freundnachbarlichen Sinnesart,
jener gegenseitigen Dienstbeflissenheit, jener freiwilligen Geneigtheit,
aus Liebe und Freundschaft, aus gutem Herzen,
oder wenigstens um des Friedens willen, etwas von unserm
vermeinten strengen Rechte fahren zu lassen, — wie sehr, mit
Einem Worte, muß ich den Verfall der guten alten Abderitischen
Sitten beklagen, der die wahre und einzige Quelle des
unwürdigen, schamvollen Rechtshandels ist, in welchem wir
heute befangen sind! — Wie werd' ich's ohne glühende Schamröthe
heraussagen können? — O du einst so berühmte Biederherzigkeit
unsrer guten Alten, ist es dahin mit dir gekommen,
daß Abderitische Bürger — sie, die bei jeder Gelegenheit,
aus vaterländischer Treue und nachbarlicher Freundschaft,
bereit seyn sollten das Herz im Leibe miteinander zu theilen
— so eigennützig, so karg, so unfreundlich, was sag' ich, so
unmenschlich sind, einander sogar den Schatten eines Esels
zu versagen?"Doch —verleiht mir, werthe Mitbürger! ich irrte mich
in dem Worte —verzeiht mir eine unvorsetzliche Beleidigung!
Derjenige, der einer so niedrigen, so rohen und barbarischen
Denkart fähig war, ist keiner unsrer Mitbürger. Es ist ein
bloß geduldeter Einwohner unsrer Stadt, ein bloßer Schutzverwandter
des Jasontempels, ein Mensch aus den dicksten
Hefen des Pöbels, ein Mensch, von dessen Geburt, Erziehung
und Lebensart nichts Besseres zu erwarten war, mit Einem
Wort, ein Eseltreiber — der, außer dem gleichen Boden und
der gemeinsamen Luft, die er athmet, nichts mit uns gemein
hat, als was uns auch mit den wildesten Völkern der Hyperboreischen
Wüsten gemein ist. Seine Schande klebt an ihm
allein; uns kann sie nicht besudeln. Ein Abderitischer Bürger;
ich unterstehe mich's zu sagen, hätte sich keiner solchen
Unthat schuldig machen können."Aber — nenn' ich sie vielleicht mit einem zu strengen
Namen, diese That? — Stellet euch, ich bitte, an den Platz
eures guten Mitbürgers Struthion, und — fühlet!"Er reiset in seinen Geschäften, in Geschäften seiner edeln
Kunst, die es bloß mit Verminderung der Leiden seiner
Nebenmenschen zu thun hat, von Abdera nach Gerania. Der
Tag ist einer der schwülsten Sommertage. Die strengste
Sonnenhitze scheint den ganzen Horizont in den hohlen Bauch
eines glühenden Backofens verwandelt zu haben. Kein Wölkchen,
das ihre sengenden Strahlen dämpfe! Kein wehendes
Lüftchen, den verlechzten Wandrer anzufrischen! Die Sonne
flammt über seiner Scheitel, saugt das Blut aus seinen Adern,
das Mark aus seinen Knochen. Lechzend, die dürre Zung'
am Gaumen, mit trüben, von Hitze und Glanz erblindenden
Augen, sieht er sich nach einem Schattenplatz, nach irgend
einem einzelnen mitleidigen Baum um, unter dessen Schirm
er sich erholen, er einen Mund voll frischerer Luft einathmen,
einen Augenblick vor den glühenden Pfeilen des unerbittlichen
Apollo sicher seyn könnte."Umsonst! Ihr kennet alle die Gegend von Abdera nach
Gerania. Zwei Stunden lang, zur Schande des ganzen Thraciens
sey es gesagt! kein Baum, keine Staude, die das Auge
des Wandrers in dieser abscheulichen Fläche von magern Brach-
und Kornfeldern erfrischen, oder ihm gegen die mittägliche
Sonne Zuflucht geben könnte!"Der arme Struthion sank endlich von seinem Thier
herab. Die Natur vermocht' es nicht länger auszudauern.
Er ließ den Esel halten, und setzte sich in seinen Schatten. —
Schwaches, armseliges Erholungsmittel! Aber so wenig es
war, war es doch etwas!"Und welch ein Ungeheuer mußte der Gefühllose, der
Felsenherzige seyn, der seinem leidenden Nebenmenschen, in
solchen Umständen, den Schatten eines Esels versagen konnte!
Wär' es glaublich, daß es einen solchen Menschen gebe, wenn
wir ihn nicht mit eignen Augen vor uns sähen? — Aber hier
steht er, und, was beinahe noch ärger, noch unglaublicher
als die That selbst ist — er bekennt sich von freien Stücken
dazu, scheint sich seiner Schande noch zu rühmen; und, damit
er keinem seinesgleichen, der künftig noch geboren werden
mag, eine Möglichkeit, ihm an schamloser Frechheit gleich zu
kommen, übrig lasse, treibt er sie so weit, nachdem er schon
von dem ehrwürdigen Stadtgericht in erster Instanz verurtheilet
worden, sogar vor der Majestät dieses höchsten Gerichtshofes
der Vierhundertmänner zu behaupten, daß er Recht
daran gethan habe. — "Ich versagte ihm den Eselsschatten
nicht, spricht er, wiewohl ich nach dem strengen Recht nicht
schuldig war ihn darin sitzen zu lassen; ich verlangte nur eine
billige Erkenntlichkeit dafür, daß ich ihm zu dem Esel, den
ich ihm vermiethet hatte, nun auch den Schatten des Esels
überlassen sollte, den ich nicht vermiethet hatte." — Elende,
schändliche Ausflucht! Was würden wir von dem Manne denken,
der einem halb verschmachteten Wandrer verwehren wollte,
sich unentgeltlich in den Schatten seines Baumes zu setzen?
Oder wie würden wir denjenigen nennen, der einem vor
Durst sterbenden Fremdling nicht gestatten wollte sich aus
dem Wasser zu laben, das auf seinem Grund und Boden
flösse?"Erinnert euch, o ihr Männer von Abdera, daß dieß
allein, und kein andres, das Verbrechen jener Lycischen
Bauern war, die der Vater der Götter und der Menschen,
zur Rache wegen einer gleichartigen Unmenschlichkeit, welche
diese Elenden an seiner geliebten Latona und ihren Kindern
ausübten — zum schrecklichen Beispiel aller Folgezeiten, in
Frösche verwandelte. Ein furchtbares Wunder, dessen Wahrheit
und Andenken mitten unter uns in dem heiligen Hain
und Teich der Latona, der ehrwürdigen Schutzgöttin unsrer
Stadt, lebendig erhalten, verewigt, und gleichsam täglich
erneuert wird! Und du, Anthrax, du, ein Einwohner der
Stadt, in welcher dieses furchtbare Denkmal des Zorns der
Götter über verweigerte Menschlichkeit ein Gegenstand des
öffentlichen Glaubens und Gottesdienstes ist, du scheutest dich
nicht, ihre Rache durch ein ähnliches Verbrechen auf dich zu
ziehen?"Aber, du trotzest auf dein Eigenthumsrecht. — "Wer
sich seines Rechts bedient, sprichst du, der thut niemand Unrecht.
Ich bin einem andern nicht mehr schuldig, als er um
mich verdient. Wenn der Esel mein Eigenthum ist, so ist
es auch sein Schatten.""Sagst du das? Und glaubst du, oder glaubt der scharfsinnige
und beredte Sachwalter, in dessen Hande du die
schlimmste Sache, die jemals vor ein Götter- oder Menschengericht
gekommen, gestellt hast, glaubt er, mit aller Zauberei
seiner Beredsamkeit, oder mit allem Spinnengewebe sophistischer
Trugschlüsse unsern Verstand dergestalt zu überwältigen
und zu umspinnen, daß wir uns überreden lassen sollten, einen
Schatten für etwas Wirkliches, geschweige für etwas an welches
jemand ein directes und ausschließendes Recht haben
könne, zu halten?"Ich würde, großmögende Herren, eure Geduld mißbrauchen
und eure Weisheit beleidigen, wenn ich alle Gründe
hier wiederholen wollte, womit ich bereits in der ersten Instanz,
actenkundigermaßen, die Nichtigkeit der gegnerischen
Scheingründe dargethan habe. Ich begnüge mich für jetzt,
nach Erforderniß der Nothdurft, nur dieß Wenige davon zu
sagen. Ein Schatten kann, genau zu reden, nicht unter die
wirklichen Dinge gerechnet werden. Denn das, was ihn zum
Schatten macht, ist nichts Wirkliches und Positives, sondern
gerade das Gegentheil; nämlich, die Entziehung desjenigen
Lichtes, welches auf den übrigen, den Schatten umgebenden
Dingen liegt. In vorliegendem Fall ist die schiefe Stellung
der Sonne und die Undurchsichtigkeit des Esels (eine Eigenschaft,
die ihm nicht, insofern er ein Esel, sondern insofern
er ein dichter und dunkler Körper ist, aufklebt) die einzige
wahre Ursache des Schattens, den der Esel zu werfen scheint
und den jeder andre Körper an seinem Platze werfen würde;
denn die Figur des Schattens thut hier nichts zur Sache.
Mein Client hat sich also, genau zu reden, nicht in den Schatten
eines Esels, sondern in den Schatten eines Körpers gesetzt;
und der Umstand, daß dieser Körper ein Esel, und der
Esel ein Hausgenosse eines gewissen Anthrax aus dem Jasontempel
zu Abdera war, ging ihn eben so wenig an, als er zur
Sache gehörte. Denn, wie gesagt, nicht die Eselheit (wenn
ich so sagen darf), sondern die Körperlichkeit und Undurchsichtigkeit
des mehr besagten Esels ist der Grund des Schattens,
den er zu werfen scheint."Allein, wenn wir auch zum Ueberfluß zugeben, daß der
Schatten unter die Dinge gehöre, so ist aus unzähligen
Beispielen klar und weltbekannt, daß er zu den gemeinen Dingen
zu rechnen ist, an welche ein jeder so viel Recht hat als der
andre, und an die sich derjenige das nächste Recht erwirbt,
der sie zuerst in Besitz nimmt."Doch, ich will noch mehr thun; ich will sogar zugeben,
daß des Esels Schatten ein Zubehör des Esels sey, so gut als
es seine Ohren sind: was gewinnt der Gegentheil dadurch?
Struthion hatte den Esel gemiethet, folglich auch seinen Schatten.
Denn es versteht sich bei jedem Miethcontract, daß der
Vermiether dem Abmiether die Sache, wovon die Rede ist, mit
allem ihrem Zubehör und mit allen ihren Nießbarkeiten zum
Gebrauch überläßt. Mit welchem Schatten eines Rechts konnte
Anthrax also begehren, daß ihm Struthion den Schatten des
Esels noch besonders bezahle? Das Dilemma ist außer aller
Widerrede: entweder ist der Schatten des Esels ein Zubehör
des Esels, oder nicht. Ist er es nicht: so hat Struthion und
jeder andre eben so viel Recht daran als Anthrax. Ist er es
aber: so hatte Anthrax, indem er den Esel vermiethete, auch
den Schatten vermiethet; und seine Forderung ist eben so ungereimt,
als wenn mir einer seine Leyer verkauft hätte, und
verlangte dann, wenn ich darauf spielen wollte, daß ich ihm
auch noch für ihren Klang bezahlen müßte."Doch wozu so viele Gründe in einer Sache, die dem allgemeinen
Menschensinn so klar ist, daß man sie nur zu hören
braucht, um zu sehen auf welcher Seite das Recht ist? Was
ist ein Eselsschatten? Welche Unverschämtheit von diesem Anthrax,
wofern er kein Recht an ihn hat, sich dessen anzumaßen,
um Wucher damit zu treiben! Und wofern der Schatten wirklich
sein war: welche Niederträchtigkeit, ein so Weniges, das
wenigste was sich nennen oder denken läßt, etwas in tausend
andern Fällen gänzlich Unbrauchbares, einem Menschen,
einem Nachbar und Freunde, in dem einzigen Falle zu versagen,
wo es ihm unentbehrlich ist!"Lasset, edle und großmögende Vierhundertmänner, lasset
nicht von Abdera gesagt werden, daß ein solcher Muthwille,
ein solcher Frevel, vor einem Gerichte, vor welchem (wie vor
jenem berühmten Areopagus zu Athen) Götter selbst nicht erröthen
würden, ihre Streitigkeiten entscheiden zu lassen, Schutz
gefunden habe! Die Abweisung des Klägers mit seiner unstatthaften,
ungerechten und lächerlichen Klage und Apellation,
die Verurtheilung desselben in alle Kosten und Schäden, die
er dem unschuldigen Beklagten durch sein unbefugtes Betragen
in dieser Sache verursacht hat, ist jetzt das wenigste, was ich
im Namen meines Clienten fordern kann. Auch Genugthuung,
und wahrlich eine ungeheure Genugthuung, wenn sie mit der
Größe seines Frevels im Ebenmaße stehen soll, ist der unbefugte
Kläger schuldig! Genugthuung dem Beklagten, dessen
häusliche Ruhe, Geschäfte, Ehre und Leumund von ihm und
seinen Beschützern während des Laufs dieses Handels auf unzählige
Art gestört und angegriffen worden! Genugthuung
dem ehrwürdigen Stadtgerichte, von dessen gerechtem Spruch
er, ohne Grund, an dieses hohe Tribunal appellirt hat! Genugthuung
diesem höchsten Gerichte selbst, welches er mit einem
so nichtswürdigen Handel muthwilligerweise zu behelligen sich
unterstanden! Genugthuung endlich der ganzen Stadt und
Republik Abdera, die er bei dieser Gelegenheit in Unruhe,
Zwiespalt und Gefahr gesetzt hat!"Fordre ich zu viel, großmögende Herren? fordre ich
etwas Unbilliges? Sehet hier das ganze Abdera, das sich unzählbar
an die Stufen dieser hohen Gerichtsstätte drängt, und
im Namen eines verdienstvollen, schwer gekränkten Mitbürgers,
ja im Namen der Republik selbst, Genugthuung erwartet, Genugthuung
fordert. Bindet die Ehrfurcht ihre Zungen, so
funkelt sie doch aus jedem Auge, diese gerechte, diese nicht zu
verweigernde Forderung! Das Vertrauen der Bürger, die
Sicherheit ihrer Gerechtsame, die Wiederherstellung unsrer
innerlichen und öffentlichen Ruhe, die Begründung derselben
auf die Zukunft, mit Einem Worte, die Wohlfahrt unsers
ganzen Staats, hängt von dem Ausspruch ab den ihr thun
werdet, hängt von Erfüllung einer gerechten und allgemeinen
Erwartung ab. Und wenn in den ersten Zeiten der Welt ein
Esel das Verdienst hatte, die schlummernden Götter bei dem
nächtlichen Ueberfall der Titanen mit seinem Geschrei zu
wecken, und dadurch den Olympus selbst vor Verwüstung und
Untergang zu retten: so möge jetzt der Schatten eines Esels
die Gelegenheit, und der heutige Tag die glückliche Epoche
seyn, in welcher diese uralte Stadt und Republik nach so
vielen und gefahrvollen Erschütterungen wieder beruhiget,
das Band zwischen Obrigkeit und Bürgern wieder fest zusammengezogen,
alle vergangnen Mißhelligkeiten in den Abgrund
der Vergessenheit versenkt, durch gerechte Verurtheilung
eines einzigen frevelhaften Eseltreibers der ganze Staat
gerettet, und dessen blühender Wohlstand auf ewige Zeiten
sichergestellt werde!"—————
Vierzehntes Kapitel.Antwort des Sykophanten Polyphonus.Sobald Physignatus zu reden aufgehört hatte, gab das
Volk, oder vielmehr der Pöbel, der den Markt erfüllte, seine
Beistimmung mit einem lauten Geschrei, welches so heftig und
anhaltend war, daß die Richter endlich zu besorgen anfingen,
die ganze Handlung möchte dadurch unterbrochen werden.
Die Partei des Erzpriesters gerieth in sichtbare Verlegenheit.
Die Schatten hingegen, wiewohl sie im großen Rath die kleinere
Zahl waren, faßten neuen Muth, und versprachen sich
von dem Eindruck, den dieses Vorspiel auf die Esel machen
müßte, einen günstigen Erfolg.Indessen ermangelten die Zunftmeister nicht, das Volk
durch Zeichen zur Ruhe zu vermahnen; und nachdem der Herold
endlich durch einen dreimaligen Ruf die allgemeine Stille
wieder hergestellt hatte, trat Polyphonus, der Sykophant des
Eseltreibers, ein untersetzter stämmichter Mann, mit kurzem
krausem Haar und dicken pechschwarzen Augenbrauen, auf, erhob
eine Baßstimme, die auf dem ganzen Markt widerhallte,
und ließ sich folgendermaßen vernehmen. | "Großmögende Vierhundertmänner! | "Wahrheit und Licht haben das vor allen andern Dingen
in der Welt voraus, daß sie keiner fremden Hülfe bedürfen
um gesehen zu werden. Ich überlasse meinem Gegenpart willig
alle Vortheile, die er von seinen Rednerkünsten zu ziehen vermeint
hat. Dem, der Unrecht hat, kommt es zu, durch Figuren
und Wendungen und Fechterstreiche und das ganze Gaukelspiel
der Schulrhetorik Kindern und Narren einen Dunst vor
die Augen zu machen. Gescheidte Leute lassen sich nicht dadurch
blenden. Ich will nicht untersuchen, wie viel Ehre und Nachruhm
die Republik Abdera bei diesem Handel über einen Eselsschatten
gewinnen wird. Ich will die Richter weder durch grobe
Schmeicheleien zu bestechen, noch durch versteckte Drohungen
zu schrecken suchen. Noch viel weniger will ich dem Volke durch
aufwiegelnde Reden das Signal zu Lärmen und Aufruhr geben.
Ich weiß, warum ich da bin und zu wem ich rede. Kurz, ich
werde mich begnügen zu beweisen, daß der Eseltreiber Anthrax
Recht, oder, um mich genauer und billiger auszudrücken als
von einem Sachwalter gefordert werden könnte, weniger
Unrecht hat, als sein unbefugter Widersacher. Der Richter
wird alsdann schon wissen was seines Amtes ist, ohne daß
ich ihn daran zu erinnern brauche."Hier fingen einige wenige vom Pöbel, die zunächst an den
Stufen der Terrasse standen, an, den Redner mit Geschrei,
Schimpfreden und Drohungen zu unterbrechen. Da aber der
Nomophylax sich von seinem elferbeinernen Thron erhob, der
Herold abermals Stille gebot, und die Bürgerwache, die an
den Stufen stand, ihre langen Spieße lupfte: so ward plötzlich
alles wieder still, und der Redner, der sich nicht so leicht
aus der Fassung bringen ließ, fuhr also fort."Großmögende Herren, ich stehe hier nicht als Sachwalter
des Eseltreibers Anthrax, sondern als Bevollmächtigter des
Jasontempels, und von wegen des erlauchten und hochwürdigen
Agathyrsus, zeitigen Erzpriesters und Obervorstehers desselben,
Hüters des wahren goldnen Vließes, obersten Gerichtsherrn
über alle dessen Stiftungen, Güter, Gerichte und Gebiete,
und Oberhaupts des hochedeln Geschlechts der Jasoniden, um
im Namen Jasons und seines Tempels von euch zu begehren,
daß dem Eseltreiber Anthrax Genugthuung geschehe, weil er
im Grunde doch am meisten Recht hat; und daß er's habe,
hoffe ich, trotz allen den Kniffen, die mein Gegner von seinem
Meister Gorgias gelernt zu haben sich rühmt, so klar und
laut zu beweisen, daß es die Blinden sehen und die Tauben
hören sollen. Also, ohne weitere Vorrede, zur Sache!"Anthrax vermiethete dem Zahnarzte Struthion seinen
Esel auf einen Tag; nicht zu selbstbeliebigem Gebrauch, sondern
um ihn, den Zahnarzt mit seinem Mantelsack, halben Weges
nach Gerania zu tragen, welches, wie jedermann weiß, acht
starke Meilen von hier entfernt liegt."Bei der Vermiethung des Esels dachte natürlicherweise
keiner von beiden an seinen Schatten. Aber als der Zahnarzt
mitten auf dem Felde abstieg, und den Esel, der wahrlich
von der Hitze noch mehr gelitten hatte als er, in der
Sonne zu stehen nöthigte, um sich in dessen Schatten zu
setzen, war es ganz natürlich, daß der Herr und Eigenthümer
des Esels dabei nicht gleichgültig blieb."Ich begehre nicht zu läugnen, daß Anthrax eine alberne
und eselhafte Wendung nahm, da er von dem Zahnbrecher
verlangte, daß er ihn für des Esels Schatten deswegen bezahlen
sollte, weil er ihm den Schatten nicht mit vermiethet
habe. Aber dafür ist er auch nur ein Eseltreiber von
Voreltern her, d. i. ein Mann, der eben darum, weil er
unter lauter Eseln aufgewachsen ist und mehr mit Eseln als
ehrlichen Leuten lebt, eine Art von Recht hergebracht und
erworben hat, selbst nicht viel besser als ein Esel zu seyn.
Im Grunde war's also bloß — der Spaß eines Eseltreibers."Aber in welche Classe von Thieren sollen wir den setzen:
der aus einem solchen Spaß Ernst machte? hätte Herr Struthion
wie ein verständiger Mann gehandelt, so brauchte er
dem Grobian nur zu sagen: "guter Freund, wir wollen uns
nicht um eines Eselsschattens willen entzweien. Weil ich
dir den Esel nicht abgemiethet habe um mich in seinen Schatten
zu setzen, sondern um darauf nach Gerania zu reiten:
so ist es billig, daß ich dir die etlichen Minuten Zeitverlust
vergüte die dir mein Absteigen verursacht; zumal da der
Esel um so viel länger in der Hitze stehen muß und dadurch
nicht besser wird. Da, Bruder, hast du eine halbe Drachme:
lass' mich einen Augenblick hier verschnaufen, und dann wollen
wir uns, in aller Frösche Namen! wieder auf den Weg
machen." —"Hätte der Zahnarzt aus diesem Tone gesprochen, so
hätt' er gesprochen wie ein ehrliebender und billiger Mann.
Der Eseltreiber hätte ihm für die halbe Drachme noch ein
Gott vergelt's! gesagt; und die Stadt Abdera wäre des ungewissen
Nachruhms, den ihr mein Gegentheil von diesem
Eselsproceß verspricht, und aller der Unruhen, die daraus
entstehen mußten, sobald sich so viele große angesehene Herren
und Damen in die Sache mischten, überhoben gewesen.
Statt dessen setzt sich der Mann auf seinen eignen Esel, besteht
auf seinem bodenlosen Rechte sich vermöge seines Miethcontracts
in des Esels Schatten zu setzen so oft und so
lange er wolle, und bringt dadurch den Eseltreiber in die
Hitze, daß er vor den Stadtrichter läuft, und eine Klage
anbringt, die eben so abgeschmackt ist als die Verantwortung
des Beklagten."Ob es nun nicht, zu Statuirung eines lehrreichen Beispiels,
wohl gethan wäre, wenn dem Sykophanten Physignatus,
meinem werthesten Collegen —als dessen Aufhetzung es
ganz allein zuzuschreiben ist, daß der Zahnbrecher den von
dem ehrwürdigen Stadtrichter Philippides vorgeschlagnen billigen
Vergleich nicht eingegangen — für den Dienst, den er
dem Abderitischen gemeinen Wesen dadurch geleistet, die Ohren
gestutzt, und allenfalls, zum ewigen Andenken, ein paar
Eselsohren dafür angesetzt würden; ingleichen, was für einen
öffentlichen Dank der ehrwürdige Zunftmeister Pfriem, und
die übrigen Herren, die durch ihren patriotischen Eifer Oel
ins Feuer gegossen, für ihre Mühe verdient haben möchten:
überläßt der erlauchte Erzpriester, mein Principal, dem eignen
einsichtsvollen Ermessen des höchsten Gerichts der Vierhundert.
Er seines Ortes wird, als angeborner Oberherr
und Richter des Eseltreibers Anthrax, nicht ermangeln, ihm,
zu wohl verdienter Belohnung seines in diesem Handel bewiesenen
Unverstands, unmittelbar nach geendigtem Proceß
fünfundzwanzig Prügel zuzählen zu lassen. Da aber darum
das Recht des mehrbesagten Eseltreibers, wegen der von
dem Zahnarzte Struthion erlittnen Ungebühr, wegen des
Mißbrauchs den dieser von seinem Esel gemacht, und wegen
der Weigerung einer billigen Vergütung des verursachten
Zeitverlusts und Deterioration seines lastbaren Thieres, Genugthuung
zu fordern, nichtsdestoweniger in seiner ganzen
Kraft besteht: so begehret und erwartet der erlauchte
Erzpriester von der Gerechtigkeit dieses hohen Gerichts,
daß seinem Unterthanen ohne längern Aufschub, die gebührende
vollständigste Entschädigung und Genugthuung verschafft
werde."Euch aber (setzte er hinzu, indem er sich umdrehte und
gegen das Volk kehrte) soll ich im Namen Jasons ankündigen,
daß alle diejenigen, die auf eine ungebührliche und
aufrührische Art an der bösen Sache des Zahnbrechers Antheil
genommen, so lange bis sie dafür gebührenden Abtrag
gethan haben werden, von den Wohlthaten, die der Tempel
Jasons alle Monate den armen Bürgern zufließen läßt, ausgeschlossen
seyn und bleiben sollen."—————
Fünfzehntes Kapitel.Bewegungen, welche die Rede des Polyphonus verursachte. Nachtrag
des Sykophanten Physignatus. Verlegenheit der Richter.Diese kurze und unerwartete Rede brachte auf einige
Augenblicke ein tiefes Stillschweigen hervor. Der Sykophant
Physignatus schien zwar große Lust zu haben, sich über die
Stelle, die ihn persönlich betroffen hatte, mit Hitze vernehmen
zu lassen. Allein, da er die Niedergeschlagenheit
bemerkte, die der Inhalt der letzten Periode seines Gegners
unter dem gemeinen Volk hervorgebracht zu haben schien:
so begnügte er sich, gegen die ehrenrührige Stelle von Ohrenabschneiden
und andre Anzüglichkeiten sich quaevis competentia
vorzubehalten, zuckte die Achseln, und schwieg.Das Licht, in welches der Sykophant Polyphonus den
wahren Statum controversiae gestellt hatte, that einen so
guten Effect, daß unter den sämmtlichen Vierhundertmännern
kaum ihrer zwanzig übrig blieben, die, nach Abderitischer
Gewohnheit, nicht versicherten, daß sie die Sache gleich vom
Anfang an eben so angesehen; und es wurde in ziemlich lebhaften
Ausdrücken gegen diejenigen gesprochen, welche Schuld
daran hätten, daß eine so simple Sache zu solchen Weitläuftigkeiten
getrieben worden sey. Die meisten schienen darauf
anzutragen: daß dem Erzpriester nicht nur die für seinen
Angehörigen verlangte Entschädigung und Genugthuung zugesprochen,
sondern auch eine Commission aus dem großen
Rath niedergesetzt werden sollte, um nach der Schärfe zu untersuchen,
wer die ersten Anstifter und Verhetzer dieses Handels
eigentlich gewesen seyen.Dieser Antrag brachte den Zunftmeister und diejenigen,
die ihre Partei mit ihm gegen allen Erfolg zum voraus genommen
hatten, auf einmal wieder in Harnisch. Der Sykophant
Physignatus, der dadurch wieder Muth bekam, verlangte
von dem Nomophylax noch einmal zum Gehör gelassen
zu werden, weil er auf die Rede seines Gegentheils etwas
Neues vorzubringen habe; und da ihm dieses den Rechten
nach nicht versagt werden konnte, so ließ er sich folgendermaßen
vernehmen."Wenn das gerechte Vertrauen zu einem so ehrwürdigen
Gericht, wie das gegenwärtige, den verhaßten Namen einer
bestechenden Schmeichelei, womit mein Gegentheil solches zu
belegen sich nicht gescheut hat, verdient, so muß ich mich
darein ergeben, einen Vorwurf auf mir sitzen zu lassen den
ich nicht vermeiden kann; und ich glaube allenfalls durch eine
allzu hohe Meinung von euch, großmögende Herren, weniger
zu sündigen, als mein Gegner durch die Einbildung, eure
Gerechtigkeit und Einsicht in einer so groben Schlinge zu fangen,
als diejenige ist die er euch gelegt hat. Der Schein
von gesunder Vernunft, womit er seine plumpe Vorstellungsart
der Sache überstrichen, und ein Ton, den er seinem
Clienten abgeborgt zu haben scheint, können höchstens eine
augenblickliche Ueberraschung wirken: aber daß sie die Weisheit
des obersten Raths von Abdera ganz umzuwerfen vermögend
seyn könnten, wäre an mir Lästerung zu fürchten, und
war Unsinn an ihm zu hoffen."Wie? Polyphonus, anstatt die gerechte Sache seines
Clienten zu behaupten, wie er vor dem ehrwürdigen Stadtgerichte
und bisher immer hartnäckig gethan hat, gesteht nun
auf einmal selbst ein, daß der Eseltreiber unrecht und unsinnig
daran gethan habe, seine gegen den Zahnarzt Struthion
erhobne Klage auf sein vermeintes Eigenthumsrecht an den
Eselsschatten zu gründen; er bekennt öffentlich, daß der Kläger
eine unbefugte, ungegründete, frivole Klage erhoben
habe; und er untersteht sich von Recht an Schadloshaltung
zu schwatzen, und in dem trotzigen Ton eines Eseltreibers
Genugthuung zu fordern? was für eine neue unerhörte Art
von Rechtsgelehrsamkeit, wenn der Unrecht habende Theil
damit durchkäme, daß er am Ende, wenn er sich nicht mehr
anders zu helfen wüßte, selbst gestände, er habe Unrecht, und
mit fünfundzwanzig Prügeln, die er sich dafür geben ließe,
und die ein Kerl wie Anthrax schon auf seinen Buckel nehmen
kann, sich noch ein Recht an Entschädigung und Genugthuung
erwerben könnte! Gesetzt auch, des Eseltreibers Fehler
bestände bloß darin daß er nicht die rechte Action instituirt
hätte: was geht das den unschuldigen Gegentheil oder
den Richter an? jener muß sich mit seiner Verantwortung
nach der Klage richten; und dieser urtheilt über die Sache,
nicht wie sie vielleicht in einem andern Licht und unter einem
andern Gesichtspunkt erscheinen könnte, sondern wie sie ihm
vorgetragen worden. Ich verspreche mir also im Namen
meines Clienten, daß, der gegentheiligen Luftstreiche ungeachtet,
die vorliegende Sache nicht nach dem neuen und allen
bisherigen Verhandlungen zuwider laufenden Schwunge, den
ihr Polyphonus zu geben gesucht, sondern nach Beschaffenheit
der Klage und des Beweises abgeurtheilt werde. Die
Rede ist in gegenwärtigem Rechtsstreite nicht von Zeitverlust
und Deterioration des Esels, sondern von des Esels Schatten.
Kläger behauptete, daß sein Eigenthumsrecht an den
Esel sich auch auf dessen Schatten erstrecke, und hat es nicht
bewiesen. Beklagter behauptete, daß er so viel Recht an
des Esels Schatten habe als der Eigenthümer, oder, was
allenfalls daran abgehen könnte, hab' er durch den Miethcontract
erworben; und er hat seine Behauptung bewiesen."Ich stehe also hier, Großmögende Herren, und verlange
einen richterlichen Spruch über das, was bisher den
Gegenstand des Streits ausgemacht hat. Um dessentwillen
allein ist gegenwärtiges höchstes Gericht niedergesetzt worden!
Dieß allein macht jetzt die Sache aus, worüber es zu erkennen
hat! Und ich unterstehe mich's vor diesem ganzen mich
hörenden Volke zu sagen: entweder ist kein Recht in Abdera
mehr, oder meine Forderung ist gesetzmäßig, und die Rechte
eines jeden Bürgers sind darunter befangen, daß meinem
Clienten das seinige zugesprochen werde!"Der Sykophant schwieg, die Richter stutzten, das Volk
fing von neuem an zu murmeln und unruhig zu werden, und
die Schatten reckten ihre Köpfe wieder empor.Nun, sagte der Nomophylax, indem er sich an Polyphonus
wandte, was hat der klägerische Anwalt hierauf beizubringen?"Hochgeachteter Herr Oberrichter, erwiederte Polyphonus,
nichts — als alles von Wort zu Wort, was ich schon
gesagt habe. Der Proceß über des Esels Schatten ist ein
so böser Handel, daß er nicht bald genug ausgemacht werden
kann. Der Kläger hat dabei gefehlt, der Beklagte hat gefehlt,
die Anwälte haben gefehlt, der Richter der ersten Instanz
hat gefehlt, ganz Abdera hat gefehlt! Man sollte denken,
ein böser Wind habe uns alle angeblasen, und es sey
nicht so ganz richtig mit uns gewesen als wohl zu wünschen
wäre. Käm' es schlechterdings darauf an, uns noch länger
zu prostituiren, so sollte mir's wohl auch nicht an Athem
fehlen, für das Recht meines Clienten an seines Esels Schatten
eine Rede zu halten, die von Sonnenaufgang bis zu Sonnenuntergang
reichen sollte. Aber, wie gesagt, wenn die Komödie
die wir gespielt haben, so lange sie bloß Komödie blieb,
noch zu entschuldigen ist: so wär' es doch, dünkt mich, auf
keine Weise recht, sie vor einem so ehrwürdigen Gerichte, wie
der hohe Rath von Abdera ist, länger fortzuspielen. Wenigstens
habe ich keinen Auftrag dazu, und überlasse euch also,
Großmögende Herren, unter nochmaliger Wiederholung alles
dessen, was ich im Namen des erlauchten und hochwürdigen
Erzpriesters zu Recht gefordert habe, den Handel nun abzuurtheln
und auszumachen — wie es euch die Götter eingeben
werden."Die Richter befanden sich in großer Verlegenheit, und
es ist schwer zu sagen, was für ein Mittel sie endlich ergriffen
haben würden, um mit Ehren aus der Sache zu kommen;
wenn der Zufall, der zu allen Zeiten der große Schutzgott aller
Abderiten gewesen ist, sich ihrer nicht angenommen, und diesem
seinem bürgerlichen Drama eine Entwickelung gegeben
hätte, deren sich einen Augenblick vorher kein Mensch versah
noch versehen konnte.—————
Sechzehntes Kapitel.Unvermuthete Entwickelung der ganzen Komödie und Wiederherstellung
der Ruhe in Abdera.Der Esel, dessen Schatten zeither (nach dem Ausdruck
des Archon Onolaus) eine so seltsame Verfinstrung in den
Hirnschädels der Abderiten angerichtet hatte, war bis zu
Austrag der Sache in den öffentlichen Stall der Republik abgeführt,
und bisher daselbst nothdürftig verpflegt worden.Das beste, was man davon sagen kann, ist, daß er nicht
fetter davon geworden war.Diesen Morgen nun war es den Stallbedienten der Republik,
welche wußten daß der Handel zu Ende gehen sollte,
auf einmal eingefallen: der Esel, der gleichwohl eine Hauptperson
bei der Sache vorstellte, sollte doch billig auch von der
Partie seyn. Sie hatten ihn also gestriegelt, mit Blumenkränzen
und Bändern herausgeputzt, und brachten ihn nun,
unter der Begleitung und dem Nachjauchzen unzähliger
Gassenjungen, in großem Pomp herbeigeführt.Der Zufall wollte, daß sie in der nächsten Gasse, die in
den Markt auslief, anlangten, als Polyphonus eben seinen
Nachtrag geendigt hatte, und die armen Richter sich gar nicht
mehr zu helfen wußten, das Volk hingegen, zwischen der
Furcht vor dem Erzpriester, und dem neuen Stoß den ihm
die zweite Rede des Sykophanten Physignatus gegeben, in
einer ungewissen und mißmuthigen Art von Bewegung schwankte.Der Lärm, den die besagten Gassenjungen um den Esel
her machten, drehte jedermanns Augen nach der Seite, woher
er kam. Man stutzte und drängte sich hinzu.Ha! rief endlich einer aus dem Volke, da kommt der
Esel selbst! — Er wird den Richtern wohl zu einem Ausspruch
helfen wollen, sagte ein andrer. — Der verdammte Esel, rief
ein dritter, er hat uns alle zu Grunde gerichtet! Ich wollte,
daß ihn die Wölfe gefressen hätten, eh' er uns diesen gottlosen
Handel auf den Hals zog! — Heyda! schrie ein Kesselflicker,
der immer einer der eifrigsten Schatten gewesen war; was
ein braver Abderit ist, über den Esel her! Er soll uns die Zeche
bezahlen! Laßt nicht ein Haar aus seinem schäbichten Schwanz
von ihm übrig bleiben!In einem Augenblick stürzte sich die ganze Menge auf das
arme Thier, und in wenig Augenblicken war es in tausend
Stücke zerrissen. Jedermann wollte auch einen Bissen davon
haben. Man riß, schlug, zerrte, kratzte, balgte und raufte
sich darum mit einer Hitze, die gar nicht ihresgleichen hatte.
Bei einigen ging die Wuth so weit, daß sie ihren Antheil auf
der Stelle roh und blutig auffraßen; die meisten aber liefen
mit dem, was sie davongebracht, nach Hause; und da ein
jeder eine Menge hinter sich her hatte, die ihm seinen Raub
mit großem Geschrei abzujagen suchte, so wurde der ganze
Markt in wenig Minuten so leer als um Mitternacht.Die Vierhundertmänner waren im ersten Augenblick dieses
Aufruhrs, wovon sie die Ursache nicht sogleich sehen konnten,
in so große Bestürzung gerathen, daß sie alle, ohne selbst zu
wissen was sie thaten, die Mordwerkzeuge hervorzogen, die
sie heimlich unter ihren Mänteln bei sich führten; und die
Herren sahen einander mit keinem kleinen Erstaunen an, da
auf einmal, vom Nomophylax bis zum untersten Beisitzer,
in jeder Hand ein bloßer Dolch funkelte. Als sie aber endlich
sahen und hörten was es war, steckten sie geschwinde ihre
Messer wieder in den Busen, und brachen allesammt, gleich
den Göttern im ersten Buche der Ilias, in ein unauslöschlichen
Gelächter aus.Dank sey dem Himmel! rief endlich, nachdem die sehr
ehrwürdigen Herren wieder zu sich selbst gekommen waren,
der Nomophylax lachend aus: mit aller unsrer Weisheit hätten
wir der Sache keinen schicklichern Ausgang geben können.
Wozu wollten wir uns nun noch länger die Köpfe zerbrechen?
Der Esel, der unschuldige Anlaß dieses leidigen Handels, ist
(wie es zu gehen pflegt) das Opfer davon geworden: das Volk
hat sein Müthchen an ihm abgekühlt; und es kommt jetzt nur
auf eine gute Entschließung von unsrer Seite an, so kann dieser
Tag, der noch kaum so aussah als ob er ein trübes Ende
nehmen würde, ein Tag der Freude und Wiederherstellung
der allgemeinen Ruhe werden. Da der Esel selbst nicht mehr
ist, was hälf' es noch lange über seinen Schatten zu rechten?
Ich trage also darauf an: daß diese ganze Eselssache hiermit
öffentlich für geendigt und abgethan genommen, beiden Theilen,
unter Vergütung aller ihrer Kosten und Schäden aus der
Stadt-Renterei, ein ewiges Stillschweigen auferlegt, dem armen
Esel aber auf gemeiner Stadt Kosten ein Denkmal aufgerichtet
werde, das zugleich uns und unsern Nachkommen
zur ewigen Erinnerung diene, wie leicht eine große und
blühende Republik sogar um eines Eselsschattens willen hätte
zu Grunde gehen können.Jedermann klatschte dem Antrag des Nomophylax seinen
Beifall zu, als dem klügsten und billigsten Auswege, den man
nach Gestalt der Sachen treffen könne. Beide Parteien konnten
damit zufrieden seyn, und die Republik erkaufte ihre
Beruhigung und Verhütung größeren Schimpfs und Unheils
noch immer wohlfeil genug. Der Schluß wurde also von den
Vierhundertmännern einhellig diesem Vortrage gemäß abgefaßt,
wiewohl es einige Mühe kostete, den Zunftmeister
Pfriem dahin zu bringen daß er nicht den Ungeraden machte;
und der große Rath, mit seiner martialischen Bürgerwache
im Vor- und Hintertreffen, begleitete den Nomophylax bis
vor seine Wohnung zurück, wo er die Herren Collegen sammt
und sonders auf den Abend zu einem großen Concert einlud,
welches er ihnen zu Befestigung der wieder hergestellten
Eintracht zum Besten geben wollte.Der Erzpriester Agathyrsus erließ dem Eseltreiber nicht
nur die versprochnen fünfundzwanzig Prügel, sondern schenkte
ihm noch obendrein drei schöne Maulesel aus seinem eignen
Stalle, mit dem ausdrücklichen Verbot, keine Schadloshaltung
aus dem Abderitischen Stadtseckel anzunehmen. Des folgenden
Tages gab er den sämmtlichen Schatten aus dem kleinen
und großen Rath ein prächtiges Gastmahl; und am Abend
ließ er unter die gemeinen Bürger von allen Zünften eine
halbe Drachme auf den Mann austheilen, um dafür auf seine
und aller guten Abderiten Gesundheit zu trinken. Diese Freigebigkeit
gewann ihm auf einmal wieder alle Herzen: und da
die Abderiten ohnehin (wie wir wissen) Leute waren, denen
es nichts kostete von einer Extremität zur andern überzugehen;
so ist es bei einem so edeln Betragen des bisherigen Oberhaupts
der stärkern Partei nicht zu bewundern, daß die Namen
von Eseln und Schatten in kurzem gar nicht mehr gehört
wurden. Die Abderiten lachten letzt selbst über ihre Thorheit,
als einen Anstoß von fiebrischer Raserei, der nun, Gottlob!
vorüber sey. Einer ihrer Balladenmänner (deren sie sehr viele
und sehr schlechte hatten) eilte was er konnte, die ganze Geschichte
in ein Gassenlied zu bringen, das sogleich auf allen
Straßen gesungen wurde; und der Dramenmacher Thlaps
ermangelte nicht, binnen wenigen Wochen sogar eine Komödie
daraus zu verfertigen, wozu der Nomophylax eigenhändig
die Musik componirte.Dieses schöne Stück wurde öffentlich mit großem Beifall
aufgeführt, und beide vormalige Parteien lachten so herzlich
darin, als ob die Sache sie gar nichts anginge.Demokrit, der sich von dem Erzpriester hatte bereden
lassen mit in dieß Schauspiel zu gehen, sagte beim Herausgehen:
diese Aehnlichkeit mit den Athenern muß man den
Abderiten wenigstens eingestehen, daß sie recht treuherzig über
ihre eignen Narrenstreiche lachen können. Sie werden zwar
nicht weiser darum: aber es ist immer schon viel gewonnen,
wenn ein Volk leiden kann daß ehrliche Leute sich über seine
Thorheiten lustig machen, und mitlacht, anstatt, wie die
Affen, tückisch darüber zu werden.Es war die letzte Abderitische Komödie, in welche Demokrit
in seinem Leben ging: denn bald darauf zog er mit
Sack und Pack aus der Gegend von Abdera weg, ohne einem
Menschen zu sagen wo er hinginge; und von dieser Zeit an
hat man keine weiteren Nachrichten von ihm.—————
Fünftes Buch.Die Frösche der Latona.Erstes Kapitel.Erste Quelle des Uebels, welches endlich den Untergang der Abderitischen
Republik nach sich zog. Politik des Erzpriesters Agathyrsus. Er
läßt einen eignen öffentlichen Froschgraben anlegen. Nähere und
entferntere Folgen dieses neuen Instituts.Die Republik Abdera genoß einige Jahre auf die eben so
gefährlichen als — Dank ihrem gutlaunigen Genius! — so
glücklich abgelaufnen Bewegungen wegen des Eselsschattens
der vollkommensten Ruhe von innen und außen; und wenn
es natürlicherweise möglich wäre daß Abderiten sich lange wohl
befinden könnten, so hätte man dem Anschein nach ihrem
Wohlstande die längste Dauer versprechen sollen. Aber, zu
ihrem Unglück, arbeitete eine ihnen allen verborgene Ursache,
ein geheimer Feind, der desto gefährlicher war weil sie ihn
in ihrem eignen Busen herumtrugen, unvermerkt an ihrem
Untergange.Die Abderiten verehrten (wie wir wissen) seit undenklichen
Zeiten die Latona als ihre Schutzgöttin.So viel sich auch immer mit gutem Fug gegen den
Lotonendiest einwenden läßt, so war es nun einmal ihre von
Voreltern auf sie geerbte Volks- und Staatsreligion; und
sie waren in diesem Stücke nicht schlimmer daran, als alle
übrigen Griechischen Völkerschaften. Ob sie, wie die Athener,
Minerven, oder Juno wie die von Samos, oder Dianen wie
die Ephesier, oder die Grazien wie die Orchomenier, oder ob
sie Latonen verehrten, darauf kam's nicht an: eine Religion
mußten sie haben, und in Ermangelung einer bessern war
eine jede besser als gar keine.Aber der Latonendienst hätte auch ohne den Froschgraben
bestehen können. Wozu hatten sie nöthig, den einfältigen
Glauben der alten Tejer, ihrer Voreltern, durch einen so
gefährlichen Zusatz aufzustutzen? Wozu die Frösche der Latona,
da sie die Latona selbst hatten?Oder, wenn sie ja ein sichtbares Denkmal jener wundervollen
Verwandlung der Lycischen Bauern zur Nahrung ihres
Abderitischen Glaubens bedurften; hätte ein halbes Duzend
ausgestopfte Froschhäute, mit einer schönen goldnen Inschrift
in einer Capelle des Latonentempels aufgestellt, mit einem
brokatnen Tuch umschleiert, und alle Jahre mit gehörigen
Feierlichkeiten dem Volke vorgezeigt, ihrer Einbildungskraft
nicht die nämlichen Dienste gethan?Demokrit, ihr guter Mitbürger — aber zum Unglück ein
Mann dem man nichts glauben konnte, weil er in dem bösen
Rufe stand daß er selbst nichts glaube —hatte, während er sich
unter ihnen aufhielt, bei Gelegenheit zuweilen ein Wort davon
fallen lassen: daß man des Guten, zumal wo Frösche mit im
Spiele wären, leicht zu viel thun könne. Und da seine Ohren,
nach einer zwanzigjährigen Abwesenheit, an das liebliche
Wreckeckeck Koax Koax, das ihm zu Abdera Tag und Nacht
um die Ohren schnarrte, nicht so gewöhnt waren, als die
etwas dickern Ohren seiner Landsleute: so hatte er ihnen
einigemal nachdrückliche Vorstellungen gegen ihre Deisibatrachie
(wie er's nannte) gethan, und ihnen öfters bald im Scherz,
bald im Ernst, vorhergesagt, daß, wenn sie nicht in Zeiten
Vorkehrung thäten, ihre quälenden Mitbürger sie endlich
aus Abdera hinausquaken würden. Die Vornehmern konnten
über diesen Punkt sehr gut Scherz vertragen; denn sie wollten
wenigstens nicht dafür angesehen seyn, als ob sie mehr von
den Fröschen der Latona glaubten als Demokrit selbst. Aber
das Uebel war, daß er sie weder durch Schimpf noch Ernst
dahin bringen konnte, die Sache aus einem vernünftigen
Gesichtspunkte zu beherzigen. Scherzte er darüber, so scherzten
sie mit; sprach er ernsthaft, so lachten sie über ihn, daß
er über so was ernsthaft seyn könne. Und so blieb es denn,
Einwendens ungeachtet, wie in allen Dingen so auch hierin
zu Abdera immer — beim alten Brauch.Indessen wollte man doch bereits zu Demokrits Zeiten
eine gewisse Lauigkeit in Absicht auf die Frösche unter der edeln
Abderitischen Jugend wahrgenommen haben. Wenigstens
stimmte der Priester Strobylus öfters große Klaglieder darüber
an, daß die meisten guten Häuser die Froschgräben, die
sie von Alters her in ihren Gärten unterhalten hätten,
unvermerkt eingehen ließen, und der gemeine Mann beinahe
der einzige sey, der in diesem Stücke noch an dem löblichen
alten Brauch hange, und seine Ehrfurcht für den geheiligten
Teich auch durch freiwillige Gaben zu Tage lege.Wer sollte nun bei so bewandten Sachen vermuthet
haben, daß gerade unter allen Abderiten derjenige, auf den
am wenigsten ein Verdacht, daß er an der Deisibatrachie
krank sey, fallen konnte, — daß der Erzpriester Agathyrsus
der Mann war, der, bald nach Endigung der Fehde zwischen
den Eseln und Schatten, dem erkalteten Eifer der Abderiten
für die Frösche wieder ein neues Leben gab?Gleichwohl ist es unmöglich, ihn von diesem seltsamen
Widerspruch zwischen seiner innern Ueberzeugung und seinem
äußerlichen Betragen frei zu sprechen; und wenn wir nicht
bereits von seiner Art zu denken unterrichtet wären, würde
das letztere kaum zu erklären seyn. Aber wir kennen diesen
Priester als einen ehrsüchtigen Mann. Er hatte sich während
der letzten Unruhen an der Spitze einer mächtigen Partei gesehen,
und hatte keine Lust, dieses Vergnügen gegen ein geringeres
Aequivalent zu vertauschen, als einen fortdauernden
Einfluß auf die ganze wieder beruhigte Republik; eine Sache,
die er nunmehr durch kein gewisseres Mittel erhalten konnte,
als durch eine große Popularität und eine Gefälligkeit gegen
die Vorurtheile des Volks, die ihm um so weniger kostete, da
er (wie so viele seinesgleichen) die Religion bloß als eine
politische Maschine ansah, und im Grunde äußerst gleichgültig
darüber war, ob es Frösche oder Eulen oder Hammelsfelle
seyen, was ihm die freieste und sicherste Befriedigung seiner
Lieblingsleidenschaften gewährte.Diesemnach also, und um sich auf die wohlfeilste Art
bei dem Volke in Ansehen und Einfluß zu erhalten, verbannte
er bald nach Endigung des Schattenkriegs nicht nur die Störche,
über welche die Froschpfleger Klage geführt hatten, aus allen
Gerichten und Gebieten des Jasontempels, sondern er trieb
die Gefälligkeit gegen seine neuen Freunde so weit, daß er
mitten auf einer Esplanade (die einer seiner Vorfahren zu
einem öffentlichen Spazierplatz gewidmet hatte) einen Teich
graben ließ, und sich zu Besetzung desselben auf eine sehr verbindliche
Art einige Fässer mit Froschlaich aus dem geheiligten
Teiche von dem Oberpriester Strobylus ausbat; welche ihm
denn auch, nach einem der Latona gebrachten feierlichen Opfer,
in Begleitung des ganzen Abderitischen Pöbels mit großem
Prunk zugeführt wurden.Von diesem Tage an war Agathyrsus der Abgott des
Volks, und ein Froschgraben, zu rechter Zeit angelegt, verschaffte
ihm, was er sonst mit aller Politik, Wohlredenheit
und Freigebigkeit nie erlangt haben würde. Er herrschte,
ohne die Rathsstube jemals zu betreten, so unumschränkt in
Abdera als ein König; und weil er den Rathsherren und
Zunftmeistern alle Woche zwei- oder dreimal zu essen gab, und
ihnen seine Befehle nie anders als in vollen Bechern von
Chierwein insinuirte, so hatte niemand etwas gegen einen so
liebenswürdigen Tyrannen einzuwenden. Die Herren glaubten
nichtsdestoweniger auf dem Rathhause ihre eigne Meinung zu
sagen, wenn ihre Vota gleich nur der Widerhall der Schlüsse
waren, welche Tages zuvor im Speisesaal des Erzpriesters
abgefaßt wurden.Agathyrsus war der erste, der sich unter vertrautern
Freunden über seinen neuen Froschgraben lustig machte. Aber
das Volk hörte nichts davon. Und da sein Beispiel auf die
Edeln von Abdera mehr wirkte als seine Scherze, so hätte
man den Wetteifer sehen sollen, womit sie, um ebenfalls
Proben von ihrer Popularität abzulegen, entweder die vertrockneten
Froschgräben in ihren Gärten wieder herstellten,
oder neue anlegten wo noch keine gewesen waren.Wie in Abdera alle Thorheiten ansteckend waren, so blieb
auch von dieser niemand frei. Anfangs war es bloße Mode,
eine Sache die zum guten Ton gehörte. Ein Bürger von
einigem Vermögen würde sich's zur Schande gerechnet haben,
hierin hinter seinem vornehmern Nachbar zurückzubleiben.
Aber unvermerkt wurde es ein Erforderniß zu einem guten
Bürger; und wer nicht wenigstens eine kleine Froschgrube
innerhalb seiner vier Pfähle aufweisen konnte, würde für einen
Feind Latonens und für einen Verräther am Vaterlande aufgeschrien
worden seyn.Bei einem so warmen Eifer der Privatpersonen ist leicht
zu erachten, daß der Senat, die Zünfte und übrigen Collegien
nicht die letzten waren, der Latona gleiche Beweise ihrer
Devotion zu geben. Jede Zunft ließ sich ihren eignen Froschzwinger
graben. Auf jedem öffentlichen Platze der Stadt, ja
sogar vor dem Rathhause (wo die Kräuter- und Eierweiber
ohnehin Lärms genug machten) wurden große mit Schilf und
Rasen eingefaßte Wasserbehälter zu diesem Ende angelegt; und
das Polizeicollegium, welches hauptsächlich die Verschönerung
der Stadt in seinen Pflichten hatte, kam endlich gar auf den
Einfall, durch die Spaziergänge, womit Abdera rings umgeben
war, zu beiden Seiten schmale Canäle ziehen und mit Fröschen
besetzen zu lassen. Das Project wurde vor Rath gebracht und
ging ohne Widerspruch durch; wiewohl man sich genöthigt sah,
um diese Canäle und die übrigen öffentlichen Froschteiche mit
dem benöthigten Wasser zu versehen, den Fluß Nestus beinahe
gänzlich abgraben zu lassen. Weder die Kosten, die durch alle
diese Operationen der Stadtcasse aufgeladen wurden, noch der
vielfältige Nachtheil, der aus dem Abgraben des Flusses entstand,
wurden in die mindeste Betrachtung gezogen; und als
ein junger Rathsherr nur im Vorbeigehn erwähnte, daß der
Nestus nahe am Eintrocknen wäre, rief einer von den Froschpflegern:
desto besser! so haben wir einen großen Froschgraben
mehr, ohne daß es der Republik einen Heller kostet.Wer sich bei diesem (freilich nur in Abdera möglichen)
Enthusiasmus für die Verschönerung der Stadt durch Froschgräben
am besten befand, waren die Priester des Latonentempels.
Denn, ungeachtet sie den Laich aus dem heiligen
Teiche sehr wohlfeil, nämlich den Abderitischen Cyathus (der
ungefähr ein Nößel unsers Maßes betragen mochte) nur für
zwei Drachmen verkauften; so wollte doch jemand berechnet
haben, daß sie in den ersten zwei bis drei Jahren, da die
Schwärmerei am wirksamsten war, über fünftausend Dariken
damit gewonnen hätten. Die Summe scheint uns bei allem
dem zu hoch angesetzt; wiewohl nicht zu läugnen ist, daß sie
sich für den Laich, den sie der Republik ablieferten, das
Doppelte aus der Baucasse bezahlen ließen.Uebrigens dachte in ganz Abdera niemand an die Folgen
dieser schönen Anstalten. Die Folgen kamen, wie gewöhnlich,
von sich selbst. Aber weil sie nicht auf einmal da standen,
so währte es nicht nur eine geraume Zeit bis man sie bemerkte;
sondern da sie endlich auffallend genug wurden, um
nicht länger, sogar von Abderiten, übersehen zu werden, so
konnten diese doch, trotz ihrem bekannten Scharfsinn, die
Quelle derselben nicht ausfindig machen. Die Abderitischen
Aerzte zerbrachen sich die Köpfe, um zu errathen woher es
käme, daß Schnupfen, Flüsse und Hautkrankheiten aller Arten
von Jahr zu Jahr so mächtig überhand nahmen, und so hartnäckig
wurden, daß sie aller ihrer Kunst, und aller Niesewurz
von Anticyra Trotz boten. Kurz, Abdera mit der ganzen
Gegend umher war beinahe in einen allgemeinen unabsehbaren
Froschteich verwandelt, eh' es einem ihrer politischen Spitzköpfe
einfiel, die Frage aufzuwerfen: ob eine gränzenlose Vermehrung
der Froschmenge dem Staat nicht vielleicht mehr
Schaden thun könnte, als die Vortheile, die man sich davon
versprach, jemals wieder gut zu machen vermöchten?—————
Zweites Kapitel.Charakter des Philosophen Korax. Nachrichten von der Akademie der
Wissenschaften zu Abdera. Korax wirft in derselben eine verfängliche
Frage in Betreff der Latonenfrösche, und sich selbst zum Haupt der Gegenfröschler
auf. Betragen der Latonenpriester gegen diese Secte und wie
sie bewogen wurden, selbige für unschädlich anzusehen.Der merkwürdige Kopf, der zuerst die Wahrnehmung
machte, daß die Menge der Frösche in Abdera in der That
übermässig sey, und mit der Anzahl und dem Bedürfniß der
zweibeinigen unbefiederten Einwohner ganz und gar in keinem
Verhältnisse stehe, nannte sich Korax. Es war ein junger
Mann von gutem Hause, der sich etliche Jahre zu Athen aufgehalten,
und in der Akademie (wie die von Plato gestiftete
Philosophenschule bekanntermaßen genannt wurde) gewisse
Grundsätze eingesogen hatte, die den Fröschen der Latona nicht
allzu günstig waren. Die Wahrheit zu sagen, Latona selbst
hatte durch seinen Aufenthalt zu Athen so viel bei ihm verloren,
daß es kein Wunder war, wenn er ihre Frösche nicht mit aller
der Ehrfurcht ansehen konnte, die von einem orthodoxen Abderiten
gefordert wurde. — "Eine jede schöne Frau ist eine
Göttin, pflegte er zu sagen, wenigstens eine Göttin der Herzen;
und Latona war unstreitig eine sehr schöne Frau: aber was
geht das die Frösche an? und — die Sache bloß menschlich
und im Lichte der Vernunft betrachtet — was gehen am Ende
die Frösche Latonen an? Gesetzt aber auch, die Göttin — für
die ich übrigens alle Ehrfurcht hege, die einer schönen Frau
und einer Göttin geführt — gesetzt, sie habe die Frösche vor
allem andern Geziefer und Ungeziefer der Welt in ihren besondern
Schutz genommen: folgt denn daraus daß man der
Frösche nie zu viel haben könne?"Korax war, als er so zu vernünfteln anfing, ein Mitglied
der Akademie, welche in Abdera zur Nachahmung der Athenischen
gestiftet worden war. Diese Akademie war ein kleiner
in Spaziergänge ausgehauener Wald, ganz nahe bei der Stadt,
und da sie unter dem Schutze des Senats stand und auf gemeiner
Stadt Kosten angelegt worden war: so hatten die
Herren von der Polizeicommission nicht ermangelt, sie reichlich
mit Froschgräben zu versehen. Die Glieder der Akademie
fanden sich zwar nicht selten durch den eintönigen Chorgesang
dieser quakenden Philomelen in ihren tiefsinnigen Betrachtungen
gestört. Allein, da dieß an jedem andern Orte in und
um die Stadt Abdera ebensowohl der Fall gewesen wäre: so
hatten sie sich immer in Geduld darein ergeben; oder, richtiger
zu reden, man war des Froschgesangs in Abdera so gewohnt,
daß man nicht mehr davon hörte, als die Einwohner von
Katadupa von dem großen Nilfall, in dessen Nachbarschaft sie
leben, oder als die Anwohner irgend eines andern Wasserfalls
in der Welt.Allein mit Korax, dessen Ohren durch seinen Aufenthalt
zu Athen die Empfindlichkeit, die allen gesunden menschlichen
Ohren natürlich ist, wieder erlangt hatten, war es eine andre
Sache. Man wird es also nicht befremdlich finden, daß er
gleich bei der ersten Sitzung, welcher er beiwohnte, die spritzige
Anmerkung machte: er glaube, das Käuzlein der Minerva
qualificire sich ungleich besser zu einem außerordentlichen
Mitgliede der Akademie als die Frösche der Latona. —°Ich weiß
nicht, meine Herren, wie Sie die Sache ansehen, setzte er
hinzu: aber, mir däucht, die Frösche haben seit einigen Jahren
auf eine ganz unbegreifliche Art in Abdera zugenommen."Die Abderiten waren ein dumpfes Völklein, wie wir alle
wissen; und es gab vielleicht (eine einzige berühmte Nation
allenfalls ausgenommen) kein andres in der Welt, das in der
sonderbaren Eigenschaft, einen Wald vor lauter Bäumen nicht
sehen zu können, ihnen den Vorzug streitig machen konnte.
Aber dieß mußte man ihnen lassen, sobald es nur Einem
unter ihnen einfiel, eine Bemerkung zu machen, die jedermann
eben so gut hätte machen können als er, wiewohl sie
niemand vor ihm gemacht hatte; so schienen sie allesammt
plötzlich aus einem langen Schlaf zu erwachen, sahen nun
auf einmal — was ihnen vor der Nase lag, wunderten sich
über die gemachte Entdeckung, und glaubten demjenigen sehr
verbunden zu seyn der ihnen dazu verholfen hatte. In der
That, antworteten die Herren von der Akademie, die Frösche
haben seit einiger Zeit auf eine ganz unbegreifliche Art zugenommen."Wenn ich sagte, auf eine ganz unbegreifliche Art (versetzte
Korax), so will ich damit keineswegs gesagt haben, daß
etwas Uebernatürliches in der Sache sey. Im Grunde ist
nichts begreiflicher, als daß die Frösche sich an einem Orte
vermehren müssen, wo man solche Anstalten zu ihrer Unterhaltung
vorkehrt wie zu Abdera: das Unbegreifliche liegt
(meiner geringen Meinung nach) bloß darin, wie die Abderiten
einfältig genug seyn können diese Anstalten vorzukehren?"Die sämmtlichen Mitglieder der Akademie stutzten über
die Freiheit dieser Rede, sahen einander an, und schienen
verlegen zu seyn was sie von der Sache denken sollten."Ich rede bloß menschlicherweise," sagte Korax.Wir zweifeln nicht daran, versetzte der Präsident der Akademie,
der ein Rathsherr und einer von den Zehnmännern
war; allein die Akademie hat sich's bisher zum Gesetz gemacht,
dergleichen schlüpfrige Materien, auf welchen die Vernunft so
leicht ausglitschen kann, lieber gar nicht zu berühren —"Die Akademie zu Athen hat sich kein solches Gesetz gemacht,
fiel ihm Korax ein: wenn man nicht über alles philosophiren
darf, so wär's eben so gut man philosophirte über
— gar nichts."Ueber alles, sagte der Präsident Zehnmann mit einer bedenklichen
Miene, nur nicht über Latonen und —"Ihre Frösche?" — setzte Korax lächelnd hinzu. Dieß
war's auch wirklich, was der Präsident hatte sagen wollen:
aber bei dem Wörtchen "und" überfiel ihn eine Art von Beklemmung,
als ob er wider Willen fühlte, daß er im Begriff
sey eine Albernheit zu sagen; und so hielt er plötzlich mit
offnem Munde ein, und überließ es Koraxen, die Periode
zu vollenden."Ein jedes Ding kann von sehr vielerlei Seiten und in
mancherlei Lichte betrachtet werden, fuhr Korax fort; und
dieß zu thun, ist (däucht mir) gerade was dem Philosophen
zukommt, und was ihn von dem dummen undenkenden Haufen
unterscheidet. Unsere Frösche, zum Beispiel, können als
Frösche schlechtweg, und als Frösche der Latona betrachtet
werden. Denn insofern sie Frösche schlechtweg sind, sind sie
weder mehr noch weniger Frösche als andre. Ihr Verhältniß
gegen die Abderiten ist insofern ungefähr das nämliche, wie
das Verhältniß aller übrigen Frösche zu allen übrigen Menschen;
und insofern kann nichts unschuldiger seyn, als zu untersuchen,
ob die Froschmenge in einem Staate mit der Volksmenge
in gehörigem Verhältnisse stehe oder nicht? — und,
wofern sich fände daß der Staat einen großen Theil mehr
Frösche ernähren müßte als er nöthig hätte, die diensamsten
Mittel vorzuschlagen, wodurch ihre übermäßige Menge vermindert
werden könnte."Korax spricht verständig, sagten etliche junge Akademisten."Ich rede bloß menschlicher Weise von der Sache," sagte
Korax.Ich wollte lieber daß wir gar nicht davon angefangen
hätten, sagte der Präsident.Dieß war der erste Funke, den Korax in die schwindligen
Köpfe einiger naseweisen jungen Abderiten warf. Unvermerkt
wurde er zum Haupt und Worthalter einer Secte, von deren
Grundsätzen und Meinungen in Abdera nicht allzu vortheilhaft
gesprochen wurde. Man beschuldigte sie nicht ohne Grund,
daß sie nicht nur unter sich, sondern sogar in großen Gesellschaften
und auf den öffentlichen Spazierplätzen behaupteten:
"es lasse sich mit keinem einzigen triftigen Grunde beweisen,
daß die Frösche der Latona etwas besser als gemeine Frösche
wären; die Sage, daß sie von den Milischen Froschbauern oder
Bauerfröschen abstammten, wäre ein albernes Volksmährchen;
und selbst die alte Tradition, daß Jupiter die besagten Bauern,
weil sie Latonen mit ihren Zwillingen nicht aus ihrem Teiche
hätten trinken lassen wollen, in Frösche verwandelt habe, sey
etwas woran man allenfalls zweifeln könnte, ohne sich eben
darum an Jupitern oder Latonen zu versündigen. Es möchte
aber auch damit seyn wie es wollte, so sei es doch ungereimt,
aus Devotion gegen die schöne Latona die ganze Stadt und
Republik Abdera zu einer Froschpfütze zu machen;" — und
was dergleichen Behauptungen mehr waren, die, so simpel
und vernunftmäßig sie auch uns heutiges Tages vorkommen,
zu Abdera gleichwohl (zumal in den Ohren der Latonenpriester)
sehr übelklingend gefunden wurden, und dem Philosophen
Korax und seinen Anhängern den verhaßten Namen Batrachomachen
oder Gegenfröschler zuzogen; einen Titel, dessen sie
sich jedoch um so weniger schämten, weil es ihnen gelungen
war, beinahe die ganze junge und schöne Welt mit ihren freien
Meinungen anzustecken.Die Priester des Latonentempels und das hohe Collegium
der Froschpfleger ermangelten nicht, bei jeder Gelegenheit ihr
Mißfallen an dem muthwilligen Witze der Gegenfröschler zu
zeigen; und der Oberpriester Stilbon vermehrte aus dieser
Veranlassung sein Buch, von den Alterthümern des Latonentempels,
mit einem großen Kapitel über die Natur der Latonenfrösche.
Indessen hatten sie einen sehr wesentlichen Beweggrund
es dabei bewenden zu lassen; und dieser war: daß, ungeachtet
der freigeisterischen Denkart über die Frösche, welche
Korax in Abdera zur Mode gemacht hatte, nicht ein einziger
Froschgraben in und um die Stadt weniger zu sehen war als
zuvor. Korax und seine Anhänger waren schlau genug gewesen,
zu merken, daß sie sich die Freiheit, "von den Fröschen
überlaut zu denken was sie wollten," nicht wohlfeiler erkaufen
könnten, als wenn sie es, was die Ausübung betraf, gerade
eben so machten wie alle andern Leute. Ja, der weise Korax,
als derjenige auf den man am meisten Acht gab, und der es
für sicherer hielt, lieber zu viel als zu wenig zu thun, hatte,
gleich nach seiner Aufnahme in die Akademie, auf seinem angeerbten
Grund und Boden einen der schönsten Froschgräben
in ganz Abdera angelegt, und mit einer beträchtlichen Menge
schöner wohlbeleibter Frösche aus dem geheiligten Teiche besetzt,
wovon er den Priestern jedes Stück mit vier Drachmen
bezahlte. Dieß war eine Höflichkeit, für welche diese Herren,
so wenig sie sich ihm auch sonst dafür verbunden halten mochten,
doch um des guten Beispiels willen nicht umhin konnten
dankbar zu scheinen; zumal da diese nämliche Handlung des
sogenannten Philosophen hinlänglichen Vorwand gab, diejenigen,
die sich an seinen freien Meinungen und witzigen Einfällen
hätten ärgern mögen, zu überzeugen, daß es ihm nicht
Ernst damit sey. Seine Zunge ist schlimmer als sein Gemüth,
pflegten sie zu sagen: er will dafür angesehen seyn, als ob er
zu viel Witz hätte um zu denken wie andre Leute; aber im
Grund ist's bloße Ziererei. Wenn er nicht im Herzen eines
Bessern überzeugt wäre, würde er wohl seine freigeisterischen
Meinungen durch seine Handlungen widerlegen? Man muß
solche Leute nicht nach dem was sie sprechen beurtheilen, sondern
nach dem was sie thun.Bei allem dem ist nicht zu läugnen, daß Korax unter der
Hand mit keinem geringern Anschlag umging, als — gleich
einem neuen Hercules, Theseus oder Harmodius —sein Vaterland
von den Fröschen zu befreien; von welchen es, wie er
zu sagen pflegte, mit größerm Unheil bedroht würde, als alle
die Ungeheuer, Räuber und Tyrannen, von denen jene Heroen
das ihrige befreiten, jemals in ganz Griechenland angerichtet
hätten.—————
Drittes Kapitel.Ein unglücklicher Zufall nöthigt den Senat von der unmäßigen Froschmenge
in Abdera Notiz zu nehmen. Unvorsichtigkeit des Rathsherrn
Meidias. Die Majora beschließen ein Gutachten der Akademie einzuholen.
Der Nomophylax Hypsiboas protestirt gegen diesen Schluß, und
eilt den Oberpriester Stilbon dagegen in Bewegung zu setzen.Das Ungemach, das die Abderiten von der ungeheuern
Vermehrung ihrer heiligen Frösche erduldeten, wurde inzwischen
von Tag zu Tag drückender, ohne daß der damalige
Archon Onokradias (ein Schwestersohn des berühmten Onolaus,
und, die Wahrheit zu sagen, der lockerste Kopf, der jemals
am Ruder von Abdera gewackelt hatte) vermocht werden konnte,
die Sache vor den Senat zu bringen — bis bei einer großen
Feierlichkeit, wo der Rath und die ganze Bürgerschaft in Procession
durch die Hauptstraßen ziehen mußte, das Unglück geschah,
daß ein paar Duzend Frösche, die sich zu weit aus
ihren Gräben herausgewagt hatten, im Gedränge des Volks
zertreten wurden, und, aller schleunig vorgekehrten Hülfe ungeachtet,
jämmerlich ums Leben kamen.Dieser Vorfall schien so bedenklich, daß sich der Archon
genöthigt fand eine außerordentliche Rathsversammlung ansagen
zu lassen, um zu berathschlagen, was für eine Genugthuung
die Stadt für dieses zwar unvorsetzliche aber nichtsdestoweniger
höchst unglückliche Sakrilegium der Latona zu
leisten hätte, und durch was für Vorkehrungen einem ähnlichen
Unglück fürs künftige vorgebaut werden könnte?Nachdem eine gute Weile viel Abderitische Plattheiten
über die Sache vorgetragen worden waren, platzte endlich der
Rathsherr Meidias, ein Verwandter und Anhänger des Philosophen
Korax, heraus: "Ich begreife nicht, warum die
Herren um ein halb Schock Frösche mehr oder weniger ein
solches Aufheben machen mögen. Jedermann ist überzeugt,
daß die Sache ein bloßer Zufall war, den uns Latona unmöglich
übel nehmen kann; und, weil das Schicksal, das über
Götter, Menschen und Frösche zu befehlen hat, doch nun einmal
den Untergang einiger quakenden Geschöpfe bei dieser
Gelegenheit verhängen wollte, möchten's doch anstatt vierundzwanzig
eben so viele Myriaden gewesen seyn!"Es waren unter allen Rathsherren vielleicht nicht fünf,
die in ihrem Hause oder in Privatgesellschaften (wenigstens
seit Korax zuerst die Entdeckung gemacht) nicht tausendmal
über die allzu große Vermehrung der Frösche geklagt hätten.
Gleichwohl, da es in vollem Senat noch nie darüber zur
Sprache gekommen war, stutzte jedermann über die Kühnheit
des Rathsherrn Meidias, nicht anders als ob er der Latona
selbst an die Kehle gegriffen hätte. Einige alte Herren sahen
so erschrocken aus, als ob sie erwarteten, daß ihr Herr College
für diese verwegene Rede auf der Stelle zum Frosch werden
würde."Ich hege alle gebührende Achtung für den geheiligten
Teich (fuhr Meidias, der alles wohl bemerkte, ganz gelassen
fort), aber ich berufe mich auf die innere Ueberzeugung aller
Menschen, deren Mutterwitz noch nicht ganz eingetrocknet ist,
ob jemand unter uns ohne Unverschämtheit läugnen könne,
daß die Menge der Frösche in Abdera ungeheuer ist?"Die Rathsherren hatten sich indessen von ihrem ersten
Schrecken wieder erholt; und wie sie sahen, daß Meidias noch
immer in seiner eignen Gestalt da saß, und ungestraft hatte
sagen dürfen was sie im Grunde allesammt als Wahrheit
fühlten, so fing einer nach dem andern an zu bekennen; und
nach einer kleinen Weile zeigte sich's, daß der ganze Senat
einhellig der Meinung war: es wäre zu wünschen, daß der
Frösche in Abdera weniger seyn möchten.Man ist in seinem eignen Hause nicht mehr vor ihnen
sicher, sagte einer. — Man kann nicht über die Straße gehen,
ohne Gefahr zu laufen einen oder ein paar mit jedem Tritte
zu zerquetschen, sagte ein andrer. —Man hätte der Freiheit,
Froschgräben anzulegen, gleich anfangs Schranken setzen sollen,
sagte ein dritter. — Wär' ich damals im Senat gewesen, da
die Stiftung der öffentlichen Froschteiche beschlossen wurde,
ich würde meine Stimme nimmermehr dazu gegeben haben,
sagte ein vierter. — Wer hätte aber auch gedacht, daß sich die
Frösche in wenig Jahren so unmenschlich vermehren würden?
sagte ein fünfter. — Ich sah es wohl vorher, sagte der
Präsident der Akademie; aber ich habe mir zum Gesetz
gemacht, mit den Priestern der Latona in Frieden zu
leben.Ich auch, sagte Meidias; aber unsre Umstände werden
dadurch nichts gebessert.Was ist also bei so gestalten Sachen anzufangen, meine
Herren? fragte endlich in seinem gewöhnlichen nieselnden Tone
der Archon Onokradias.Da sitzt eben der Knoten! antworteten die Rathsherren
aus Einem Munde. Wenn uns nur jemand sagen wollte
was anzufangen ist?Was anzufangen ist? rief Meidias hastig, und hielt
plötzlich wieder ein.Es erfolgte eine allgemeine Stille in der Rathsstube. Die
weisen Männer ließen ihre Häupter auf die Brust fallen, und
schienen mit Anstrengung aller ihrer Gesichtsmuskeln nachzusinnen
was anzufangen sey?Aber wofür haben wir denn eine Akademie der Wissenschaften
in Abdera? rief nach einer Weile der Archon zu allgemeiner
Verwunderung aller Anwesenden. Denn man hatte
ihn seit seiner Erwählung zum Archontat noch nie seine Meinung
in einer rhetorischen Figur vorbringen hören.Der Gedanke Seiner Hochweisheit ist unverbesserlich, versetzte
der Rathsherr Meidias: man trage der Akademie auf,
ihr Gutachten zu geben, durch was für Mittel —Das ist's eben, was ich meine, unterbrach ihn der Archon:
wofür haben wir eine Akademie, wenn wir uns mit dergleichen
subtilen Fragen die Köpfe zerbrechen sollen?Vortrefflich! rief eine Menge dicker Rathsherren, indem
sie sich alle zugleich mit der flachen Hand über ihre platten
Stirnen fuhren. — Die Akademie! die Akademie soll ein Gutachten
stellen!Ich bitte Sie, meine Herren, rief Hypsiboas einer der
Häupter der Republik; denn er war zur Zeit Nomophylax, erster
Froschpfleger, und Mitglied des ehrwürdigen Collegiums der
Zehnmänner. Aller dieser Würden ungeachtet lebte schwerlich
in ganz Abdera ein Mann, der an Latonen und ihren Fröschen
im Herzen weniger Antheil nahm als er. Aber weil ihm der
Jasonide Onokradias bei der letzten Archonswahl vorgezogen
worden war, so hatte er sich's zum Grundsatz gemacht, dem
neuen Archon immer und in allem zuwider zu seyn. Er
wurde daher von den Jasoniden und ihren Freunden nicht
unbillig beschuldiget: daß er ein unruhiger Kopf sey, und mit
nichts Geringerm umgehe als eine Partei im Rathe zu formiren,
die sich allen Absichten und Schlüssen der Jasoniden
(welche freilich seit langer Zeit den Meister in der Stadt gespielt
hatten) entgegen setzen sollte. —"Ich bitte Sie, meine
Herren, übereilen Sie sich nicht, rief Hypsiboas: die Sache
gehört nicht vor die Akademie, sie gehört vor das Collegium
der Froschpfleger. Es wäre wider alle gute Ordnung, und
würde von den Priestern der Latona als die gröbste Beleidigung
aufgenommen werden müssen, wenn man eine Frage
von dieser Natur und Wichtigkeit der Akademie auftragen
wollte!"Es betrifft aber keine bloße Froschsache, Herr Nomophylax,
sagte Meidias mit seiner gewöhnlichen spöttischen Gelassenheit;
leider! ist es, Dank sey den schönen Anstalten die
man seit einigen Jahren getroffen hat, eine Staatssache. —Und vielleicht die wichtigste, die jemals ein allgemeines
Zusammentreten aller vaterländisch gesinnten Gemüther nothwendig
gemacht hat, fiel ihm Stentor ins Wort; Stentor,
einer der heißesten Köpfe in der Stadt, der seiner polternden
Stimme wegen viel im Senat vermochte. Die Jasoniden
hatten ihn, wiewohl er nur ein Plebejer war, durch die Vermählung
mit einer natürlichen Tochter des verstorbenen Erzpriesters
Agathyrsus auf ihre Seite gebracht, und pflegten sich
gewöhnlich seiner guten Stimme zu bedienen, wenn etwas
gegen den Nomophylax Hypsiboas durchzusetzen war, der eine
eben so starke, wiewohl nicht völlig so polternde Stimme hatte
als Stentor.Wohl bekam es dießmal den Ohren der Abderitischen
Rathsherren, daß sie durch das ewige Koax Koax ihrer Frösche
ein wenig dickhäutig geworden waren; sie würden sonst in Gefahr
gewesen seyn, bei dieser Gelegenheit völlig taub zu werden.
Aber man war solcher Artigkeiten auf dem Rathhause
zu Abdera schon gewohnt, und ließ also die beiden mächtigen
Schreier, gleich zwei eifersüchtigen Bullen, einander so lange
anbrüllen, bis sie — vor Heiserkeit nicht mehr schreien
konnten.Da es von diesem Augenblick an nicht mehr der Mühe
werth war ihnen zuzuhören, so fragte der Archon den Stadtschreiber:
wie viel die Uhr sey? — und auf die Versicherung,
daß die Mittagsessenszeit heran nahe, wurde unverzüglich zur
Umfrage geschritten.Hier beliebe man sich zu erinnern, daß es auf dem Rathhause
zu Abdera bei Abfassung eines Schlusses niemals darum
zu thun war, die Gründe, welche für oder wider eine Meinung
vorgetragen worden waren, kaltblütig gegen einander
abzuwägen, und sich auf die Seite desjenigen zu neigen der
die besten gegeben hatte: sondern man schlug sich entweder
zu dem der am längsten und lautesten geschrien hatte, oder
zu dem dessen Partei man hielt. Nun pflegte zwar die Partei
des Archons in gewöhnlichen Sachen fast immer die stärkere
zu seyn; aber dießmal, da es (mit dem Präsidenten der Akademie
zu reden) einen so schlüpfrigen Punkt betraf, würde
Onokradias schwerlich die Oberhand erhalten haben, wenn
Stentor seine Lunge nicht ganz außerordentlich angegriffen
hätte. Es wurde also mit achtundzwanzig Stimmen gegen
zweiundzwanzig beschlossen: daß der Akademie ein Gutachten
abgefordert werden sollte, durch was für Mittel und Wege
der übermäßigen Vermehrung der Frösche in und um Abdera
(jedoch der schuldigen Ehrfurcht für Latonen und den Rechten
ihres Tempels in alle Wege unbeschadet) Einhalt gethan werden
könnte?Die Clausel hatte der Rathsherr Meidias ausdrücklich
einrücken lassen, um der Partei des Nomophylax keinen Vorwand
zu lassen, das Volk gegen die Majorität aufzuwiegeln.
Aber Hypsiboas und sein Anhang versicherten, daß sie nicht so
einfältig wären sich durch Clauseln eine Nase drehen zu lassen.
Sie protestirten gegen den Schluß zum Protokoll, ließen sich
davon Extractum in forma probante ertheilen, und begaben
sich unverzüglich in Procession zu dem Oberpriester Stilbon,
um Seiner Ehrwürden von diesem unerhörten Eingriffe in
die Rechte der Froschpfleger und des Latonentempels Nachricht
zu geben, und die Maßnehmungen mit ihm abzureden,
welche zu Aufrechthaltung ihres Ansehens schleunigst ergriffen
werden müßten.—————
Viertes Kapitel.Charakter und Lebensart des Oberpriesters Stilbon. Verhandlung zwischen
den Latonenpriestern und den Rathsherren von der Minorität. Stilbon
sieht die Sache aus einem eigenen Gesichtspunkt an, und geht, dem
Archon selbst Vorstellungen zu machen. Merkwürdige Unterredung zwischen
den Zurückgebliebenen.Der Oberpriester Stilbon war bereits der dritte, der dem
ehrwürdigen Strobylus (dessen Asche in Frieden ruhe!) in dieser
Würde gefolgt war. In den Charaktern dieser beiden
Männer war, den Eifer für die Sache ihres Ordens ausgenommen,
sonst wenig Aehnliches. Stilbon hatte von Jugend
an die Einsamkeit geliebt, und sich in den unzugangbarsten Gegenden
des Latonenhains, oder in den abgelegensten Winkeln
ihres Tempels mit Speculationen beschäftigt, die desto mehr
Reiz für seinen Geist hatten, je weiter sie sich über die Gränzen
der menschlichen Erkenntniß zu erheben schienen, oder
(richtiger zu reden) je weniger sich der mindeste praktisch
Gebrauch zum Vortheil des menschlichen Lebens davon machen
ließ. Gleich einer unermüdeten Spinne saß er im Mittelpunkt
seiner Gedanken- und Wortgewebe, ewig beschäftigt,
den kleinen Vorrath von Begriffen, den er in dem engen Bezirke
des Latonentempels bei einer so abgeschiedenen Lebensart
hatte erwerben können, in so klare und dünne Fäden auszuspinnen,
daß er alle die unzählbaren leeren Zellen seines Gehirns
über und über damit austapeziren konnte.Außer diesen metaphysischen Speculationen hatte er sich
am meisten mit den Alterthümern von Abdera, Thracien und
Griechenland, besonders mit der Geschichte aller festen Länder,
Inseln und Halbinseln, die (nach uralten Traditionen) einst
da gewesen, aber seit undenklichen Zeiten nicht mehr da
waren, zu schaffen gemacht. Der ehrliche Mann wußte kein
Wort davon was zu seiner eignen Zeit in der Welt vorging, und
noch weniger was fünfzig Jahre vor seiner Zeit darin vorgegangen;
sogar die Stadt Abdera, an deren einem Ende er
lebte, war ihm noch weniger bekannt als Memphis oder Persepolis.
Dafür aber war er desto einheimischer in dem alten
Pelasgerlande, wußte genau, wie jedes Volk, jede Stadt
und jeder kleine Flecken geheißen ehe sie ihren gegenwärtigen
Namen führten, wußte, wer jeden in Ruinen liegenden
Tempel gebaut hatte, und zählte die Reihen aller der Könige
an den Fingern her, die vor der Ueberschwemmung Deukalions
unter den Thoren ihrer kleinen Städte saßen, und jedem
Recht sprachen, der — sich's nicht selbst zu verschaffen im
Stande war. Die berühmte Insel Atlantis war ihm so bekannt,
als ob er alle ihre herrlichen Paläste, Tempel, Marktplätze,
Gymnasien, Amphitheater u. s. w. mit eignen Augen gesehen
hätte; und er würde untröstbar gewesen seyn, wenn ihm jemand
in seinem dicken Buche von den Wanderungen der Insel
Delos, oder in irgend einem andern von den dicken Büchern,
die er über eben so interessante Materien hatte ausgehen
lassen, die kleinste Unrichtigkeit hätte zeigen können.Mit allen diesen Kenntnissen war Stilbon freilich ein
sehr gelehrter, aber auch, ungeachtet derselben, ein sehr beschränkter,
und in allen Sachen, die das praktische Leben betrafen,
höchst einfältiger Mann. Seine Begriffe von den
menschlichen Dingen waren fast alle unbrauchbar, weil sie
selten oder nie auf die Fälle paßten wo er sie anwandte. Er
urtheilte immer schief von dem was gerade vor ihm stand,
schloß immer richtig aus falschen Vordersätzen, wunderte sich
immer über die natürlichsten Ereignisse, und erwartete immer
einen glücklichen Erfolg von Mitteln die seine Absichten nothwendig
vereiteln mußten. Sein Kopf war und blieb, so lang'
er lebte, ein Sammelplatz aller populären Vorurtheile. Das
blödeste alte Mütterchen in Abdera war nicht leichtgläubiger
als er; und, so ungereimt es vielen unsrer Leser scheinen
wird, so gewiß ist es, daß er vielleicht der einzige Mann in
Abdera war, der in vollem Ernst an die Frösche der Latona
glaubte.Bei allem dem wurde der Oberpriester Stilbon durchgehends
für einen wohlgesinnten und friedliebenden Mann
gehalten — und insoferne man ihm die negativen Tugenden,
die eine nothwendige Folge seiner Lebensart, seines Standes
und seiner Neigung zum speculativen Leben waren, für voll
anrechnete, so konnte er allerdings für weiser und besser gelten
als irgend einer seiner Mitabderiten. Diese letztern hielten
ihn für einen Mann ohne Leidenschaften, weil sie sahen, daß
nichts von allem, was die Begierden andrer Leute zu reizen
pflegt, Gewalt über ihn hatte. Aber sie dachten nicht daran
daß er auf alle diese Dinge keinen Werth legte: entweder
weil er sie nicht kannte; oder weil er durch eine lange Gewohnheit,
bloß in Speculationen zu leben, sich Untüchtigkeit und
Abneigung zu allem, was andre Gewohnheiten voraussetzt,
zugezogen hatte.Indessen hatte der gute Stilbon, ohne es selbst zu wissen,
eine Leidenschaft, welche ganz allein hinreichend war so viel
Unheil in Abdera anzustiften, als alle übrigen die er nicht
hatte; und das war die Leidenschaft für seine Meinungen.
Selbst aufs vollkommenste von ihrer Wahrheit überzeugt,
konnte er nicht begreifen, wie ein Mensch, wenn er auch
nichts als seine bloßen fünf Sinne und den allgemeinen
Menschenverstand hätte, über irgend etwas eine andre Vorstellungsart
haben könne als er. Wenn sich also dieser Fall
zutrug, so wußte er sich die Möglichkeit desselben nicht anders
zu erklären, als durch die Alternative: daß ein solcher
Mensch entweder nicht bei Sinnen — oder daß er ein boshafter,
vorsetzlicher und verstockter Feind der Wahrheit, und
also ein ganz verabscheuenswürdiger Mensch seyn müsse. Durch
diese Denkart war der Oberpriester Stilbon, mit aller seiner
Gelehrsamkeit und mit allen seinen negativen Tugenden, ein
gefährlicher Mann in Abdera; und würde es noch ungleich
mehr gewesen seyn, wenn seine Indolenz und sein entschiedener
Hang zur Einsamkeit nicht alles, was um ihn her geschah,
so weit von ihm entfernt hätte, daß es ihm selten bedeutend
genug vorkam, um die mindeste Kenntniß davon zu nehmen.Ich habe nie gehört, daß man Ursache haben könnte sich
über eine allzugroße Menge der Frösche zu beklagen, sagte
Stilbon ganz gelassen, als der Nomophylax mit seinem Vortrag
zu Ende war.Davon soll jetzt die Rede nicht seyn, Herr Oberpriester,
versetzte jener. Der Senat ist über diesen Punkt so ziemlich
Einer Meinung, und, ich denke, die ganze Stadt dazu. Aber
daß der Akademie aufgetragen worden, die Mittel und Wege,
wodurch der übermäßigen Froschmenge am füglichsten abgeholfen
werden könne, vorzuschlagen, das ist's was wir niemals zugeben
können.Hat der Senat der Akademie einen solchen Auftrag gegeben?
fragte Stilbon."Sie hören ja, rief Hypsiboas etwas ungeduldig; das
ist's ja eben was ich Ihnen sagte, und warum wir da sind."So hat der Senat einen Schritt gethan, wobei ihn seine
gewöhnliche Weisheit gänzlich verlassen hat, erwiederte der
Priester eben so kaltblütig wie zuvor. Haben Sie den Rathsschluß
bei sich?"Hier ist eine Abschrift davon!"Hm, hm, sagte Stilbon und schüttelte den Kopf, nachdem
er dieselbe sehr bedächtlich ein- oder zweimal überlesen hatte;
hier sind ja beinahe so viel Absurditäten als Worte! Erstens,
soll noch erwiesen werden daß zu viel Frösche in Abdera sind;
oder vielmehr, dieß kann in Ewigkeit nicht erwiesen werden.
Denn, um bestimmen zu können was zu viel ist, muß man
erst wissen was genug ist; und dieß ist gerade was wir unmöglich
wissen können, es wäre denn daß der Delphische Apollo
oder seine Mutter Latona selbst uns durch ein Orakel darüber
verständigen wollte. Die Sache ist sonnenklar. Denn, da
die Frösche unmittelbar unter dem Schutz und Einfluß der
Göttin stehen, so ist es ungereimt zu sagen, daß ihrer jemals
mehr seyen als der Göttin beliebt; und also braucht die Sache
nicht nur gar keiner Untersuchung, sondern sie läßt auch keine
Untersuchung zu. Zweitens, gesetzt daß der Frösche wirklich
zu viel wären, so ist es doch ungereimt von Mitteln und
Wegen zu reden, wodurch ihre Anzahl vermindert werden
könnte. Denn es gibt keine solche Mittel und Wege, wenigstens
keine die in unsrer Willkür stehen, welches eben so viel ist als
ob es gar keine gebe. Drittens, ist es ungereimt der Akademie
einen solchen Auftrag zu geben. Denn die Akademie hat
nicht nur kein Recht über Gegenstände von dieser Wichtigkeit
zu erkennen, sondern sie besteht auch, wie ich höre, größtentheils
aus Witzlingen und seichten Köpfen, die von solchen
Dingen gar nichts verstehen; und zum klaren Beweis daß
sie nichts davon verstehen, sollen sie, wie ich höre, sogar albern
genug seyn darüber zu scherzen und zu spotten. Ich traue
diesen armen Leuten zu, daß es aus Unverstand geschieht.
Denn, hätten sie mein Buch von den Alterthümern des Latonentempels
mit Bedacht gelesen, so müßten sie entweder aller
Sinne beraubt oder offenbare Bösewichter seyn, wenn sie der
Wahrheit, die ich darin sonnenklar dargelegt habe, widerstehen
könnten. Das Senatusconsultum ist also, wie gesagt,
durchaus ungereimt, und kann folglich von keinem Effect seyn,
indem ein absurder Satz eben so viel ist als gar kein Satz.
Sagen Sie dieß unsern gnädigen Herren in der nächsten
Session, hochgeachteter Herr Nomophylax! Unsre gnädigen
Herren werden sich unfehlbar eines Bessern besinnen; und
solchenfalls werden wir am besten thun die Sache auf sich
beruhen zu lassen."Herr Oberpriester, antwortete ihm Hypsiboas, Sie sind
ein grundgelehrter Mann, das wissen wir alle. Aber, nehmen
Sie mir nicht übel, auf Welthändel und Staatssachen verstehen
Sich Euer Ehrwürden nicht. Die Majora im Senat
haben einen Schluß gefaßt, der den Gerechtsamen der Batrachotrophen
präjudicirlich ist. Indessen nach der Regel bleibt's
bei diesem Rathsschlusse, und der Archon wird ihn zur Execution
gebracht haben, eh' ich in der nächsten Session Ihre
logischen Einwendungen vortragen könnte, wenn ich mich auch
damit beladen wollte."Es kommt aber ja in solchen speculativen Dingen nicht
auf die Majora, sondern auf die Saniora an, sagte Stilbon."Vortrefflich, Herr Oberpriester, versetzte der Nomophylax.
Das ist ein Wort! Die Saniora! die Saniora haben unstreitig
Recht. Die Frage ist also jetzt nur, wie wir es anzugreifen
haben, daß sie auch Recht behalten. Wir müssen auf ein
schleuniges Mittel denken die Vollstreckung des Rathsschlusses
aufzuhalten."Ich will Seiner Gnaden, dem Archon, augenblicklich mein
Buch von den Alterthümern des Latonentempels schicken. Er
muß es noch nicht gelesen haben. Denn in dem Kapitel von
den Fröschen ist alles, was über diesen Gegenstand zu sagen
ist, ins Klare gesetzt.Der Archon hat in seinem Leben kein Buch gelesen, Herr
Oberpriester, sagte einer von den Rathsherren lachend; dieß
Mittel wird nicht anschlagen, dafür bin ich Ihnen gut!Desto schlimmer! erwiederte Stilbon. In was für Zeiten
leben wir, wenn das wahr ist! Wenn das Oberhaupt des
Staats ein solches Beispiel gibt — Doch ich kann unmöglich
glauben, daß es schon so weit mit Abdera gekommen sey."Sie sind auch gar zu unschuldig, Herr Oberpriester,
sagte der Nomophylax. Aber lassen wir das auf sich beruhen!
Es stände noch gut genug, wenn das der größte Fehler des
Archons wäre."Ich sehe nur ein Mittel in der Sache, sprach jetzt einer
von den Priestern, Namens Pamphagus: das hochpreisliche
Collegium der Zehnmänner ist über dem Senat —folglich —Um Vergebung, fiel ihm ein Rathsherr ins Wort, nicht
über dem Senat, sondern nur —Sie haben mich nicht ausreden lassen, sagte der Priester
etwas hitzig. Die Zehnmänner sind nicht über dem Senat in
Justiz-, Staats- und Polizeisachen. Aber da alle Sachen,
wobei der Latonentempel betroffen ist, vor die Zehnmänner
gehören, und von ihrer Entscheidung nicht weiter appellirt
werden kann: so ist klar, daß —Die Zehnmänner nicht über dem Senat sind! fiel jener
ein; denn der Senat behängt sich mit Latonensachen gar nicht,
und kann also nie mit den Zehnmännern in Collision kommen.Desto besser für den Senat, sagte der Priester. Aber,
wenn sich denn ja einmal der Senat beigeben ließe, über
einen Gegenstand, der dem Dienst der Latona wenigstens
sehr nahe verwandt ist, erkennen zu wollen, wie dermalen
wirklich der Fall ist: so sehe ich kein ander Mittel als die
Zehnmänner zusammenberufen zu lassen.Das kann nur der Archon, wandte Hypsiboas ein, und
natürlicherweise wird er sich dessen weigern.Er kann sich nicht weigern, wenn er von der gesammten
Priesterschaft darum angegangen wird, sagte Pamphagus.Herr College, ich bin nicht Ihrer Meinung, fiel der
Oberpriester ein. Es wäre wider die Würde der Zehnmänner,
und sogar wider die Ordnung, wenn wir in vorliegendem Fall
auf ihre Zusammenberufung dringen wollten. Die Zehnmänner
können und müssen sich versammeln, wenn die Religion wirklich
verletzt worden ist. Wo ist aber hier die Verletzung? Der
Senat hat einen absurden Schluß gefaßt, das ist alles. Es
ist schlimm, aber nicht schlimm genug; Sie müßten denn erweisen
können, daß die Zehnmänner darum da seyen, den
Senat zu syndiciren wenn er ungereimte Schlüsse macht.Der Priester Pamphagus biß die Lippen zusammen, drehte
sich nach dem Sitze des Nomophylax, und murmelte ihm etwas
ins linke Ohr.Stilbon, ohne darauf Acht zu geben, fuhr fort: ich will
stehenden Fußes selbst zum Archon gehen. Ich will ihm mein
Buch von den Alterthümern des Latonentempels bringen. Er
soll das Kapitel von den Fröschen lesen! Es ist unmöglich,
daß er nicht sogleich von der Ungereimtheit des Rathsschlusses
überzeugt werde.So gehen Sie denn und versuchen Sie Ihr Heil, versetzte
der Nomophylax. — Der Oberpriester ging unverzüglich.Was das für ein Kopf ist! sagte der Priester Pamphagus,
wie er weggegangen war.Er ist ein sehr gelehrter Mann, versetzte der Rathsherr
Bucephalus; aber — —Ein gelehrter Mann? fiel jener ein. Was nennen Sie
gelehrt? Gelehrt in lauter Dingen, die kein Mensch zu wissen
verlangt!Davon können Euer Ehrwürden besser urtheilen als unser
einer, erwiederte der Rathsherr; ich verstehe nichts davon:
aber es ist mir doch immer unbegreiflich vorgekommen, daß
ein so gelehrter Mann in Geschäftssachen so einfältig seyn
kann wie ein kleines Kind.Es ist unglücklich für den Latonentempel, sagte ein andrer
Priester — —Und für den ganzen Staat, setzte ein dritter hinzu.Das weiß ich eben nicht, sprach der Nomophylax mit
einem spitzfindigen Naserümpfen; wir wollen aber bei der
Sache bleiben. Die Herren scheinen mir sämmtlich der Meinung
zu seyn, daß die Zehnmänner zusammenberufen werden
müßten ——Um so mehr, sagte einer der Rathsherren, weil wir
gewiß sind die Majora gegen den Archon zu machen.Wenn wir uns nicht besser helfen können, fuhr der Nomophylax
fort, so bin ich's zufrieden. Aber sollten wir uns
denn in einer Sache, wobei Latona und ihre Priesterschaft auf
unsrer Seite sind, nicht besser helfen können? Machen wir
nicht beinahe die Hälfte des Raths aus? Wir sind bloß mit
sechs Stimmen majorisirt worden; und wenn wir fest zusammenhalten — —Das wollen wir, schrien die Rathsherren aus voller Kehle."Ich habe einen Gedanken, meine Herren; aber ich muß
ihn reifer werden lassen. Erkiesen Sie zwei oder drei aus
Ihrem Mittel, mit denen ich mich diesen Abend auf meinem
Gartenhause näher von der Sache besprechen könne. Es wird
sich inzwischen zeigen, wie weit es der Oberpriester mit dem
Archon Onokradias gebracht haben wird."Ich wette meinen Kopf gegen eine Melone, sagte der
Priester Charox, er wird aus arg ärger machen.Desto besser! versetzte der Nomophylax.—————
Fünftes Kapitel.Was zwischen dem Oberpriester und dem Archon vorgefallen — eines
der lehrreichsten Kapitel in dieser ganzen Geschichte.Während dieß in dem Vorsaal des Oberpriesters verhandelt
wurde, hatte sich dieser in eigner Person zum Archon
erhoben, und über eine Sache, woran dem Archon viel gelegen
sey, Audienz verlangt.O, das wird ganz gewiß die Frösche betreffen, sagte der
Rathsherr Meidias, der eben allein bei dem Archon war, und
ihm berichtet hatte, daß man den Nomophylax mit seinem
ganzen Anhang nach dem Latonentempel habe gehen sehen.Daß doch der Henker — verzeih' mir's Latona! alle
Frösche hätte! rief Onokradias ungeduldig: da wird mir der
sauertöpfische Pfaffe die Ohren so voll Warums und Darums
schwatzen, daß ich am Ende nicht wissen werde wo mir der
Kopf steht! Helfen Sie mir, ich bitte Sie, von dem gespenstmäßigen
alten Kerl!Meidias lachte über die Verlegenheit des Archons. Hören
Sie ihn immer an, sagte er; aber halten Sie fest über Ihrem
Ansehen, und an dem Grundsatze, daß Noth kein Gesetz hat.
Wir können uns doch wahrlich nicht von Fröschen auffressen
lassen; und wenn's so fortgehen sollte wie bisher, so möchte
uns Latona eben sowohl allzumal in Frösche verwandeln. Es
wäre immer noch das glücklichste was uns widerfahren
könnte, wenn uns nicht bald auf andre Weise geholfen wird.
Allenfalls kann's auch nicht schaden, wenn Euer Gnaden dem
Priester zu verstehen geben, daß Jason auch einen Tempel zu
Abdera hat, und daß Götter nur insofern Götter sind als
sie Gutes thun.Schön, schön, sagte der Archon. Wenn ich nur alles so
behalten könnte, wie Sie mir's da gesagt haben! Aber ich
will mich schon zusammennehmen. Laßt den Priester nur anrufen!
— Gehn Sie indessen in mein Cabinet, Meidias.
Sie werden eine feine Anzahl kleiner Stücke von Parrhasius
darin finden, die man nicht überall sieht. — Aber sagen Sie
meiner Frau nichts davon! Sie verstehen mich doch?Meidias schlich sich in das Cabinet; der Archon stellte
sich in Positur, und Stilbon wurde vorgelassen."Gnädiger Herr Archon," sagte er, "ich komme Euer
Gnaden einen guten Rath zu geben, weil ich eine große
Meinung von Dero Weisheit hege und gern Unheil verhüten
möchte."Ich danke Ihnen für beides, Herr Oberpriester! Ein
guter Rath findet, wie sie wissen, eine gute Statt. Was
haben Sie anzubringen?"Der Senat," fuhr Stilbon fort, "hat sich, wie ich
höre, in Sachen die Frösche der Latona betreffend eines
übereilten Schlusses schuldig gemacht —"Herr Oberpriester! —"Ich sage nicht daß Sie es aus bösem Willen gethan
haben. Die Menschen sündigen bloß, weil sie unwissend sind.
Hier bringe ich Euer Gnaden ein Buch, woraus Sie sich
belehren können was es mit unsern Fröschen für eine Bewandtniß
hat. Es hat mir viele Mühe und Nachtwachen
gekostet. Sie können daraus lernen, daß die Akademie, die
von gestern her ist, kein Recht haben kann über Frösche zu
erkennen, die so alt sind als die Gottheit der Latona. Die
Frösche zu Abdera sind, wie wir alle wissen sollten, ganz ein
ander Ding als die Frösche andrer Orte in der Welt. Sie
gehören der Latona an. Sie sind niemals aussterbende Zeugen
und lebendige Documente ihrer Gottheit. Es ist Unsinn, zu
sagen daß ihrer zu viel seyn könnten, und ein Sacrilegium,
von Mitteln zu reden wodurch ihre Anzahl vermindert
werden soll."Ein Sacrilegium, Herr Oberpriester?"Ich verdiente nicht Oberpriester zu seyn, wenn ich zu
solchen Dingen schweigen wollte. Denn, wenn wir einmal
zugelassen hätten, daß die Anzahl der Latonenfrösche vermindert
werden dürfe: so möchten unsre noch schlimmern
Nachkommen wohl gar so weit verfallen, sie gänzlich ausrotten
zu wollen. Wie gesagt, in diesem Buche werden Euer
Gnaden alles finden, was von der Sache zu glauben ist.
Sorgen Sie dafür, daß Abschriften davon gemacht und jedes
Haus mit einem Exemplar versehen werde. Ist dieß geschehen,
dann wird das sicherste seyn gar nicht mehr über
die Sache zu räsonniren. Die Akademie mag sonst Gutachten
stellen worüber sie immer will. Die ganze Natur liegt vor
ihr offen. Sie kann reden vom Elephanten bis zur Blattlaus,
vom Adler bis zur Wassermotte, vom Wallfisch bis zur
Schmerle, und von der Ceder bis zum Lykopodion: aber von
den Fröschen soll sie schweigen!"Herr Oberpriester, sagte der Archon, die Götter sollen
mich bewahren, daß ich mir jemals einfallen lasse, zu untersuchen
was es mit Ihren Fröschen für eine Bewandtniß hat.
Ich bin Archon, um alles in Abdera zu lassen wie ich es gefunden
habe. Indessen liegt am Tage, daß wir uns vor lauter
Fröschen nicht mehr rühren können; und diesem Unwesen muß
gesteuert werden. Denn schlimmer darf's nicht mit uns
werden, das sehen Sie selbst. Unsre Voreltern begnügten
sich den geheiligten Teich zu unterhalten, und wer seinen
eignen Froschgraben haben wollte, dem stand's frei. Dabei
hätte man's lassen sollen. Da es aber nun einmal so weit
mit uns gekommen ist, daß wir nächstens in Gefahr sind
lebendig oder todt von Fröschen gefressen zu werden: so
werden uns Euer Ehrwürden doch wohl nicht zumuthen
wollen, daß wir's darauf ankommen lassen sollen? Denn,
wenn einer von Fröschen gefressen würde, so möcht's ihm
wohl ein schlechter Trost seyn, zu denken daß es keine gemeinen
Frösche seyen. Kurz und gut, Herr Oberpriester!
die Akademie soll ihr Gutachten stellen weil ihr's vom Senat
aufgetragen worden ist; und — mit aller Achtung die ich
Euer Ehrwürden schuldig bin, ich werde Ihr Buch nicht
lesen; und es soll mir ein- für allemal ausgemacht werden,
ob die Frösche um der Abderiten willen, oder die Abderiten
um der Frösche willen da sind. Denn sobald die Republik
durch die Frösche in Gefahr gesetzt wird, sehen Sie, so wird
eine Staatssache daraus, und da haben die Priester der Latona
nichts drein zu reden, wie Sie wissen. Denn Noth hat kein
Gesetz, und — mit Einem Wort, Herr Oberpriester, wir
wollen uns nicht von Ihren Fröschen fressen lassen. Sollten
Sie aber wider Verhoffen darauf bestehen, so thäte mir's
leid, wenn ich Ihnen sagen müßte, daß der Latonentempel
nicht der einzige in Abdera ist, und das goldne Vließ, dessen
Verwahrung die Götter meiner Familie anvertraut haben,
könnte vielleicht eine bisher noch unerkannte Tugend äußern,
und Abdera auf einmal von — aller Noth befreien. Mehr
will ich nicht sagen. Aber merken Sie sich das, Herr Oberpriester!
Der Krug geht so lange zum Wasser bis er bricht.Der gute Oberpriester wußte nicht ob er wache oder
träume, da er den Archon, den er immer für einen
wohldenkenden und exemplarischen Regenten gehalten hatte,
eine solche Sprache führen hörte. Er stand eine Weile da,
ohne ein Wort hervorbringen zu können; nicht weil er
nichts zu sagen wußte, sondern weil er so viel zu sagen
hatte, daß er nicht wußte wo er anfangen sollte. — Das
hätte ich nimmermehr für möglich gehalten, fing er endlich
an, daß ich die Zeit erleben sollte, wo der Oberpriester der
Latona aus dem Munde eines Archons hören müßte, was
ich gehört habe!Dem Archon fing bei diesen Worten an unheimlich zu
werden. Denn, weil er selbst nicht mehr so eigentlich wußte
was er dem Oberpriester gesagt hatte, so wurde ihm bang,
er möchte mehr gesagt haben als sich geziemte. Er sah
mit einiger Verlegenheit nach der Cabinetthür, als ob er
seinen geheimen Rath Meidias gern zu Hülfe gerufen hätte.
Da er sich aber dießmal allein helfen mußte, so zupfte er sich
wechselsweise bald an der Nase, bald am Bart, hustete,
räusperte sich, und erwiederte endlich dem Oberpriester mit
aller Würde, die er sich in der Eile geben konnte: ich weiß
nicht wie ich das nehmen soll was Sie mir da sagten. Aber
das weiß ich, wenn Sie was gehört zu haben glauben das
Sie nicht hätten hören sollen, so müssen Sie mich ganz unrecht
verstanden haben. Sie sind ein sehr gelehrter Mann,
und ich trage alle mögliche Achtung für Ihre Person und
Ihr Amt —"Sie wollen also mein Buch lesen?" fragte Stilbon.Das eben nicht; aber — wenn Sie darauf bestehen —
wenn Sie glauben daß es schlechterdings —"Man soll das Gute niemand aufdringen, sagte der
Priester mit einer Empfindlichkeit über die er nicht Meister
war. Ich will es Ihnen da lassen. Lesen sie es oder nicht!
desto schlimmer für Sie, wenn es Ihnen gleichgültig ist ob
Sie richtig oder unrichtig denken" —Herr Oberpriester, fiel ihm der Archon, der endlich auch
warm zu werden anfing, ins Wort, Sie sind ein empfindlicher
Mann wie ich sehe. Ich verdenk' es Ihnen zwar nicht
daß Ihnen die Frösche am Herzen liegen, denn dafür sind
Sie Oberpriester; Sie sollten aber auch bedenken, daß ich
Archon über Abdera und nicht über einen Froschteich bin.
Bleiben Sie in Ihrem Tempel und regieren Sie dort wie
Sie wollen und können; auf dem Rathhause lassen Sie uns
regieren. Die Akademie soll ihr Gutachten über die Frösche
stellen, dafür geb' ich Ihnen mein Wort! — und es soll
Ihnen communicirt werden ehe der Senat einen Schluß
darüber faßt, darauf können Sie sich auch verlassen!Der Oberpriester verschlang seinen Unwillen über den
unerwarteten schlechten Erfolg seines Besuchs so gut er konnte,
machte seinen Bückling, und zog sich zurück, mit der Versicherung,
daß er vollkommen überzeugt sey, der Senat werde
nichts in Sachen verfügen, ohne mit den Priestern des Latonentempels
vorher einverstanden zu seyn. Der Archon versicherte
ihm dagegen zurück, daß ihm die Rechte des Latonentempels
so heilig seyen als die Rechte des Senats und das
Beste der Stadt Abdera; und somit schieden sie, nach Gestalt
der Sachen, noch ziemlich höflich von einander.Der Pfaffe hat mir warm gemacht, sagte der Archon
zum Rathsherrn Meidias, indem er sich mit seinem Schnupftuche
die Stirne wischte.Sie haben sich aber auch tapfer gehalten, versetzte der
Rathsherr. Das Pfäffchen wird Gift und Galle kochen; aber
seine Blitze sind nur von Bärenlappen. Man braucht sich
nur auf seine Distinctionen und Syllogismen nicht einzulassen,
so ist er geschlagen, und weiß weder wo aus noch wo an.Ja, wenn der Nomophylax nicht hinter ihm stäcke, erwiederte
der Archon. Ich wollte daß ich mich nicht so weit
heraus gelassen hätte. Aber was das auch für eine Zumuthung
ist, das dicke Buch zu lesen, woran sich der hohläugige alte
Kerl blind geschrieben hat! Wer hätte nicht ungeduldig
werden sollen!Sorgen Sie für nichts, Herr Archon! Wir haben die
Akademie für uns, und in wenig Tagen sollen auch die Lacher
in ganz Abdera auf unsrer Seite seyn. Ich will Liedchen und
Gassenhauer unter das Volk streuen. Der Balladenmacher
Lelex soll mir die Geschichte der Lycischen Froschbauern in
eine Ballade bringen, über die sich die Leute krank lachen
sollen. Man muß die Herren mit ihren Fröschen lächerlich
machen. Auf eine feine Art, versteht sich; aber Schlag auf
Schlag, Gassenhauer auf Gassenhauer! Euer Gnaden sollen
sehen, wie das Mittel anschlagen wird.Ich will es herzlich wünschen, sagte der Archon; denn
Sie können sich kaum vorstellen, wie mir die verwetterten
Frösche diesen Sommer über meinen Garten zugerichtet haben!
Ich kann den Jammer gar nicht mehr ansehen. Es
fehlt uns nichts, als daß nächstens ein trocknes Jahr käme
und uns noch eine Armee von Feldmäusen und Maulwürfen
über den Hals schickte.Fürs erste wollen wir uns die Frösche vom Leibe schaffen,
versetzte Meidias: für die Mäuse, die noch kommen sollen,
wird's dann auch Mittel geben.Aber was, zum Henker, soll ich mit dem dicken Buche
machen, das mir der Oberpriester zurückgelassen hat? sagte
der Archon. — Sie werden mir doch nicht zumuthen wollen
daß ich's lesen soll.Da sey Jason und Medea vor, Herr Archon, versetzte
Meidias. Geben Sie mir's. Ich will's meinem Vetter Korax
bringen, dem ohne Zweifel die Ausfertigung des Gutachtens
von der Akademie aufgetragen werden wird. Er wird guten
Gebrauch davon machen, dafür bin ich Ihnen Bürge.Es mag schönes Zeug drin stehen — sagte der Archon.Wenn es sonst zu nichts zu gebrauchen ist, erwiederte
der Rathsherr, so machen wir's zu Pulver, und geben's den
Ratten ein, die, nach Euer Gnaden Weissagung, noch kommen
sollen. Es muß ein herrliches Rattenpulver geben.—————
Sechstes Kapitel.Was der Oberpriester Stilbon that, als er wieder nach Hause gekommen
war.Sobald der Oberpriester Stilbon wieder in seiner Zelle
angelangt war, setzte er sich an sein Schreibepult und nahm
sein Werk von den Alterthümern des Latonentempels vor
die Hand, in der Absicht das Kapitel von den Fröschen (welches
das größte Kapitel in dem ganzen Buche war) wieder
durchzulesen; und zwar, wie er sich schmeichelte, mit aller
Unparteilichkeit eines Richters, der kein andres Interesse bei
der Sache hat als die Entdeckung der Wahrheit. Denn so
überzeugt er auch von den Resultaten seiner Untersuchungen
war, so hielt er doch für billig und nöthig, eh' er sich weiter
einließe, sein ganzes System und die Beweise desselben
noch einmal Punkt für Punkt zu prüfen; in der Absicht,
wenn es sich auch bei dieser neuen und scharfen Untersuchung
wahr befände, es desto zuversichtlicher gegen alle Anfechtungen
des Witzes und der Modephilosophie seiner Zeit behaupten
zu können.Armer Stilbon! wenn du (wie ich lieber glauben als
nicht glauben will) aufrichtig warst, was für ein betrügliches
Ding ist es um eines Menschen Vernunft! und was für
eine glatte verführerische Schlange ist die Erzzauberin
Eigenliebe!Stilbon durchlas sein Kapitel von den Fröschen mit
aller Unparteilichkeit deren er fähig war; prüfte jeden Satz,
jeden Beweis, jeden Syllogismus mit der Kaltblütigkeit eines
Arkesilas, und —fand: "daß man entweder dem allgemeinen
Menschensinn entsagen, oder von seinem System überzeugt
werden müsse."Das kann nicht möglich seyn, sagt ihr? um Verzeihung
das kann sehr möglich seyn; denn es ist geschehen und geschieht
noch immer alle Tage. Nichts ist natürlicher. Der
gute Mann liebte sein System wie sein eigen Fleisch und
Blut. Er hatte es aus sich selbst gezeugt. Es war ihm
statt Weib und Kind, statt aller Güter, Ehren und Freuden
der Welt, auf die er bei seinem Eintritt in den Latonentempel
Verzicht gethan hatte; es war ihm über Alles. Als
er sich hinsetzte es von neuem zu prüfen, war er bereits so
vollkommen von der Wahrheit und Schönheit desselben überzeugt
als von seinem eignen Daseyn. Es ging ihm also natürlicherweise
ebenso, als wenn er sich hingesetzt hätte, um
mit aller Kaltblütigkeit von der Welt zu untersuchen, ob der
Schnee auf dem Gipfel des Hämus weiß oder schwarz sey."Daß die Milischen Bauern, die der durstenden Latona
aus ihrem Teiche zu trinken verwehrten, in Frösche verwandelt
worden (sagte Stilbon in seinem Buche), das ist Thatsache.Daß eine Anzahl dieser Frösche, auf die Art und Weise,
wie die Tradition berichtet, nach Abdera in den Teich des
Latonenhains versetzt worden, ist Thatsache."Beide Facta gründen sich auf das, worauf sich alle
historische Wahrheit gründet, auf menschlichen Glauben an
menschliches Zeugniß; und so lange Abdera steht, hat sich
kein Vernünftiger einfallen lassen, dem allgemeinen Glauben
der Abderiten an diese Facta zu widersprechen. Denn wer
sie läugnen wollte, müßte ihre Unmöglichkeit beweisen können;
und wo ist der Mensch auf Erden der dieß könnte?"Aber, ob die Frösche, die sich zu unsern heutigen Zeiten
in dem geheiligten Teiche befinden, eben diejenigen seyen,
die von Latonen, oder (was auf Eines hinausläuft) von Jupitern
auf Latonens Bitte, in Frösche verwandelt worden: darüber
sind bisher verschiedene Meinungen gewesen."Unsre Gelehrten haben größtentheils dafür gehalten,
daß die Unterhaltung des geheiligten Teichs als bloßes Institut
unsrer Voreltern, und die darin aufbewahrten Frösche
als bloße Erinnerungszeichen der Macht unsrer Schutzgöttin
mit gebührender Ehre anzusehen seyen."Das gemeine Volk hingegen hat von diesen Fröschen
immer eben so gesprochen und geglaubt, als ob sie die nämlichen
wären, an denen das bekannte Wunder geschehen sey."Und ich — Stilbon, aus Jupiters und Latonens Barmherzigkeit
zur Zeit Oberpriester von Abdera, habe nach reiflicher
Erwägung der Sache befunden, daß dieser Glaube des
Volks sich auf unumstößliche Gründe stützt; und hier ist mein
Beweis! —"Der geneigte Leser würde sich wahrscheinlicher Weise schlecht
erbaut finden, wenn wir ihm diesen Beweis, so weitläuftig
als er in besagtem Buche des Oberpriesters Stilbon vorgetragen
ist, zu lesen geben wollten; zumal da wir alle von dem
Ungrunde desselben zum voraus wenigstens eben so vollkommen
überzeugt sind, als es der gute Stilbon von dessen Gründlichkeit
war. Wir begnügen uns also nur mit zwei Worten
zu sagen: daß sich sein ganzes System über die mehr besagten
Frösche um eine heutiges Tages sehr gemeine, damals aber (in
Abdera wenigstens) ganz neue, und, nach Stilbons ausdrücklicher
Versicherung, von ihm selbst erfundene Hypothese drehte,
nämlich um die Lehre: "daß alle Zeugung nichts andres als
Entwickelung ursprünglicher Keime sey." — Stilbon fand
diese Entdeckung, als er sie zuerst machte, so schön, und
wußte sie mit so vielen dialektischen und moralischen Gründen
(denn die Physik war seine Sache nicht) zu unterstützen, daß
sie ihm mit jedem Tage wahrscheinlicher vorkam.Endlich glaubte er sie auf den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit
gebracht zu haben. Da nun von dieser zur Gewißheit
nur noch ein leichter Sprung zu thun ist: was Wunder,
daß ihm eine so sinnreiche, so subtile, so wahrscheinliche
Hypothese — eine Hypothese, die er selbst erfunden, mit so
vieler Mühe ausgearbeitet, mit allen seinen übrigen Ideen in
Verbindung gesetzt, und zur Grundlage eines neuen durchaus
räsonnirten Systems über die Latonenfrösche gemacht hatte —
zuletzt eben so gewiß, anschaulich und unzweifelhaft vorkam
als irgend ein Lehrsatz im Euklides?"Als die Milischen Bauern verwandelt wurden (sagte
Stilbon), führten sie Keime aller Bauern und Nichtbauern,
die von damals an bis auf diesen Tag, und von diesem Tage
bis ans Ende der Tage nach dem ordentlichen Lauf der Natur
von ihnen entspringen konnten und sollten, in eben so vielen
in einander geschobenen Keimen bei sich; und in dem Augenblicke,
da besagte Milische Bauern zu Fröschen wurden, wurden
auch die sämmtlichen Menschenkeime, die jeder bei sich
führte, in Froschkeime verwandelt. Denn (sagte er), entweder
wurden diese Keime vernichtet, oder sie wurden ranificirt,
oder sie wurden gelassen wie sie waren. Das erste ist
unmöglich, weil aus Etwas eben so wenig Nichts als aus
Nichts Etwas werden kann. Das dritte läßt sich auch nicht
denken; denn wären die besagten Keime Menschenkeime
geblieben, so müßten die Milischen Aν/ςωποβατςαΧοι, oder
Menschenfrösche, wirkliche Menschen gezeugt haben, welches
wider die historische Wahrheit und an sich selbst in alle Wege
ungereimt ist. Es bleibt also nur das zweite übrig, nämlich:
sie sind ranificirt, das ist in Froschkeime verwandelt worden;
und man kann also mit vollkommner Richtigkeit sagen: daß
die Frösche, die sich auf diesen Tag in dem geheiligten Teiche
befinden, und alle übrigen, deren Abstammung von denselben
erweislich ist, folglich die sämmtlichen Frösche in Abdera, eben
diejenigen sind welche von Latonen in Frösche verwandelt wurden;
nämlich insofern sie damals in den froschwerdenden Bauern
im Keim vorhanden waren, und zugleich uno eodemque actu
mit ihnen verwandelt wurden."Dieß nun ein- für allemal als erwiesene Wahrheit angenommen,
schien dem ehrlichen Stilbon nichts sonnenklarer
(wie er zu sagen pflegte) als die Folgerungen, die gleichsam
von selbst daraus abflogen. "So wie, zum Beispiel, eine
vom Strahl getroffne Eiche, als eine Res sacra, als dem Donnerer
Zeus angehörig und geheiligt, mit schaudernder Ehrfurcht
angesehen wird: eben so müssen, sagte er, die von Latonen
oder Jupitern verwandelten Menschenfrösche, nebst allen ihren
im Keim mit verwandelten Abkömmlingen bis ins tausendste
und zehntausendste Glied, als eine Art wundervoller, der Latona
angehöriger Mittelwesen angesehen, und also auch als
solche behandelt und geehret werden. Sie sind zwar dem
Aeußerlichen nach Frösche wie andre; aber sie sind gleichwohl
auch keine Frösche wie andre. Denn, da sie von Geburt und
Natur Menschen gewesen waren, und alles was wir von
Natur und Geburt sind uns einen unauslöschlichen Charakter
gibt: so sind sie nicht sowohl Frösche als Froschmenschen, und
also in gewissem Sinne noch immer unsers Geschlechts, unsre
Brüder, unsre verunglückten Brüder, zu unsrer Warnung mit
dem furchtbaren Stempel der Rache der Götter bezeichnet,
aber eben darum unsers zärtlichsten Mitleidens würdig. —
Doch nicht nur unsers Mitleidens (setzte Stilbon hinzu), sondern
auch unsrer Ehrerbietung; da sie fortdauernde unverletzliche
Denkmäler der Macht unsrer Göttin sind, an denen man
sich nicht vergreifen kann ohne sich an ihr selbst zu vergreifen;
indem ihre Erhaltung durch so viele Jahrhunderte der redendste
Beweis ist, daß sie solche erhalten wissen wolle."Der gute Oberpriester — ein Mann, der unsern Lesern
so gar verächtlich, wie er ihnen vermuthlich ist, nicht vorkommen
würde, wenn sie sich recht in seine Seele hinein zu denken
wüßten — hatte den ganzen Abend mit Durchlesung und
Prüfung seines Kapitels über die Frösche zugebracht, und sich
in das Bestreben, sein System mit neuen Gründen zu befestigen,
dermaßen vertieft, daß ihm sein Versprechen, dem
Nomophylax von dem Erfolg seines Besuchs bei dem Archon
Nachricht zu geben, gänzlich aus dem Sinne gekommen war.
Er erinnerte sich dessen nicht eher, als da er um die Dämmerungszeit
die Thür seiner Zelle aufgehen hörte, und diesen
Herrn in eigner Person vor sich stehen sah.Ich habe Ihnen nicht viel Tröstliches zu berichten, rief er
ihm entgegen; wir sind in schlechtern Händen als ich mir jemals
vorgestellt hätte. Der Archon weigerte sich mein Buch zu lesen,
vielleicht weil er überhaupt gar nicht lesen kann —Dafür wollt' ich nicht Bürge seyn, sagte Hypsiboas."Und er sprach in einem Tone, dessen ich mich zu einem
Oberhaupte der Republik nimmermehr versehen hätte."Was sagte er denn?"Ich danke dem Himmel, daß ich das meiste wieder vergessen
habe was er sagte. Genug, er bestand darauf daß die
Akademie ihr Gutachten geben müßte —"Das soll sie wohl bleiben lassen müssen, fiel der Nomophylax
ein; die Gegenfröschler sollen mehr Widerstand finden
als sie sich vermuthen werden! Aber, damit man uns nicht
beschuldigen könne, daß wir gewaltthätig zu Werke gehen ehe
wir die gelindern Mittel versucht haben, ist die sämmtliche
Minorität entschlossen, dem Senat ungesäumt eine schriftliche
Vorstellung zu thun, wofern die Latonenpriesterschaft geneigt
ist gemeine Sache mit uns zu machen."Von Herzen gern, sagte Stilbon — ich will die Vorstellung
selbst aufsetzen; ich will ihnen darthun —"Vor der Hand, unterbrach ihn der Nomophylax, kann es
an einem kurzen Promemoria, welches ich bereits, sub spe
rati et grati, aufgesetzt habe, genug seyn. Wir müssen eine
so gelehrte Feder wie die Ihrige auf den letzten Nothfall
aufsparen.Der Oberpriester ließ sich zwar berichten; setzte sich aber
vor, noch in dieser Nacht an einem kleinen Tractätchen zu
arbeiten, worin er sein System über die Latonenfrösche in
ein neues Licht setzen, und auf eine noch subtilere Art, als
es in seinem Werke von den Alterthümern des Latonentempels
geschehen war, allen Einwendungen zuvorkommen wollte, welche
der Philosoph Korax dagegen machen könnte. Vorgesehene
Pfeile schaden desto weniger, sagte er zu sich selbst. Ich will
die Sache so klar und deutlich hinlegen, daß auch die Einfältigsten
überzeugt werden sollen. Es müßte doch wahrlich nicht
mit rechten Dingen zugehen, wenn die Wahrheit ihre natürliche
Macht über den Verstand der Menschen nur gerade in
diesem Falle verloren haben sollte!—————
Siebentes Kapitel.Auszüge aus dem Gutachten der Akademie. Ein Wort über die Absichten,
welche Korax dabei gehabt, mit einer Apologie, woran Stilbon
und Korax gleich viel Antheil nehmen können.Inzwischen hatte, während aller dieser Bewegungen unter
der Minorität des Senats und unter den Latonenpriestern,
die Akademie eine Weisung bekommen, ihr Gutachten, "durch
was für diensame Mittel der übermäßigen Froschmenge (den
Gerechtsamen der Latona unbeschadet) aufs schleunigste gesteuert
werden könnte," binnen sieben Tagen an den Senat
abzugeben.Die Akademie ermangelte nicht, sich den nächstfolgenden
Morgen zu versammeln. Da die Gegenfröschler zur Zeit den
größten Theil derselben ausmachten, so wurde die Ausfertigung
des Gutachtens dem Philosophen Korax aufgetragen; jedoch
von Seiten des Präsidenten mit der ausdrücklichen Erinnerung,
daß er sich aufs sorgfältigste hüten möchte, die Akademie in
keine bösen Händel mit dem Latonentempel zu verwickeln.Korax versprach, er wolle alle seine Weisheit aufbieten,
die Wahrheit, wo möglich, auf eine unanstößige Art zu sagen.
Denn zum Unmöglichen, setzte er hinzu, ist, wie meine hochgeehrten
Herren wissen, niemand in irgend einem Falle verbunden.Darin haben Sie Recht, versetzte der Präsident: meine
Meinung ging auch bloß dahin, daß Sie sich möglichst in Acht
nehmen sollten. Denn der Wahrheit darf die Akademie freilich —
so viel möglich — nichts vergeben.Das ist's was ich immer sage, erwiederte Korax.In was für eine seltsame Lage doch ein ehrlicher Mann
kommen kann, sobald er das Unglück hat, ein Abderit zu
seyn! — sagte Korax zu sich selbst, da er sich anschickte, das
Gutachten der Akademie über die Froschsache zu Papier zu
bringen. — In welcher andern Stadt auf dem Erdboden
würde man sich's einfallen lassen, einer Akademie der Wissenschaften
eine solche Frage vorzulegen? — Und gleichwohl ist's
dem Senat noch zum Verdienste abzurechnen, daß er noch so
viel Verstand und Muth gehabt hat, die Akademie zu fragen.
Es gibt Städte in der Welt, wo man so was nicht auf die
Akademie ankommen läßt. Man muß gestehen, daß die Abderiten
zuweilen vor lauter Narrheit auf einen guten Einfall
stoßen!Korax setzte sich also an seinen Schreibtisch, und arbeitete
mit so viel Lust und Liebe zum Dinge, daß er noch vor Sonnenuntergang
mit seinem Gutachten fertig war.Da wir dem geneigten Leser eine, wo nicht ausführliche,
doch hinlängliche Nachricht von dem System des Oberpriesters
Stilbon gegeben haben, so erfordert die Unparteilichkeit, als
die erste Pflicht eines Geschichtschreibers, daß wir ihm auch
von dem Inhalte dieses akademischen Gutachtens wenigstens
so viel mittheilen, als zum Verständniß dieser merkwürdigen
Geschichte vonnöthen zu seyn scheint."Der hohe Senat, sagte Korax im Eingang seiner Schrift,
setzt in dem der Akademie zugefertigten verehrlichen Rathschlusse
voraus, daß die Froschmenge in Abdera die Volksmenge dermalen
in einem unmäßigen Grad übersteige; und überhebt
dadurch die Akademie der unangenehmen Arbeit, erst beweisen
zu müssen, was, als eine stadt- und weltkundige Thatsache,
vor jedermanns Augen liegt."Es gewinnt demnach das Ansehen, als ob die Akademie,
bei so bewandter Sache, sich bloß über die Mittel zu erklären
hätte, wodurch diesem Unwesen am schleunigsten abgeholfen
werden könne."Allein, da die Frösche in Abdera, vermöge eines uralten
und ehrwürdig gewordnen Instituts und Glaubens unsrer
Voreltern, Vorrechte erlangt haben, in deren Besitze sie zu
stören vielen bedenklich, manchen sogar unerlaubt scheinen mag;
und da es, vermöge der Natur der Sache, leicht geschehen
könnte, daß die einzigen diensamen Mittel, welche die Akademie
in dem gegenwärtigen äußersten Nothstände des gemeinen
Wesens vorzuschlagen hat, jenen wirklichen oder vermeinten
Gerechtsamen der Abderitischen Frösche Abbruch zu thun scheinen
könnten: so wird es eben so zweckmäßig als unumgänglich
seyn, eine historisch-pragmatische Beleuchtung der Frage: was
es mit unsern besagten Fröschen für eine besondere Bewandtniß
habe, vorauszuschicken."Die Akademie bittet sich also bei diesem theoretischen
Theile ihres unmaßgeblichen Gutachtens von allen hoch- und
wohlansehnlichen Mitgliedern des hohen Senats um so mehr
geneigte Aufmerksamkeit aus, als der glückliche Erfolg dieser
ganzen der Republik so hoch angelegnen Sache lediglich von
Berichtigung der Präliminarfrage abhängt: ob und in wie fern
die Frösche zu Abdera als wirkliche Frösche anzusehen seyen
oder nicht."Diese Berichtigung nimmt in dem Gutachten selbst mehr
als zwei Drittel des Ganzen ein. Der schlaue Philosoph,
wohl eingedenk dessen, was er dem vorsichtigen Präsidenten
versprochen, erwähnt der Verwandlung der Milischen Bauern
nur im Vorbeigehen, und mit aller Ehrerbietung die man
einer alten Volkssage schuldig ist. Er setzt sie, mit Beziehung
auf das Buch des Oberpriesters Stilbon, als eine Sache voraus,
die keinem mehrern Zweifel ausgesetzt ist, als die Verwandlung
des Narcissus in eine Blume, des Cyknus in einen
Schwan, der Daphne in einen Lorberbaum, oder irgend eine
andre Verwandlung, die auf einem eben so festen Grunde
beruhet. Wenn es auch nicht unzulässig und unanständig wäre,
dergleichen uralte Sagen läugnen zu wollen: so wäre es,
meint er, unverständig. Denn da es auf der einen Seite
unmöglich sey ihre Glaubwürdigkeit durch historische Zeugnisse
umzustoßen, und auf der andern kein Naturforscher in der
Welt im Stande sey ihre absolute Unmöglichkeit zu erweisen:
so werde jeder Verständige sich um so lieber enthalten sie zu
bezweifeln, da er doch weiter nichts dagegen sagen könnte, als
die gemeinen Plattheiten, es ist unglaublich, es ist wider den
Lauf der Natur, und dergleichen Formeln, die auch dem schalsten
Kopf beim ersten Anblick eben so gut einfallen müßten.
Er betrachte also die Umgestaltung der Milischen Bauern in
Frösche als eine auf sich beruhende Sache; behaupte aber, daß
ihre Wahrheit bei der vorliegenden Frage vollkommen gleichgültig
sey. Denn es werde doch wohl niemand läugnen wollen,
daß diese Milischen Menschenfrösche schon ein paar tausend
Jahre wenigstens todt und abgethan seyen. Gesetzt aber auch,
daß die Abderitischen Frösche ihre Abstammung von denselben
genüglich erweisen könnten, so würden sie damit doch weiter
nichts erwiesen haben, als daß sie seit undenklichen Zeiten
von Vater zu Sohn wahre ächt geborne Frösche seyen. Denn
so wie die mehr besagten Milischen Bauern durch ihre Verwandlung
und von dem Augenblick ihrer Einfroschung an aufgehört
hätten, Menschen zu seyn, so hätten sie auch von diesem
Augenblick an nichts andres als ihresgleichen, nämlich leibhafte
natürliche Frösche zeugen können. Mit Einem Worte,
Frösche seyen Frösche, und der Umstand, daß ihre ersten
Stammväter vor ihrer Verwandlung Milische Bauern gewesen,
verändre eben so wenig an ihrer gegenwärtigen Froschnatur,
als wenig ein von zweiunddreißig Ahnen her geborner Bettler
für einen Prinzen angesehen werde, wenn gleich erweislich
wäre, daß der erste Bettler seines Stammbaums in gerader
Linie von Ninus und Semiramis entsprossen sey. Die Anhänger
der entgegenstehenden Meinung schienen dieß auch selbst
so gut einzusehen, daß sie, um die vorgebliche höhere Natur
der Abderitischen Frösche zu begründen, ihre Zuflucht zu einer
Hypothese nehmen müßten, deren bloße Darstellung alle Widerlegung
überflüssig mache.Der scharfsinnige Leser (und es versteht sich von selbst,
daß ein Werk wie dieß keine andern Leser haben kann) wird
sogleich ohne unser Erinnern bemerkt haben, daß Korax durch
diese Einlenkung auf des Oberpriesters Stilbon System von
den Keimen kommen wollte, welches er — eh' er es wagen
durfte, mit seinem Vorschlage wegen Verminderung der Frösche
hervorzurücken — entweder widerlegen oder lächerlich machen
mußte.Da von diesen zwei Wegen der letzte zugleich der bequemste
und der Fähigkeit der Hoch- und Wohlweisheiten, mit denen
er es zu thun hatte, der angemessenste war: so begnügte sich
Korax, das Unbegreifliche dieser Hypothese durch eine komische
Berechnung der unendlichen Kleinheit der angeblichen Keime
zum Ungereimten zu treiben."Wir wollen, sagte er, um die Aufmerksamkeit des hohen
Senats nicht ohne Noth mit arithmetischen Subtilitäten zu
ermüden, annehmen, der Sohn des größten und dicksten von
den froschgewordnen Miliern habe sich in seinem Keimstande
zu seinem Vater verhalten wie Eins zu hundert Millionen.
Wir wollen es, bloß um der runden Zahl willen, so annehmen;
wiewohl ohne große Mühe zu erweisen wäre, daß der größte
unter allen Homunculis, als Keim, wenigstens noch zehnmal kleiner
ist, als ich angegeben habe. Nun steckt, nach des Priesters
Stilbon Meinung, in diesem Keim, nach gleicher Proportion
verkleinert, der Keim des Enkels, im Keim des Enkels der
Keim .des Urenkels, und so in jedem folgenden Abkömmling
bis ins zehntausendste Glied, immer mit jedem Grad hundertmillionenmal
kleiner, der Keim des nächstfolgenden; so daß
der Keim eines jetzt lebenden Abderitischen Frosches, gesetzt
daß er auch nur im vierzigsten Grade von seinem Stammvater,
dem Milischen Froschmenschen, entfernt wäre, damals
da er sich als Keim in seinem besagten Stammvater befand,
um so viele Millionen von Billionen von Trillionen u. s. w.
kleiner als eine Käsemilbe hätte gewesen seyn müssen; daß
der geschwindeste Schreiber, den der hohe Senat von Abdera
in seiner Kanzlei hat, schwerlich in seinem ganzen Leben mit
allen den Nullen, die er, um diese Zahl zu bezeichnen, schreiben
müßte, fertig werden könnte; und das ganze Gebiet der
preiswürdigen Republik (so viel nämlich davon noch nicht in
Froschgräben verwandelt ist) schwerlich Raum genug für das
Papier oder Pergament hätte, welches diese ungeheure Zahl zu
fassen groß genug wäre. Die Akademie überläßt es dem Ermessen
des Senats, ob das allerwinzigste aller kleinen Thierchen
in der Welt winzig genug sey, um sich von einer solchen
unaussprechlich winzigen Kleinheit einen Begriff zu machen?
und ob man also anders glauben könne, als daß dem ehrwürdigen
Oberpriester etwas Menschliches begegnet seyn müsse, da
er die Hypothese von den Keimen erfunden, um der vorgeblichen
Heiligkeit der Abderitischen Frösche eine zwar nicht sehr
scheinbare, aber wenigstens doch sehr dunkle und unbegreifliche
Unterlage zu geben?"Die Akademie hat mit allem Fleiß die Einbildungskraft
der erlauchten Väter des Vaterlandes nicht über die Gebühr
anstrengen wollen. Wenn man aber bedenkt, wie kurz das
natürliche Leben eines Frosches ist, und daß unsre dermaligen
Frösche (nach der Voraussetzung) wenigstens im fünfhundertsten
Grade von den Milischen Bauern abstammen: so verliert sich
die Hypothese des sehr ehrwürdigen Oberpriesters in einem
solchen Abgrund von Kleinheit, daß es ungereimt und grausam
wäre, nur ein Wort weiter davon zu sagen."Die Natur ist (wie die berühmte Aufschrift zu Sais sagt)
alles was ist, was war und was seyn wird, und ihren Schleier
hat noch kein Sterblicher aufgedeckt. Die Akademie, von dieser
großen Wahrheit tiefer als sonst irgend jemand durchdrungen,
ist weit entfernt, sich einiger besondern und genauern Einsicht
in Geheimnisse, welche unergründlich bleiben sollen, anzumaßen.
Sie glaubt, daß es vergebens sey, von der Entstehungsart der
organisirten Wesen mehr wissen zu wollen, als was die Sinne
bei einer anhaltenden Aufmerksamkeit davon entdecken. Und
wenn sie es ja für erlaubt hält, dem angebornen Triebe des
menschlichen Geistes — sich alles begreiflich machen zu wollen
—durch Hypothesen nachzuhängen: so findet sie diejenige noch
immer die natürlichste, vermöge deren die Keime der organischen
Körper durch die geheimen Kräfte der Natur erst alsdann
gebildet werden, wenn sie ihrer wirklich vonnöthen hat. Dieser
Erklärungsart zufolge ist der Keim eines jeden jetzt lebenden
quackenden Geschöpfes in allen Sümpfen und Froschgräben
von Abdera nicht älter als der Moment seiner Zeugung, und
hat mit dem individuellen Frosche, der zur Zeit des Trojanischen
Krieges quakte, und von welchem der jetzt lebende in gerader
Linie abstammt, weiter nichts gemein, als daß die Natur beide
nach einem gleichförmigen Modell, durch gleichförmige Werkzeuge
und zu gleichförmigen Absichten gebildet hat."Der Philosoph Korax, nachdem er ein Langes und Breites
zu Befestigung dieser Meinung vorgebracht, zieht endlich die
Folgerung daraus: daß die Abderitischen Frösche eben so natürliche,
gemeine und alltägliche Frösche seyen als alle übrigen
Frösche in der Welt; und daß also die sonderbaren Vorrechte,
deren sie sich in Abdera zu erfreuen hätten, nicht auf irgend
einer Vorzüglichkeit ihrer Natur und ihrer vorgeblichen Verwandtschaft
mit der menschlichen, sondern bloß auf einem populären
Glauben beruheten, welchen man, zu größtem Nachtheil
des gemeinen Wesens, allzu lange unbestimmt und in
einem Dunkel gelassen habe, unter dessen Begünstigung die
Einbildungskraft der einen und der Eigennutz der andern
freien Spielraum gehabt habe, mit diesen Fröschen eine Art
von Unfug zu treiben, wovon man außerhalb Aegypten schwerlich
etwas Aehnliches in der Welt finden werde."Die Alterthümer von Abdera (fährt er fort) liegen, ungeachtet
alles Lichtes, welches der ehrwürdige und gelehrte
Stilbon so reichlich über sie ausgegossen, noch immer — wie
die Alterthümer aller andern Städte in der Welt — in einem
Nebel, dessen Undurchdringlichkeit dem wahrheitsbegierigen
Forscher wenig Hoffnung läßt, seine Begierde jemals befriediget
zu sehen. Aber, wozu hätten wir denn auch vonnöthen, mehr
davon zu wissen als wir wirklich wissen? Was es auch mit
dem Ursprung des Latonentempels und seines geheiligten
Froschgrabens für eine Bewandtniß haben mag, würde etwa,
wenn wir diese Bewandtniß wüßten, Latona mehr oder weniger
Göttin, ihr Tempel mehr oder weniger Tempel, und ihr
Froschteich mehr oder weniger Froschteich seyn? — Latona
soll und muß in ihrem uralten Tempel verehrt, ihr uralter
Froschteich soll und muß in gebührenden Ehren gehalten werden.
Beides ist Institut unsrer ältesten Vorfahren, ehrwürdig
durch das graueste Alterthum, befestigt durch die Gewohnheit
so vieler Jahrhunderte, unterhalten durch den ununterbrochnen
fortgepflanzten allgemeinen Glauben unsers Volkes, geheiligt
und unverletzlich gemacht durch die Gesetze unsrer Republik,
welche die Bewachung und Beschützung desselben dem ansehnlichsten
Collegium des Staats anvertraut haben. Aber, wenn
Latona, oder Jupiter um Latonens willen, die Milischen Bauern
in Frösche verwandelt hat: folgt denn daraus, daß alle Frösche
der Latona heilig sind, und sich des priesterlichen Vorrechts
persönlicher Unverletzlichkeit anzumaßen haben? Und, wenn
unsre wackern Vorfahren für gut befunden haben, zum ewigen
Gedächtniß jenes Wunders, im Bezirk des Latonentempels
einen kleinen Froschgraben zu unterhalten: folgt denn daraus,
daß ganz Abdera in eine Froschlache verwandelt werden muß?"Die Akademie kennt sehr wohl die Achtung, die man gewissen
Meinungen und Gefühlen des Volks schuldig ist. Aber
dem Aberglauben, in welchen sie immer auszuarten bereit sind,
kann doch nur so lange nachgesehen werden, als er die Gränzen
der Unschädlichkeit nicht gar zu weit überschreitet. Frösche
können in Ehren gehalten werden: aber die Menschen den
Fröschen aufzuopfern ist unbillig. Der Zweck, um dessentwillen
die Abderiten, unsre Vorfahren, den geheiligten Froschteich
einsetzten, hätte freilich auch durch einen einzigen Frosch erreicht
werden können. Doch, lass' es seyn daß ein ganzer Teich voll
gehalten wurde; wenn es nur bei diesem einzigen geblieben
wäre! Abdera würde darum nicht weniger blühend, mächtig
und glücklich gewesen seyn. Bloß der seltsame Wahn, daß man
der Frösche und Froschteiche nicht zu viel haben könne, hat uns
dahin gebracht, daß uns nun wirklich keine andre Wahl übrig
bleibt — als, uns entweder dieser überlästigen und allzu fruchtbaren
Mitbürger ungesäumt zu entladen, oder alle insgesammt
mit bloßen Häuptern und Füßen nach dem Latonentempel zu
wallen, und mit fußfälligem Bitten so lange bei der Göttin
anzuhalten, bis sie das alte Wunder an uns erneuert, und
auch uns, so viel unsrer sind, in Frösche verwandelt haben wird."Die Akademie müßte sich sehr gröblich an der Weisheit
der Häupter und Väter des Vaterlandes versündigen, wenn
sie nur einen Augenblick zweifeln wollte, daß das Mittel, welches
sie in einer so verzweifelten Lage vorzuschlagen aufgefordert
worden — das einzige welches sie vorzuschlagen im Stande ist
— nicht mit beiden Händen ergriffen werden sollte. Dieses
Mittel hat alle von dem hohen Senat erforderten Eigenschaften;
es ist in unsrer Gewalt, es ist zweckmäßig und von unmittelbarer
Wirkung; es ist nicht nur mit keinem Aufwand, sondern
sogar mit einer namhaften Ersparniß verbunden; und weder
Latona noch ihre Priester können, unter den gehörigen Einschränkungen,
etwas dagegen einzuwenden haben."Und nun rathe der geneigte Leser, was für ein Mittel das
wohl seyn konnte? — Es ist, um ihn nicht lange aufzuhalten,
das einfachste Mittel von der Welt. Es ist etwas in Europa
von langen Zeiten her bis auf diesen Tag sehr Gewöhnliches;
eine Sache, worüber in der ganzen Christenheit sich niemand
das mindeste Bedenken macht, und wovor gleichwohl, als diese
Stelle des Gutachtens im Senat zu Abdera abgelesen wurde,
der Hälfte der Rathsherren die Haare zu Berge standen. Mit
Einem Worte, das Mittel, das die Akademie von Abdera
vorschlug, um der überzähligen Frösche mit guter Art los zu
werden, war — sie zu essen.Der Verfasser des Gutachtens betheuerte, daß er auf seinen
Reisen zu Athen und Megara, zu Korinth, in Arkadien und
an hundert andern Orten Froschkeulen essen gesehen und selbst
gegessen habe. Er versicherte, daß es eine sehr gesunde, nahrhafte
und wohlschmeckende Speise sey, man möchte sie nun gebacken
und fricassirt oder in kleinen Pastetchen auf die Tafel
bringen. Er berechnete, daß auf diese Weise die übermäßige
Froschmenge in kurzer Zeit auf eine sehr gemäßigte Zahl gebracht,
und dem gemeinen und Mittelmann, bei dermaligen
klemmen Zeiten, keine geringe Erleichterung durch diese neue
Eßwaare verschafft werden würde. Und wiewohl der daher
entstehende Vortheil sich vermöge der Natur der Sache von
Tag zu Tag vermindern müßte: so würde hingegen der Abgang
um so reichlicher ersetzt werden, indem man nach und
nach einige tausend Froschteiche und Gräben austrocknen und
wieder urbar machen könnte; ein Umstand, wodurch wenigstens der
vierte Theil des zu Abdera gehörigen Grund und Bodens wieder
gewonnen werden und den Einwohnern zu Nutzen gehen würde.
Die Akademie (setzt er hinzu) habe die Sache aus allen möglichen
Gesichtspunkten betrachtet, und könne nicht absehen, wie von
Seiten der Latona oder ihrer Priester die mindeste Einwendung
dagegen sollte gemacht werden können. Denn was die Göttin
selbst betreffe, so würde sie sich ohne Zweifel durch den
bloßen Argwohn, als ob ihr an den Fröschen mehr als an
den Abderiten gelegen sey, sehr beleidiget finden. Von den
Priestern aber sey zu erwarten, daß sie viel zu gute Bürger
und Patrioten seyen, um sich einem Vorschlage zu widersetzen,
durch welchen dasjenige, was bisher das größte Uebel und
Drangsal des Abderitischen gemeinen Wesens gewesen, bloß
durch eine geschickte Wendung in den größten Nutzen desselben
verwandelt würde. Da es aber nicht mehr als billig sey, sie,
die Priester, um des gemeinen Besten willen nicht zu beeinträchtigen,
so hielte die Akademie unmaßgeblich dafür, daß
ihnen nicht nur die Unverletzlichkeit des uralten Froschgrabens
am Latonentempel von neuem zu garantiren, sondern auch die
Verordnung zu machen wäre, daß von dem Augenblick an, da
die Abderitischen Froschkeulen für eine erlaubte Eßwaare erklärt
seyn würden, von jedem Hundert derselben eine Abgabe von
einem oder zwei Obolen an den Latonentempel bezahlt werden
müßte. Eine Abgabe, die, nach einem sehr mäßigen Ueberschlag,
in kurzer Zeit eine Summe von dreißig bis vierzigtausend
Drachmen abwerfen, und also den Latonentempel
wegen aller andern kleinen Vortheile, die durch die neue Einrichtung
aufhörten, reichlich schadlos halten würde.Endlich beschloß der Philosoph Korax sein Gutachten mit
diesen merkwürdigen Worten: "Die Akademie glaube durch
diesen eben so nothgedrungenen als gemeinnützigen Vorschlag
ihrer Schuldigkeit genug gethan zu haben. Sie sey nun wegen
des Erfolgs ganz ruhig, indem sie dabei nicht mehr betroffen
sey als alle übrigen Bürger von Abdera. Aber da sie überzeugt
sey, daß nur ganz erklärte Batrachosebisten fähig seyn könnten,
sich einer so unumgänglichen Reformation entgegenzusetzen: so
hoffe sie, die preiswürdigen Väter des Vaterlandes würden nicht
zugeben, daß eine so lächerliche Secte die Oberhand gewinnen,
und vor den Augen aller Griechen und Barbaren den Abderitischen
Namen mit einem Schandflecken beschmieren sollte,
den keine Zeit wieder ausbeizen würde."Es ist schwer, von den Absichten eines Menschen aus
seinen Handlungen zu urtheilen, und hart, schlimme Absichten
zu argwohnen, bloß weil eine Handlung eben so leicht
aus einem bösen als guten Beweggrunde hergeflossen seyn
konnte: aber einen jeden, dessen Vorstellungsart nicht die
unsrige ist, bloß darum für einen schlimmen Mann zu halten,
ist ungerecht und unvernünftig. Wiewohl wir also nicht mit
Gewißheit sagen können, wie rein die Absichten des Philosophen
Korax bei Abfassung dieses Gutachtens gewesen seyn
mochten: so können wir doch nicht umhin zu glauben, daß
der Priester Stilbon in seiner Leidenschaft zu weit gegangen
sey, da er besagten Korax dieses Gutachtens wegen für einen
offenbaren Feind der Götter und der Menschen erklärte, und
ihn einer augenscheinlichen Absicht alle Religion über den Haufen
zu werfen beschuldigte. So überzeugt auch immer der
Hohepriester Stilbon von seiner Meinung seyn mochte, so ist
doch, bei der großen und unwillkürlichen Verschiedenheit der
Vorstellungsarten unter den armen Sterblichen, nicht unmöglich,
daß Korax von der Wahrheit der seinigen eben so aufrichtig
überzeugt war; daß er die Abderitischen Frösche im
Innersten seines Herzens für nichts mehr als bloße natürliche
Frösche hielt, und durch seinen Vorschlag seinem Vaterlande
wirklich einen wichtigen Dienst zu leisten glaubte. Indessen
bescheidet sich Schreiber dieses ganz gern, daß es für
uns jetzt lebende, und in Betrachtung daß die allgemein in
Europa angenommenen Grundsätze den Fröschen wenig günstig
sind, eine äußerst zarte Sache ist, über diesen Punkt ein
vollkommen unparteiisches Urtheil zu fällen.Wie es also auch um die Moralität der Absichten des
Philosophen Korax stehen mochte, so viel ist wenigstens gewiß,
daß er eben so wenig ohne Leidenschaften war als der Oberpriester,
und daß er sich die Vermehrung seiner Anhänger
viel zu eifrig angelegen seyn ließ, um nicht den Verdacht zu
erwecken, die Eitelkeit das Haupt einer Partei zu seyn, die
Begierde über Stilbon den Sieg davon zu tragen, und der
stolze Gedanke in den Annalen von Abdera dereinst Figur zu
machen, habe wenigstens eben so viel zu seiner großen Thätigkeit
in dieser Froschsache beigetragen, als seine Tugend.
Aber, daß er alles, was er gethan, aus bloßer Näscherei
gethan habe, halten wir für eine Verleumdung schwachköpfiger
und leidenschaftlicher Leute, woran es bekanntermaßen bei
solchen Gelegenheiten (zumal in kleinen Republiken) nie zu
fehlen pflegt.Korax hatte solche Maßregeln genommen, daß sein Gutachten
bei der zweiten Zusammenkunft der Akademie einhellig
genehmigt wurde. Denn der Präsident, und drei oder vier
Ehrenmitglieder die sich nicht bloßgeben wollten, hatten Tages
zuvor eine Reise aufs Land gethan.—————
Achtes Kapitel.Das Gutachten wird bei Rath verlesen, und nach verschiednen heftigen
Debatten einhellig beschlossen, daß es den Latonenpriestern communicirt
werden sollte.Das Gutachten wurde in der vorgeschriebnen Zeit dem
Archon eingehändigt, und bei der nächsten Sitzung des Senats
von dem Stadtschreiber Pyrops, einem erklärten Gegenfröschler,
aus voller Brust, und mit ungewöhnlich scharfer Beobachtung
aller Kommas und übrigen Unterscheidungszeichen,
abgelesen.Die Minorität hatte zwar indessen bei dem Archon große
Bewegungen gemacht, um ihn dahin zu bringen die Vollziehung
des Rathsschlusses aufzuschieben, und es in einer
außerordentlichen Rathsversammlung noch einmal auf die
Mehrheit ankommen zu lassen, ob die Sache nicht, mit Vorbeigehung
der Akademie, den Zehnmännern übergeben werden
sollte. Onokradias hatte auch diesen Antrag auf Bedenkzeit
angenommen, aber, ungeachtet des täglichen Anhaltens der
Gegenpartei, seine Antwort um so mehr aufgeschoben, da er
versichert worden war, daß das Gutachten bis zum nächsten
gewöhnlichen Rathstage fertig seyn sollte.Der Nomophylax, Hypsiboas und seine Anhänger fanden
sich also nicht wenig beleidigt, als, nach Beendigung der
Geschäfte des Tages, der Archon ein großes Heft unter seinem
Mantel hervorzog, und dem Senat berichtete, daß es
das Gutachten sey, welches, vermöge des letzten Rathsschlusses,
der Akademie in der bekannten leidigen Froschsache aufgetragen
worden. Sie standen alle auf einmal mit Ungestüm
auf, beschuldigten den Archon, hinterlistig zu Werke gegangen
zu seyn, und erklärten sich, daß sie die Verlesung des Gutachtens
nimmermehr zugeben würden.Onokradias, der unter andern kleinen Naturfehlern auch
diesen hatte, immer hitzig zu seyn wo er kalt, und kalt wo er
hitzig seyn sollte, war im Begriff eine sehr hitzige Antwort zu
geben, wenn ihn der Rathsherr Meidias nicht gebeten hätte,
ruhig zu seyn und die Herren schreien zu lassen. Wenn sie
alles gesagt haben werden, flüsterte er ihm zu, so werden sie
nichts mehr zu sagen haben, und dann müssen sie wohl von
selbst aufhören.Dieß war auch was geschah. Die Herren lärmten, krähten
und fochten mit den Händen bis sie es müde waren; und
da sie endlich merkten daß ihnen niemand zuhörte, setzten sie
sich brummend wieder hin, wischten den Schweiß von der
Stirne, und — das Gutachten wurde verlesen.Wir kennen die Art der Abderiten, so schnell wie man die
Hand umdreht vom Tragischen zum Komischen überzugehen,
und über der kleinsten Gelegenheit zum Lachen die ernsthafte
Seite eines Dinges gänzlich aus den Augen zu verlieren.
Kaum war der dritte Theil des Gutachtens gelesen, so zeigte
sich schon die Wirkung dieser jovialischen Laune sogar bei denjenigen,
die kurz zuvor so laut dagegen geschrien hatten. Das
nenn' ich doch beweisen, sagte einer der Rathsherren zu seinem
Nachbar, während Pyrops inne hielt, um, nach damaliger
Gewohnheit, eine Prise Niesewurz zu nehmen. — Man muß
gestehen, sagte ein andrer, das Ding ist meisterhaft geschrieben.
— Ich will gern sehen, sagte ein dritter, was man
gegen den Beweis, daß Frösche am Ende doch nur Frösche
sind, wird einwenden können? — Ich habe schon lange so
was gemerkt, sagte ein vierter mit einer schlauen Miene; aber
es ist doch angenehm, wenn man sieht daß gelehrte Leute
mit uns einer Meinung sind.Nur weiter, Herr Stadtschreiber, sagte Meidias, denn
das Beste muß noch erst kommen.Pyrops las fort. Die Rathsherren lachten daß sie die
Bäuche halten mußten über die Berechnung der Kleinheit der
Keime des Priesters Stilbon; wurden aber auf einmal wieder
ernsthaft, da die traurige Alternative vorkam, und sie sich vorstellten,
was für ein Jammer das wäre, wenn sie in Corpore,
mit dem regierenden Archon an der Spitze, nach dem Latonentempel
ziehen und sich's noch zur besondern Gnade anrechnen
lassen müßten, in Frösche verwandelt zu werden. Sie reckten
die dicken Hälse und schnappten nach Odem bei dem bloßen
Gedanken, wie ihnen bei einer solchen Katastrophe zu Muthe
seyn würde, und waren von Herzen geneigt jedes Mittel
gut zu heißen, wodurch ein solches Unglück verhütet werden
könnte.Aber als das Geheimniß nun heraus war; als sie hörten,
daß die Akademie kein anderes Mittel vorzuschlagen hätte,
als die Frösche, deren sie einen Augenblick zuvor um jeden
Preis los zu werden gewünscht hatten, zu essen: — welche
Zunge vermöchte das Gemisch von Erstaunen, Entsetzen und
Verdruß über fehlgeschlagene Erwartung zu beschreiben, das
sich auf einmal in den verzerrten Gesichtern der alten Rathsherren
malte, welche beinahe die Hälfte des Senats ausmachten?
Die Leute sahen nicht anders aus, als ob man ihnen
zugemuthet hätte ihre eignen leiblichen Kinder in kleine Pastetchen
backen zu lassen. Auf einmal von der unbegreiflichen
Macht des Vorurtheils überwältigt, fuhren sie alle mit Entsetzen
auf und erklärten: daß sie nichts weiter hören wollten,
und daß sie sich einer solchen Gottlosigkeit zu der Akademie
nimmermehr versehen hätten.Sie hören aber ja, daß es nur gemeine natürliche Frösche
sind die wir essen sollen, rief der Ratsherr Meidias. Essen
wir doch Pfauen und Tauben und Gänse, ungeachtet jene der
Juno und Venus, und diese dem Priapus selbst heilig sind.
Bekommt uns denn etwa das Rindfleisch schlechter, weil Jupiter
sich selbst in einen Stier und die Prinzessin Jo in eine
Kuh verwandelte? Oder machen wir uns das mindeste Bedenken
alle Arten von Fischen zu essen, wiewohl sie unter dem
Schutz aller Wassergötter stehen?Aber die Rede ist weder von Gänsen noch Fischen, sondern
von Fröschen, schrien die alten Rathsherren und Zunftmeister;
das ist ganz was andres! Gerechte Götter! die Frösche der
Latona zu essen! Wie kann ein Mensch von gesundem Kopfe
sich so etwas nur zu Sinne kommen lassen?So fassen Sie sich doch, meine Herren, schrie ihnen der
Rathsherr Stentor entgegen, Sie werden doch nicht solche
Batrachosebisten seyn wollen —Lieber Batrachosebisten als Batrachophagen, rief der Nomophylax,
der diesen glücklichen Augenblick nicht entwischen lassen
wollte, sich zum Haupt einer Partei aufzuwerfen, auf deren
Schultern er sich in kurzem zum Archontat erhoben zu sehen
hoffte.Lieber alles in der Welt als Batrachophagen, schrien
die Rathsherren von der Minorität, und ein paar graubärtige
Zunftmeister, die sich zu ihnen schlugen."Meine Herren, sagte der Archon Onokradias, — indem
er mit einiger Hitze von seinem elfenbeinernen Stuhl auffuhr,
da die Batrachosebisten so laut zu schreien anfingen, daß ihm
um sein Gehör bang wurde — ein Vorschlag der Akademie
ist noch kein Rathsschluß. Setzen Sie sich und hören Sie
Vernunft an, wenn Sie können! ich will nicht hoffen, daß
hier jemand ist, der sich einbildet daß mir so viel daran gelegen
sey Frösche zu essen. Auch werd' ich noch wohl Rath
zu schaffen wissen, daß sie mich nicht fressen sollen. Aber
die Akademie, die aus den gelehrtesten Leuten in Abdera besteht,
muß doch wohl wissen was sie sagt —(Nicht immer, murmelte Meidias zwischen den Zähnen.)"Und da das gemeine Beste allem vorgeht, und nicht
billig ist daß die Frösche den Menschen —daß die Menschen
sage ich, den Fröschen aufgeopfert werden, wie die Akademie
sehr wohl erwiesen hat: so ist meine Meinung, — daß das
Gutachten ohne weiters — der ehrwürdigen Latonenpriesterschaft
communicirt werde. Können Sie einen bessern Vorschlag
thun, so will ich der erste seyn der ihn unterstützen
hilft. Denn ich habe für meine Person nichts gegen die
Frösche, insofern sie keinen Schaden thun."Da der Antrag des Archons nichts andres war, als
worauf beide Parteien ohnehin hätten antragen müssen, so
wurde die Communication des Gutachtens zwar einhellig beliebt:
aber die Ruhe im Senat wurde dadurch nicht hergestellt;
und von dieser Stunde an fand sich die arme Stadt Abdera
wieder, unter andern Namen, in Esel und Schatten
getheilt.—————
Neuntes Kapitel.Der Oberpriester Stilbon schreibt ein sehr dickes Buch gegen die Akademie.
Es wird von niemand gelesen: im übrigen aber bleibt vor der Hand
alles beim Alten.Jedermann bildete sich ein, daß der Oberpriester über das
Gutachten der Akademie Feuer und Flammen sprühen werde,
und man war nicht wenig verwundert, da er, dem Anschein
nach, so gelassen dabei blieb als ob ihn die Sache gar nichts
anginge.Was für armselige Köpfe! sagte er den seinigen schüttelnd,
indem er das Gutachten mit flüchtigem Blick überlief: und
gleichwohl sollte man denken, sie müßten mein Buch von den
Alterthümern gelesen haben, worin alles so augenscheinlich
dargelegt ist. Es ist unbegreiflich, wie man mit fünf gesunden
Sinnen so dumm seyn kann! Aber ich will ihnen noch wohl
das Verständniß öffnen. Ich will ein Buch schreiben — ein
Buch, das mir alle Akademien der Welt widerlegen sollen
wenn sie können!Und Stilbon, der Oberpriester, setzte sich hin und schrieb
ein Buch, dreimal so dick als das erste das der Archon Onokradias
nicht lesen wollte, und bewies darin: daß der Verfasser
des Gutachtens keinen Menschenverstand habe; daß er
ein Unwissender sey, der nicht einmal gelernt habe daß nichts
groß und nichts klein in der Natur sey; nicht wisse, daß die
Materie ins Unendliche getheilt werden könne, und daß die
unendliche Kleinheit der Keime (wenn man sie auch noch
unendlich kleiner annehme als Korax in seiner ganz lächerlich
übertriebnen Berechnung gethan habe) gegen ihre Möglichkeit
nicht ein Minimum beweise. Er unterstützte die Gründe seines
Systems von den Abderitischen Fröschen mit neuen Gründen,
und beantwortete mit großer Genauigkeit und Weitläuftigkeit
alle möglichen Einwürfe die er sich selbst dagegen machte.
Seine Einbildung und seine Galle erhitzte sich unterm Schreiben
unvermerkt so sehr, daß er sich sehr bittere Ausfälle gegen
seine Gegner erlaubte, sie eines vorsetzlichen und verstockten
Hasses gegen die Wahrheit anklagte, und ziemlich deutlich zu
verstehen gab, daß solche Menschen in einem wohl polizirten
Staate gar nicht geduldet werden sollten.Der Senat von Abdera erschrack, da der Archon nach
etlichen Monaten (denn eher hatte Stilbon, wiewohl er Tag
und Nacht schrieb, nicht mit seinem Buche fertig werden
können) die Gegenschrift des Oberpriesters vor Rath brachte,
die so voluminös war, daß er sie, um die Sache kurzwelliger
zu machen, durch zwei von den breitschultrigsten Sackträgern
von Abdera auf einer Trage herein schleppen und auf den
großen Rathstisch legen ließ. Die Herren fanden, daß es
keine Möglichkeit sey ein so weitläuftiges Werk verlesen zu
lassen. Es wurde also durch die Mehrheit der Stimmen beschlossen,
es geraden Wegs dem Philosophen Korax zuzuschicken,
mit dem Auftrage, dasjenige, was er etwa dagegen
zu erinnern hätte, schriftlich und so bald als möglich an den
regierenden Archon gelangen zu lassen.Korax stand eben mitten unter einem Haufen naseweiser
Abderitischer Jünglinge in der Vorhalle seines Hauses, als
die Sackträger mit ihrer gelehrten Ladung bei ihm anlangten.
Als er nun von dem mitkommenden Rathsboten vernommen
hatte warum es zu thun sey, entstand ein so unmäßiges Gelächter
unter der gegenwärtigen Versammlung, daß man es
über drei oder vier Gassen bis in die Rathsstube hören konnte.
Der Priester Stilbon hat einen schlauen Genius, sagte Korax;
er hat gerade das unfehlbarste Mittel ergriffen, um nicht
widerlegt zu werden. Aber er soll sich doch betrogen finden!
Wir wollen ihm zeigen, daß man ein Buch widerlegen kann
ohne es gelesen zu haben.Wo sollen wir denn abladen? fragten die Sackträger, die
schon eine gute Weile mit ihrer Trage da gestanden hatten,
und von allen den scherzhaften Einfällen der gelehrten Herren
nichts verstanden.In meinem Häuschen ist kein Platz für ein so großes
Buch, sagte Korax.Wissen Sie was, fiel einer von den jungen Philosophen
ein: weil das Buch doch geschrieben ist um nicht gelesen zu
werden, so stiften Sie es auf die Rathsbibliothek. Dort liegt
es sicher, und wird unter dem Schutz einer Kruste von
fingerdickem Staub ungelesen und wohlbehalten auf die späte
Nachwelt kommen.Der Einfall ist trefflich, sagte Korax. Gute Freunde,
fuhr er fort sich an die Sackträger wendend, hier sind zwei
Drachmen für eure Mühe; tragt eure Ladung auf die Rathsbibliothek,
und bekümmert euch weiter um nichts; ich nehme
die ganze Sache auf meine Verantwortung.Stilbon, dem das Schicksal eines Buches, das ihm so
viele Zeit und Mühe gekostet hatte, nicht lange verborgen
bleiben konnte, wußte vor Erstaunen und Ingrimm weder
was er denken noch thun sollte. Große Latona, rief er einmal
übers andre aus, in was für Zeiten leben wir! Was ist mit
Leuten anzufangen die nicht hören wollen! — Aber sey es
darum! Ich habe das Meinige gethan. Wollen sie nicht
hören, so mögen sie's bleiben lassen! Ich setze keine Feder mehr
an, rühre keinen Finger mehr für ein so undankbares, ungeschliffnes
und unverständiges Volk.So dachte er im ersten Unmuth: aber der gute Priester
betrog sich selbst durch diese anscheinende Gelassenheit. Seine
Eigenliebe war zu sehr beleidigt um so ruhig zu bleiben. Je
mehr er der Sache nachdachte (und er konnte die ganze Nacht
an nichts andres denken), je stärker fühlte er sich überzeugt,
daß es ihm nicht erlaubt sey, bei einer so lauten Aufforderung
für die gute Sache still zu sitzen.Der Nomophylax und die übrigen Feinde des Archons
Onokradias ermangelten nicht, seinen Eifer durch ihre Aufhetzungen
vollends zu entstammen. Man hielt fast täglich Zusammenkünfte,
um sich über die Maßregeln zu berathschlagen,
welche man zu nehmen hätte, um dem einreißenden Strom
der Unordnung und Ruchlosigkeit (wie es Stilbon nannte)
Einhalt zu thun.Aber die Zeiten hatten sich wirklich sehr geändert. Stilbon
war kein Strobylus. Das Volk kannte ihn wenig, und
er hatte keine von den Gaben, wodurch sich sein besagter
Vorgänger mit unendlichemal weniger Gelehrsamkeit so wichtig
in Abdera gemacht hatte. Beinahe alle jungen Leute beiderlei
Geschlechts waren von den Grundsätzen des Philosophen Korax
angesteckt. Der größere Theil der Rathsherren und angesehenen
Bürger neigte sich ohne Grundsätze auf die Seite wo
es am meisten zu lachen gab. Und sogar unter dem gemeinen
Volke hatten die Gassenlieder, womit einige Versifexe von
Koraxens Anhang die Stadt anfüllten, so gute Wirkung gethan,
daß man sich vor der Hand wenig Hoffnung machen
konnte, den Pöbel so leicht als ehmals in Aufruhr zu setzen.
Aber, was noch das allerschlimmste war, man hatte Ursache
zu glauben, es gebe unter den Priestern selbst einen und den
andern, der ingeheim mit den Gegenfröschlern in Verbindung
stehe. Es war in der That mehr als bloßer Argwohn, daß
der Priester Pamphagus mit einem Anschlag schwanger gehe,
sich die gegenwärtigen Umstände zu Nutze zu machen, und den
ehrlichen Stilbon von einer Stelle zu verdrängen, welcher er
(wie Pamphagus unter der Hand zu verstehen gab) wegen seiner
gänzlichen Unerfahrenheit in Geschäften in einer so bedenklichen
Krisis auf keine Weise gewachsen sey.Bei allem dem machten gleichwohl die Batrachosebisten
eine ansehnliche Partei aus, und Hypsiboas hatte Geschicklichkeit
genug, sie immer in einer Bewegung zu erhalten, welche
mehr als Einmal gefährliche Ausbrüche hätte nehmen können,
wenn die Gegenpartei —zufrieden mit ihren erhaltenen Siegen
und ungeneigt das Uebergewicht, in dessen Besitz sie war, in
Gefahr zu setzen — nicht so unthätig geblieben, und alles,
was zu ungewöhnlichen Bewegungen Anlaß geben konnte, sorgfältig
vermieden hätte. Denn, wiewohl sie sich des Namens
der Batrachophagen eben nicht zu weigern schienen, und die
Frösche der Latona den gewöhnlichen Stoff zu lustigen Einfällen
in ihren Gesellschaften hergaben: so ließen sie es doch,
nach ächter Abderitischer Weise, dabei bewenden, und die
Frösche blieben, trotz dem Gutachten der Akademie und den
Scherzen des Philosophen Korax, noch immer ungestört und
ungegessen im Besitz der Stadt und Landschaft Abdera.—————
Zehntes Kapitel.Seltsame Entwickelung dieses ganzen tragikomischen Possenspiels.Aller Wahrscheinlichkeit nach würden die Frösche der
Latona dieser Sicherheit noch lange genossen haben, wenn
nicht zufälligerweise im nächsten Sommer eine unendliche
Menge Mäuse und Ratten von allen Farben auf einmal die
Felder der unglücklichen Republik überschwemmt, und dadurch
die ganz unschuldige und ungefähre Weissagung des Archons
Onokradias unvermuthet in Erfüllung gebracht hätte.Von Fröschen und Mäusen zugleich aufgefressen zu werden,
war für die armen Abderiten zu viel auf einmal. Die Sache
wurde ernsthaft.Die Gegenfröschler drangen nun ohne weiters auf die
Nothwendigkeit, den Vorschlag der Akademie unverzüglich ins
Werk zu setzen.Die Batrachosebisten schrien: die gelben, grünen, blauen,
rothen und flohfarbnen Mäuse, die in wenig Tagen die
gräulichste Verwüstung auf den Abderitischen Feldern angerichtet
hatten, seyen eine sichtbare Strafe der Gottlosigkeit
der Batrachophagen, und augenscheinlich von Latonen unmittelbar
abgeschickt, die Stadt, die sich des Schutzes der Göttin
unwürdig gemacht habe, gänzlich zu verderben.Vergebens bewies die Akademie, daß gelbe, grüne und
flohfarbne Mäuse darum nicht mehr Mäuse seyen als andre;
daß es mit diesen Mäusen und Ratten ganz natürlich zugehe;
daß man in den Jahrbüchern aller Völker ähnliche Beispiele
finde; und daß es nunmehr, da besagte Mäuse entschlossen
schienen den Abderiten ohnehin nichts andres zu essen übrig
zu lassen, um so nöthiger sey, sich des Schadens, welchen
beiderlei gemeine Feinde der Republik verursachten, wenigstens
an der eßbaren Hälfte derselben, nämlich an den Fröschen,
zu erholen.Vergebens schlug sich der Priester Pamphagus ins Mittel,
indem er den Vorschlag that, die Frösche künftig zu ordentlichen
Opferthieren zu machen, und, nachdem der Kopf und
die Eingeweide der Göttin geopfert worden, die Keulen als
Opferfleisch zu ihren Ehren zu verzehren.Das Volk, bestürzt über eine Landplage, die es sich
nicht anders als unter dem Bilde eines Strafgerichts der
erzürnten Götter denken konnte, und von den Häuptern der
Froschpartei empört, lief in Rotten vor das Rathhaus, und
drohte kein Gebein von den Herren übrig zu lassen, wenn sie
nicht auf der Stelle ein Mittel fänden die Stadt vom Verderben
zu erretten.Guter Rath war noch nie so theuer auf dem Rathhause
zu Abdera gewesen als jetzt. Die Rathsherren schwitzten
Angstschweiß. Sie schlugen vor ihre Stirne; aber es hallte
hohl zurück. Je mehr sie sich besannen, je weniger konnten
sie finden was zu thun wäre. Das Volk wollte sich nicht
abweisen lassen, und schwor, Fröschlern und Gegenfröschlern
die Hälse zu brechen, wenn sie nicht Rath schafften.Endlich fuhr der Archon Onokradias auf einmal wie begeistert
von seinem Stuhl auf. — Folgen Sie mir, sagte er
zu den Rathsherren, und ging mit großen Schritten auf die
marmorne Tribune hinaus, die zu öffentlichen Anreden an
das Volk bestimmt war. Seine Augen funkelten von einem
ungewöhnlichen Glanz; er schien eines Hauptes länger als
sonst, und seine ganze Gestalt hatte etwas Majestätischer's
als man jemals an einem Abderiten gesehen hatte. Die
Rathsherren folgten ihm stillschweigend und erwartungsvoll."Höret mich, ihr Männer von Abdera, sagte Onokradias
mit einer Stimme die nicht die seinige war: Jason, mein
großer Stammvater, ist vom Sitz der Götter herabgestiegen,
und gibt mir in diesem Augenblicke das Mittel ein, wodurch
wir uns alle retten können. Gehet, jeder nach seinem Hause,
packet alle eure Geräthschaften und Habseligkeiten zusammen,
und morgen bei Sonnenaufgang stellet euch mit Weibern und
Kindern, Pferden und Eseln, Rindern und Schafen, kurz mit
Sack und Pack vor dem Jasontempel ein. Von da wollen wir,
mit dem goldnen Vließe an unsrer Spitze, ausziehen, diesen
von den Göttern verachteten Mauern den Rücken wenden, und
in den weiten Ebnen des fruchtbaren Macedoniens einen andern
Wohnort suchen, bis der Zorn der Götter sich gelegt
haben, und uns oder unsern Kindern wieder vergönnt seyn
wird, unter glücklichen Vorbedeutungen in das schöne Abdera
zurückzukehren. Die verderblichen Mäuse, wenn sie nichts
mehr zu zehren finden, werden sich unter einander selbst auffressen,
und was die Frösche betrifft — denen mag Latona
gnädig seyn! — Geht, meine Kinder, und macht euch fertig!
Morgen, mit Aufgang der Sonne, werden alle unsre Drangsale
ein Ende haben."Das ganze Volk jauchzte dem begeisterten Archon Beifall
zu, und in einem Augenblick athmete wieder nur Eine Seele
in allen Abderiten. Ihre leicht bewegliche Einbildungskraft
stand auf einmal in voller Flamme. Neue Aussichten, neue
Scenen von Glück und Freuden tanzten vor ihrer Stirne. Die
weiten Ebnen des glücklichen Macedoniens lagen wie fruchtbare
Paradiese vor ihren Augen ausgebreitet. Sie athmeten
schon die mildern Lüfte, und sehnten sich mit unbeschreiblicher
Ungeduld aus dem dicken froschsumpfigen Dunstkreise ihrer
ekelhaften Vaterstadt heraus. Alles eilte sich zu einem Auszug
zu rüsten, von welchem wenige Augenblicke zuvor kein
Mensch sich hatte träumen lassen.Am folgenden Morgen war das ganze Volk von Abdera
reisefertig. Alles was sie von ihren Habseligkeiten nicht mitnehmen
konnten, ließen sie ohne Bedauern in ihren Häusern
zurück; so ungeduldig waren sie an einen Ort zu ziehen, wo
sie weder von Fröschen noch Mäusen mehr geplagt werden
würden.Am vierten Morgen ihrer Auswanderung begegnete ihnen
der König Kassander. Man hörte das Getöse ihres Zugs von
weitem, und der Staub, den sie erregten, verfinsterte das
Tageslicht. Kassander befahl den Seinigen Halt zu machen,
und schickte jemand aus, sich zu erkundigen was es wäre.Gnädigster Herr, sagte der zurückkommende Abgeschickte,
es sind die Abderiten, die vor Fröschen und Mäusen nicht
mehr in Abdera zu bleiben wußten, und einen andern Wohnplatz
suchen.Wenn's dieß ist, so sind's gewiß die Abderiten, sagte
Kassander.Indem erschien Onokradias an der Spitze einer Deputation
von Rathsmännern und Bürgern, dem König ihr Anliegen
vorzutragen.Die Sache kam Kassandern und seinen Höflingen so lustig
vor, daß sie sich, mit aller ihrer Höflichkeit, nicht enthalten
konnten, den Abderiten laut ins Gesicht zu lachen; und die
Abderiten, wie sie den ganzen Hof lachen sahen, hielten es
für ihre Schuldigkeit mitzulachen.Kassander versprach ihnen seinen Schutz, und wies ihnen
einen Ort an den Gränzen von Macedonien an, wo sie sich
so lange aufhalten könnten, bis sie Mittel gefunden haben
würden, mit den Fröschen und Mäusen ihres Vaterlandes
einen billigen Vergleich zu treffen.Von dieser Zeit an weiß man wenig mehr als nichts von
den Abderiten und ihren Begebenheiten. Doch ist so viel gewiß,
daß sie einige Jahre nach dieser seltsamen Auswanderung
(deren historische Gewißheit durch das Zeugniß des von Justinus
in einen Auszug gebrachten Geschichtschreibers Trogus
Pompejus B. 15. K. 2. außer allem Zweifel gesetzt wird) wieder
nach Abdera zurückzogen. Allem Vermuthen nach müssen
sie die Ratten in ihren Köpfen, die sonst immer mehr Spuk
darin gemacht hatten als alle Ratten und Frösche in ihrer
Stadt und Landschaft, in Macedonien zurückgelassen haben.
Denn von dieser Epoche an sagt die Geschichte weiter nichts
von ihnen, als daß sie, unter dem Schutze der Macedonischen
Könige und der Römer, verschiedene Jahrhunderte durch ein
stilles und geruhiges Leben geführt, und, da sie weder witziger
noch dümmer gewesen als andre Municipalen ihresgleichen,
den Geschichtschreibern keine Gelegenheit gegeben weder Böses
noch Gutes von ihnen zu sagen.Um übrigens unsern geneigten Lesern eine vollkommne
Probe unsrer Aufrichtigkeit zu geben, wollen wir ihnen unverhalten
lassen, daß — wofern der ältere Plinius und sein
aufgestellter Gewährsmann Varro hierin Glauben verdienten
—Abdera nicht die einzige Stadt in der Welt gewesen wäre,
die von so unansehnlichen Feinden, als Frösche und Mäuse
sind, ihren natürlichen Einwohnern abgejagt wurden. Denn
Varro soll nicht nur einer Stadt in Spanien erwähnen, die
von Kaninchen, und einer andern, die von Maulwürfen zerstört
worden, sondern auch einer Stadt in Gallien, deren Einwohner,
wie die Abderiten, den Fröschen hätten weichen müssen.
Allein, da Plinius weder die Stadt, welcher dieß Unglück
begegnet seyn soll, mit Namen nennt, noch ausdrücklich sagt,
aus welchem von den unzähligen Werken des gelehrten Varro
er diese Anekdote genommen habe: so glauben wir der Ehrerbietung,
die man diesem großen Manne schuldig ist, nicht zu
nahe zu treten, wenn wir vermuthen, daß sein Gedächtniß
(auf dessen Treue er sich nicht selten zu viel verließ) ihm
für Thracien Gallien untergeschoben habe; und daß die Stadt,
von welcher beim Varro die Rede war, keine andre gewesen
als unser Abdera selbst.Und hiermit sey denn der Gipfel auf das Denkmal gesetzt,
welches wir dieser einst so berühmten und nun schon so viele
Jahrhunderte lang wieder vergess'nen Republik zu errichten
ohne Zweifel von einem für ihren Ruhm sorgenden Dämon
angetrieben worden; nicht ohne Hoffnung, daß es, ungeachtet
es aus so leichten Materialien, als die seltsamen Launen
und jovialischen Narrheiten der Abderiten, zusammengesetzt
ist, so lange dauern werde, bis unsre Nation den glücklichen
Zeitpunkt erreicht haben wird, wo diese Geschichte niemand
mehr angehen, niemand mehr unterhalten, niemand mehr
verdrießlich und niemand mehr aufgeräumt machen wird; mit
Einem Worte, wo die Abderiten niemand mehr ähnlich sehen,
und also ihre Begebenheiten eben so unverständlich seyn werden,
als uns Geschichten aus einem andern Planeten seyn
würden; ein Zeitpunkt, der nicht mehr weit entfernt seyn
kann, wenn die Knaben der ersten Generation des neunzehnten
Jahrhunderts nur um eben so viel weiser seyn werden, als
die Knaben im letzten Viertel des achtzehnten sich weiser
als die Männer des vorhergehenden dünken — oder wenn
alle die Erziehungsbücher, womit wir seit zwanzig Jahren so
reichlich beschenkt worden sind und täglich noch beschenkt werden,
nur den zwanzigsten Theil der herrlichen Wirkungen
thun, die uns die wohlmeinenden Verfasser hoffen lassen.—————
Der SchlüsselzurAbderiten-Geschichte.1781.Als die Homerischen Gedichte unter den Griechen bekannt
worden waren, hatte das Volk —das in vielen Dingen
mit seinem schlichten Menschenverstande richtiger zu sehen
pflegt als die Herren mit bewaffneten Augen — gerade Verstand
genug, um zu sehen daß in diesen großen heroischen
Fabeln, ungeachtet des Wunderbaren, Abenteuerlichen und
Unglaublichen, womit sie reichlich durchwebt sind, mehr Weisheit
und Unterricht fürs praktische Leben liege, als in allen
Milesischen Ammenmährchen; und wir sehen aus Horazens
Brief an Lollius, und aus dem Gebrauch, welchen Plutarch
von jenen Gedichten macht und zu machen lehrt, daß noch
viele Jahrhunderte nach Homer die verständigsten Weltleute
unter Griechen und Römern der Meinung waren, daß man,
was recht und nützlich, was unrecht und schädlich sey, und
wie viel ein Mann durch Tugend und Weisheit vermöge, so
gut und noch besser aus Homers Fabeln lernen könne, als
aus den subtilsten und beredtesten Sittenlehrern. Man überließ
es alten Kindsköpfen (denn die jungen belehrte man
eines Bessern), an dem bloßen materiellen Theil der Dichtung
kleben zu bleiben; verständige Leute fühlten und erkannten
den Geist, der in diesem Leibe webte, und ließen sich's nicht
einfallen, scheiden zu wollen was die Muse untrennbar zusammengefügt
hatte, das Wahre unter der Hülle des Wunderbaren,
und das Nützliche, durch eine Mischungskunst, die
nicht allen geoffenbart ist, vereinbart mit dem Schönen und
Angenehmen.Wie es bei allen menschlichen Dingen geht, so ging es
auch hier. Nicht zufrieden, in Homers Gedichten warnende
oder aufmunternde Beispiele, einen lehrreichen Spiegel des
menschlichen Lebens in seinen mancherlei Ständen, Verhältnissen
und Scenen zu finden, wollten die Gelehrten späterer
Zeiten noch tiefer eindringen, noch mehr sehen als ihre Vorfahren;
und so entdeckte man (denn was entdeckt man nicht,
wenn man sich's einmal in den Kopf gesetzt hat etwas zu
entdecken?) in dem was nur Beispiel war Allegorie, in allem,
sogar in den bloßen Maschinen und Decorationen des poetischen
Schauplatzes, einen mystischen Sinn, und zuletzt in jeder
Person, jeder Begebenheit, jedem Gemälde, jeder kleinen
Fabel, Gott weiß was für Geheimnisse von Hermetischer,
Orphischer und Magischer Philosophie, an die der gute Dichter
gewiß so wenig gedacht hatte, als Virgil, daß man zwölfhundert
Jahre nach seinem Tode mit seinen Versen die bösen
Geister beschwören würde.Inmittelst wurde es unvermerkt zu einem wesentlichen
Erforderniß eines epischen Gedichts (wie man die größern
und heroischen poetischen Fabeln zu nennen pflegt), daß es
außer dem natürlichen Sinn und der Moral, die es beim
ersten Anblick darbot, noch einen andern geheimen und allegorischen
haben müsse. Wenigstens gewann diese Grille bei
den Jtalienern und Spaniern die Oberhand; und es ist mehr
als lächerlich, zu sehen, was für eine undankbare Mühe sich
die Ausleger oder auch wohl die Dichter selbst geben, um
aus einem Amadis und Orlando, aus Triffins befreitem
Italien oder Camoens' Lusiade, ja sogar aus dem Adone des
Marino, alle Arten metaphysischer, politischer, moralischer,
physischer und theologischer Allegorien herauszuspinnen.Da es nun nicht die Sache der Leser war, in diese Geheimnisse
aus eigner Kraft einzudringen, so mußte man ihnen,
wenn sie so herrlicher Schätze nicht verlustig werden sollten,
nothwendig einen Schlüssel dazu geben; und dieser war eben
die Exposition des allegorischen oder mystischen Sinnes; wiewohl
der Dichter gewöhnlicherweise erst wenn er mit dem
ganzen Werke fertig war, daran dachte was für versteckte
Aehnlichkeiten und Beziehungen sich etwa aus seinen Dichtungen
herauskünsteln lassen könnten.Was bei vielen Dichtern bloße Gefälligkeit gegen eine
herrschende Mode war, über welche sie sich nicht hinwegzusetzen
wagten, wurde für andre wirklicher Zweck und Hauptwerk.
Der berühmte Zodiacus vitae des sogenannten Palingenius,
die Argenis des Barkley, Spencers Feenkönigin, die
neue Atlantis der Dame Manley, die Malabarischen Prinzessinnen,
das Mährchen von der Tonne, die Geschichte von
Johann Bull, und eine Menge andrer Werke dieser Art, woran
besonders das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert fruchtbar
gewesen ist, waren ihrer Natur und Absicht nach allegorisch,
und konnten also ohne Schlüssel nicht verstanden
werden; wiewohl einige derselben, z. B. Spencers Feenkönigin
und die allegorischen Satyren des Dr. Swift, so beschaffen
sind, daß eine jede verständige und der Sachen kundige
Person den Schlüssel dazu ohne fremde Beihülfe in ihrem
eignen Kopfe finden kann.Diese kurze Deduction wird mehr als hinlänglich seyn,
um denen, die noch nie daran gedacht haben, begreiflich zu
machen, wie es zugegangen sey, daß sich unvermerkt eine Art
von gemeinem Vorurtheil und wahrscheinlicher Meinung in
den meisten Köpfen festgesetzt hat, als ob ein jedes Buch,
das einem satirischen Roman ähnlich sieht, mit einem versteckten
Sinn begabt sey, und also einen Schlüssel nöthig habe.Daher hat denn auch der Herausgeber der gegenwärtigen
Geschichte, wie er gewahr wurde, daß die meisten unter der
großen Menge von Lesern, welche sein Werk zu finden die Ehre
gehabt hat, sich fest überzeugt hielten, daß noch etwas mehr
dahinter stecken müsse als was die Worte beim ersten Anblick
zu besagen scheinen, und also einen Schlüssel zu der Abderitengeschichte,
als ein unentbehrliches Bedürfniß zu vollkommner
Verständniß des Buches, zu erhalten wünschten, sich dieses ihm
häufig zu Ohren kommende Verlangen seiner Leser keineswegs
befremden lassen; sondern er hat es im Gegentheil für eine
Aufmerksamkeit die er ihnen schuldig sey gehalten, demselben,
so viel an ihm lag, ein Genüge zu thun, und ihnen, als einen
Schlüssel, oder statt des verlangten Schlüssels (welches im
Grunde auf Eins hinausläuft), alles mitzutheilen, was zu
gründlicher Verständniß und nützlichem Gebrauch dieses zum
Vergnügen aller Klugen und zur Lehre und Züchtigung aller
Narren geschriebenen Werkes dienlich seyn kann.Zu diesem Ende findet er nöthig, ihnen vor allen Dingen
die Geschichte der Entstehung desselben, unverfälscht und mit
den eignen Worten des Verfassers (eines zwar wenig gekannten,
aber seit dem Jahr 1753 sehr stark gelesenen Schriftstellers)
mitzutheilen."Es war (so lautet sein Bericht)— es war ein schöner
Herbstabend im Jahr 177*; ich befand mich allein in dem
obern Stockwerk meiner Wohnung und sah — (warum sollt'
ich mich schämen zu bekennen wenn mir etwas Menschliches
begegnet?) vor langer Weile zum Fenster hinaus; denn schon
seit vielen Wochen hatte mich mein Genius gänzlich verlassen.
Ich konnte weder denken noch lesen. Alles Feuer meines Geistes
schien erloschen, alle meine Laune, gleich einem flüchtigen
Salze, verduftet zu seyn. Ich war oder fühlte mich wenigstens
dumm, aber ach! ohne an den Seligkeiten der Dummheit
Theil zu haben, ohne einen einzigen Gran von dieser stolzen
Zufriedenheit mit sich selbst, dieser unerschütterlichen Ueberzeugung,
welche gewisse Leute versichert, daß alles was sie denken,
sagen, träumen und im Schlaf reden, wahr, witzig, weise,
und in Marmor gegraben zu werden würdig sey — einer
Ueberzeugung, die den ächten Sohn der großen Göttin wie
ein Muttermal, kennbar und zum glücklichsten aller Menschen
macht. Kurz, ich fühlte meinen Zustand, und er lag schwer
auf mir; ich schüttelte mich vergebens; und es war (wie gesagt)
so weit mit mir gekommen, daß ich durch ein ziemlich
unbequemes kleines Fenster in die Welt hinausguckte, ohne zu
wissen was ich sah, oder etwas zu sehen das des Wissens oder
Sehens werth gewesen wäre."Auf einmal war mir, als höre ich eine Stimme — ob
es Wahrheit oder Täuschung war, will ich nicht entscheiden —
die mir zurief: setze dich und schreibe die Geschichte der Abderiten!"Und plötzlich ward es Licht in meinem Kopfe. — Ja, ja,
dacht' ich, die Abderiten! Was kann natürlicher seyn? Die
Geschichte der Abderiten will ich schreiben! Wie war es doch
möglich, daß mir ein so simpler Einfall nicht schon längst
gekommen ist? Und nun setzte ich mich auf der Stelle hin,
und schrieb, und schlug nach, und compilirte, und ordnete zusammen,
und schrieb wieder; und es war eine Lust zu sehen,
wie flink mir das Werk von den Händen ging."Indem ich nun so im besten Schreiben war (fährt unser
Verfasser in seiner treuherzigen Beichte fort), kam mir in
einem Capriccio, oder Laune, oder wie man's sonst nennen
will, der Einfall, meiner Phantasie den Zügel schießen zu lassen,
und die Sachen so weit zu treiben als sie gehen könnten.
Es betrifft ja nur die Abderiten, dacht' ich, und an den Abderiten
kann man sich nicht versündigen: sie sind ja doch am
Ende weiter nichts als ein Pack Narren; die Albernheiten, die
ihnen die Geschichte zur Last legt, sind groß genug, um das
Ungereimteste, was du ihnen andichten kannst, zu rechtfertigen."Ich gesteh' es also unverhohlen, — und wenn's unrecht
war, so verzeihe mir's der Himmel! — ich strengte alle
Stränge meiner Erfindungskraft bis zum Reißen an, um die
Abderiten so närrisch denken, reden und sich betragen zu lassen,
als es nur möglich wäre. Es ist ja schon über zweitausend
Jahre, daß sie allesammt todt und begraben sind, sagte ich zu mir
selbst; es kann weder ihnen noch ihrer Nachkommenschaft schaden,
denn auch von dieser ist schon lange kein Gebein mehr übrig."Zu diesem allem kam noch eine andre Vorstellung, die
mich durch einen gewissen Schein von Gutherzigkeit einnahm.
Je närrischer ich sie mache, dacht' ich, je weniger habe ich zu besorgen,
daß man die Abderiten für eine Satyre halten, und
Anwendungen davon auf Leute machen wird, die ich doch wohl
nicht gemeint haben kann, da mir ihr Daseyn nicht einmal
bekannt ist. — Aber ich irrte mich sehr, indem ich so schloß.
Der Erfolg bewies, daß ich unschuldigerweise Abbildungen gemacht
hatte, da ich nur Phantasien zu malen glaubte."Man muß gestehen, dieß war einer der schlimmsten
Streiche, die einem Autor begegnen können, der keine List in
seinem Herzen hat, und, ohne irgend eine Seele ärgern oder
betrüben zu wollen, bloß sich selbst und seinem Nebenmenschen
die lange Weile zu vertreiben sucht. Gleichwohl war dieß, was
dem Verfasser der Abderiten schon mit den ersten Kapiteln
seines Werkleins begegnete. Es ist vielleicht keine Stadt in
Deutschland, und so weit die natürlichen Gränzen der Deutschen
Sprache gehen (welches, im Vorbeigehen gesagt, eine
größere Strecke Landes ist, als irgend eine andre Europäische
Sprache inne zu haben sich rühmen kann), wo die Abderiten
nicht Leser gefunden haben sollten; und wo man sie las, da
wollte man die Originale zu den darin vorkommenden Bildern
gesehen haben."In tausend Orten (sagt der Verfasser), wo ich weder
selbst jemals gewesen bin noch die mindeste Bekanntschaft habe,
wunderte man sich, woher ich die Abderiten, Abderitinnen und
Abderismen dieser Orte und Enden so genau kenne; und man
glaubte, ich müßte schlechterdings einen geheimen Briefwechsel
oder einen kleinen Cabinetsteufel haben, der mir Anekdoten
zutrüge, die ich mit rechten Dingen nicht hätte erfahren können.
Nun wußte ich (fuhr er fort) nichts gewisser, als daß
ich weder diesen noch jenen hatte: folglich war klar wie Tageslicht,
daß das alte Völkchen der Abderiten nicht so gänzlich
ausgestorben war, als ich mir eingebildet hatte."Diese Entdeckung veranlaßte den Autor Nachforschungen
anzustellen, welche er für unnöthig gehalten, so lang' er bei
Verfassung seines Werkes mehr seine eigne Phantasie und
Laune als Geschichte und Urkunden zu Rathe gezogen hatte.
Er durchstöberte manche große und kleine Bücher ohne sonderlichen
Erfolg, bis er endlich in der sechsten Dekade des berühmten
Hafen Slawkenbergius S. 864 folgende Stelle fand,
die ihm einigen Aufschluß über diese unerwarteten Ereignisse
zu geben schien."Die gute Stadt Abdera in Thracien (sagt Slawkenbergius
am angeführten Orte), ehmals eine große, volkreiche,
blühende Handelsstadt, das Thracische Athen, die Vaterstadt
eines Protagoras und Demokritus, das Paradies der Narren
und der Frösche, diese gute schöne Stadt Abdera — ist nicht
mehr. Vergebens suchen wir sie in den Landkarten und Beschreibungen
des heutigen Thraciens; sogar der Ort, wo sie ehmals
gestanden, ist unbekannt, oder kann wenigstens nur durch
Muthmaßungen angegeben werden."Aber nicht so die Abderiten! Diese leben und weben
noch immerfort, wiewohl ihr ursprünglicher Wohnsitz längst
von der Erde verschwunden ist. Sie sind ein unzerstörbares,
unsterbliches Völkchen; ohne irgendwo einen festen Sitz zu
haben, findet man sie allenthalben; und wiewohl sie unter
allen Völkern zerstreut leben, haben sie sich doch bis auf diesen
Tag rein und unvermischt erhalten, und bleiben ihrer alten
Art und Weise so getreu, daß man einen Abderiten, wo man
ihn auch antrifft, nur einen Augenblick zu sehen und zu hören
braucht, um eben so gewiß zu sehen und zu hören daß er ein
Abderit ist, als man es zu Frankfurt und Leipzig, Konstantinopel
und Aleppo einem Juden anmerkt daß er ein Jude ist."Das Sonderbarste aber, und ein Umstand, worin sie sich
von den Israeliten, Beduinen, Armeniern und allen andern
unvermischten Völkern wesentlich unterscheiden, ist dieses: daß
sie sich ohne mindeste Gefahr ihrer Abderitheit mit allen übrigen
Erdbewohnern vermischen, und, wiewohl sie allenthalben
die Sprache des Landes, wo sie wohnen, reden, Staatsverfassung,
Religion und Gebräuche mit den Nichtabderiten gemein
haben, auch essen und trinken, handeln und wandeln, sich kleiden
und putzen, sich frisiren und parfümiren, purgiren und klysterisiren
lassen, kurz, alles was zur Nothdurft des menschlichen
Lebens gehört ungefähr ebenso machen — wie andre Leute; daß
sie, sage ich, nichtsdestoweniger in allem, was sie zu Abderiten
macht, sich selbst so unveränderlich gleich bleiben, als ob sie von
jeher durch eine diamantne Mauer, dreimal so hoch und dick
als die Mauern des alten Babylon, von den vernünftigen
Geschöpfen auf unserm Planeten abgesondert gewesen wären.
Alle andern Menschen-Racen verändern sich durch Verpflanzung,
und zwei verschiedne bringen durch Vermischung eine
dritte hervor. Aber an den Abderiten, wohin sie auch verpflanzt
wurden und so viel sie sich auch mit andern Völkern vermischt
haben, hat man nie die geringste wesentliche Veränderung wahrnehmen
können. Sie sind allenthalben immer noch die nämlichen
Narren, die sie vor zweitausend Jahren zu Abdera waren:
und wiewohl man schon längst nicht mehr sagen kann, siehe,
hier ist Abdera oder da ist Abdera; so ist doch in Europa, Asia,
Afrika und Amerika, so weit diese großen Erdviertel policirt
sind, keine Stadt, kein Marktflecken, Dorf noch Dörfchen, wo
nicht einige Glieder dieser unsichtbaren Genossenschaft anzutreffen
seyn sollten." — So weit besagter Hafen Slawkenbergius."Nachdem ich diese Stelle gelesen hatte, fährt unser Verfasser
fort, hatte ich nun auf einmal den Schlüssel zu den vorbesagten
Erfahrungen, die mir ersten Anblicks so unerklärbar
vorgekommen waren; und so wie der Slawkenbergische Bericht
das, was mir mit den Abderiten begegnet war, begreiflich
machte, so bestätigte dieses hinwieder die Glaubwürdigkeit von
jenem. Die Abderiten hatten also einen Samen hinterlassen,
der in allen Landen aufgegangen war, und sich in eine sehr zahlreiche
Nachkommenschaft ausgebreitet hatte: und da man beinahe
allenthalben die Charaktere und Begebenheiten der alten
Abderiten für Abbildungen und Anekdoten der neuen ansah;
so erwies sich dadurch auch die seltsame Eigenschaft der Einförmigkeit
und Unveränderlichkeit, welche dieses Volk, nach dem
angeführten Zeugnisse, von andern Völkern des festen Landes
und der Inseln des Meeres unterscheidet."Die Nachrichten, die mir hierüber von allen Orten zukamen,
gereichten mir aus einem doppelten Grunde zu großem
Trost: erstens, weil ich mich nun auf einmal von allem innerlichen
Vorwurf, den Abderiten vielleicht zu viel gethan zu
haben, erleichtert fand; und zweitens, weil ich vernahm, daß
mein Werk überall (auch von den Abderiten selbst) mit Vergnügen
gelesen und besonders die treffende Aehnlichkeit zwischen
den alten und neuen bewundert werde, welche den letztern,
als ein augenscheinlicher Beweis der Aechtheit ihrer Abstammung,
allerdings sehr schmeichelhaft seyn mußte. Die Wenigen,
welche sich beschwert haben sollen, daß man sie zu ähnlich
geschildert habe, kommen in der That gegen die Menge derer,
die zufrieden sind, in keine Betrachtung; und auch diese Wenigen
thäten vielleicht besser, wenn sie die Sache anders nähmen.
Denn da sie, wie es scheint, nicht gern für das angesehen
seyn wollen was sie sind, und sich deßwegen in die Haut
irgend eines edlern Thieres gesteckt haben: so erfordert die
Klugheit, daß sie ihre Ohren nicht selbst hervorstrecken, um eine
Aufmerksamkeit auf sich zu erregen, die nicht zu ihrem Vortheil
ausfallen kann."Auf der andern Seite aber ließ ich mir auch den Umstand,
daß ich die Geschichte der alten Abderiten gleichsam unter den
Augen der neuern schrieb, zu einem Beweggrunde dienen, meine
Einbildungskraft, die ich anfangs bloß ihrer Willkür überlassen
hatte, kürzer im Zügel zu halten, mich vor allen Carricaturen
sorgfältig zu hüten, und den Abderiten, in allem was ich von
ihnen erzählte, die strengste Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Denn ich sah mich nun als den Geschichtschreiber der Alterthümer
einer noch fortblühenden Familie an, welche berechtigt
wäre, es übel zu vermerken, wenn man ihren Vorfahren irgend
etwas ohne Grund und gegen die Wahrheit aufbürdete."Die Geschichte der Abderiten kann also mit gutem Fug als
eine der wahresten und zuverlässigsten, und eben darum als
ein getreuer Spiegel betrachtet werden, worin die neuern ihr
Antlitz beschauen, und, wenn sie nur ehrlich gegen sich selber
seyn wollen, genau entdecken können, inwiefern sie ihren Vorfahren
ähnlich sind. Es wäre sehr überflüssig, von dem Nutzen,
den das Werk in dieser Rücksicht so lange als es noch Abderiten
geben wird — und dieß wird vermuthlich lange genug
seyn — stiften kann und muß, viele Worte zu machen. Wir
bemerken also nur, daß es beiläufig auch noch diesen Nutzen
haben könnte, die Nachkömmlinge der alten Deutschen unter
uns behutsamer zu machen, sich vor allem zu hüten was den
Verdacht erwecken könnte, als ob sie entweder aus Abderitischem
Blute stammten, oder aus übertriebner Bewundrung der
Abderitischen Art und Kunst und daher entspringender Nachahmungssucht,
sich selbst Aehnlichkeiten mit diesem Volke geben
wollten, wobei sie aus vielerlei Ursachen wenig zu gewinnen
hätten.Und dieß, werthe Leser, wäre also der versprochne Schlüssel
zu diesem merkwürdigen Originalwerke, mit beigefügter
Versicherung, daß nicht das kleinste geheime Schubfach darin
ist, welches Sie mit diesem Schlüssel nicht sollten aufschließen
können; und wofern Ihnen jemand ins Ohr raunen wollte,
daß noch mehr darin verborgen sey, so können Sie sicherlich
glauben, daß er entweder nicht weiß was er sagt, oder nichts
Gutes im Schilde führt.— SAPIENTIA PRIMA EST STULTITIA CARUISSE. ——————
Anmerkungendes zweiten Theils.Viertes Buch.
S. 19. Z. 19. Die Dame Struthion — Wir wissen
wohl daß dies nicht à. la Grecque gesprochen ist; aber die Dame Struthion
ist wie Frau Damon in unsern Komödien: und was liegt dem
Leser daran, wie die Zahnärztin mit ihrem eigenen Namen geheißen
haben mag? W.
S. 33. Z. 20. Philippen — Goldstücke mit dem Brustbild des
Königes Philippos von Macedonien. G.
S. 58. Z. 8. Onoskiamachie — Eselsschattenkrieg, mit Anspielung
auf die älteste Parodie Homers, die Batrachomyomachie, Frosch-
und Mäuse-Krieg. G.
S. 90. Z. 17. Feigenredner — Komische Uebersetzung von
Sykophant. G.
Gorgias, aus Leontium in Sicilien, scharfsinniger Kopf und spitzfindiger
Dialektiker, einer der berühmtesten Sophisten. G.Fünftes Buch.
S. 121. Z. 8. Deisibatrachie — Froschfurcht, mit Anspielung
auf die früher erwähnte Deisidämonie, um das falsch Religiöse noch
lächerlicher darzustellen. G.
S. 130. Z. 4. Ich rede blos menschlicher Weise — Dieser
Wendung bedient sich Platon öfters, wahrscheinlich zur Sicherstellung
gegen Priester und Vorsteher der Mysterien. Uebrigens kommt schon
bei Homer vor, das manches in der Sprache der Götter anders heiße
als in der Sprache der Menschen, welches zu erklären hier der Ort
nicht ist. G.
S. 142. Z. 27. Insel Atlantis, die der Urwelt angehört,
ist nach den Nachrichten, welche Platon davon im Kritias und
Timäos gegeben hat, bei einer der Katastrophen der Urwelt völlig untergegangen.
G.S. 143. Z. 3. Wanderungen der Insel Delos — Delos soll
anfänglich eine schwimmende Insel gewesen seyn. Heute, heißt es, hatten
Schiffer sie hier gesehen, morgen war sie nicht mehr da; sie war also
erst άδηλος, verborgen, und wurde erst δηλος, d. i. offenbar, nachdem
Apollon und Artemis auf ihr geboren waren. S. den Hymnus des Kallimachos
auf Delos. G.
S. 180. Z. 2. Batrachosebisten — Froschselige. G.
S. 185. Z. 27. Batrachophagen — Froschfresser. G.
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