C. M. Wieland's
Werke.Dreizehnter Band.
Leipzig.G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.1855.
Buchdruckerei der J. G. Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart und Augsburg.
Inhalt
des ersten Theils.
Seite
Erstes Buch. Demokritus unter den Abderiten.Erstes Kap.
Vorläufige Nachrichten vom Ursprung der Stadt Abdera
und dem Charakter ihrer Einwohner . . . . . . . . . 5
Zweites Kap. Demokritus von Abdera. Ob und wieviel
seine Vaterstadt berechtigt war, sich etwas auf
ihn einzubilden?. . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Drittes Kap. Was Demokrit für ein Mann war. Seine
Reisen. Er kommt nach Abdera zurück. Was er
mitbringt, und wie er aufgenommen wird. Ein Examen,
das sie mit ihm vornehmen, welches zugleich eine
Probe einer Abderitischen Conversation ist . . . . 20
Viertes Kap. Das Examen wird fortgesetzt, und
verwandelt sich in eine Disputation über die Schönheit,
wobei Demokriten sehr warm gemacht wird . . . . . . 27
Fünftes Kap. Unerwartete Auslösung des Knotens,
mit einigen neuen Beispielen von Abderitischem Witz 40
Sechstes Kap. Eine Gelegenheit für den Leser, um
sein Gehirn aus der schaukelnden Bewegung des
vorigen Kapitels wieder in Ruhe zu setzen . . . . . 46
Siebentes Kap. Patriotismus der Abderiten. Ihre
Vorneigung für Athen, als ihre Mutterstadt. Ein paar
Proben von ihrem Atticismus, und von der unangenehmen
Aufrichtigkeit des weisen Demokrit . . . . . . . . .49
Achtes Kap. Vorläufige Nachricht von den Abderitischen
Schauspielwesen. Demokrit wird genöthigt, seine
Meinung davon zu sagen . . . . . . . . . . . . . . 53
Neuntes Kap. Gute Gemüthsart der Abderiten, und wie
sie sich an Demokrit wegen seiner Unhöflichkeit zu
rächen wissen. Eine seiner Strafpredigten zur Probe.
Die Abderiten machen ein Gesetz gegen alle Reisen,
wodurch ein Seite Abderitisches Mutterkind hätte
klüger werden können. Merkwürdige Art wie der
Nomophylax Gryllus eine aus diesem Gesetz entstandene
Schwierigkeit auslöst . . . . . . . . . . . . . . . 61
Zehntes Kap. Demokrit zieht sich aufs Land zurück,
und wird von den Abderiten fleißig besucht. Allerlei
Raritäten, und eine Unterredung vom Schlaraffenlande
der Sittenlehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . .68
Eilftes Kap. Etwas von den Abderitischen Philosophen,
und wie Demokrit das Unglück hat, sich mit ein paar
wohlgemeinten Worten in sehr schlimmen Credit zu sehen81
Zwölftes Kap. Demokrat zieht sich weiter von Abdera
zurück. Wie er sich in seiner Einsamkeit beschäftigt.
Er kommt bei den Abderiten in den Verdacht daß er
Zauberkünste treibe. Ein Experiment, das er bei dieser
Gelegenheit mit den Abderitischen Damen macht, und
wie es abgelaufen. . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Dreizehntes Kap. Demokrit soll die Abderitinnen die
Sprache der Vögel lehren. Im Vorbeigehen eine Probe,
wie sie ihre Tochter bildeten . . . . . . . . . . . 103
Zweites Buch. Hippokrates in Abdera.Erstes Kap. Eine
Abschweifung über den Charakter und die Philosophie
des Demokritus, welche wir den Leser nicht zu
überschlagen bitten . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Zweites Kap. Demokrit wird eines schweren Verbrechens
beschuldigt, und von einem seiner Verwandten damit
entschuldigt, daß er seines Verstandes nicht recht
mächtig sey. Wie er das Ungewitter, welches ihm der
Priester Strobylus zubereiten wollte, noch zu rechter
Zeit ableitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
Drittes Kap. Eine kleine Abschweifung in die
Regierungszeit Schach-Bahams des Weisen. Charakter
des Rathsherrn Thrasyllus . . . . . . . . . . . . . 127
Viertes Kap. Kurze, doch hinlängliche, Nachrichten
von den Abderitischen Sykophanten. Ein Fragment aus
der Rede, worin Thrasyllus um die Bevogtung seines
Vetters ansucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Fünftes Kap. Die Sache wird auf ein medicinisches
Gutachten ausgestellt. Der Senat läßt ein Schreiben
an den Hippokrates abgehen. Der Arzt kommt in Abdera
an, erscheint Seite vor Rath, wird vom Rathsherrn
Thrasyllus zu einem Gastgebot gebeten, und hat —
lange Weile. Ein Beispiel, daß ein Beutel voll
Dariken nicht bei allen Leuten anschlägt . . . . . .140
Sechstes Kap. Hippokrates legt einen Besuch bei
Demokraten ab. Geheimnachrichten von dem uralten
Orden der Kosmopoliten. . . . . . . . . . . . . . . 146
Siebentes Kap. Hippokrates ertheilt den Abderiten
seinen gutächtlichen Rath. Große und gefährliche
Bewegungen, die darüber im Senat entstehen, und wie,
zum Glück für das Abderitische Gemeinwesen, der
Stundenrufer alles auf einmal wieder in Ordnung
bringt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .152
Drittes Buch. Euripides unter den Abderiten.Erstes
Kap. Die Abderiten machen sich fertig in die Komödie
zu gehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .163
Zweites Kap. Nähere Nachrichten von dem Abderitischen
Nationaltheater Geschmack der Abderiten. Charakter
des Nomophylax Gryllus . . . . . . . . . . . . . . .168
Drittes Kap. Beiträge zur Abderitischen
Literaturgeschichte. Nachrichten von ihren ersten
theatralischen Dichtern, Hyperbolus, Paraspasmus,
Antiphilus und Thlaps . . . . . . . . . . . . . . . 178
Viertes Kap. Merkwürdiges Beispiel von der guten
Staatswirthschaft der Abderiten. Beschluß der
Digression über ihr Theaterwesen . . . . . . . . . .186
Fünftes Kap. Die Andromeda des Euripides wird aufgeführt.
Großer Succeß des Nomophylax, und was die Sängerin
Eukolpis dazu beigetragen. Ein paar Anmerkungen über
die übrigen Schauspieler, die Chöre und die Decoration190
Sechstes Kap. Sonderbares Nachspiel, das die Abderiten
mit einem unbekannten Fremden spielten, und dessen
höchst unvermuthete Entwickelung . . . . . . . . . .199
Siebentes Kap. Was den Euripides nach Abdera geführt
hatte, nebst einigen Geheimnachrichten von dem Hofe
zu Pella . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .212
Achtes Kap. Wie sich Euripides mit den Abderiten benimmt.
Sie machen einen Anschlag auf ihn, wobei sich ihre
politische Betriebsamkeit in einem starken Lichte zeigt,
und Seite der ihnen um so gewisser gelingen muß, weil
alle Schwierigkeiten, die sie dabei sehen, bloß
eingebildet sind . . . . . . . . . . . . . . . . . .216
Neuntes Kap. Euripides besieht die Stadt, wird mit dem
Priester Strobylus bekannt, und vernimmt von ihm die
Geschichte der Latonenfrösche. Merkwürdiges Gespräch,
welches bei dieser Gelegenheit zwischen Demokrat, dem
Priester und dem Dichter vorfällt . . . . . . . . . 225
Zehntes Kap. Der Senat zu Abdera gibt dem Euripides,
ohne daß er darum angesucht, Erlaubniß, eines seiner
Stücke auf dem Abderitischen Theater aufzuführen.
Kunstgriff,wodurch sich die Abderitische Kanzlei in
solchen Fällen zu helfen pflegte. Schlaues Betragen
des Nomophylax. Merkwürdige Art der Abderiten, einem,
der ihnen im Wege stand, allen Vorschub zu thun . . 234
Eilftes Kap. Die Andromeda des Euripides wird endlich
trotz aller Hindernisse von seinen eignen Schauspielern
aufgeführt. Außerordentliche Empfindsamkeit der
Abderiten, mit einer Digression, welche unter die
lehrreichsten in diesem ganzen Werke gehört, und
folglich von gar keinem Nutzen seyn wird . . . . . .239
Zwölftes Kap. Wie ganz Abdera vor Bewunderung und
Entzücken über die Andromeda des Euripides zu Narren
wurde. Philosophisch-kritischer Versuch über diese
seltsame Art von Phrenesie, welche bei den Alten
insgemein die Abderitische Krankheit genannt wird,
— den Geschichtschreibern ergebenst zugeeignet . . .243
Geschichte der Abderiten.
Erster Theil.
Vorbericht.Diejenigen, denen etwan daran gelegen seyn möchte, sich der
Wahrheit der bei dieser Geschichte zum Grunde liegenden
Thatsachen und charakteristischen Züge zu vergewissern, können
— wofern sie nicht Lust haben, solche in den Quellen selbst,
nämlich in den Werken eines Herodot, Diogenes Laërtius,
Athenäus, Aelian, Plutarch, Lucian, Paläphatus, Cicero,
Horaz, Petron, Juvenal, Valerius, Gellius, Solinus u. a.
aufzusuchen, —sich aus den Artikeln Abdera und Demokritus
in dem Bacchischen Wörterbuche überzeugen, daß diese Abderiten
nicht unter die wahren Geschichten im Geschmacke der Lucianischen
gehören. Sowohl die Abderiten, als ihr gelehrter Mitbürger
Demokrit, erscheinen hier in ihrem wahren Lichte: und
wiewohl der Verfasser, bei Ausfüllung der Lücken, Aufklärung
der dunkeln Stellen, Hebung der wirklichen und Vereinigung
der scheinbaren Widersprüche, die man in den vorbemeldeten
Schriftstellern findet, nach unbekannten Nachrichten gearbeitet
zu haben scheint, so werden doch scharfsinnige Leser gewahr
werden, daß er in allem diesem einem Gewährsmanne gefolget
ist, dessen Ansehen alle Aeliane und Athenäen zu Bowiegt, den
und gegen dessen einzelne Stimme das Zeugniß einer ganzen
Welt, und die Entscheidung aller Amphiktyonen, Areopagiten,
Decemvirn, Centumvirn und Ducentumvirn, auch Doctoren,
Magister und Baccalaureen, sammt und sonders ohne Wirkung
ist, nämlich der Natur selbst.Sollte man dieses kleine Werk als einen, wiewohl geringen,
Beitrag zur Geschichte des menschlichen Verstandes ansehen
wollen, so läßt sich's der Verfasser sehr wohl gefallen;
glaubt aber, daß es auch unter diesem so vornehm klingenden
Titel weder mehr noch weniger sey, als was alle Geschichtbücher
seyn müssen, wenn sie nicht sogar unter die schöne
Melusine herabsinken, und mit dem schalsten aller Mährchen
der Dame D'Aulnoy in einerlei Rubrik geworfen werden
wollen.—————
Erstes Buch.Demokritus unter den Abderiten.Erstes Kapitel.Vorläufige Nachrichten vom Ursprung der Stadt Abdera und dem
Charakter ihrer Einwohner.Das Alterthum der Stadt Abdera in Thracien verliert
sich in der fabelhaften Heldenzeit. Auch kann es uns sehr
gleichgültig seyn, ob sie ihren Namen von Abdera, einer Schwester
des berüchtigten Diomedes, Königs der Bistonischen Thracier,
— welcher ein so großer Liebhaber von Pferden war,
und deren so viele hielt, daß er und sein Land endlich von
seinen Pferden aufgefressen wurde, —oder von Abderus, einem
Stallmeister dieses Königs, oder von einem andern Abderus,
der ein Liebling des Herkules gewesen seyn soll, empfangen
habe.Abdera war, einige Jahrhunderte nach ihrer ersten Gründung,
vor Alter wieder zusammengefallen: als Timesius von
Klazomene, um die Zeit der einunddreißigsten Olympiade, es
unternahm, sie wieder aufzubauen. Die wilden Thracier,
welche keine Städte in ihrer Nachbarschaft aufkommen lassen
wollten, ließen ihm nicht Zeit, die Früchte seiner Arbeit zu
genießen. Sie trieben ihn wieder fort, und Abdera blieb unbewohnt
und unvollendet, bis (ungefähr um das Ende der
neunundfünfzigsten Olympiade) die Einwohner der Ionischen
Stadt Teos — weil sie keine Lust hatten, sich dem Eroberer
Cyrus zu unterwerfen — zu Schiffe gingen, nach Thracien
segelten, und, da sie in einer der fruchtbarsten Gegenden desselben
dieses Abdera schon gebauet fanden, sich dessen als einer
verlassenen und niemanden zugehörigen Sache bemächtigten,
auch sich darin gegen die Thracischen Barbaren so gut behaupteten,
daß sie und ihre Nachkommen von nun an Abderiten
hießen, und einen kleinen Freistaat ausmachten, der (wie die
meisten Griechischen Städte) ein zweideutiges Mittelding von
Demokratie und Aristokratie war, und regiert wurde — wie
kleine und große Republiken von jeher regiert worden sind."Wozu (rufen unsre Leser) diese Deductionen des Ursprungs
und der Schicksale der Stadt Abdera in Thracien? Was
kümmert uns Abdera? Was liegt uns daran, zu wissen oder
nicht zu wissen, wann, wie wo, warum, von wem, und zu
was Ende eine Stadt, welche längst nicht mehr in der Welt
ist, erbaut worden seyn mag?"Geduld! günstige Leser, Geduld, bis wir, eh' ich weiter
forterzähle, über unsre Bedingungen einig sind. Verhüte der
Himmel, daß man euch zumuthen sollte die Abderiten zu lesen,
wenn ihr gerade was Nöthigeres zu thun oder was Besseres
zu lesen habt! — "Ich muß auf eine Predigt studiren. —
Ich habe Kranke zu besuchen. — Ich hab' ein Gutachten,
einen Bescheid, eine Läuterung, einen unterthänigsten Bericht
zu machen. —Ich muß recensiren. — Mir fehlen noch sechzehn
Bogen an den vier Alphabeten, die ich meinem Verleger
binnen acht Tagen liefern muß. —Ich hab' ein Joch Ochsen
gekauft. — Ich hab' ein Weib genommen —" In Gottes
Namen! Studirt, besucht, referirt, recensirt, übersetzt, kauft
und freiet! —Beschäftigte Leser sind selten gute Leser. Bald
gefällt ihnen alles, bald nichts; bald verstehen sie uns halb,
bald gar nicht, bald (was noch schlimmer ist) unrecht. Wer
mit Vergnügen und Nutzen lesen will, muß gerade sonst nichts
andres zu thun noch zu denken haben. Und wenn ihr euch
in diesem Falle befindet: warum solltet ihr nicht zwei oder
drei Minuten daran wenden wollen, etwas zu wissen, was
einem Salmasius, einem Bayle, — und, um aufrichtig zu
seyn, mir selbst (weil mir nicht zu rechter Zeit einfiel, den
Artikel Abdera im Bayle nachzuschlagen) eben so viele Stunden
gekostet hat? Würdet ihr mir doch geduldig zugehört
haben, wenn ich euch die Historie vom König in Böhmenland,
der sieben Schlösser hatte, zu erzählen angefangen hätte.Die Abderiten also hätten (dem zufolge, was bereits von
ihnen gemeldet worden ist) ein so feines, lebhaftes, witziges
und kluges Völkchen seyn sollen, als jemals eines unter der
Sonne gelebt habt."Und warum dieß?"Diese Frage wird uns vermuthlich nicht von den gelehrten
unter unsern Lesern gemacht. Aber, wer wollte auch
Bücher schreiben, wenn alle Leser so gelehrt wären als der
Autor? Die Frage warum dieß? ist allemal eine sehr
vernünftige Frage. Sie verdient, wo die Rede von menschlichen
Dingen ist (mit den göttlichen ist's ein anderes), allemal eine
Antwort; und wehe dem, der verlegen oder beschämt oder
ungehalten wird, wenn er sich auf "warum dieß?" vernehmen
lassen soll! Wir unsers Orts würden die Antwort ungefordert
gegeben haben, wenn die Leser nicht so hastig gewesen wären.
Hier ist sie!Teos war eine Athenische Colonie, von den zwölfen oder
dreizehn eine, welche unter Anführung des Neleus, Kodrus
Sohns, in Ionien gepflanzt wurden.Die Athener waren von jeher ein muntres und geistreiches
Volk, und sind es noch, wie man sagt. Athener, nach
Ionien versetzt, gewannen unter dem schönen Himmel, der
dieses von der Natur verzärtelte Land umfließt, wie Burgunder-Reben
durch Verpflanzung aufs Vorgebirge der guten
Hoffnung. Vor allen andern Völkern des Erdbodens waren
die Ionischen Griechen die Günstlinge der Musen. Homer
selbst war, der größten Wahrscheinlichkeit nach, ein Ionier.
Die erotischen Gesänge, die Milesischen Fabeln (die Vorbilder
unsrer Novellen und Romane) erkennen Ionien für ihr Vaterland.
Der Horaz der Griechen, Alkäos, die glühende Sappho;
Anakreon, der Sänger — Aspasia, die Lehrerin — Apelles,
der Maler der Grazien, waren aus Ionien; Anakreon war
sogar ein geborner Tejer. Dieser letzte mochte etwa ein Jüngling
von achtzehn Jahren seyn (wenn anders Barnes recht
gerechnet hat), als seine Mitbürger nach Abdera zogen. Er
zog mit ihnen, und zum Beweise, daß er seine den Liebesgöttern
geweihte Leyer nicht zurückgelassen, sang er dort das
Lied an ein Thracisches Mädchen (in Barnesens Ausgabe das
einundsechzigste), worin ein gewisser wilder Thracischer Ton
gegen die Ionische Grazie, die seinen Liedern eigen ist, auf
eine ganz besondere Art absticht.Wer sollte nun nicht denken, die Tejer — in ihrem ersten
Ursprung Athener —so lange Zeit in Ionien einheimisch —
Mitbürger eines Anakreons —sollten auch in Thracien den
Charakter eines geistreichen Volkes behauptet haben? Allein
(was auch die Ursache davon gewesen seyn mag) das Gegentheil
ist außer Zweifel. Kaum wurden die Tejer zu Abderiten,
so schlugen sie aus der Art. Nicht daß sie ihre vormalige Lebhaftigkeit
ganz verloren und sich in Schöpfe verwandelt hätten,
wie Juvenal sie ungerechter Weise beschuldigt. Ihre Lebhaftigkeit
nahm nur eine wunderliche Wendung; denn ihre Einbildung
gewann einen so großen Vorsprung über ihre Vernunft,
daß es dieser niemals wieder möglich war, sie einzuholen.
Es mangelte den Abderiten nie an Einfällen: aber
selten paßten ihre Einfälle auf die Gelegenheit wo sie angebracht
wurden; oder kamen erst wenn die Gelegenheit vorbei
war. Sie sprachen viel, aber immer ohne sich einen Augenblick
zu bedenken was sie sagen wollten, oder wie sie es sagen
wollten. Die natürliche Folge hiervon war, daß sie selten den
Mund aufthaten, ohne etwas Albernes zu sagen. Zum Unglück
erstreckte sich diese schlimme Gewohnheit auch auf ihre
Handlungen; denn gemeiniglich schlossen sie den Käfig erst,
wenn der Vogel entflogen war. Dieß zog ihnen den Vorwurf
der Unbesonnenheit zu; aber die Erfahrung bewies, daß es
ihnen nicht besser ging wenn sie sich besannen. Machten sie
(welches sich ziemlich oft zutrug) irgend einen sehr dummen
Streich, so kam es immer daher, weil sie es gar zu gut
machen wollten; und wenn sie in den Angelegenheiten ihres
gemeinen Wesens recht lange und ernstliche Berathschlagungen
hielten, so konnte man sicher darauf rechnen, daß sie
unter allen möglichen Entschließungen die schlechteste ergreifen
würden.Sie wurden endlich zum Sprüchwort unter den Griechen.
Ein Abderitischer Einfall, ein Abderitenstückchen, war bei diesen
ungefähr, was bei uns ein Schildbürger- oder bei den Helvetiern
ein Lalleburgerstreich ist; und die guten Abderiten ermangelten
nicht, die Spötter und Lacher reichlich mit sinnreichen
Zügen dieser Art zu versehen. Für itzt mögen davon nur ein
paar Beispiele zur Probe dienen.Einsmals fiel ihnen ein, daß eine Stadt wie Abdera billig
auch einen schönen Brunnen haben müsse. Er sollte in die
Mitte ihres großen Marktplatzes gesetzt werden, und zu Bestreitung
der Kosten wurde eine neue Auflage gemacht. Sie
ließen einen berühmten Bildhauer von Athen kommen, um
eine Gruppe von Statuen zu verfertigen, welche den Gott
des Meeres auf einem von vier Seepferden gezogenen Wagen,
mit Nymphen, Tritonen und Delphinen umgeben, vorstellte.
Die Seepferde und Delphinen sollten eine Menge Wassers
aus ihren Nasen hervorspringen. Aber wie alles fertig stand,
fand sich daß kaum Wasser genug da war, um die Nase eines
einzigen Delphins zu befeuchten; und als man das Werk spielen
ließ, sah es nicht anders aus, als ob alle diese Seepferde
und Delphinen den Schnupfen hätten. Um nicht ausgelacht
zu werden, ließen sie also die ganze Gruppe in den Tempel
des Neptuns bringen; und so oft man sie einem Fremden wies,
bedauerte der Küster sehr ernsthaft im Namen der löblichen
Stadt Abdera, daß ein so herrliches Kunstwerk aus Kargheit
der Natur unbrauchbar bleiben müsse.Ein andermal erhandelten sie eine schöne Venus von
Elfenbein, die man unter die Meisterstücke des Praxiteles
zählte. Sie war ungefähr fünf Fuß hoch, und sollte auf einen
Altar der Liebesgöttin gestellt werden. Als sie angelangt war,
gerieth ganz Abdera in Entzücken über die Schönheit ihrer
Venus; denn die Abderiten gaben sich für feine Kenner und
schwärmerische Liebhaber der Künste aus. "Sie ist zu schön
(riefen sie einhellig), um auf einem niedrigen Platze zu stehen;
ein Meisterstück, das der Stadt so viel Ehre macht und so viel
Geld gekostet hat, kann nicht zu hoch aufgestellt werden; sie
muß das Erste seyn, was den Fremden beim Eintritt in Abdera
in die Augen fällt." Diesem glücklichen Gedanken zufolge
stellten sie das kleine niedliche Bild auf einen Obelisk von
achtzig Fuß; und wiewohl es nun unmöglich war zu erkennen,
ob es eine Venus oder eine Austernymphe vorstellen sollte, so
nöthigten sie doch alle Fremden zu gestehen, daß man nichts
Vollkommneres sehen könne.Uns dünkt, diese Beispiele beweisen schon hinlänglich,
daß man den Abderiten kein Unrecht that, wenn man sie
für warme Köpfe hielt. Aber wir zweifeln ob sich ein Zug
denken läßt, der ihren Charakter stärker zeichnen könnte als
dieser: daß sie (nach dem Zeugnisse des Justinus) die Frösche
in und um ihre Stadt dergestalt überhand nehmen ließen,
daß sie endlich selbst genöthiget wurden, ihren quäckenden Mitbürgern
Platz zu machen, und, bis zu Austrag der Sache,
sich unter dem Schutze des Königs Kassander von Macedonien
an einen dritten Ort zu begeben.Dieß Unglück befiel die Abderiten nicht ungewarnt. Ein
weiser Mann, der sich unter ihnen befand, sagte ihnen lange
zuvor, daß es endlich so kommen würde. Der Fehler lag in
der That bloß an den Mitteln, wodurch sie dem Uebel steuern
wollten; wiewohl sie nie dazu gebracht werden konnten dieß
einzusehen. Was ihnen gleichwohl die Augen hätte öffnen
sollen, war: daß sie kaum etliche Monate von Abdera weggezogen
waren, als eine Menge von Kranichen aus der Gegend
von Geranien ankam, und ihnen alle ihre Frösche so rein
wegputzte, daß eine Meile rings um Abdera nicht Einer übrig
blieb, der dem wiederkommenden Frühling Brekekek Koax
Koax entgegen gesungen hätte.—————
Zweites Kapitel.Demokritus von Abdera. Ob und wie viel seine Vaterstadt berechtigt
war, sich etwas auf ihn einzubilden?Keine Luft ist so dick, kein Volk so dumm, kein Ort so
unberühmt, daß nicht zuweilen ein großer Mann daraus hervorgehen
sollte, sagt Juvenal. Pindar und Epaminondas wurden
in Böotien geboren, Aristoteles zu Stagira, Cicero zu
Arpinum, Virgil im Dörfchen Andes bei Mantua, Albertus
Magnus zu Lauingen, Martin Luther zu Eisleben, Sixtus
der Fünfte im Dorfe Montalto in der Mark Ancona, und einer
der besten Könige, die jemals gewesen sind, zu Pau in Bearn.
Was Wunder, wenn auch Abdera, zufälliger Weise, die Ehre
hatte, daß der größte Naturforscher des Alterthums, Demokritus,
in ihren Mauern das Leben empfing!Ich sehe nicht, wie ein Ort sich eines solchen Umstandes
bedienen kann, um Ansprüche an den Ruhm eines großen
Mannes zu machen. Wer geboren werden soll, muß irgendwo
geboren werden: das übrige nimmt die Natur auf sich; und
ich zweifle sehr, ob, außer dem Lykurgus, ein Gesetzgeber
gewesen, der seine Fürsorge bis auf den Homunculus ausgedehnt,
und alle möglichen Vorkehrungen getroffen hätte, damit
dem Staate wohl organisirte, schöne und seelenvolle Kinder
geliefert würden. Wir müssen gestehen, in dieser Rücksicht
hatte Sparta einiges Recht, sich mit den Vorzügen seiner
Bürger Ehre zu machen. Aber in Abdera (wie beinahe in der
ganzen Welt) ließ man den Zufall und den Genius walten, | — natale comes qui temperat astrum;
und wenn ein Protagoras oder Demokritus aus ihrem Mittel
entsprang, so war die gute Stadt Abdera gewiß eben so unschuldig
daran, als Lykurgus und seine Gesetze, wenn in Sparta
ein Dummkopf oder eine Memme geboren wurde. | Diese Nachlässigkeit, wiewohl sie eine dem Staat äußerst
angelegene Sache betrifft, möchte noch immer hingehen. Die
Natur, wenn man sie nur ungestört arbeiten läßt, macht
meistens alle weitere Fürsorge für das Gerathen ihrer Werke
überflüssig. Aber wiewohl sie selten vergißt, ihr Lieblingswerk
mit allen den Fähigkeiten auszurüsten, durch welche ein vollkommner
Mensch ausgebildet werden könnte: so ist doch eben
diese Ausbildung das, was sie der Kunst überläßt; und es
bleibt also jedem Staate noch Gelegenheit genug übrig, sich
ein Recht an die Vorzüge und Verdienste seiner Mitbürger
zu erwerben.Allein auch hierin ließen die Abderiten sehr viel an ihrer
Klugheit zu vermissen übrig; und man hätte schwerlich einen
Ort finden können, wo für die Bildung des innern Gefühls,
des Verstandes und des Herzens der künftigen Bürger weniger
gesorgt worden wäre.Die Bildung des Geschmacks, d. i. eines feinen, richtigen
und gelehrten Gefühls alles Schönen, ist die beste Grundlage
zu jener berühmten Sokratischen Kalokagathie oder innerlichen
Schönheit und Güte der Seele, welche den liebenswürdigen,
edelmüthigen, wohlthätigen und glücklichen Menschen macht.
Und nichts ist geschickter, dieses richtige Gefühl des Schönen
in uns zu bilden, als — wenn alles, was wir von Kindheit
an sehen und hören, schön ist. In einer Stadt, wo die Künste
der Musen in der größten Vollkommenheit getrieben werden,
in einer mit Meisterstücken der bildenden Künste angefüllten
Stadt, in einem Athen geboren zu seyn, ist daher allerdings
kein geringer Vortheil; und wenn die Athener zu Platons und
Menanders Zeiten mehr Geschmack hatten als tausend andere
Völker, so hatten sie es unstreitig ihrem Vaterlande zu danken.Abdera führte in einem Griechischen Sprüchworte (über
dessen Verstand die Gelehrten, nach ihrer Gewohnheit, nicht
einig sind) den Beinamen, womit Florenz unter den Italiänischen
Städten prangt — die Schöne. Wir haben schon bemerkt,
daß die Abderiten Enthusiasten der schönen Künste waren;
und in der That, zur Zeit ihres größten Flors, das ist,
eben damals, da sie auf einige Zeit den Fröschen Platz machen
mußten, war ihre Stadt voll prächtiger Gebäude, reich an
Malereien und Bildsäulen, mit einem schönen Theater und
Musiksaal (Ωδειον) versehen, kurz, ein zweites Athen —bloß
den Geschmack ausgenommen. Denn zum Unglück erstreckte
sich die wunderliche Laune, von welcher wir oben gesprochen
haben, auch auf ihre Begriffe vom Schönen und Anständigen.
Latona, die Schutzgöttin ihrer Stadt, hatte den schlechtesten
Tempel; Jason, der Anführer der Argonauten, hingegen
(dessen goldenes Vließ sie zu besitzen vorgaben) den prächtigsten.
Ihr Rathhaus sah wie ein Magazin aus, und unmittelbar
vor dem Saale, wo die Angelegenheiten des Staats erwogen
wurden, hatten alle Kräuter-, Obst- und Eierweiber von Abdera
ihre Niederlage. Hingegen ruhte das Gymnasium, worin
sich ihre Jugend im Ringen und Fechten übte, auf einer dreifachen
Säulenreihe. Der Fechtsaal war mit lauter Schildereien
von Berathschlagungen und mit Statuen in ruhigen oder tiefsinnigen
Stellungen ausgeziert. Dafür aber stellte das Rathhaus
den Vätern des Vaterlandes eine desto reizendere Augenweide
dar. Denn wohin sie in dem Saal ihrer gewöhnlichen
Sitzungen ihre Augen warfen, glänzten ihnen schöne nackende
Kämpfer, oder badende Dianen und schlafende Bacchanten entgegen;
und Venus mit ihrem Buhler, im Netze Vulcans allen
Einwohnern des Olymps zur Schau ausgestellt (ein großes
Stück, welches dem Sitz des Archons gegenüber hing), wurde
den Fremden mit einem Triumphe gezeigt, der den ernsten
Phocion selbst genöthiget hätte, zum erstenmal in seinem Leben
zu lachen. Der König Lysimachus (sagten sie) habe ihnen
sechs Städte und ein Gebiet von vielen Meilen dafür angeboten:
aber sie hätten sich nicht entschließen können, ein so
herrliches Stück hinzugeben, zumal da es —gerade die Höhe
und Breite habe, um eine ganze Seite der Rathsstube einzunehmen;
und überdieß habe einer ihrer Kunstrichter in einem
weitläuftigen, mit großer Gelehrsamkeit angefüllten Werke die
Beziehung des allegorischen Sinnes dieser Schilderei auf den
Platz, wo sie stehe, sehr scharfsinnig dargethan.Wir würden nicht fertig werden, wenn wir alle Unschicklichkeiten,
wovon diese wundervolle Republik wimmelte, berühren
wollten. Aber noch eine können wir nicht vorbeigehen, weil
sie einen wesentlichen Zug ihrer Verfassung betrifft, und keinen
geringen Einfluß auf den Charakter der Abderiten hatte. In
den ältesten Zeiten der Stadt war, vermuthlich einem Orphischen
Institut zufolge, der Nomophylax oder Beschirmer der Gesetze
(eine der obersten Magistratspersonen) zugleich Vorsänger bei
den gottesdienstlichen Chören und Oberaufseher über das
Musikwesen. Dieß hatte damals seinen guten Grund. Allein
mit der Länge der Zeit ändern sich die Gründe der Gesetze;
diese werden alsdann durch buchstäbliche Erfüllung lächerlich,
und müssen also nach den veränderten Umständen umgegossen
werden. Aber eine solche Betrachtung kam nicht in Abderitische
Köpfe. Es hatte sich öfters zugetragen, daß ein Nomophylax
erwählt wurde, der zwar die Gesetze ganz leidlich beschirmte,
aber entweder schlecht sang, oder gar nichts von der
Musik verstand. Was hatten die Abderiten zu thun? Nach
häufigen Berathschlagungen machten sie endlich die Verordnung:
der beste Sänger aus Abdera sollte hinfür allezeit auch Nomophylax
seyn; und dabei blieb es so lange Abdera stand. Daß der
Nomophylax und der Vorsänger zwei verschiedene Personen seyn
könnten, war in zwanzig öffentlichen Berathschlagungen keiner
Seele eingefallen.Es ist leicht zu erachten, daß die Musik, bei so bewandten
Sachen, zu Abdera in großer Achtung stehen mußte. Alles
in dieser Stadt war musikalisch; alles sang, flötete und leyerte.
Ihre Sittenlehre und Politik, ihre Theologie und Kosmologie,
war auf musikalische Grundsätze gebaut; ja, ihre Aerzte
heilten sogar die Krankheiten durch Tonarten und Melodien.
So weit scheint ihnen, was die Speculation betrifft, das
Ansehen der größten Weisen des Alterthums, eines Orpheus,
Pythagoras und Plato, zu Statten zu kommen. Aber in der
Ausübung entfernten sie sich desto weiter von der Strenge dieser
Philosophen. Plato verweist alle sanften und weichlichen Tonarten
aus seiner Republik; die Musik soll seinen Bürgern weder
Freude noch Traurigkeit einflößen; er verbannt mit den Ionischen
und Lydischen Harmonien alle Trink- und Liebeslieder;
ja die Instrumente selbst scheinen ihm so wenig gleichgültig,
daß er vielmehr die vielsaitigen und die Lydische Flöte als gefährliche
Werkzeuge der Ueppigkeit ausmustert, und seinen
Bürgern nur die Leyer und die Cither, sowie den Hirten und
dem Landvolke nur die Rohrpfeife, gestattet. So streng philosophirten
die Abderiten nicht. Keine Tonart, kein Instrument
war bei ihnen ausgeschlossen und — einem sehr wahren, aber
sehr oft von ihnen mißverstandenen Grundsatze zufolge —
behaupteten sie: daß man alle ernsthaften Dinge lustig, und
alle lustigen ernsthaft behandeln müsse. Die Ausdehnung dieser
Maxime auf die Musik brachte bei ihnen die widersinnigsten
Wirkungen hervor. Ihre gottesdienstlichen Gesänge klangen
wie Gassenlieder; allein dafür konnte man nichts Feierlicheres
hören, als die Melodie ihrer Tänze. Die Musik zu einem
Trauerspiele war gemeiniglich komisch; hingegen klangen ihre
Kriegslieder so schwermüthig, daß sie sich nur für Leute schickten,
die an den Galgen gehen. Ein Leyerspieler wurde in
Abdera nur dann für vortrefflich gehalten, wenn er die Saiten
so zu rühren wußte, daß man eine Flöte zu hören glaubte;
und eine Sängerin mußte, um bewundert zu werden, gurgeln
und trillern wie eine Nachtigall. Die Abderiten hatten keinen
Begriff davon, daß die Musik nur insofern Musik ist, als sie
das Herz rührt; sie waren über und über glücklich, wenn nur
ihre Ohren gekitzelt, oder wenigstens mit nichtssagenden, aber
vollen und oft abwechselnden Harmonien gestopft wurden.
Diese Widersinnigkeit erstreckte sich über alle Gegenstände des
Geschmacks; oder, richtiger zu reden, mit aller ihrer Schwärmerei
für die Künste hatten die Abderiten gar keinen Geschmack;
und es ahndete ihnen nicht einmal, daß das Schöne
aus einem höhern Grunde schön sey, als weil es ihnen so
beliebte.Indessen konnte gleichwohl Natur, Zufall und gutes Glück
mit zusammengesetzten Kräften einmal so viel zuwege bringen,
daß ein geborner Abderit Menschenverstand bekam. Aber
wenigstens muß man gestehen, wenn sich so etwas begab, so
hatte Abdera nichts dabei geholfen. Denn ein Abderit war
ordentlicherweise nur insofern klug als er kein Abderit war; —
ein Umstand, der uns ohne Mühe begreifen läßt, warum die
Abderiten immer von demjenigen unter ihren Mitbürgern,
der ihnen in den Augen der Welt am meisten Ehre machte,
am wenigsten hielten. Dieß war keine ihrer gewöhnlichen
Widersinnigkeiten. Sie hatten eine Ursache dazu, die so natürlich
ist, daß es unbillig wäre, sie ihnen zum Vorwurf zu
machen.Diese Ursache war nicht (wie einige sich einbilden), weil
sie z. B. den Naturforscher Demokrit —lange zuvor eh' er
ein großer Mann war mit dem Kreisel spielen, oder auf einem
Grasplatze Purzelbäume machen gesehen hatten —Auch nicht, weil sie aus Neid oder Eifersucht nicht leiden
konnten, daß einer aus ihrem Mittel klüger seyn sollte als sie.
Denn —bei der untrüglichen Aufschrift der Pforte des Delphischen
Tempels! —dieß zu denken hatte kein einziger Abderit
Weisheit genug, oder er würde von dem Augenblick
an kein Abderit mehr gewesen seyn.Der wahre Grund, meine Freunde, warum die Abderiten
aus ihrem Mitbürger Demokrit nicht viel machten, war dieser
weil sie ihn für — keinen weisen Mann hielten."Warum das nicht?"Weil sie nicht konnten."Und warum konnten sie nicht?"Weil sie sich alsdann selbst für Dummköpfe hätten halten
müssen. Und dieß zu thun waren sie gleichwohl nicht widersinnig
genug.Auch hätten sie eben so leicht auf dem Kopfe tanzen, oder
den Mond mit den Zähnen fassen, oder den Cirkel quadriren
können, als einen Menschen, der in allem ihr Gegenfüßler
war, für einen weisen Mann halten. Dieß folgt aus einer
Eigenschaft der menschlichen Natur, die schon zu Adams Zeiten
bemerkt worden seyn muß, und gleichwohl, da Helvetius
daraus folgerte —was daraus folgt, vielen ganz neu vorkam;
die seit dieser Zeit niemanden mehr neu ist, und dennoch
im Leben — alle Augenblicke vergessen wird.—————
Drittes Kapitel.Was Demokrit für ein Mann war. Seine Reisen. Er kommt nach
Abdera zurück. Was er mitbringt, und wie er aufgenommen wird.
Ein Examen, das sie mit ihm vornehmen, welches zugleich eine Probe
einer Abderitischen Conversation ist.Demokrit — ich denke nicht, daß es Sie gereuen wird,
den Mann näher kennen zu lernen —Demokrit war ungefähr zwanzig Jahre alt, als er seinen
Vater, einen der reichsten Bürger von Abdera, beerbte. Anstatt
nun darauf zu denken, wie er seinen Reichthum erhalten
oder vermehren, oder auf die angenehmste oder lächerlichste
Art durchbringen wollte, entschloß sich der junge Mensch,
solchen zum Mittel — der Vervollkommnung seiner Seele
zu machen."Aber was sagten die Abderiten zu dem Entschluß des
jungen Demokrit?"Die guten Leute hatten sich nie träumen lassen, daß die
Seele ein anderes Interesse habe, als der Magen, der Bauch
und die übrigen integranten Theile des sichtbaren Menschen.
Also mag ihnen freilich diese Grille ihres Landsmanns wunderlich
genug vorgekommen seyn. Allein, dieß war nun gerade
was er sich am wenigsten anfechten ließ. Er ging seinen Weg
fort, und brachte viele Jahre mit gelehrten Reisen durch alle
festen Länder und Inseln zu, die man damals bereisen konnte.
Denn wer seiner Zeit weise werden wollte, mußte mit eignen
Augen sehen. Es gab noch keine Buchdruckereien, keine Journale,
Bibliotheken, Magazine, Encyklopädien, Realwörterbücher,
Almanache, und wie alle die Werkzeuge heißen, mit
deren Hülfe man itzt, ohne zu wissen wie, ein Philosoph, ein
Naturkundiger, ein Kunstrichter, ein Autor, ein Alleswisser
wird. Damals war die Weisheit so theuer, und noch theurer
als — die schöne Lais. Nicht jedermann konnte nach Korinth
reisen. Die Anzahl der Weisen war sehr klein; aber die es
waren, waren es auch desto mehr.Demokrit reisete nicht bloß um der Menschen Sitten und
Verfassungen zu beschauen, wie Ulysses; nicht bloß um Priester
und Geisterseher aufzusuchen, wie Apollonius; oder um Tempel,
Statuen, Gemälde und Alterthümer zu begucken, wie
Pausanias; oder um Pflanzen und Thiere abzuzeichnen und
unter Classen zu bringen, wie Doktor Solander; sondern er
reisete, um Natur und Kunst in allen ihren Wirkungen und
Ursachen, den Menschen in seiner Nacktheit und in allen seinen
Einkleidungen und Verkleidungen, roh und bearbeitet, bemalt
und unbemalt, ganz und verstümmelt, und die übrigen Dinge
in allen ihren Beziehungen auf den Menschen, kennen zu lernen.
Die Raupen in Aethiopien (sagt Demokrit) sind freilich
nur — Raupen. Was ist eine Raupe, um das erste, angelegenste,
einzige Studium eines Menschen zu seyn? Aber, da
wir nun einmal in Aethiopien sind, so sehen wir uns immer,
nebenher, auch nach den Aethiopischen Raupen um. Es gibt
eine Raupe im Lande der Seren, welche Millionen Menschen
kleidet und nährt: wer weiß ob es nicht auch am Niger nützliche
Raupen gibt?Mit dieser Art zu denken hatte Demokrit auf seinen Reisen
einen Schatz von Wissenschaft gesammelt, der in seinen Augen
alles Gold in den Schatzkammern der Könige von Indien und
alle Perlen an den Hälsen und Armen ihrer Weiber werth
war. Er kannte von der Ceder Libanons bis zum Schimmel
eines Arkadischen Käses eine Menge von Bäumen, Stauden,
Kräutern. Gräsern und Moosen; nicht etwa bloß nach ihrer
Gestalt und nach ihren Namen, Geschlechtern und Arten: er
kannte auch ihre Eigenschaften, Kräfte und Tugenden. Aber,
was er tausendmal höher schätzte als alle seine übrigen Kenntnisse,
er hatte allenthalben, wo er es der Mühe werth fand
sich aufzuhalten, die Weisesten und die Besten kennen gelernt.
Es hatte sich bald gezeigt, daß er ihres Geschlechtes war.
Sie waren also seine Freunde geworden, hatten sich ihm mitgetheilt,
und ihm dadurch die Mühe erspart, eignen Fleißes,
Jahre lang und vielleicht doch vergebens, zu suchen, was sie
mit Aufwand und Mühe, oder auch wohl nur glücklicherweise,
schon gefunden hatten.Bereichert mit allen diesen Schätzen des Geistes und
Herzens kam Demokrit, nach einer Reise von zwanzig Jahren,
zu den Abderiten zurück, die seiner beinahe vergessen hatten.
Er war ein feiner stattlicher Mann; höflich und abgeschliffen,
wie ein Mann, der mit mancherlei Arten von Erdensöhnen
umzugehen gelernt hat, zu seyn pflegt; ziemlich braungelb von
Farbe; kam von den Enden der Welt, und hatte ein ausgestopftes
Krokodil, einen lebendigen Affen, und viele andere
sonderbare Sachen mitgebracht. Die Abderiten sprachen etliche
Tage von nichts anderm, als von ihrem Mitbürger Demokrit,
der wieder gekommen war und Affen und Krokodile mitgebracht
hatte. Allein in kurzer Zeit zeigte sich's, daß sie sich
in ihrer Meinung von einem so weit gereiseten Manne sehr
verrechnet hatten.Demokrit war von den wackern Männern, denen er indessen
die Besorgung seiner Güter anvertraut hatte, um die
Hälfte betrogen worden; und gleichwohl unterschrieb er ihre
Rechnungen ohne Widerrede. Natürlicher Weise mußte dieß
der guten Meinung von seinem Verstande den ersten Stoß
geben. Die Advokaten und Richter wenigstens, die sich zu
einem einträglichen Processe Hoffnung gemacht hatten, merkten
mit einem bedeutenden Achselzucken an, daß es bedenklich seyn
würde, einem Manne, der seinem eigenen Hause so schlecht
vorstehe, das gemeine Wesen anzuvertrauen. Indessen zweifelten
die Abderiten nicht, daß er sich nun unter die Mitbewerber
um ihre vornehmsten Ehrenämter stellen würde. Sie berechneten
schon, wie hoch sie ihm ihre Stimme verkaufen
wollten; gaben ihm eine Tochter, Enkelin, Schwester, Nichte,
Base, Schwägerin zur Ehe; überschlugen die Vortheile, die sie
zur Erhaltung dieser oder jener Absicht von seinem Ansehen
ziehen wollten, wenn er einmal Archon oder Priester der
Latona seyn würde, u. s. w. Aber Demokrit erklärte sich,
daß er weder ein Rathsherr von Abdera noch der Ehegemahl
einer Abderitin seyn wollte, und vereitelte dadurch abermal
alle ihre Anschläge. Nun hoffte man wenigstens durch seinen
Umgang in etwas entschädigt zu werden. Ein Mann, welcher
Affen, Krokodile und zahme Drachen von seinen Reisen mitgebracht
hatte, mußte eine ungeheure Menge Wunderdinge
zu erzählen haben. Man erwartete, daß er von zwölf Ellen
langen Riesen und von sechs Daumen hohen Zwergen, von
Menschen mit Hunds- und Eselsköpfen, von Meerfrauen mit
grünen Haaren, von weißen Negern, und blauen Centauren
sprechen würde. Aber Demokrit log so wenig, und in der
That weniger, als ob er nie über den Thracischen Bosporus
gekommen wäre.Man fragte ihn, ob er im Lande der Garamanten keine
Leute ohne Kopf angetroffen habe, welche die Augen, die Nase
und den Mund auf der Brust trügen? und ein Abderitischer
Gelehrter (der, ohne jemals aus den Mauern seiner Stadt
gekommen zu seyn, sich die Miene gab, als ob kein Winkel
des Erdbodens wäre den er nicht durchkrochen hätte) bewies
ihm in großer Gesellschaft, daß er entweder nie in Aethiopien
gewesen sey, oder dort nothwendig mit den Agriophagen, deren
König nur Ein Auge über der Nase hat, mit den Sambern,
die allezeit einen Hund zu ihrem König erwählen, und mit
den Artabatiten, die auf allen Vieren gehen, Bekanntschaft
gemacht haben müsse. Und wofern Sie bis in den äußersten
Theil des abendländischen Aethiopien eingedrungen sind (fuhr
der gelehrte Mann fort), so bin ich gewiß, daß Sie ein Volk
ohne Nasen angetroffen haben, und ein anderes, wo die Leute
einen so kleinen Mund führen, daß sie ihre Suppe durch
Strohhalmen einschlürfen müssen.Demokrit betheuerte beim Kastor und Pollux daß er sich
nicht erinnere diese Ehre gehabt zu haben.Wenigstens, sagte jener, haben Sie in Indien Menschen
angetroffen, die nur ein einziges Bein auf die Welt bringen,
aber demungeachtet wegen der außerordentlichen Breite ihres
Fußes so geschwind auf dem Boden fortrutschten, daß man
ihnen zu Pferde kaum nachkommen kann. Und was sagten
Sie dazu, wie Sie an der Quelle des Ganges ein Volk antrafen,
das ohne alle andre Nahrung vom bloßen Geruche
wilder Aepfel lebt?O erzählen Sie uns doch, riefen die schönen Abderitinnen,
erzählen Sie doch, Herr Demokrit! Was müßten Sie uns
nicht erzählen können, wenn Sie nur wollten!Demokrit schwor vergebens, daß er von allen diesen
Wundermenschen in Aethiopien und Indien nichts gesehen
noch gehört habe.Aber was haben Sie denn gesehen, fragte ein runder dicker
Mann, der zwar weder einzügig war wie die Agriophagen,
noch eine Hundsschnauze hatte wie die Cymolgen, noch die
Augen auf den Schultern trug wie die Omophthalmen, noch
vom bloßen Geruche lebte wie die Paradiesvögel, aber doch
gewiß nicht mehr Gehirn in seinem großen Schädel trug als
ein Mexicanischer Colibri, ohne darum weniger ein Rathsherr
von Abdera zu seyn — Aber was haben Sie denn gesehen,
sagte Wanst, Sie, der zwanzig Jahre in der Welt herumgefahren
ist, wenn Sie nichts von allem dem gesehen haben,
was man in fernen Landen Wunderbares sehen kann?Wunderbares? versetzte Demokrit lächelnd. Ich hatte so
viel mit Betrachtung des Natürlichen zu thun, daß ich für's
Wunderbare keine Zeit übrig behielt.Nun, das gesteh' ich, erwiederte Wanst: das verlohnt sich
auch der Mühe, alle Meere zu durchfahren und über alle
Berge zu steigen, um nichts zu sehen als was man zu Hause
eben so gut sehen konnte!Demokrit zankte sich nicht gern mit den Leuten um ihre
Meinungen, am allerwenigsten mit Abderiten; und gleichwohl
wollt' er auch nicht, daß es aussehen sollte als ob er gar
nichts sagen könne. Er suchte unter den schönen Abderitinnen,
die in der Gesellschaft waren, eine aus, an die er das
richten könnte was er sagen wollte; und er fand eine mit
zwei großen Junonischen Augen, die ihn, trotz seiner physiognomischen
Kenntnisse, verführten, ihrer Eigenthümerin
etwas mehr Verstand oder Empfindung zuzutrauen als den
übrigen. Was wollten Sie, sagte er zu ihr, daß ich, zum
Beispiel, mit einer Schönen, welche die Augen auf der Stirn
oder am Ellbogen trüge, hätte anfangen sollen? Oder was
würde mir's nun helfen, wenn ich noch so gelehrt in der Kunst
wäre, das Herz einer — Menschenfresserin zu rühren? Ich
habe mich immer zu wohl dabei befunden, mich der sanften
Gewalt von zwei schönen Augen, die an ihrem natürlichen
Platze stehen, zu überlassen, um jemals in Versuchung zu
kommen das große Stierauge auf der Stirn einer Cyklopin
zärtlich zu sehen.Die Schöne mit den großen Augen, zweifelhaft was sie
aus dieser Anrede machen sollte, guckte dem Manne, der so
sprach, mit stummer Verwunderung in den Mund, lächelte
ihm ihre schönen Zähne vor, und sah sich zur rechten und
linken Seite um, als ob sie den Verstand seiner Rede suchen
wollte.Die übrigen Abderitinnen hatten zwar eben so wenig
davon begriffen: weil sie aber aus dem Umstande, daß er sich
gerade an die Großäugige gewendet hatte, schlossen, er habe
ihr etwas Schönes gesagt, so sahen sie einander jede mit einer
eignen Grimasse an. Diese rümpfte eine kleine Stumpfnase,
jene zog den Mund in die Länge, eine dritte spitzte den ihrigen,
eine vierte riß ein Paar kleine Augen auf, eine fünfte brüstete
sich mit zurückgezogenem Kopfe, u. s. w.Demokrit sah es, erinnerte sich, daß er in Abdera war
— und schwieg.—————
Viertes Kapitel.Das Examen wird fortgesetzt, und verwandelt sich in eine Disputation
über die Schönheit, wobei Demokriten sehr warm gemacht wird.Schweigen —ist zuweilen eine Kunst; aber doch nie eine
so große, als uns gewisse Leute glauben machen wollen, die
dann am klügsten sind wenn sie schweigen.Wenn ein weiser Mann sieht daß er es mit Kindern zu
thun hat, warum sollt' er sich zu weise dünken, nach ihrer
Art mit ihnen zu reden?Ich bin zwar (sagte Demokrit zu seiner neugierigen Gesellschaft)
aufrichtig genug gewesen, zu gestehen, daß ich von
allem, was man will das ich gesehen haben sollte, nichts gesehen
habe: aber bilden Sie sich darum nicht ein, daß mir
auf so vielen Reisen zu Wasser und zu Lande gar nichts aufgestoßen
sey, das Ihre Neubegierde befriedigen könnte. Glauben
Sie mir, es sind Dinge darunter, die Ihnen vielleicht noch
wunderbarer vorkommen würden, als diejenigen wovon die
Rede war.Bei diesen Worten rückten die schönen Abderitinnen näher
und spitzten Mund und Ohren. Das ist doch ein Wort von
einem gereisten Manne, rief der kurze dicke Rathsherr. Des
Gelehrten Stirn entrunzelte sich durch die Hoffnung, daß er
etwas zu tadeln und zu verbessern bekommen würde, Demokrit
möchte auch sagen was er wollte.Ich befand mich einst in einem Lande; fing unser Mann
an, wo es mir so wohl gefiel, daß ich in den ersten drei oder
vier Tagen die ich darin zubrachte, unsterblich zu seyn wünschte,
um ewig darin zu leben."Ich bin nie aus Abdera gekommen, sagte der Rathsmann;
aber ich dachte immer, daß es keinen Ort in der Welt
gäbe, wo es mir besser gefallen könnte als in Abdera. Auch
geht es mir gerade wie Ihnen mit dem Lande, wo es Ihnen
so wohl gefiel; ich wollte mit Freuden auf die ganze übrige
Welt Verzicht thun, wenn ich nur ewig in Abdera leben
könnte! —Aber warum gefiel es Ihnen nur drei rage lang
so wohl in dem Lande?"Sie werden es gleich hören. Stellen Sie sich ein unermeßliches
Land vor, dem die angenehmste Abwechslung von
Bergen, Thälern, Wäldern, Hügeln und Auen unter der
Herrschaft eines ewigen Frühlings und Herbstes, allenthalben
wohin man sieht, das Ansehen des herrlichsten Lustgartens
gibt: alles angebaut und bewässert, alles blähend und fruchtbar;
allenthalben ein ewiges Grün, und immer frische Schatten
und Wälder von den schönsten Fruchtbäumen, Datteln, Feigen,
Citronen, Granaten, die ohne Pflege, wie in Thracien die
Eicheln, wachsen; Haine von Myrten und Schasmin; Amors
und Cytheräens Lieblingsblume nicht auf Hecken, wie bei uns,
sondern in dichten Büscheln auf großen Bäumen wachsend,
und voll aufgeblüht wie die Busen meiner schönen Mitbürgerinnen.(Dieß hatte Demokrit nicht gut gemacht; und es kann
künftigen Erzählern zur Warnung dienen, daß man sich vorher
wohl in seiner Gesellschaft umsehen muß, ehe man Complimente
dieser Art wagt, so verbindlich sie auch an sich selbst
klingen mögen. Die Schönen hielten die Hände vor die Augen
und errötheten. Denn zum Unglück war unter den Anwesenden
keine, die dem schmeichelhaften Gleichniß Ehre gemacht
hätte; wiewohl sie nicht ermangelten sich aufzublähen so gut
sie konnten.)— und diese reizenden Haine, fuhr er fort, vom lieblichen
Gesang unzähliger Arten von Vögeln belebt, und mit
tausend bunten Papagaien erfüllt, deren Farben im Sonnenglanz
die Augen blenden. Welch ein Land! Ich begriff nicht,
warum die Göttin der Liebe das felsige Cythere zu ihrem
Wohnsitz erwählt hätte, da ein Land wie dieses in der Welt
war. Wo hätten die Grazien angenehmer tanzen können, als
am Sande von Bächen und Quellen, wo, zwischen kurzem
dichtem Gras vom lebhaftesten Grün, Lilien und Hyacinthen,
und zehntausend noch schönere Blumen, die in unsrer Sprache
ohne Namen sind, freiwillig hervorblühen, und die Luft mit
wollüstigen Wohlgerüchen erfüllen?Die schönen Abderitinnen waren, wie leicht zu erachten,
mit einer nicht weniger lebhaften Einbildungskraft ausgestattet
als die Abderiten; und das Gemälde, das ihnen Demokrit,
ohne dabei an Arges zu denken, vorstellte, war mehr als ihre
kleinen Seelchen aushalten konnten. Einige seufzten laut vor
Behaglichkeit; andere sahen aus, als ob sie die wollüstigen
Gerüche, die in ihrer Phantasie düfteten, mit Mund und Nase
einschlürfen wollten; die schöne Juno sank mit dem Kopf auf
ein Polster des Canapees zurück, schloß ihre großen Augen
halb, und befand sich unvermerkt am blumigen Rand einer
dieser schönen Quellen, von Rosen- und Citronenbäumen umschattet,
aus deren Zweigen Wolken von ambrosischen Düften
auf sie herabwallten. In einer sanften Betäubung von süßen
Empfindungen begann sie eben einzuschlummern: als sie einen
Jüngling, schön wie Bacchus und dringend wie Amor, zu ihren
Füßen liegen sah. Sie richtete sich auf, ihn desto besser betrachten
zu können, und sah ihn so schön, so zärtlich, daß die
Worte, womit sie seine Verwegenheit bestrafen wollte, auf
ihren Lippen erstarben. Kaum hatte sie —Und wie meinen Sie (fuhr Demokrit fort), daß dieses
zauberische Land heißt, von dessen Schönheiten alles, was
ich davon sagen könnte, Ihnen kaum den Schatten eines Begriffs
geben würde? Es ist eben dieses Aethiopien, welches
mein gelehrter Freund hier mit Ungeheuern von Menschen
bevölkert, die eines so schönen Vaterlandes ganz unwürdig
sind. Aber eine Sache, die er mir für wahr nachsagen kann,
ist: daß es in ganz Aethiopien und Libyen (wiewohl diese Namen
eine Menge verschiedener Völker umfassen) keinen Menschen
gibt, der seine Nase nicht eben da trüge wo wir, nicht
eben so viel Augen und Ohren hätte als wir, und kurz —Ein großer Seufzer von derjenigen Art, wodurch sich ein
von Schmerz oder Vergnügen gepreßtes Herz Luft zu machen
sucht, hob in diesem Augenblicke den Busen der schönen Abderitin,
welche während Demokrit in seiner Rede fortfuhr, in
dem Traumgesichte, worin wir sie zu belauschen Bedenken
trugen (wie es scheint), auf einen Umstand gekommen war,
an welchem ihr Herz auf die eine oder andere Art sehr lebhaft
Antheil nahm. Da die übrigen Anwesenden nicht wissen konnten,
daß die gute Dame einige hundert Meilen weit von
Abdera unter einem Aethiopischen Rosenbaum in einem
Meere der süßesten Wohlgerüche schwamm, tausend neue
Vögel das Glück der Liebe singen hörte, tausend bunte Papagaien
vor ihren Augen herumflattern sah, und zum Ueberfluß
einen Jüngling mit gelben Locken und Korallenlippen zu
ihren Füßen liegen hatte —so war es natürlich, daß man den
besagten Seufzer mit einem allgemeinen Erstaunen empfing.
Man begriff nichts davon, daß die letzten Worte Demokrits
die Ursache einer solchen Wirkung gewesen seyn könnten. Was
fehlt Ihnen, Lysandra? riefen die Abderitinnen aus Einem
Munde, indem sie sich sehr besorgt um sie stellten. Die
schöne Lysandra, die in diesem Augenblicke wieder gewahr
wurde wo sie war, erröthete, und versicherte daß es nichts
sey. Demokrit, der nun zu merken anfing was es war, versicherte,
daß ein paar Züge frischer Luft alles wieder gut
machen würden; aber in seinem Herzen beschloß er, künftig
seine Gemälde nur mit Einer Farbe zu malen, wie die Maler
in Thracien. Gerechte Götter! dacht' er, was für eine
Einbildungskraft diese Abderitinnen haben!Nun, meine schönen Neugierigen, fuhr er fort, was
meinen Sie, von welcher Farbe die Einwohner eines so schönen
Landes sind."Von welcher Farbe? — Warum sollten sie eine andere
Farbe haben als die übrigen Menschen? Sagten Sie uns nicht
daß sie die Nase mitten im Gesichte trügen, und in allem
Menschen wären, wie wir Griechen?"Menschen, ohne Zweifel; aber sollten sie darum weniger
Menschen seyn, wenn sie schwarz oder olivenfarb wären?"Was meinen Sie damit?"Ich meine, daß die schönsten unter den Aethiopischen Nationen
(nämlich diejenigen, die nach unserm Maßstabe die
schönsten, das ist, uns die ähnlichsten sind) durchaus olivenfarb
wie die Aegyptier, und diejenigen, welche tiefer im festen
Lande und in den mittäglichsten Gegenden wohnen, vom
Kopf bis zur Fußsohle so schwarz und noch ein wenig schwärzer
sind als die Raben zu Abdera."Was Sie sagen! — Und erschrecken die Leute nicht vor
einander, wenn sie sich ansehen?"Erschrecken? Warum dieß? Sie gefallen sich sehr mit
ihrer Rabenschwärze, And finden daß nichts schöner seyn könne."O das ist lustig! —riefen die Abderitinnen. —Schwarz
am ganzen Leibe, als ob sie mit Pech überzogen wären, sich
von Schönheit träumen zu lassen! Was das für ein dummes
Volk seyn muß! Haben sie denn keine Maler, die ihnen den
Apollo, den Bacchus, die Göttin der Liebe und die Grazien
malen? Oder könnten sie nicht schon von Homer lernen, daß
Juno weiße Arme, Thetis Silberfüße, und Aurora Rosenfinger
hat?"Ach, erwiederte Demokrit, die guten Leute haben keinen
Homer; oder wenn sie einen haben, so dürfen wir uns darauf
verlassen, daß seine Juno kohlschwarze Arme hat. Von Malern
habe ich in Aethiopien nichts gehört. Aber ich sah ein
Mädchen, dessen Schönheit unter seinen Landsleuten beinahe
eben so viel Unheil anrichtete, als die Tochter der Leda unter
den Griechen und Trojanern; und diese afrikanische Helena
war schwärzer als Ebenholz."O beschreiben Sie uns doch dies Ungeheuer von Schönheit!"
riefen die Abderitinnen, die, aus dem natürlichsten
Grunde von der Welt, an dieser Unterredung unendlich viel
Vergnügen fanden.Sie werden Mühe haben sich einen Begriff davon zu
machen. Stellen Sie sich das völlige Gegentheil des griechischen
Ideals der Schönheit vor: die Größe einer Grazie und
die Fülle einer Demeter; schwarze Haare, aber nicht in langen
wallenden Locken um die Schultern fließend, sondern kurz
und von Natur kraus wie Schafwolle. Die Stirne breit und
stark gewölbt; die Nase aufgestülpt, und in der Mitte des
Knorpels flach gedrückt; die Wangen rund wie die Backen
eines Trompeters, der Mund groß —Philinna lächelte, um zu zeigen, wie klein der ihrige sey.Die Lippen sehr dick und aufgeworfen, und zwei Reihen
von Zähnen wie Perlenschnuren —Die Schönen lachten insgesammt, wiewohl sie keine
andre Ursache dazu haben konnten, als ihre eignen Zähne
zu weisen; denn was war sonst hier zu lachen?"Aber ihre Augen?" fragte Lysandra. —O was die betrifft, die waren so klein und so wasserfarbig,
daß ich lange nicht von mir erhalten konnte, sie schön
zu finden —"Demokrit ist für Homers Kuhaugen, wie es scheint,"
sagte Myris, indem sie einen höhnischen Seitenblick auf die
Schöne mit den großen Augen warf.In der That (versetzte Demokrit, mit einer Miene,
woraus ein Tauber geschlossen hätte daß er ihr die größte
Schmeichelei sage), schöne Augen müßten sehr groß seyn, wenn
ich sie zu groß finden sollte; und häßliche können, däucht
mich, nie zu klein zu seyn.Die schöne Lysandra warf einen triumphirenden Blick
auf ihre Schwestern, und schüttete dann eine ganze Glorie
von Zufriedenheit aus ihren großen Augen auf den glücklichen
Demokrit herab."Darf man wissen, was Sie unter schönen Augen verstehen?"
— fragte die kleine Myris, indem sich ihre Nase
merklich spitzte.Ein Blick der schönen Lysandra schien ihm zu sagen: Sie
werden nicht verlegen seyn die Antwort auf diese Frage zu
finden.Ich verstehe darunter Augen, in denen sich eine schöne
Seele malt, sagte Demokrit.Lysandra sah albern aus, wie eine Person, der man etwas
Unerwartetes gesagt hat, und die keine Antwort darauf finden
kann. — "Eine schöne Seele!" — dachten die Abderitinnen
alle zugleich. — "Was für wunderliche Dinge der Mann aus
fernen Landen mitgebracht hat! Eine schöne Seele! Dieß ist
noch über seine Affen und Papagaien!""Aber mit allen diesen Subtilitäten," sagte der dicke
Rathsherr, "kommen wir von der Hauptsache ab. Mir
däucht, die Rede war von der schönen Helene aus Aethiopien,
und ich möchte doch wohl hören, was die ehrlichen Leute so
Schönes an ihr finden konnten."Alles, antwortete Demokrit."So müssen sie gar keinen Begriff von Schönheit haben,"
sagte der Gelehrte.Um Vergebung, erwiederte der Erzähler; weil diese
Aethiopische Helena der Gegenstand aller Wünsche war, so
läßt sich sicher schließen, daß sie der Idee von Schönheit glich,
die jeder in seiner Einbildung fand."Sie sind aus der Schule des Parmenides?" sagte der
Gelehrte, indem er sich in eine streitbare Positur setzte.Ich bin nichts — als ich selbst, welches sehr wenig ist,
erwiederte Demokrit halb erschrocken. Wenn Sie dem Wort
Idee gram sind, so erlauben Sie mir mich anders auszudrücken.
Die schöne Gulleru —so nannte man die Schwarze,
von der wir reden —Gulleru? riefen die Abderitinnen, indem sie in ein Gelächter
ausbrachen, das kein Ende nehmen wollte; Gulleru!
welch ein Name! — Und wie ging es mit ihrer schönen
Gulleru? fragte die spitznäsige Myris mit einem Blick und
in einem Tone, der noch dreimal spitziger als ihre Nase war.Wenn Sie mir jemals die Ehre erweisen mich zu besuchen,
antwortete der gereifte Mann mit der ungezwungensten
Höflichkeit, so sollen Sie erfahren, wie es mit der
schönen Gulleru gegangen ist. Jetzt muß ich diesem Herrn
mein Versprechen halten. Die Gestalt der schönen Gulleru
also —(Der schönen Gulleru, wiederholten die Abderitinnen
und lachten von neuem, aber ohne daß Demokrit sich dießmal
unterbrechen ließ.)— flößte zu ihrem Unglück den Jünglingen ihres Landes
die stärkste Leidenschaft ein. Dieß scheint zu beweisen, daß
man sie schön gefunden habe; und ohne Zweifel lag der
Grund, weßwegen man sie schön fand, in allem dem, warum
man sie nicht für häßlich hielt. Diese Aethiopier fanden
also einen Unterschied zwischen dem was ihnen schön und was
ihnen nicht schön vorkam; und wenn zehn verschiedene Aethiopier
in ihrem Urtheile von dieser Helena übereinstimmten,
so kam es vermuthlich daher, weil sie einerlei Begriff oder
Modell von Schönheit und Häßlichkeit hatten."Dieß folgt nicht! sagte der Abderitische Gelehrte. Konnte
nicht unter zehn jeder etwas Anderes an ihr liebenswürdig
finden?"Der Fall ist nicht unmöglich; aber er beweist nichts gegen
mich. Gesetzt, der eine hätte ihre kleinen Augen, ein anderer
ihre schwellenden Lippen, ein dritter ihre großen Ohren bewundernswürdig
gefunden: so setzt auch dieß immer eine Vergleichung
zwischen ihr und andern Aethiopischen Schönen voraus.
Die übrigen hatten Augen, Ohren und Lippen sowohl
wie Gulleru. Wenn man also die ihrigen schöner fand, so
mußte man ein gewisses Modell der Schönheit haben, mit
welchem man zum Beispiel ihre Augen und andre Augen
verglich; und dieß ist alles, was ich mit meinem Ideal
sagen wollte."Indessen (erwiederte der Gelehrte) werden Sie doch nicht
behaupten wollen, daß diese Gulleru schlechterdings die Schönste
unter allen schwarzen Mädchen vor ihr, neben ihr und nach
ihr gewesen sey? Ich meine, die Schönste in Vergleichung
mit dem Modelle, wovon Sie sagten."Ich wüßte nicht, warum ich dieß behaupten sollte, versetzte
Demokrit."Es konnte also eine geben, die zum Beispiel noch kleinere
Augen, noch dickere Lippen, noch größere Ohren hatte?"Möglicherweise, so viel ich weiß."Und in Absicht dieser letztern gilt ohne Zweifel die
nämliche Voraussetzung, und so ins Unendliche. Die Aethiopier
hatten also kein Modell der Schönheit; man müßte denn
sagen, daß sich unendlich kleine Augen, unendlich dicke Lippen,
unendlich große Ohren denken lassen?"Wie subtil die Abderitischen Gelehrten sind! dachte Demokrit.
Wenn ich eingestand, sagte er, daß es ein schwarzes
Mädchen geben könne, welche kleinere Augen oder dickere
Lippen hätte als Gulleru, so sagte ich damit noch nicht, daß
dieses schwarze Mädchen den Aethiopiern darum schöner hätte
vorkommen müssen als Gulleru. Das Schöne hat nothwendig
ein bestimmtes Maß, und was über solches ausschweift, entfernt
sich eben so davon, wie das, was unter ihm bleibt.
Wer wird daraus, daß die Griechen in die Größe der Augen
und in die Kleinheit des Mundes ein Stück der vollkommenen
Schönheit setzen, den Schluß ziehen: eine Frau, deren Augapfel
einen Daumen im Durchschnitt hielten, oder deren Mund
so klein wäre, daß man Mühe hätte einen Strohhalm hineinzubringen,
müßte von den Griechen für desto schöner gehalten
werden?Der Abderit war geschlagen, wie man sieht, und fühlte
daß er's war. Aber ein Abderitischer Gelehrter hätte sich
eher erdrosseln lassen, als so was einzugestehen. Waren nicht
Philinnen und Lysandren, und ein kurzer dicker Rathsherr
da, an deren Meinung von seinem Verstand ihm gelegen war?
Und wie wenig kostete es ihm, Abderiten und Abderitinnen
auf seine Seite zu bringen! — In der That wußte er nicht
sogleich, was er sagen sollte. Aber in fester Zuversicht, daß
ihm noch was einfallen werde, antwortete er indessen durch
ein höhnisches Lächeln; welches zugleich andeutete, daß er die
Gründe seines Gegners verachte, und daß er im Begriff sey
den entscheidenden Streich zu führen. "Ist's möglich, rief er
endlich in einem Ton, als ob dieß die Antwort auf Demokrits
letzte Rede sey, können Sie die Liebe zum Paradoxen
so weit treiben, im Angesicht dieser Schönen zu behaupten,
daß ein Geschöpf, wie Sie uns diese Gulleru beschrieben
haben, eine Venus sey?"Sie scheinen vergessen zu haben, versetzte Demokrit sehr
gelassen, daß die Rede nicht von mir und dieser Schönen,
sondern von Aethiopien war. Ich behauptete nichts: ich erzählte
nur was ich gesehen hatte. Ich beschrieb Ihnen eine
Schönheit nach Aethiopischem Geschmack. Es ist nicht meine
Schuld, wenn die Griechische Häßlichkeit in Aethiopien Schönheit
ist. Auch seh' ich nicht, was mich berechtigen könnte,
zwischen den Griechen und Aethiopiern zu entscheiden. Ich
vermuthe es könnte seyn daß beide Recht hätten.Ein lautes Gelächter, dergleichen man aufschlägt wenn
jemand etwas unbegreiflich Ungereimtes gesagt hat, wieherte
dem Philosophen aus allen anwesenden Hälsen entgegen."Laß hören, lass' doch hören, rief der dicke Rathsherr
indem er seinen Wanst mit beiden Händen hielt, was unser
Landsmann sagen kann, um zu beweisen daß beide Recht
haben! Ich höre für mein Leben gern so was behaupten.
Wofür hätte man auch sonst euch gelehrte Herren? — Die
Erde ist rund; der Schnee ist schwarz; der Mond ist zehnmal
so groß als der ganze Peloponnes; Achilles kann keine
Schnecke im Laufen einholen. —Nicht wahr, Herr Antistrepsiades? —
Nicht wahr, Herr Demokrit? —Sie sehen, daß ich
auch ein wenig in Ihren Mysterien eingeweiht bin. Ha, ha, ha!"Die sämmtlichen Abderiten und Abderitinnen erleichterten
sympathetischerweise ihre Lungen abermals, und Herr Antistrepsiades,
der einen Anschlag auf die Abendmahlzeit des
jovialischen Rathsherrn gemacht hatte, unterstützte gefällig
das allgemeine Gelächter mit lautem Händeklatschen.Fünftes Kapitel.Unerwartete Auflösung des Knotens, mit einigen neuen Beispielen
von Abderitischem Witz.Demokrit war in der Laune, sich mit seinen Abderiten,
und den Abderiten mit sich, Kurzweile zu machen. Zu weise,
ihnen irgend eine von ihren National- oder Individual-Unarten
übel zu nehmen, konnt' er es sehr wohl leiden, daß sie ihn
für einen überklugen Mann ansahen, der seinen Abderitischen
Mutterwitz auf seiner langen Wanderschaft verdünstet hätte,
und nun zu nichts gut wäre, als ihnen mit seinen Einfällen
und Grillen etwas zu lachen zu geben. Er fuhr also, nachdem
sich das Gelächter über den witzigen Einfall des dicken Rathsherrn
endlich gelegt hatte, mit seinem gewöhnlichen Phlegma
fort, wo ihn der kleine jovialische Mann unterbrochen hatte:Sagt' ich nicht, wenn die Griechische Häßlichkeit in
Aethiopien Schönheit sey, so könnte wohl seyn daß beide
Theile Recht hätten?"Ja, ja, das sagten Sie, und ein Mann steht für sein
Wort."Wenn ich es gesagt habe, so muß ich's wohl behaupten;
das versteht sich, Herr Antistrepsiades."Wenn Sie können."Bin ich etwan nicht auch ein Abderit? Und zudem
brauch' ich hier nur die Hälfte meines Satzes zu beweisen,
um das Ganze bewiesen zu haben: denn daß die Griechen
Recht haben, darf nicht erst bewiesen werden; dieß ist eine
Sache, die in allen Griechischen Köpfen schon längst ausgemacht
ist. Aber daß die Aethiopier auch Recht haben, da
liegt die Schwierigkeit! — Wenn ich mit Sophismen fechten,
oder mich begnügen wollte meine Gegner stumm zu machen,
ohne sie zu überzeugen, so würd' ich, als Anwalt der Aethiopischen
Venus, die ganze Streitfrage dem innern Gefühl zu
entscheiden überlassen. Warum, würd' ich sagen, nennen die
Menschen diese oder jene Figur, diese oder jene Farbe schön?
— Weil sie ihnen gefällt. — Gut; aber warum gefällt sie
ihnen? —Weil sie ihnen angenehm ist. — Und warum ist sie
ihnen angenehm? — O mein Herr, würde ich sagen, Sie
müssen endlich aufhören zu fragen, oder — ich höre auf zu
antworten. Ein Ding ist uns angenehm, weil es — einen
Eindruck auf uns macht der uns angenehm ist. Ich fordre
alle Ihre Grübler heraus, einen bessern Grund anzugeben.
Nun würd' es lächerlich seyn, einem Menschen abstreiten zu
wollen, daß ihm angenehm sey was ihm angenehm ist; oder
ihm zu beweisen, er habe Unrecht sich wohlgefallen zu lassen,
was einen wohlgefallenden Eindruck auf ihn macht. Wenn
also die Figur einer Gulleru seinen Augen wohl thut, so
gefällt sie ihm, und wenn sie ihm gefällt, so nennt er sie schön,
oder es müßte gar kein solches Wort in seiner Sprache seyn.
"Und wenn — und wenn ein Wahnwitziger Pferdeäpfel
für Pfirschen äße?" sagt Antistrepsiades."Pferdeäpfel für Pfirschen! — Gut gesagt, bei meiner
Ehre! gut gesagt," rief der Rathsherr. "Knacken Sie das auf
Herr Demokrit!""Fi, Fi, doch, Demokrit," lispelte die schöne Myris,
indem sie die Hand vor die Nase hielt; "wer wird auch von
Pferdeäpfeln reden? Schonen Sie wenigstens unsrer Nasen!"Jedermann sieht, daß sich die schöne Myris mit diesem
Verweise an den witzigen Antistrepsiades hätte wenden sollen,
der die Pferdeäpfel zuerst aufgetragen hatte, und an den
Rathsherrn, der Demokriten gar zumuthete sie aufzuknacken.
Aber es war nun einmal darauf abgesehen, den gereisten
Mann lächerlich zu machen. Der Instinct vertrat bei den
sämmtlichen Anwesenden hierin die Stelle einer Verabredung,
und Myris konnte diese schöne Gelegenheit zu einem Stich,
der die Lacher auf ihre Seite brachte, unmöglich entwischen
lassen. Denn gerade der Umstand, daß Demokrit, der ohnehin
an den Aepfeln des Antistrepsiades genug zu schlucken hatte,
noch obendrein einen Verweis deßwegen erhielt, kam den
Abderiten und Abderitinnen so lustig vor, daß sie alle zugleich
zu lachen anfingen, und sich völlig so gebärdeten, als ob der
Philosoph nun aufs Haupt geschlagen sey und gar nicht wieder
aufstehen könne.Zu viel ist zu viel. Der gute Demokrit hatte zwar in
zwanzig Jahren viel erwandert: aber seitdem er aus Abdera
gegangen war, war ihm kein zweites Abdera aufgestoßen; und
nun, da er wieder drinn war, zweifelte er zuweilen auf einen
oder zwei Augenblicke, ob er irgendwo sey? Wie war es möglich,
mit solchen Leuten fertig zu werden?"Nun, Vetter?" —sagte der Rathsherr, "kannst du die
Pferdeäpfel des Antistrepsiades nicht hinunter kriegen? Ha,
ha, ha!"Dieser Einfall war zu Abderitisch, um die Zärtlichkeit der
sämmtlichen gebogenen, stumpfen, viereckigen und spitzigen
Nasen in der Gesellschaft nicht zu überwältigen.Die Damen kicherten ein zirpenden Hi, hi, hi, in das
dumpfe donnernde Ha, ha, ha, der Mannspersonen.Sie haben gewonnen, rief Demokrit; und zum Zeichen
daß ich mein Gewehr mit guter Art strecke, sollen Sie sehen,
ob ich die Ehre verdient Ihr Landsmann und Vetter zu seyn.
Und nun fing er an, mit einer Geschicklichkeit worin ihm kein
Abderit gleich kam, von der untersten Note, stufenweise
crescendo, bis zum Unisono mit dem Hi, hi, hi, der schönen
Abderitinnen, ein Gelächter aufzuschlagen, dergleichen, so
lange Abdera auf Thracischem Boden stand, nie erhört
worden war.Anfangs machten die Damen Miene als ob sie Widerstand
thun wollten; aber es war keine Möglichkeit gegen das
verzweifelte Crescendo auszuhalten. Sie wurden endlich davon
wie von einem reißenden Strom ergriffen; und da die
Gewalt der Ansteckung noch dazu schlug, so kam es bald so
weit, daß die Sache ernsthaft wurde. Die Frauenzimmer
baten mit weinenden Augen um Barmherzigkeit. Aber
Demokrit hatte keine Ohren, und das Gelächter nahm überhand.
Endlich ließ er sich, wie es schien, bewegen, ihnen
einen Stillstand zu bewilligen; allein in der That bloß, damit
sie die Peinigung, die er ihnen zugedacht hatte, desto länger
aushalten könnten. Denn kaum waren sie wieder ein wenig
zu Athem gekommen, so fing er die nämliche Tonleiter, eine
Terze höher, noch einmal zu durchlachen an, aber mit so
vielen eingemischten Trillern und Rouladen, daß sogar die
runzeligen Beisitzer des Höllengerichts, Minos, Aeakus und
Rhadamanthus, in ihrem höllenrichterlichen Ornat, aus der
Fassung dadurch gekommen wären.Zum Unglück hatten zwei oder drei von unsern Schönen
nicht daran gedacht, ihre Personen gegen alle möglichen Folgen
einer so heftigen Leibesübung in Sicherheit zu setzen. Scham
und Natur kämpften auf Leben und Tod in den armen Mädchen.
Vergebens flehten sie den unerbittlichen Demokrit mit
Mund und Augen um Gnade an; vergebens forderten sie ihre
vom Lachen gänzlich erschlafften Sehnen zu einer letzten Anstrengung
auf. Die tyrannische Natur siegte, und in einem
Augenblick sah man den Saal, wo sich die Gesellschaft befand,
u**** W***** g*****Der Schrecken über eine so unversehene Naturerscheinung
(die desto wunderbarer war, da das allgemeine Auffahren und
Erstaunen der schönen Abderitinnen zu beweisen schien, daß
es eine Wirkung ohne Ursache sey) unterbrach die Lacher auf
etliche Augenblicke, um sogleich mit verdoppelter Gewalt wieder
los zu drücken. Natürlicherweise gaben sich die erleichterten
Schönen alle Mühe, den besondern Antheil, den sie an dieser
Begebenheit hatten, durch Grimassen von Erstaunen und
Ekel zu verbergen, und den Verdacht auf ihre schuldlosen
Nachbarinnen fallen zu machen, welche durch unzeitige, aber
unfreiwillige Schamröthe den unverdienten Argwohn mehr als
zu viel bestärkten. Der lächerliche Zank, der sich darüber unter
ihnen erhob; Demokrit und Antistrepsiades, die sich boshafterweise
ins Mittel schlugen, und durch ironische Trostgründe
den Zorn derjenigen, die sich unschuldig wußten, noch mehr
aufreizten; und mitten unter ihnen allen der kleine dicke
Rathsherr, der unter berstendem Gelächter einmal über das
andere ausrief, daß er nicht die Hälfte von Thracien um diesen
Abend nehmen wollte: alles dieß zusammen machte eine Scene,
die des Griffels eines Hogarth würdig gewesen wäre, wenn
es damals schon einen Hogarth gegeben hätte.Wir können nicht sagen, wie lange sie gedauert haben
mag: denn es ist eine von den Tugenden der Abderiten, daß
sie nicht aufhören können. Aber Demokrit, bei dem alles seine
Zeit hatte, glaubte, daß eine Komödie, die kein Ende nimmt,
die langweiligste unter allen Kurzwellen sey; — eine Wahrheit,
von welcher wir (im Vorbeigehn gesagt) alle unsre Dramenschreiber
und Schauspielvorsteher überzeugen zu können wünschen
möchten — er packte also alle die schönen Sachen, die er zur
Rechtfertigung der Aethiopischen Venus hätte sagen können,
wofern er es mit vernünftigen Geschöpfen zu thun gehabt
hätte, ganz gelassen zusammen, wünschte den Abderiten und
Abderitinnen — was sie nicht hatten, und ging nach Hause,
nicht ohne Verwunderung über die gute Gesellschaft, die man
anzutreffen Gefahr lief, wenn man — einen Rathsherrn von
Abdera besuchte.—————
Sechstes Kapitel.Eine Gelegenheit für den Leser, um sein Gehirn aus der schaukelnden
Bewegung des vorigen Kapitels wieder in Ruhe zu setzen.Gute, kunstlose, sanftherzige Gulleru —sagte Demokrit,
da er nach Hause gekommen war, zu einer wohlgepflegten
krauslockigen Schwarzen, die ihm mit offnen Armen entgegen
eilte — komm an meinen Busen, ehrliche Gulleru! Zwar bist
du schwarz wie die Göttin der Nacht; dein Haar ist wollicht
und deine Nase platt; deine Augen sind klein, deine Ohren
groß, und deine Lippen gleichen einer aufgeborstnen Nelke.
Aber dein Herz ist rein und aufrichtig und fröhlich, und fühlt
mit der ganzen Natur. Du denkst nie Arges, sagst nie was
Albernes, quälst weder andre noch dich selbst, und thust nichts
was du nicht gestehen darfst. Deine Seele ist ohne Falsch, wie
dein Gesicht ohne Schminke. Du kennst weder Neid noch
Schadenfreude; und nie hat sich deine ehrliche platte Nase
gerümpft, um eines deiner Nebengeschöpfe zu höhnen oder in
Verlegenheit zu setzen. Unbesorgt, ob du gefällst oder nicht
gefällst, lebst du, in deine Unschuld eingehüllt, im Frieden mit
dir selbst und der ganzen Natur; immer geschickt Freude zu
geben und zu empfangen, und werth, daß das Herz eines
Mannes an deinem Busen ruhe! Gute, sanftherzige Gulleru!
Ich könnte dir einen andern Namen geben; einen schönen,
klangreichen, Griechischen Namen, auf ane oder ide, arion
oder erion: aber dein Name ist schön genug, weil er dein ist;
und ich bin nicht Demokrit, oder die Zeit soll noch kommen,
wo jedes ehrliche gute Herz dem Namen Gulleru entgegen
schlagen soll!Gulleru begriff nicht allzuwohl, was Demokrit mit dieser
empfindsamen Anrede haben wollte; aber sie sah, daß es eine
Ergießung seines Herzens war, und so verstand sie gerade so
viel davon, als sie vonnöthen hatte."War diese Gulleru seine Frau?"Nein."Seine Beischläferin?"Nein."Seine Sklavin?"Nach ihrem Anzug zu schließen, nein."Wie war sie denn angezogen?"So gut, daß sie ein Ehrenfräulein der Königin von Saba
hätte vorstellen können. Schnüre von großen feinen Perlen
zwischen den Locken und um Hals und Arme; ein Gewand voll
schön gebrochner Falten, von dünnem feuerfarbnem Atlaß mit
Streifen von welcher Farbe Sie wollen, unter ihrem Busen
von einem reich gestickten Gürtel zusammen gehalten, den
eine Agraffe von Smaragden schloß; und — was weiß ich
alles —"Der Anzug war reich genug."Wenigstens können Sie mir glauben, daß, so wie sie war,
kein Prinz von Senegal, Angola, Gambia, Kongo und Loango
sie ungestraft angesehen hätte."Aber —"Ich sehe wohl, daß sie noch nicht am Ende Ihrer Fragen
sind. — Wer war denn diese Gulleru? war es eben die, von
welcher vorhin gesprochen wurde? Wie kam Demokrit zu ihr?
Auf welchem Fuß lebte sie in seinem Hause? —Ich gesteh' es,
dieß sind sehr billige Fragen; aber sie zu beantworten, seh'
ich vor der Hand keine Möglichkeit. Denken Sie nicht, daß
ich hier den verschwiegenen machen wolle, oder daß ein besonderes
Geheimniß unter der Sache stecke. Die Ursache,
warum ich sie nicht beantworten kann, ist die allereinfachste
von der Welt. Tausend Schriftsteller befinden sich tausendmal
in dem nämlichen Falle: nur ist unter tausend kaum Einer
aufrichtig genug, in solchen Fällen die wahre Ursache zu bekennen.
Soll ich Ihnen die meinige sagen? Sie werden gestehen,
daß sie über alle Einwendung ist. Denn, kurz und
gut — ich weiß selbst kein Wort von allem dem, was Sie von
mir wissen wollen; und da ich nicht die Geschichte der schönen
Gulleru schreibe, so begreifen Sie, daß ich in Absicht auf
diese Dame zu nichts verbunden bin. Sollte sich (was ich
nicht vorher sehen kann) etwa in der Folge Gelegenheit finden
von Demokrit oder von ihr selbst etwas Näheres zu erkundigen;
so verlassen Sie sich darauf, daß Sie alles von Wort zu
Wort erfahren sollen.—————
Siebentes Kapitel.Patriotismus der Abderiten. Ihre Vorneigung für Athen, als ihre
Mutterstadt. Ein paar Proben von ihrem Atticismus, und von der
unangenehmen Aufrichtigkeit des weisen Demokrit.Demokrit hatte noch keinen Monat unter den Abderiten
gelebt, als er ihnen, und zuweilen auch sie ihm schon so
unerträglich waren, als Menschen einander seyn müssen, die
mit ihren Begriffen und Neigungen alle Augenblicke wider
einander stoßen.Die Abderiten hegten von sich selbst und von ihrer Stadt
und Republik eine ganz außerordentliche Meinung. Ihre
Unwissenheit alles dessen, was außerhalb ihres Gebiets in der
Welt Merkwürdiges seyn oder geschehen möchte, war zugleich
eine Ursache und eine Frucht dieses lächerlichen Dünkels.
Daher kam es denn durch eine sehr natürliche Folge, daß sie
sich gar keine Vorstellung machen konnten, wie etwas recht
oder anständig oder gut seyn könnte, wenn es anders als zu
Abdera war, oder wenn man zu Abdera gar nichts davon
wußte. Ein Begriff, der ihren Begriffen widersprach, eine
Gewohnheit, die von den ihrigen abging, eine Art zu denken
oder etwas ins Auge zu fassen, die ihnen fremd war, hieß
ihnen, ohne weitere Untersuchung, ungereimt und belachenswerth.
Die Natur selbst schrumpfte für sie in den engen Kreis
ihrer eigenen Thätigkeit zusammen; und wiewohl sie es nicht
so weit trieben, sich, wie die Japaner, einzubilden, außer
Abdera wohnten lauter Teufel, Gespenster und Ungeheuer,
so sahen sie doch wenigstens den Rest des Erdbodens und
seiner Bewohner als einen ihrer Aufmerksamkeit unwürdigen
Gegenstand an; und wenn sie zufälligerweise Gelegenheit
bekamen etwas Fremdes zu sehen oder zu hören, so wußten
sie nichts davon zu machen, als sich darüber aufzuhalten, und
sich selbst Glück zu wünschen, daß sie nicht wären wie andre
Leute. Dieß ging so weit, daß sie denjenigen für keinen guten
Bürger hielten, der an einem andern Orte bessere Einrichtungen
oder Gebräuche wahrgenommen hatte als zu Hause.
Wer das Glück haben wollte ihnen zu gefallen, mußte schlechterdings
so reden und thun, als ob die Stadt und Republik
Abdera, mit allen ihren zugehörigen Stricken, Eigenschaften
und Zufälligkeiten, ganz und gar untadelig und das Ideal
aller Republiken gewesen wäre.Von dieser Verachtung gegen alles, was nicht Abderitisch
hieß, war die Stadt Athen allein ausgenommen; aber auch
diese vermuthlich nur deßwegen, weil die Abderiten, als ehmalige
Tejer, ihr die Ehre erwiesen, sie für ihre Mutterstadt
anzusehen. Sie waren stolz darauf, für das Thracische Athen
gehalten zu werden; und wiewohl ihnen dieser Name nie
anders als spottweise gegeben wurde, so hörten sie doch keine
Schmeichelei lieber als diese. Sie bemühten sich, die Athener
in allen Stücken zu copiren, und copirten sie genau — wie
der Affe den Menschen. Wenn sie, um lebhaft und geistreich
zu seyn, alle Augenblicke ins Possirliche fielen; wichtige Dinge
leichtsinnig, und Kindereien ernsthaft behandelten; das Volk
oder ihren Rath um jeder Kleinigkeit willen zwanzigmal versammelten,
um lange, alberne Reden für und wider über
Sachen zu halten, die ein Mann von alltäglichem Menschenverstand
in einer Viertelstunde besser als sie entschieden hätte
wenn sie unaufhörlich mit Projecten von Verschönerung und
Vergrößerung schwanger gingen, und, so oft sie etwas unternahmen,
immer erst mitten im Werke ausrechneten, daß es
über ihre Kräfte gehe, wenn sie ihre halb Thracische Sprache
mit Attischen Redensarten spickten; ohne den mindesten Geschmack
eine ungeheure Leidenschaft für die Künste affectirten,
und immer von Malerei und Statuen und Musik und Rednern
und Dichtern schwatzten, ohne jemals einen Maler,
Bildhauer, Redner oder Dichter, der des Namens werth
war, gehabt zu haben; wenn sie Tempel bauten die wie
Bäder, und Bäder die wie Tempel aussahen; wenn sie
die Geschichte von Vulkans Netz in ihre Rathsstube, und den
großen Rath der Griechen über die Zurückgabe der schönen
Chryseis in ihre Akademie malen ließen; wenn sie in Lustspiele
gingen, wo man sie zu weinen, und in Trauerspiele,
wo man sie zu lachen machte; und in zwanzig ähnlichen
Dingen glaubten die guten Leute Athener zu seyn, und waren
— Abderiten.Wie erhaben der Schwung in diesem kleinen Gedicht ist,
das Physignatus auf meine Wachtel gemacht hat! sagte eine
Abderitin. — Sehen Sie, sprach der erste Archon von Abdera,
die Façade von diesem Gebäude, welches wir zu unserm Zeughause
bestimmt haben? Sie ist von dem besten Parischen
Marmor. Gestehen Sie, daß Sie nie ein Werk von größerm
Geschmack gesehen haben!Es mag der Republik schönes Geld kosten, antwortete
Demokrit.Was der Republik Ehre macht, kostet nie zu viel, erwiederte
der Archon, der in diesem Augenblick den zweiten
Perikles in sich fühlte. Ich weiß, Sie sind ein Kenner, Demokrit;
denn Sie haben immer an allem etwas auszusetzen.
Ich bitte Sie, finden Sie mir einen Fehler an dieser Façade?Tausend Drachmen für einen Fehler, Herr Demokrit,
rief ein junger Herr, der die Ehre hatte ein Neffe des Archon
zu seyn, und vor kurzem von Athen zurückgekommen war, wo
er sich aus einem Abderitischen Bengel für die Hälfte seines
Erbgutes zu einem attischen Gecken ausgebildet hatte.Die Façade ist schön, sagte Demokrit ganz bescheiden; so
schön, daß sie es auch zu Athen oder Korinth oder Syrakus
seyn würde. Ich sehe, wenn's erlaubt ist so was zu sagen,
nur Einen Fehler an diesem prächtigen Gebäude."Einen Fehler?" — sprach der Archon, mit einer Miene,
die sich nur ein Abderit, der ein Archon war, geben konnte.Einen Fehler! Einen Fehler! wiederholte der junge Geck,
indem er ein lautes Gelächter aufschlug."Darf man fragen, Demokrit, wie Ihr Fehler heißt?"Eine Kleinigkeit, versetzte dieser; nichts als daß man eine
so schöne Façade — nicht sehen kann."Nicht sehen kann? Und wie so?"Je, beim Anubis! wie wollen Sie daß man sie vor allen
den alten übel gebauten Häusern und Scheunen sehen soll, die
hier ringsum zwischen die Augen der Leute und Ihre Façade
hingesetzt sind?"Diese Häuser standen lang' ehe Sie und ich geboren
wurden," sagte der Archon.Dergleichen Dialogen gab es, so lange Demokrit unter
ihnen lebte, alle Tage, Stunden und Augenblicke."Wie finden Sie diesen Purpur, Demokrit? Sie sind
zu Tyrus gewesen, nicht wahr?"Ich wohl, Madame, aber dieser Purpur nicht; dieß ist
Coccinum, das Ihnen die Syrakuser aus Sardinien bringen
und für Tyrischen Purpur bezahlen lassen."Aber wenigstens werden Sie doch diesen Schleier für
Indischen Byssus von der feinsten Art gelten lassen?"Von der feinsten Art, schöne Atalanta, die man in
Memphis und Pelusium verarbeiten läßt.Nun hatte sich der ehrliche Mann zwei Feindinnen in
Einer Minute gemacht. Konnte aber auch was ärgerlicher
seyn als eine solche Aufrichtigkeit?—————
Achtes Kapitel.Vorläufige Nachricht von dem Abderitischen Schauspielwesen. Demokrit
wird genöthigt, seine Meinung davon zu sagen.Die Abderiten wußten sich sehr viel mit ihrem Theater.
Ihre Schauspieler waren gemeine Bürger von Abdera, die
entweder von ihrem Handwerke nicht leben konnten, oder zu
faul waren eines zu lernen. Sie hatten keinen gelehrten Begriff
von der Kunst, aber eine desto größere Meinung von
ihrer eignen Geschicklichkeit; und wirklich konnt' es ihnen an
Anlage nicht fehlen, da die Abderiten überhaupt geborne
Gaukler, Spaßmacher und Pantomimen waren, an denen
immer jedes Glied ihres Leibes mit reden half, so wenig
auch das, was sie sagten, zu bedeuten haben mochte.Sie besaßen auch einen eignen Schauspieldichter, Hyperbolus
genannt, der (wenn man ihnen glaubte) ihre Schaubühne
so weit gebracht hatte, daß sie der Athenischen wenig
nachgab. Er war im Komischen so stark als im Tragischen,
und machte überdieß die possierlichsten Satyrenspiele von der
Welt, worin er seine eignen Tragödien so schnakisch parodirte,
daß man sich, wie die Abderiten sagten, darüber bucklig lachen
mußte. Ihrem Urtheile nach vereinigte er in seiner Tragödie
den hohen Schwung und die mächtige Einbildungskraft des
Aeschylus mit der Beredsamkeit und dem Pathos des Euripides,
so wie in seinen Lustspielen des Aristophanes Laune
und muthwilligen Witz mit dem feinen Geschmack und der
Eleganz des Agathon. Die Behendigkeit, womit er von seinen
Werken entbunden wurde, war das Talent, worauf er sich
am meisten zu gute that. Er lieferte jeden Monat seine
Tragödie, mit einem kleinen Possenspielchen zur Zugabe.
Meine beste Komödie, sprach er, hat mir nicht mehr als
vierzehn Tage gekostet, und gleichwohl spielt sie ihre vier bis
fünf Stunden wohl gezählt.Da sey uns der Himmel gnädig! dachte Demokrit.Nun drangen die Abderiten immer von allen Seiten in
ihn, seine Meinung von ihrem Theater zu sagen; und so
ungern er sich mit ihnen über ihren Geschmack in Wortwechsel
einließ, so konnt' er doch auch nicht von sich erhalten,
ihnen zu schmeicheln, wenn sie ihm sein Urtheil mit
gesammter Hand abnöthigten."Wie gefällt Ihnen diese neue Tragödie?"Das Sujet ist glücklich gewählt. Was müßte der Autor
auch seyn, der einen solchen Stoff ganz zu Grunde richten
sollte?"Fanden Sie sie nicht sehr rührend?"Ein Stück könnte in einigen Stellen sehr rührend und
doch ein sehr elendes Stück seyn, sagte Demokrit. Ich kenne
einen Bildhauer von Sicyon, der die Wuth hat, lauter
Liebesgöttinnen zu schnitzen. Diese sehen überhaupt sehr gemeinen
Dirnen gleich; aber sie haben alle die schönsten Beine
von der Welt. Das ganze Geheimniß von der Sache ist, daß
der Mann seine Frau zum Modelle nimmt, die, zum Glück
für seine Venusbilder, wenigstens sehr schöne Beine vorzuweisen
hat. So kann dem schlechtesten Dichter zuweilen eine
rührende Stelle gelingen, wenn es sich gerade zutrifft, daß
er verliebt ist, oder einen Freund verlor, oder daß ihm sonst
ein Zufall zustieß, der sein Herz in eine Fassung setzt, die es
ihm leicht macht, sich an den Platz der Person, die er reden
lassen soll, zu stellen."Sie finden also die Hekuba unsers Dichters nicht vortrefflich?"Ich finde, daß der Mann vielleicht sein Bestes gethan hat.
Aber die vielen, bald dem Aeschylus, bald dem Sophokles,
bald dem Euripides ausgerupften Federn, womit er seine
Blöße zu decken sucht, und die ihm vielleicht in den Augen
mancher Zuhörer, denen jene Dichter nicht so gegenwärtig
sind als mir, Ehre machen, schaden ihm in den meinigen.
Eine Krähe, wie sie von Gott erschaffen ist, dünkt mich so
noch immer schöner, als wenn sie sich mit Pfauen- und
Fasanenfedern aufputzt. Ueberhaupt fordre ich von dem Verfasser
eines Trauerspiels mit gleichem Rechte, daß er mir
für meinen Beifall ein vortreffliches Trauerspiel, als von
meinem Schuster, daß er mir für mein Geld ein Paar gute
Stiefeln liefere: und wiewohl ich gern gestehe, daß es schwerer
ist ein gutes Trauerspiel als gute Stiefeln zu machen; so
bin ich darum nicht weniger berechtiget, von jedem Trauerspiele
zu verlangen, daß es alle Eigenschaften habe die zu
einem guten Trauerspiel, als von einem Stiefel, daß er
alles habe was zu einem guten Stiefel gehört."Und was gehört denn, Ihrer Meinung nach, zu einem
wohl gestiefelten Trauerspiele?" — fragte ein junger Abderitischer
Patricius, herzlich über den guten Einfall lachend,
der ihm, seiner Meinung nach, entfahren war.Demokrit unterhielt sich über diesen Gegenstand mit einem
kleinen Kreise von Personen die ihm zuzuhören schienen, und
fuhr, ohne auf die Frage des witzigen jungen Herrn Acht zu
haben, fort. "Die wahren Regeln der Kunstwerke, sprach er,
können nie willkürlich seyn. Ich fordre nichts von einem
Trauerspiele, als was Sophokles von den seinigen fordert; und
dieß ist weder mehr noch weniger, als die Natur und Absicht
der Sache mit sich bringt. Einen einfachen wohldurchdachten
Plan, worin der Dichter alles vorausgesehen, alles vorbereitet,
alles natürlich zusammengefügt, alles auf Einen Punkt
geführt hat; worin jeder Theil ein unentbehrliches Glied,
und das Ganze ein wohl organisirter, schöner, frei und edel
sich bewegender Körper ist! Keine langweilige Exposition,
keine Episoden, keine Scenen zum Ausfüllen, keine Reden deren
Ende man mit Ungeduld herbeigähnt, keine Handlungen die
nicht zum Hauptzwecke arbeiten! Interessante, aus der Natur
genommene Charaktere, veredelt, aber so, daß man die Menschheit
in ihnen nie verkenne; keine übermenschlichen Tugenden,
keine Ungeheuer von Bosheit! Personen, die immer ihren
eigenen Individual-Begriffen und Empfindungen gemäß reden
und handeln; immer so, daß man fühlt, nach allen ihren
vorhergehenden und gegenwärtigen Umständen und Bestimmungen
müssen sie im gegebenen Falle so reden, so handeln,
oder aufhören zu seyn was sie sind."Ich fordre, daß der Dichter nicht nur die menschliche
Natur kenne, insofern sie das Modell aller seiner Nachbildungen
ist; ich fordre, daß er auch auf die Zuschauer Rücksicht nehme,
und genau wisse durch welche Wege man sich ihres Herzens
Meister macht; daß er jeden starken Schlag, den er auf solches
thun will, unvermerkt vorbereite; daß er wisse wenn es genug
ist, und, eh' er uns durch einerlei Eindrücke ermüdet, oder
einen Affekt bis zu dem Grade, wo er peinigend zu werden
anfängt, in uns erregt, dem Herzen kleine Ruhepunkte zur
Erholung gönne, und die Regungen, die er uns mittheilt
ohne Nachtheil der Hauptwirkung zu vermannichfaltigen wisse."Ich fordre von ihm eine schöne und ohne Aengstlichkeit
mit äußerstem Fleiße polirte Sprache; einen immer warmen
kräftigen Ausdruck, einfach und erhaben, ohne jemals zu
schwellen noch zu sinken, stark und nervig, ohne rauh und steif
zu werden, glänzend, ohne zu blenden; wahre Heldensprache,
die immer der lebende Ausdruck einer großen Seele und
unmittelbar vom gegenwärtigen Gefühl eingegeben ist, nie
zu viel nie zu wenig sagt, und, gleich einem dem Körper
angegoss'nen Gewand, immer den eigenthümlichen Geist des
Redenden durchscheinen läßt."Ich fordre, daß derjenige, der sich unterwindet Helden
reden zu lassen, selbst eine große Seele habe; und indem er
durch die Allgewalt der Begeisterung in seinen Helden verwandelt
worden ist, alles, was er ihm in den Mund legt,
in seinem eignen Herzen finde. Ich fordre —"O Herr Demokrit —riefen die Abderiten, die sich nicht
länger zu halten wußten —Sie können, da Sie nun einmal
im Fordern sind, alles fordern was Ihnen beliebt. In Abdera
läßt man sich mit wenigerm abfinden. Wir sind zufrieden,
wenn uns ein Dichter rührt. Der Mann, der uns lachen
oder weinen macht, ist in unsern Augen ein göttlicher Mann,
mag er es doch anfangen wie er selbst will. Dieß ist seine
Sache, nicht die unsrige! Hyperbolus gefällt uns, rührt uns,
macht uns Spaß; und gesetzt auch, daß er uns mitunter
gähnen machte, so bleibt er doch immer ein großer Dichter!
Brauchen wir eines weitern Beweises?"Die Schwarzen an der Goldküste, sagte Demokrit, tanzen
mit Entzücken zum Getöse eines armseligen Schaffells und
etlicher Bleche, die sie gegeneinander schlagen. Gebt ihnen
noch ein paar Kuhschellen und eine Sackpfeife dazu, so glauben
sie in Elysium zu seyn. Wie viel Witz brauchte eure Amme,
um euch, da ihr noch Kinder waret, durch ihre Erzählungen
zu rühren? Das albernste Mährchen, in einem kläglichen
Tone hergeleyert, war dazu gut genug. Folgt aber daraus,
daß die Musik der Schwarzen vortrefflich, oder ein Ammenmährchen
gleich ein herrliches Werk ist?"Sie sind sehr höflich, Demokrit!"Um Vergebung! Ich bin so unhöflich, jedes Ding bei
seinem Namen zu nennen; und so eigensinnig, daß ich nie
gestehen werde, alles sey schön und vortrefflich was man so
zu nennen beliebt.Aber das Gefühl eines ganzen Volkes wird doch mehr
gelten, als der Eigendünkel eines Einzigen?"Eigendünkel? Das ist es eben, was ich aus den Künsten
der Musen verbannt sehen möchte. Unter allen den Forderungen,
wovon die Abderiten ihren Günstling Hyperbolus
so gütig loszählen, ist keine einzige, die nicht auf die strengste
Gerechtigkeit gegründet wäre. Aber das Gefühl eines ganzen
Volkes, wenn es kein gelehrtes Gefühl ist, kann und
muß in unzähligen Fällen betrüglich seyn."Wie, zum Henker! (rief ein Abderit, der mit seinem
Gefühl sehr wohl zufrieden schien) Sie werden uns am Ende
wohl gar noch unsre fünf Sinne streitig machen."Das verhüte der Himmel! antwortete Demokrit. Wenn
Sie so bescheiden sind keine weiteren Ansprüche zu machen als
auf fünf Sinne, so wär' es die größte Ungerechtigkeit, Sie
im ruhigen Besitze derselben stören zu wollen. Fünf Sinne
sind allerdings, zumal wenn man alle fünf zusammennimmt,
vollgültige Richter in allen Dingen, wo es darauf ankommt,
zu entscheiden, was weiß oder schwarz, glatt oder rauh,
weich oder hart, widerlich oder angenehm, bitter oder süß ist.
Ein Mann, der nie weiter geht, als ihn seine fünf Sinne
führen, geht immer sicher; und in der That, wenn Ihr Hyperbolus
dafür sorgen wird, daß in seinen Schauspielen jeder
Sinn ergötzt und keiner beleidiget werde, so stehe ich
ihm für die gute Aufnahme, und wenn sie noch zehnmal
schlechter wären als sie sind.Wäre Demokrit zu Abdera weiter nichts gewesen, als
was Diogenes zu Korinth war, so möchte ihm die Freiheit
seiner Zunge vielleicht einige Ungelegenheiten zugezogen haben.
Denn so gern die Abderiten über wichtige Dinge spaßten, so
wenig konnten sie ertragen, wenn man sich über ihre Puppen
und Steckenpferde lustig machte. Aber Demokrit war aus
dem besten Hause in Abdera, und, was noch mehr zu bedeuten
hat, er war reich. Dieser doppelte Umstand machte, daß
man ihm nachsah, was man einem Philosophen in zerrissenem
Mantel schwerlich zu gut gehalten hätte. Sie sind auch
ein unerträglicher Mensch, Demokrit! schnarrten die schönen
Abderitinnen, und — ertrugen ihn doch.Der Poet Hyperbolus machte noch am nämlichen Abend
ein entsetzliches Sinngedicht auf den Philosophen. Des folgenden
Morgens lief es an allen Putztischen herum, und in
der dritten Nacht ward es in allen Gassen von Abdera gesungen,
denn Demokrit hatte eine Melodie dazu gesetzt.—————
Neuntes Kapitel.Gute Gemüthsart der Abderiten, und wie sie sich an Demokrit wegen
seiner Unhöflichkeit zu rächen wissen. Eine seiner Strafpredigten zur
Probe. Die Abderiten machen ein Gesetz gegen alle Reisen, wodurch
ein Abderitisches Mutterkind hätte klüger werden können. Merkwürdige
Art, wie der Nomophylax Gryllus eine aus diesem Gesetz entstandene
Schwierigkeit auslöst.Es ist ordentlicherweise eine gefährliche Sache, mehr
Verstand zu haben als seine Mitbürger. Sokrates mußt' es
mit dem Leben bezahlen; und wenn Aristoteles noch mit heiler
Haut davon kam, als ihn der Oberpriester Eurymedon zu
Athen der Ketzerei anklagte, so kam es bloß daher, weil er
sich in Zeiten aus dem Staube machte. Ich will den Athenern
keine Gelegenheit geben, sagte er, sich zum zweitenmale an
der Philosophie zu versündigen.Die Abderiten waren bei allen ihren menschlichen Schwachheiten
wenigstens keine sehr bösartigen Leute. Unter ihnen
hätte Sokrates so alt werden können als Homers Nestor.
Sie hätten ihn für eine wunderliche Art von Narren gehalten,
und sich über seine vermeintliche Thorheit lustig gemacht; aber
die Sache bis zum Giftbecher zu treiben, war nicht in ihrem
Charakter. Demokrit ging so scharf mit ihnen zu Werke, daß
ein weniger joviales Volk die Geduld dabei verloren hätte.
Gleichwohl bestand alle Rache, die sie an ihm nahmen, darin,
daß sie (unbekümmert mit welchem Grunde) eben so übel von
ihm sprachen als er von ihnen, alles tadelten was er unternahm,
alles lächerlich fanden was er sagte, und von allem,
was er ihnen rieth, gerade das Gegentheil thaten. "Man
muß dem Philosophen durch den Sinn fahren, sagten sie;
man muß ihm nicht weiß machen, daß er alles besser wisse als
wir." — Und, dieser weisen Maxime zufolge, begingen die
guten Leute eine Thorheit über die andre, und glaubten wie
viel sie dabei gewonnen hätten, wenn es ihn verdrösse. Aber
hierin verfehlten sie ihres Zweckes gänzlich. Denn Demokrit
lachte dazu, und ward aller ihrer Neckereien wegen nicht einen
Augenblick früher grau. —"O die Abderiten, die Abderiten!
rief er zuweilen; da haben sie sich wieder selbst eine Ohrfeige
gegeben, in Hoffnung, daß es mir weh thun werde!"Aber (sagten die Abderiten) kann man auch mit einem
Menschen schlimmer daran seyn? Ueber alles in der Welt
ist er andrer Meinung als wir. An allem, was uns gefällt,
hat er etwas auszusetzen. Es ist doch sehr unangenehm, sich
immer widersprechen zu lassen!Aber wenn ihr nun immer Unrecht habt? antwortete
Demokrit. —Und laßt doch einmal sehen, wie es anders seyn
könnte! —Alle eure Begriffe habt ihr eurer Amme zu danken;
über alles denkt ihr noch eben so, wie ihr als Kinder davon
dachtet. Eure Körper sind gewachsen, und eure Seelen liegen
noch in der Wiege. Wie viele sind wohl unter euch, die sich
die Mühe gegeben haben, den Grund zu erforschen, warum
sie etwas wahr oder gut oder schön nennen? Gleich den
Unmündigen und Säuglingen ist euch alles gut und schön, was
eure Sinne kitzelt, was euch gefällt. Und auf was für kleinfügige,
oft gar nicht zur Sache gehörende, Ursachen und
Umstände kommt es an, ob euch etwas gefallen soll oder nicht!
Wie verlegen würdet ihr oft seyn, wenn ihr sagen solltet,
warum ihr dieß liebt und jenes hasset! Grillen, Launen, Eigensinn,
Gewohnheit euch von andern Leuten gängeln zu lassen,
mit ihren Augen zu sehen, mit ihren Ohren zu hören, und, was
sie euch vorgepfiffen haben, nachzupfeifen —sind die Triebfedern,
die bei euch die Stelle der Vernunft ersetzen. Soll ich euch
sagen, woran der Fehler liegt? Ihr habt euch einen falschen
Begriff von Freiheit in den Kopf gesetzt. Eure Kinder von
drei oder vier Jahren haben freilich den nämlichen Begriff
davon; aber dieß macht ihn nicht richtiger. Wir sind ein
freies Volk, sagt ihr; und nun glaubt ihr, die Vernunft habe
euch nichts einzureden. "Warum sollten wir nicht denken
dürfen, wie es uns beliebt? lieben und hassen wie es uns beliebt?
bewundern oder verachten was uns beliebt? Wer hat
ein Recht uns zur Rede zu stellen, oder unsern Geschmack und
unsre Neigungen vor seinen Richterstuhl zu fordern?" —
Nun denn, meine lieben Abderiten, so denkt und faselt, liebt
und haßt, bewundert und verachtet, wie, wenn und was euch
beliebt! Begeht Thorheiten so oft und so viel euch beliebt!
Macht euch lächerlich wie es euch beliebt! Wem
liegt am Ende was daran? So lang' es nur Kleinigkeiten,
Puppen und Steckenpferde betrifft, wär' es unbillig, euch im
Besitze des Rechtes, eure Puppe und euer Steckenpferd nach
Belieben zu putzen und zu reiten, stören zu wollen. Gesetzt
auch, eure Puppe wäre häßlich, und das, was ihr euer Steckenpferd
nennt, sähe von vorn und von hinten einem Oechslein
oder Eselein ähnlich: was thut das? Wenn eure Thorheiten
euch glücklich und niemand unglücklich machen, was geht es
andre Leute an daß es Thorheiten sind? Warum sollte nicht
der hochweise Rath von Abdera, in feierlicher Procession, einer
hinter dem andern, vom Rathhause bis zum Tempel der Latona
—Burzelbäume machen dürfen, wenn es dem Rath und dem
Volke von Abdera so gefällig wäre? Warum solltet ihr euer
bestes Gebäude nicht in einen Winkel, und eure schöne kleine
Venus nicht auf einen Obelisk setzen dürfen? —Aber, meine
lieben Landsleute, nicht alle eure Thorheiten sind so unschuldig
wie diese; und wenn ich sehe, daß ihr euch durch eure Grillen
und Aufwallungen Schaden thut, so müßt' ich euer Freund
nicht seyn, wenn ich still dazu schweigen könnte. Zum Beispiel,
euer Frosch- und Mäusekrieg mit den Lemniern, der unnöthigste
und unbesonnenste der jemals angefangen wurde,
um einer Tänzerin willen? — Es fiel in die Augen, daß
ihr damals unter dem unmittelbaren Einfluß eures bösen
Dämons waret, da ihr ihn beschlosset; alles half nichts, was
man euch dagegen vorstellte. Die Lemnier sollen gezüchtigt
werden, hieß es; und, wie ihr Leute von lebhafter Einbildung
seyd, so schien euch nichts leichter, als euch von ihrer ganzen
Insel Meister zu machen. Denn die Schwierigkeiten einer
Sache pflegt ihr nie eher in Erwägung zu nehmen, als bis
euch eure Nase daran erinnert. Doch dies alles möchte noch
hingegangen seyn, wenn ihr nur wenigstens die Ausführung
eurer Entwürfe einem tüchtigen Mann aufgetragen hättet.
Aber den jungen Aphron zum Feldherrn zu machen, ohne daß sich
irgend ein möglicher Grund davon erdenken ließ, als weil
eure Weiber fanden, daß er in seiner prächtigen neuen Rüstung
so schön wie ein Paris sey, und —über dem Vergnügen, einen
großen feuerfarbenen Federbusch auf seinem hirnlosen Kopfe
nicken zu sehen — zu vergessen, daß es nicht um ein Lustgefecht
zu thun war: dieß, läugnet's nur nicht, dieß war ein
Abderitenstreich! Und nun, da ihr ihn mit dem Verlust eurer
Ehre, eurer Galeeren und eurer besten Mannschaft bezahlt habt,
was hilft es euch, daß die Athener, die ihr euch in ihren
Thorheiten zum Muster genommen habt, eben so sinnreiche
Streiche, und zuweilen mit eben so glücklichem Ausgang zu
spielen pflegen?In diesem Tone sprach Demokrit mit den Abderiten,
so oft sie ihm Gelegenheit dazu gaben; aber, wiewohl dieß sehr oft
geschah, so konnten sie sich doch unmöglich gewöhnen, diesen
Ton angenehm zu finden. "So geht es, sagten sie, wenn
man naseweisen Jünglingen erlaubt, in der weiten Welt herumzureisen,
um sich ihres Vaterlandes schämen zu lernen, und
nach zehn oder zwanzig Jahren mit einem Kopfe voll ausländischer
Begriffe als Kosmopoliten zurückzukommen, die alles
besser wissen als ihre Großväter, und alles anderswo besser
gesehen haben als zu Hause. Die alten Aegyptier, die niemand
reisen ließen eh' er wenigstens fünfzig Jahre auf dem Rücken
hatte, waren weise Leute!"Und eilends gingen die Abderiten hin, und machten ein
Gesetz: daß kein Abderitensohn hinfort weiter als bis an den
Korinthischen Isthmus, länger als ein Jahr, und anders als
unter der Aufsicht eines bejahrten Hofmeisters von Altabderitischer
Abkunft, Denkart und Sitte, sollte reisen dürfen.
"Junge Leute müssen zwar die Welt sehen, sagte das Decret:
aber eben darum sollen sie sich an jedem Orte nicht länger
aufhalten, als bis sie alles, was mit Augen da zu sehen ist
gesehen haben. Besonders soll der Hofmeister genau bemerken,
was für Gasthöfe sie angetroffen, wie sie gegessen, und wie
viel sie bezahlen müssen; damit ihre Mitbürger sich in der
Folge diese ersprießlichen Geheimnachrichten zu nutze machen
können. Ferner soll (wie das Decret weiter sagt), zu Ersparung
der Unkosten eines allzu langen Aufenthalts an Einem Orte,
der Hofmeister dahin sehen, daß der junge Abderit in keine unnöthigen
Bekanntschaften verwickelt werde. Der Wirth oder
der Hausknecht, als an dem Orte einheimische und unbefangene
Personen können ihm am besten sagen, was da Merkwürdiges
zu sehen ist, wie die dasigen Gelehrten und Künstler heißen,
wo sie wohnen, und um welche Zeit sie zu sprechen sind; dieß
bemerkt sich der Hofmeister in sein Tagebuch; und dann läßt
sich in zwei oder drei Tagen, wenn man die Zeit wohl zu
Rathe hält, vieles in Augenschein nehmen."Zum Unglück für dieses weise Decret befanden sich ein
paar Abderitische junge Herren von großer Wichtigkeit eben
außer Landes, als es abgefaßt und (nach alter Gewohnheit)
dem Volk auf den Hauptplätzen der Stadt vorgesungen wurde.
Der eine war der Sohn eines Krämers, der durch Geiz und
niederträchtige Kunstgriffe in seinem Gewerbe binnen vierzig
Jahren ein beträchtliches Vermögen zusammengekratzt und
kraft desselben seine Tochter (das häßlichste und dümmste
Thierchen von ganz Abdera) kürzlich an einen Neffen des
kleinen dicken Rathsherrn, dessen oben rühmliche Erwähnung
gethan worden, verheirathet hatte. Der andere war der
einzige Sohn des Nomophylax, und sollte, um seinem Vater
je eher je lieber in diesem Amte beigeordnet werden zu können,
nach Athen reisen und sich mit dem Musikwesen daselbst
genauer bekannt machen; während daß der Erbe des Krämers,
der ihn begleiten wollte, mit den Putzmacherinnen und Sträußermädchen
allda genauere Bekanntschaft zu machen gesonnen war.
Nun hatte das Decret an den besondern Fall, worin sich diese
jungen Herren befanden, nicht gedacht. Die Frage war also,
was zu thun sey? Ob man auf eine Modification des Gesetzes
antragen, oder beim Senat bloß um Dispensation für den
vorliegenden Fall ansuchen sollte?Keines von beiden, sagte der Nomophylax, der eben mit
Aufsetzung eines neuen Tanzes auf das Fest der Latona fertig
und außerordentlich mit sich selbst zufrieden war. Um etwas
am Gesetze zu ändern, müßte man das Volk deßwegen zusammenberufen;
und dieß würde unsern Mißgünstigen nur
Gelegenheit geben die Mäuler aufzureißen. Was die Dispensation
betrifft, so ist zwar an dem, daß man die Gesetze
meistens um der Dispensationen willen macht; und ich zweifle
nicht, der Senat würde uns ohne Schwierigkeit zugestehen,
was jeder in ähnlichen Fällen kraft des Gegenrechtes fordern
zu können wünscht. Indessen hat doch jede Befreiung das
Ansehen einer erwiesenen Gnade; und wozu haben wir nöthig
uns Verbindlichkeiten aufzuhalsen? Das Gesetz ist ein schlafender
Löwe, bei dem man, so lang' er nicht aufgeweckt wird
so sicher als bei einem Lamme vorbeischleichen kann. Und
wer wird die Unverschämtheit oder die Verwegenheit haben,
ihn gegen den Sohn des Nomophylax aufzuwecken?Dieser Beschirmer der Gesetze war, wie wir sehen, ein
Mann, der von den Gesetzen und von seinem Amte sehr verfeinerte
Begriffe hatte, und sich der Vortheile, die ihm das
letztere gab, fertig zu bedienen wußte. Sein Name verdient
aufbehalten zu werden. Er nannte sich Gryllus, des Cyniskus
Sohn.—————
Zehntes Kapitel.Demokrit zieht sich aufs Land zurück, und wird von den Abderiten
fleißig besucht. Allerlei Raritäten, und eine Unterredung vom Schlaraffenlande
der Sittenlehrer.Demokrit hatte sich, da er in sein Vaterland zurückkam,
mit dem Gedanken geschmeichelt, demselben, mittelst alles
dessen, um was sich sein Verstand und sein Herz indessen gebessert
hatte, nützlich werden zu können. Er hatte sich nicht
vorgestellt, daß es mit den Abderitischen Köpfen so gar übel
stände, als er es nun wirklich fand. Aber da er sich einige
Zeit unter ihnen aufgehalten, sah er augenscheinlich, daß es
ein eitles Unternehmen gewesen wäre, sie verbessern zu wollen.
Alles war bei ihnen so verschoben, daß man nicht wußte wo
man die Verbesserung anfangen sollte. Jeder ihrer Mißbräuche
hing an zwanzig andern; es war unmöglich Einen
davon abzustellen, ohne den ganzen Staat umzuschaffen. Eine
gute Seuche (dacht' er), welche das ganze Völkchen — bis auf
etliche Duzend Kinder, die gerade groß genug wären um der
Ammen entbehren zu können — von der Erde vertilgte, wäre
das einzige Mittel, das der Stadt Abdera helfen könnte; den
Abderiten ist nicht zu helfen!Er beschloß also sich mit guter Art von ihnen zurückzuziehen,
und ein kleines Gut zu bewohnen, das er in ihrer
Gegend besaß, und mit dessen Benutzung und Verschönerung
er sich die Stunden beschäftigte, die ihm sein Lieblingsstudium,
die Erforschung der Naturwirkungen, übrig ließ. Aber zum
Unglück für ihn lag dieß Landgut zu nahe bei Abdera. Denn
weil die Lage desselben ungemein schön, und der Weg dahin
einer der angenehmsten Spaziergänge war, so sah er sich alle
Tage Gottes von einem Schwarm Abderiten und Abderitinnen
(lauter Vettern und Basen) heimgesucht, welche das schöne
Wetter und den angenehmen Spaziergang zum Vorwande nahmen,
ihn in seiner glücklichen Einsamkeit zu stören.Wiewohl Demokrit den Abderiten wenigstens nicht besser
gefiel als sie ihm, so war doch die Wirkung davon sehr verschieden.
Er floh sie, weil sie ihm lange Weile machten; und
sie suchten ihn, weil sie sich die Zeit dadurch vertrieben. Er
wußte die seinige anzuwenden; sie hingegen hatten nichts
Besseres zu thun."Wir kommen Ihnen in Ihrer Einsamkeit die Zeit kürzen
zu helfen," sagten die Abderiten.Ich pflege in meiner eigenen Gesellschaft sehr kurze Zeit
zu haben, sagte Demokrit."Aber wie ist es möglich, daß man immer so allein seyn
kann? rief die schöne Pithöka, Ich würde vor langer Weile
vergehen, wenn ich einen einzigen Tag leben sollte ohne Leute
zu sehen."Sie versprachen sich, Pithöka; von Leuten gesehen zu
werden, wollten Sie sagen."Aber (fuhr einer heraus), woher nehmen Sie, daß unser
Freund lange Weile hat? Sein ganzes Haus ist mit Seltenheiten
angefüllt. Mit Ihrer Erlaubniß, Demokrit — Lassen
Sie uns doch die schönen Sachen sehen, die Sie auf Ihrer
Reise gesammelt haben."Nun ging das Leiden des armen Einsiedlers erst recht an.
Er hatte in der That eine schöne Sammlung von Naturalien
aus allen Reichen der Natur mitgebracht: ausgestopfte Thiere
und Vögel, getrocknete Fische, seltene Schmetterlinge, Muscheln,
Versteinerungen, Erze u. s. w. Alles war den Abderiten neu;
alles erregte ihr Erstaunen. Der gute Naturforscher wurde
in einer Minute mit so viel Fragen übertäubt, daß er, wie
Fama, aus lauter Ohren und Zungen hätte zusammengesetzt
seyn müssen, um auf alles antworten zu können."Erklären Sie uns doch, was dieses ist? wie es heißt?
woher es ist? wie es zugeht? warum es so ist?"Demokrit erklärte so gut er konnte und wußte; aber den
Abderiten wurde nichts klärer dadurch; es war ihnen vielmehr
als begriffen sie immer weniger von der Sache je mehr er
sie erklärte. Seine Schuld war es nicht!"Wunderbar! Unbegreiflich! Sehr wunderbar!" — war
ihr ewiger Gegenklang.So natürlich als etwas in der Welt! erwiederte er ganz
kaltsinnig."Sie sind gar zu bescheiden, Vetter! oder vermuthlich
wollen Sie nur, daß man Ihnen desto mehr Complimente
über Ihren guten Geschmack und über Ihre großen Reisen
machen soll!"Setzen Sie sich deßwegen in keine Unkosten, meine Herren
und Damen! Ich nehme alles für empfangen an."Aber es mag doch eine angenehme Sache seyn, so tief in
die Welt hineinzureisen?" — sagte ein Abderit."Und ich dächte gerade das Gegentheil, erwiederte ein
anderer. — Nehmen Sie alle die Gefahren und Beschwerlichkeiten,
denen man täglich ausgesetzt ist, die schlimmen Straßen,
die schlechten Gasthöfe, die Sandbänke, die Schiffbrüche,
die wilden Thiere, Krokodile, Einhörner, Greifen
und geflügelte Löwen, von denen in der Barbarei alles wimmelt! —""Und dann, was hat man am Ende davon (fiel ein Matador
von Abdera ein), wenn man gesehen hat wie groß die
Welt ist? Ich dächte, das Stück, das ich selbst davon besitze,
käme mir dann so klein vor, daß ich keine Freude mehr daran
haben könnte.""Aber rechnen Sie für nichts, so viel Menschen zu
sehen?" — erwiederte der erste."Und was sieht man denn da? Menschen! Die konnte
man zu Hause sehen. Es ist allenthalben wie bei uns.""Ei, hier ist gar ein Vogel ohne Füße!" rief ein junges
Frauenzimmer."Ohne Füße? — Und der ganze Vogel nur eine einzige
Feder! das ist erstaunlich! — sprach eine andere. Begreifen
Sie das?""Ich bitte Sie lieber Demokrit, erklären Sie uns, wie
er gehen kann da er keine Füße hat?""Und wie er mit einer einzigen Feder fliegt?""O, was ich am liebsten sehen möchte, sagte eine von den
Basen, das wäre ein lebendiger Sphinx! — Sie müssen deren
wohl viele in Aegypten gefunden haben?""Aber ist's möglich, ich bitte Sie, daß die Weiber und
Töchter der Gymnosophisten in Indien — wie man sagt —Sie
verstehen mich doch, was ich fragen will?"Nicht ich, Frau Salabanda!"O Sie verstehen mich gewiß! Sie sind ja in Indien
gewesen? Sie haben die Weiber der Gymnosophisten gesehen?O ja, und Sie können mir glauben, daß die Weiber der
Gymnosophisten weder mehr noch weniger Weiber sind als die
Weiber der Abderiten."Sie erweisen uns viel Ehre. Aber dieß ist nicht, was
ich wissen wollte. Ich frage, ob es wahr ist, daß sie —"
Hier hielt Frau Salabanda eine Hand vor ihren Busen, und
die andere — kurz, sie setzte sich in die Stellung der Mediceischen
Venus, um dem Philosophen begreiflich zu machen,
was sie wissen wollte. "Nun verstehen Sie mich doch?"
sagte sie.Ja, Madame, die Natur ist nicht karger gegen sie gewesen
als gegen andre. Welch eine Frage das ist!"Sie wollen mich nicht verstehen, loser Mann! Ich dächte
doch, ich hätte Ihnen deutlich genug gesagt, daß ich wissen
möchte, ob es wahr sey daß sie —weil Sie doch wollen, daß ich's
Ihnen unverblümt sage — so nackend gehen als sie auf die
Welt kommen?""Nackend! — riefen die Abderitinnen alle auf einmal.
Da wären sie ja noch unverschämter als die Mädchen in Lacedämon!
Wer wird auch so was glauben?"Sie haben Recht, sagte der Naturforscher: die Weiber
der Gymnosophisten sind weniger nackend als die Weiber der
Griechen in ihrem vollständigsten Anzuge; sie sind vom Kopf bis
zu den Füßen in ihre Unschuld und in die öffentliche Ehrbarkeit
eingehüllt."Wie meinen Sie das?"Kann ich mich deutlicher erklären?"Ach, nun versteh' ich Sie! Es soll ein Stich sein! Aber
Sie scherzen doch wohl nur mit Ihrer Ehrbarkeit und Unschuld.
Wenn die Weiber der Gymnosophisten nicht haltbarer gekleidet
sind, so — müssen sie entweder sehr häßlich, oder die Männer
in ihrem Lande sehr frostig seyn."Keines von beiden. Ihre Weiber sind wohl gebildet, und
ihre Kinder gesund und voller Leben; ein unverwerfliches Zeugniß
zu Gunsten ihrer Väter, däucht mich!"Sie sind ein Liebhaber von Paradoxen, Demokrit, sprach
der Matador; aber Sie werden mich in Ewigkeit nicht überreden,
daß die Sitten eines Volkes desto reiner seyen, je
nackender die Weiber desselben sind."Wenn ich ein so großer Liebhaber von Paradoxen wäre
als man mich beschuldigt, so würde es mir vielleicht nicht
schwer fallen, Sie dessen durch Beispiele und Gründe zu überführen.
Aber ich bin dem Gebrauch der Gymnosophistinnen
nicht günstig genug, um mich zu seinem Vertheidiger aufzuwerfen.
Auch war meine Meinung gar nicht, das zu sagen
was mich der scharfsinnige Kratylus sagen läßt. Die Weiber
der Gymnosophisten schienen mir nur zu beweisen, daß Gewohnheit
und Umstände in Gebräuchen dieser Art alles entscheiden.
Die Spartanischen Töchter, weil sie kurze Röcke,
und die am Indus, weil sie gar keine Röcke tragen, sind
darum weder unehrbarer noch größerer Gefahr ausgesetzt, als
diejenigen, die ihre Tugend in sieben Schleier einwickeln.
Nicht die Gegenstände, sondern unsre Meinungen von denselben,
sind die Ursache unordentlicher Leidenschaften. Die Gymnosophisten,
welche keinen Theil des menschlichen Körpers für
unedler halten als den andern, sehen ihre Weiber, wiewohl
sie bloß in ihr angebornes Fell gekleidet sind, für eben so
gekleidet an, als die Skythen die ihrigen, wenn sie ein Tigerkatzenfell
um die Lenden hangen haben."Ich wünschte nicht, daß Demokrit mit seiner Philosophie
so viel über unsre Weiber vermöchte, daß sie sich solche Dinge
in den Kopf setzten," — sagte ein ehrenfester steifer Abderit,
der mit Pelzwaaren handelte."Ich auch nicht," — stimmte ein Leinwandhändler ein.Ich wahrlich auch nicht, sagte Demokrit, wiewohl ich weder
mit Pelzen noch Leinwand handle."Aber Eins erlauben Sie mir noch zu fragen, lispelte
die Base, die so gern lebendige Sphinxe gesehen haben möchte:
Sie sind in der ganzen Welt herumgekommen; und es soll
da viele wunderbare Länder geben, wo alles anders ist als bei"Ich glaube kein Wort davon," murmelte der Rathsherr,
indem er, wie Homers Jupiter, das ambrosische Haar auf seinem
weisheitsschwangern Kopfe schüttelte."Sagen Sie mir doch, fuhr die Base fort, in welchem
unter allen diesen Ländern gefiel es Ihnen am besten?"Wo könnt' es einem besser gefallen, als — zu Abdera?"O wir wissen schon daß dieß Ihr Ernst nicht ist. Ohne
Complimente! antworten Sie der jungen Dame wie Sie
denken," — sagte der Rathsherr.Sie werden über mich lachen, erwiederte Demokrit: aber
weil Sie es verlangen, schöne Klonarion, so will ich Ihnen
die reine Wahrheit sagen. Haben Sie nie von einem Lande
gehört, wo die Natur so gefällig ist, neben ihren eigenen Verrichtungen
auch noch die Arbeit der Menschen auf sich zu nehmen?
Von einem Lande, wo ewiger Friede herrscht? wo niemand
Knecht und niemand Herr, niemand arm und jedermann
reich ist; wo der Durst nach Golde zu keinen Verbrechen zwingt.
weil man das Gold zu nichts gebrauchen kann; wo eine Sichel
ein eben so unbekanntes Ding ist als ein Schwert; wo der
Fleißige nicht für den Müßiggänger arbeiten muß, wo es keine
Aerzte gibt weil niemand krank wird, keine Richter weil es
keine Händel gibt, keine Händel weil jedermann zufrieden ist,
und jedermann zufrieden ist, weil jedermann alles hat was er
nur wünschen kann; — mit Einem Worte, von einem Lande,
wo alle Menschen so fromm wie die Lämmer, und so glücklich
wie die Götter sind? — Haben Sie nie von einem solchen
Lande gehört?"Nicht, daß ich mich erinnerte."Das nenn' ich ein Land Klonarion! Da ist es nie zu
warm und nie zu kalt, nie zu naß und nie zu trocken; Frühling
und Herbst regieren dort nicht wechselsweise, sondern,
wie in den Gärten des Alcinous, zugleich in ewiger Eintracht.
Berge und Thäler, Wälder und Auen sind mit allem angefüllt,
was des Menschen Herz gelüsten kann. Aber nicht etwa, daß
die Leute sich die Mühe geben müßten die Hasen zu jagen,
die Vögel oder Fische zu fangen, und die Früchte zu pflücken,
die sie essen wollen; oder daß sie die Gemächlichkeiten, deren
sie genießen, erst mit vielem Ungemach erkaufen müßten.
Nein! alles macht sich da von selbst. Die Rebhühner und
Schnepfen fliegen einem gespickt und gebraten um den Mund,
und bitten demüthig daß man sie essen möchte; Fische von allen
Arten schwimmen gekocht in Teichen von allen möglichen Brühen,
deren Ufer immer voll Austern, Krebse, Pasteten, Schinken
und Ochsenzungen liegen. Hasen und Rehböcke kommen
freiwillig herbeigelaufen, streifen sich das Fell über die Ohren,
stecken sich an den Bratspieß, und legen sich, wenn sie gar
sind, von selbst in die Schüssel. Allenthalben stehen Tische,
die sich selbst decken; und weich gepolsterte Ruhebettchen laden
allenthalben zum Ausruhen vom — Nichtsthun und zu angenehmen
Ermüdungen ein. Neben denselben rauschen kleine
Bäche von Milch und Honig, von Cyprischem Wein, Citronenwasser
und andern angenehmen Getränken; und über sie
her wölben sich, mit Rosen und Jasmin untermengt, Stauden
voller Becher und Gläser, die sich, so oft sie ausgetrunken
werden, gleich von selbst wieder anfüllen. Auch gibt es
da Bäume, die statt der Früchte kleine Pastetchen, Bratwürste,
Mandelkrapfen und Buttersemmeln tragen; andere, die
an allen Aesten mit Geigen, Harfen, Cithern, Theorben,
Flöten und Waldhörnern behangen sind, welche von sich selbst
das angenehmste Concert machen, das man hören kann. Die
glücklichen Menschen, nachdem sie den wärmern Theil des
Tages verschlafen und den Abend vertanzt, versungen und
verscherzt haben, erfrischen sich dann in kühlen marmornen
Bädern, wo sie von unsichtbaren Händen sanft gerieben, mit
feinem Byssus, der sich selbst gesponnen und gewebt hat, abgetrocknet,
und mit den kostbarsten Essenzen, die aus den
Abendwolken herunterthauen, eingebalsamt werden. Dann
legen sie sich auf schwellende Polster um volle Tafeln her, und
essen und trinken und lachen, singen und tändeln und küssen
die ganze Nacht durch, die ein ewiger Vollmond zum sanftern
Tage macht; und — was doch das angenehmste ist —"O gehen Sie, Herr Demokrit, Sie haben mich zum
Besten! Was Sie mir da erzählen, ist ja das Mährchen
vom Schlaraffenlande, das ich tausendmal von meiner Amme
gehört habe, wie ich noch ein kleines Mädchen war."Aber Sie finden doch auch, Klonarion, daß sich's gut in
diesem Lande leben müßte?"Merken Sie denn nicht, daß unter allem diesem eine
geheime Bedeutung verborgen liegt? sagte der weise Rathsmann;
vermuthlich eine Satyre auf gewisse Philosophen,
welche das höchste Gut in der Wollust suchen."Schlecht gerathen, Herr Rathsherr! dachte Demokrit."Ich erinnere mich in den Amphiktyonen des Teleklides
eine ähnliche Beschreibung des goldnen Alters gelesen zu
haben," sagte Frau Salabanda.Das Land, das ich der schönen Klonarion beschrieb, sprach
der Naturforscher, ist keine Satyre: es ist das Land, in
welches von jedem Duzend unter euch weisen Leuten zwölf
sich im Herzen hineinwünschen und nach Möglichkeit hinein
arbeiten, und in welches uns eure Abderitischen Sittenlehrer
hinein declamiren wollen; wenn anders ihre Declamationen
irgend einen Sinn haben."Ich möchte wohl wissen, wie Sie dieß verstehen! sagte
der Rathsherr, der (vermög' einer vieljährigen Gewohnheit,
nur mit halben Ohren zu hören, und sein Votum im Rath
schlummernd von sich zu geben) sich nicht gern die Mühe
nahm einer Sache lange nachzudenken.Sie lieben eine starke Beleuchtung, wie ich sehe, Herr
Rathsmeister, erwiederte Demokrit. Aber zu viel Licht ist
zum Sehen eben so unbequem als zu wenig. Helldunkel ist,
däucht mich, gerade so viel Licht, als man braucht, um in
solchen Dingen weder zu viel noch zu wenig zu sehen. Ich
setze zum voraus, daß Sie überhaupt sehen können. Denn
wenn dieß nicht wäre, so begreifen Sie wohl, daß wir beim
Lichte von zehntausend Sonnen nicht besser sehen würden, als
beim Schein eines Feuerwurms."Sie sprechen von Feuerwürmern? — sagte der Rathsherr,
indem er bei dem Worte Feuerwurm aus einer Art
von Seelenschlummer erwachte, in welchen er über dem Gaffen
nach Salabandens Busen, während Demokrit redete, gefallen
war. — Ich dachte wir sprächen von den Moralisten.Von Moralisten oder Feuerwürmern, wie es Ihnen beliebt,
versetzte Demokrit. Was ich sagen wollte, um Ihnen
die Sache, wovon wir sprachen, deutlich zu machen, war dieß:
ein Land, wo ewiger Friede herrscht, und wo alle Menschen
in gleichem Grabe frei und glücklich sind; wo das Gute nicht
mit dem Bösen vermischt ist, Schmerz nicht an Wollust und
Tugend nicht an Untugend gränzt, wo lauter Schönheit, lauter
Ordnung, lauter Harmonie ist — mit Einem Wort, ein
Land, wie Ihre Moralisten den ganzen Erdboden haben wollen,
ist entweder ein Land, wo die Leute keinen Magen und
keinen Unterleib haben, oder es muß schlechterdings das Land
seyn, das uns Teleklides schildert, aus dessen Amphiktyonen
ich (wie die schöne Salabanda sehr wohl bemerkt hat) meine
Beschreibung genommen habe. Vollkommene Gleichheit, vollkommene
Zufriedenheit mit dem Gegenwärtigen, immerwährende
Eintracht — kurz, die Saturnischen Zeiten, wo man
keine Könige, keine Priester, keine Soldaten, keine Rathsherren,
keine Moralisten, keine Schneider, keine Köche, keine
Aerzte und keine Scharfrichter braucht, sind nur in dem Lande
möglich, wo einem die Rebhühner gebraten in den Mund
fliegen, oder (welches ungefähr eben so viel sagen will) wo
man keine Bedürfnisse hat. Dieß ist, wie mich däucht, so klar,
daß es demjenigen, dem es dunkel ist, durch alles Licht im
Feuerhimmel nicht klärer gemacht werden könnte. Gleichwohl
ärgern sich Ihre Moralisten darüber, daß die Welt so ist wie
sie ist, und wenn der ehrliche Philosoph, der die Ursachen weiß
warum sie nicht anders seyn kann, den Aerger dieser Herren
lächerlich findet, so begegnen sie ihm als ob er ein Feind der
Götter und Menschen wäre; welches zwar an sich selbst noch
lächerlicher ist, aber zuweilen da, wo die milzsüchtigen Herren
den Meister spielen, einen ziemlich tragischen Ausgang nimmt."Aber was wollen Sie denn, daß die Moralisten thun
sollen?"Die Natur erst ein wenig kennen lernen, ehe sie sich einfallen
lassen es besser zu wissen als sie; verträglich und duldsam
gegen die Thorheiten und Unarten der Menschen seyn,
welche die ihrigen dulden müssen; durch Beispiele bessern, statt
durch frostiges Gewäsche zu ermüden, oder durch Schmähreden
zu erbittern; keine Wirkungen fordern, wovon die Ursachen
noch nicht da sind, und nicht verlangen daß wir die Spitze
eines Berges erreicht haben sollen, ehe wir hinauf gestiegen
sind."So unsinnig wird doch niemand sign?" — sagte der
Abderiten einer.So unsinnig sind neun Zehntheile der Gesetzgeber, Projectmacher,
Schulmeister und Weltverbesserer auf dem ganzen
Erdenrund alle Tage! — sagte Demokrit.Die zeitverkürzende Gesellschaft, welche die Laune des
Naturforschers unerträglich zu finden anfing, begab sich nun
wieder nach Hause, und dahlte unterwegs, beim Glanz des
Abendsterns und einer schönen Dämmerung, von Sphinxen,
Einhörnern, Gymnosophisten und Schlaraffenländern; und so
viel Mannichfaltigkeit auch unter allen den Albernheiten,
welche gesagt wurden, herrschte, so stimmten doch alle darin
überein: daß Demokrit ein wunderlicher, einbildischer, überkluges,
tadelsüchtiger, wiewohl bei allem dem ganz kurzweiliger
Sonderling sey. — Sein Wein ist das Beste, was man bei
ihm findet, sagte der Rathsherr.Gütiger Anubis! dachte Demokrit da er wieder allein
war: was man nicht mit diesen Abderiten reden muß, um
sich — die Zeit von ihnen vertreiben zu lassen!—————
Eilftes Kapitel.Etwas von den Abderitischen Philosophen, und wie Demokrit das Unglück
hat, sich mit ein paar wohlgemeinten Worten in sehr schlimmen Credit
zu setzen.Daß man sich aber gleichwohl nicht einbilde, als ob alle
Abderiten ohne Ausnahme durch ein Gelübde oder durch einen
Bürgereid verbunden gewesen seyen, nicht mehr Verstand zu
haben als ihre Großmütter, Ammen und Rathsherren! Abdera,
die Nebenbuhlerin von Athen, hatte auch Philosophen, das
heißt, sie hatte Philosophen — wie sie Maler und Dichter
hatte. Der berühmte Sophist Protagoras war ein Abderit
gewesen, und hatte eine Menge Schüler hinterlassen, die
ihrem Meister zwar nicht an Witz und Beredsamkeit gleichkamen,
aber ihm dafür auch an Eigendünkel und Albernheit
desto überlegener waren.Diese Herren hatten sich eine bequeme Art von Philosophie
zubereitet, vermittelst welcher sie ohne Mühe auf jede Frag'
eine Antwort fanden, und von allem was unter und über
der Sonne ist so geläufig schwatzten, daß — insofern sie nur
immer Abderiten zu Zuhörern hatten — die guten Zuhörer
sich festiglich einbildeten, ihre Philosophen wüßten sehr viel
mehr davon als sie selbst; wiewohl im Grunde der Unterschied
nicht so groß war, daß ein vernünftiger Mann eine Feige
darum gegeben hatte. Denn am Ende lief es doch immer
darauf hinaus, daß der Abderitische Philosoph, etliche lange
nichtsbedeutende Wörter abgerechnet, gerade so viel von der
Sache wußte, als derjenige unter allen Abderiten, — der
am wenigsten davon zu wissen glaubte.Die Philosophen, vermuthlich weil sie es für zu klein
hielten, in den Detail der Natur herab zu steigen, geben sich
mit lauter Aufgaben ab, die außerhalb der Grenzen des
menschlichen Verstandes liegen. Bis in diese Region, dachten
sie, folgt uns niemand, als — wer unsersgleichen ist; und
was wir auch den Abderiten davon vorsagen, so sind wir
wenigstens gewiß, daß uns niemand Lügen strafen kann.Zum Beispiel, eine ihrer Lieblingsmaterien war die
Frage: "Wie, warum und woraus die Welt entstanden sey?""Sie ging aus einem Ei hervor," sagte einer: "der
Aether war das Weiße, das Chaos der Dotter, und die
Nacht brütete es aus.""Sie ist aus Feuer und Wasser entstanden," sagte ein
andrer."Sie ist gar nicht entstanden," sprach der dritte. "Alles
war immer so wie es ist, und wird immer so bleiben wie
es war."Diese Meinung fand in Abdera wegen ihrer Bequemlichkeit
vielen Beifall. Sie erklärt alles, sagten sie, ohne daß man
nöthig hat, sich erst lange den Kopf zu zerbrechen. Es ist
immer so gewesen, war die gewöhnliche Antwort eines Abderiten,
wenn man ihn nach der Ursache oder dem Ursprung
einer Sache fragte; und wer sich daran nicht ersättigen wollte,
wurde für einen stumpfen Kopf angesehen."Was ihr Welt nennt," sagte der vierte, "ist eigentlich
eine ewige Reihe von Welten, die, wie die Häute einer
Zwiebel, übereinander liegen, und sich nach und nach ablösen."Sehr deutlich gegeben, riefen die Abderiten, sehr deutlich!
Sie glaubten den Philosophen verstanden zu haben,
weil sie sehr gut wußten, was eine Zwiebel war."Chimäre! sprach der fünfte. Es gibt freilich unzählige
Welten; aber sie entstehen aus der ungefähren Bewegung
untheilbarer Sonnenstäubchen, und es ist viel Glück, wenn,
nach zehntausendmal tausend übelgerathenen, endlich eine
heraus kommt, die noch so leidlich vernünftig aussieht wie
die unsrige.""Atomen geb' ich zu, sprach der sechste; aber keine Bewegung
von Ungefähr und ohne Richtung. Die Atomen sind
nichts, oder sie haben bestimmte Kräfte und Eigenschaften,
und, je nachdem sie einander ähnlich oder unähnlich sind,
ziehen sie einander an, oder stoßen sich zurück. Daher machte
der weise Empedokles (der Mann, der, um die wahre Beschaffenheit
des Aetna zu erkundigen, sich weislich in den
Schlund desselben hineingestürzt haben soll) Haß und Liebe
zu den ersten Ursachen aller Zusammensetzungen; und Empedokles
hat Recht.""Um Vergebung, meine Herren, ihr habt alle Unrecht,
sprach der Philosoph Sisamis. In Ewigkeit wird weder aus
eurem mystischen Ei, noch aus euerm Bündniß zwischen Feuer
und Wasser, noch aus euern Atomen, noch aus euern Homöomerien,
eine Welt herauskommen, wenn ihr keinen Geist
zu Hülfe nehmt. Die Welt ist (wie jedes andre Thier) eine
Zusammensetzung von Materie und Geist. Der Geist ist es,
der dem Stoffe Form gibt; beide sind von Ewigkeit her vereinigt:
und, so wie einzelne Körper aufgelöst werden, sobald
der Geist, der ihre Theile zusammenhielt, sich zurückzieht;
so würde, wenn der allgemeine Weltgeist aufhören könnte
das Ganze zu umfassen und zu beleben, Himmel und Erde
im nämlichen Augenblick in einen einzigen, ungeheuern, gestaltlosen,
finstern und todten Klumpen zusammenfallen."Davor wolle Jupiter und Latona seyn! riefen die Abderiten,
nicht ohne sich zu entsetzen, wie sie den Mann eine
so fürchterliche Drohung ausstoßen hörten.Es hat keine Gefahr, sagte der Priester Strobylus: so
lange wir die Frösche der Latona in unsern Mauern haben,
soll es der Weltgeist der Sisamis wohl bleiben lassen, solchen
Unfug in der Welt anzurichten."Meine Freunde, sprach der achte, der Weltgeist des
weisen Sisamis ist mit den Atomen, Homöomerien, Zwiebeln
und Eiern meiner Collegen von gleichem Schlage. Einen Demiurg
müssen wir annehmen, wenn wir eine Welt haben wollen:
denn ein Gebäude setzt einen Baumeister oder wenigstens
einen Zimmermeister voraus; und nichts macht sich von sich
selbst, wie wir alle wissen."Aber man spricht doch alle Tage: dieß wird schon von
sich selbst kommen, oder von sich selbst gehen — sagten die
Abderiten."Man spricht wohl so, antwortete jener: allein, wo habt
ihr jemals gesehen, daß es wirklich so erfolgt wäre? Ich habe
freilich unsre Archonten wohl tausendmal sagen hören: es
wird sich schon geben! es wird schon kommen! dieß oder jenes
wird sich schon machen! Aber wir hatten gut warten: es gab
sich nicht, kam nicht, und machte sich nicht."Nur allzuwahr, was die Werke unsrer Archonten betrifft
(sagte ein alter Schuhflicker, der für einen Mann von
Einsicht beim Volke galt, und große Hoffnung hatte bei der
nächsten Wahl Zunftmeister zu werden); aber mit den Werken
der Natur, wie die Welt ist, mag es doch wohl anders bewandt
seyn. Warum sollte die Welt nicht eben so gut aus
dem Chaos hervorwachsen können, wie ein Pilz aus der Erde
wächst?"Meister Pfriem, versetzte der Philosoph, zum Zunftmeister
soll Er meine und aller meiner Vettern Stimme haben;
aber keine Einwürfe gegen mein System, wenn ich bitten
darf. Die Pilze wachsen freilich von selbst aus der Erde hervor,
weil — weil — weil sie Pilze sind: aber eine Welt
wächst nicht von selbst, weil sie kein Pilz ist. Versteht Er
mich nun, Meister Pfriem?Alle Anwesenden lachten von Herzen, daß Meister Pfriem
so abgeführt war. "Die Welt ist kein Pilz; dieß ist klar wie
Tageslicht, riefen die Abderiten; da ist nichts einzuwenden,
Meister Pfriem!"Verzweifelt! murmelte der künftige Zunftmeister; aber
so geht es, wenn man sich mit den Herren abgibt, welche
beweisen können, daß der Schnee weiß ist.
"Schwarz ist, wolltet ihr sagen, Nachbar."
Ich weiß, was ich gesagt habe und was ich sagen wollte,
antwortete Meister Pfriem; und ich wünschte nur, daß die
Republik —"Vergess' Er die vierzehn Stimmen nicht, die ich Ihm
verschaffe, Meister Pfriem!" rief der Philosoph. —Wohl, wohl! alles wohl! Aber Demiurg — das klingt
mir bald so wie Demagog; und ich will weder Demagogen
noch Demiurgen haben; ich bin für die Freiheit, und wer
ein guter Abderit ist, der schwinge seinen Hut und folge mir!Und hiermit ging Meister Pfriem davon (denn der Leser
merkt von selbst, daß alles dieß in einer Halle von Abdera
gesprochen wurde), und einige müßige Tölpel, die ihn allerwegen
zu begleiten pflegten, folgten ihm.Aber der Philosoph, ohne zu thun als ob er es gewahr
werde, fuhr fort: "Ohne einen Baumeister, einen Demiurg,
oder wie ihr ihn nennen wollt, läßt sich vernünftigerweise
keine Welt bauen. Aber, merket wohl, es kam auf den Demiurg
an, ob und wie er bauen wollte; und laßt sehen wie er es
anfing, Stellt euch die Materie als einen ungeheuern Klumpen
von vollkommen dichtem Krystall vor; und den Demiurg,
wie er mit einem großen Hammer von Diamant diesen Klumpen
auf Einen Schlag in so viele unendlich kleine Stückchen
zerschmettert, daß sie durch den leeren Raum viele Millionen
Kubikmeilen herum stieben. Natürlicherweise brachen
sich diese unendlich kleinen Stückchen Krystall auf verschiedene
Art; und indem sie, mit der ganzen Heftigkeit der Bewegung,
die ihnen der Schlag mit dem diamantenen Hammer gab,
auf tausendfache Art wider einander fuhren, und sich unter
einander auf allen Seiten stießen, schlugen und rieben, so
entstand daraus nothwendig eine unzählige Menge Körperchen
von allerlei unregelmäßigen Figuren: dreieckige, viereckige,
achteckige, vieleckige und runde. Aus den runden wurde Wasser
und Luft, welche nichts anders als verdünntes Wasser ist;
aus den dreieckigen Feuer; aus den übrigen die Erde; und
aus diesen vier Elementen setzt die Natur, wie ihr wißt,
alle Körper in der Welt zusammen."Das ist wunderbar, sehr wunderbar! aber es begreift
sich doch, sagten die Abderiten. Ein Klumpen Krystall, ein
diamantener Hammer, und ein Demiurg, der den Krystall so
meisterhaft in Stücken schlägt, daß aus den Splittern, ohne
seine weitere Bemühung, eine Welt entsteht! In der That
die scharfsinnigste Hypothese, die man sehen kann, und gleichwohl
so simpel, daß man dächte, man hätte sie alle Augenblicke
selbst erfinden können!"Ich erkläre mittelst dieser so simpeln Voraussezung alle
möglichen Wirkungen der Natur," — sagte der Philosoph
mit selbstzufriednem Lächeln.Nicht ein Wespennest, rief ein neunter, Dämonax genannt,
der den Behauptungen seiner Mitbrüder bisher mit
stillschweigender Verachtung zugehört hatte. Es gehören
andre Kräfte und Anstalten dazu, ein so großes, so schönes,
so wundervolles Werk, als dieses Weltgebäude ist, zu Stande
zu bringen. Nur ein höchst vollkommener Verstand konnte den
Plan davon erfinden; wiewohl ich gern gestehe, daß zur
Ausführung geringere Werkmeister hinlänglich waren. Er
überließ sie verschiedenen Classen der subalternen Götter, wies
einer jeden Classe ihren besondern Kreis an, in welchem sie
arbeitet, und begnügte sich, die allgemeine Aufsicht über das
Ganze zu führen. Es ist lächerlich, den Ursprung der Weltkörper,
des Erdbodens, der Pflanzen, der Thiere, und alles
dessen, was in Luft und Wasser ist, aus Atomen oder Sympathien
oder ungefährer Bewegung, oder einem einzigen
Hammerschlag erklären zu wollen. Geister sind es, welche in
den Elementen herrschen, die Sphären des Himmels drehen,
die organischen Körper bilden, das Frühlingsgewand der Natur
mit Blumen sticken, und die Früchte des Herbstes in ihren
Schooß ausgießen. Kann etwas faßlicher und angenehmer
seyn als diese Theorie? Sie erklärt alles; sie leitet jede
Wirkung aus einer ihr angemessenen Ursache ab; und durch
sie begreift man die, in jedem andern System unerklärbare,
Kunst der Natur eben so leicht, als man begreift, wie Zeuxis
oder Parrhasius mit ein wenig gefärbter Erde eine bezaubernde
Landschaft oder ein Bad der Diana erschaffen kann.Was für eine schöne Sache es um die Philosophie ist!
sagten die Abderiten. Alles was man daran aussetzen möchte,
ist, daß einem unter so viel feinen Theorien die Wahl sauer
wird.Indessen machte doch der Pythagoräer, der alles durch
Geister bewerkstelligte, das meiste Glück. Die Poeten, die
Maler und alle übrigen Schutzverwandten der Musen, mit
dem sämmtlichen Frauenzimmer von Abdera an ihrer Spitze,
erklärten sich für — die Geister; doch unter der Bedingung,
daß es ihnen erlaubt seyn müsse, sie in so angenehme Gestalten,
als jedem gefällig sey, einzukleiden.Ich bin nie ein besonderer Freund der Philosophie gewesen
(sagte der Priester Strobylus), und aus Ursache! Aber weil
doch die Abderiten ihr Grübeln über das Wie und Warum
der Dinge nun einmal nicht lassen können, so habe ich gegen
die Physik des Dämonax noch immer am wenigsten einzuwenden;
unter den gehörigen Einschränkungen verträgt sie
sich so ziemlich mit —"O sie verträgt sich mit allem in der Welt, sagte Dämonax;
dieß ist eben die Schönheit davon!"Endlich nahm Demokrit das Wort: soll ich euch, lieben
Freunde, nach allen den feinen und kurzweiligen Sachen, die
ihr bereits gehört habt, nun auch meine geringe Meinung
sagen? Wenn es euch etwa wirklich darum zu thun seyn
sollte, die Beschaffenheit der Dinge, die euch umgeben, kennen
zu lernen, so däucht mich ihr nehmt einen ungeheuern Umweg.
Die Welt ist sehr groß; und von dem Standorte,
woraus wir in sie hineingucken, nach ihren vornehmsten
Provinzen und Hauptstädten, ist es so weit, daß ich nicht
wohl begreife, wie sich einer von uns einfallen lassen kann,
die Karte eines Landes aufzunehmen, wovon ihm (sein angebornes
Dörfchen ausgenommen) alles übrige, ja sogar die
Gränzen unbekannt sind. Ich dächte, ehe wir Kosmogonien
und Kosmologien träumten, setzten wir uns hin und beobachteten,
zum Beispiel, den Ursprung einer Spinnewebe; und
dieß so lange, bis wir so viel davon herausgebracht hätten,
als fünf Menschensinne, mit Verstand angestrengt, daran entdecken
können. Ihr werdet zu thun finden, das könnt ihr mir
auf mein Wort glauben. Aber dafür werdet ihr auch erfahren,
daß euch diese einzige Spinnewebe mehr Aufschluß
über das große System der Natur, und würdigere Begriffe
von seinem Urheber geben wird, als alle die feinen Weltsysteme,
die ihr zwischen Wachen und Schlaf aus eurem
eignen Gehirn herausgesponnen habt.Demokrit meinte dieß im ganzen Ernst; aber die Philosophen
von Abdera glaubten, daß er ihrer spotten wolle. Er
versteht nichts von der Pneumatik, sagte der eine. Von der
Physik noch weniger, sagte der andere. Er ist ein Zweifler
— er glaubt keine Grundtriebe — keinen Weltgeist — keinen
Demiurg — keinen Gott! — sagte der dritte, vierte, fünfte,
sechste und siebente. Man sollte solche Leute gar nicht im
gemeinen Wesen dulden, sagte der Priester Strobylus.—————
Zwölftes Kapitel.Demokrit zieht sich weiter von Abdera zurück. Wie er sich in seiner
Einsamkeit beschäftigt. Er kommt bei den Abderiten in den Verdacht
daß er Zauberkünste treibe. Ein Experiment, das er bei dieser Gelegenheit
mit den Abderitischen Damen macht, und wie es abgelaufen.Bei dem allen war Demokrit ein Menschenfreund in der
ächtesten Bedeutung des Wortes. Denn er meinte es gut
mit der Menschheit, und freute sich über nichts so sehr, als
wenn er irgend etwas Böses verhüten, oder etwas Gutes
thun, veranlassen oder befördern konnte. Und wiewohl er
glaubte, daß der Charakter eines Weltbürgers Verhältnisse
in sich schließe, denen im Collisionsfall alle andern weichen
müßten: so hielt er sich doch darum nicht weniger verbunden,
als ein Bürger von Abdera, an dem Zustande seines Vaterlandes
Antheil zu nehmen, und, so viel er könnte, zu dessen
Verbesserung beizutragen. Allein, da man den Leuten nur
insofern Gutes thun kann, als sie dessen fähig sind: so
fand er sein Vermögen durch die unzähligen Hindernisse, die
ihm die Abderiten entgegensetzten, in so enge Gränzen eingeschlossen,
daß er Ursache zu haben glaubte, sich für eine der
entbehrlichsten Personen in dieser kleinen Republik anzusehen.
Was sie am nöthigsten haben, dacht' er, und das Beste was
ich an ihnen thun könnte, wäre sie vernünftig zu machen.
Aber die Abderiten sind freie Leute. Wenn sie nicht vernünftig
seyn wollen, wer kann sie nöthigen?Da er nun bei so bewandten Umständen wenig oder nichts
für die Abderiten als Abderiten thun konnte, so hielt er sich
für hinlänglich gerechtfertigt, wenn er wenigstens seine eigne
Person in Sicherheit zu bringen suchte, und einen so großen
Theil als immer möglich von derjenigen Zeit rettete, die er
der Erfüllung seiner weltbürgerlichen Pflichten schuldig zu
seyn meinte.Weil nun seine bisherige Freistätte entweder nicht weit
genug von Abdera entfernt war, oder wegen ihrer Lage und
anderer Bequemlichkeiten so viel Reiz für die Abderiten
hatte, daß er, ungeachtet seines Aufenthalts auf dem Lande,
sich doch immer mitten unter ihnen befand: so zog er sich
noch ein paar Stunden weiter in einen Wald, der zu seinem
Gute gehörte, zurück, und bauete sich in die wildeste Gegend
desselben ein kleines Haus, wo er die meiste Zeit — in der
einsamen Ruhe, die das eigene Element des Philosophen und
des Dichters ist — dem Erforschen der Natur und der Betrachtung
oblag.Einige neuere Gelehrten —ob Abderiten oder nicht, wollen
wir hierbei unentschieden lassen — haben sich von den Beschäftigungen
dieses Griechischen Bacons in seiner Einsamkeit
wunderliche, wiewohl auf ihrer Seite sehr natürliche Begriffe
gemacht. — "Er arbeitete am Stein der Weisen," sagt Borrichins,
und er fand ihn, und machte Gold." — Zum Beweis
davon berufe er sich darauf, daß Demokrit ein Buch
von Steinen und Metallen geschrieben habe.Die Abderiten, seine Zeitgenossen und Mitbürger, gingen
noch weiter; und ihre Vermuthungen — die in Abderitischen
Köpfen gar bald zur Gewißheit wurden —gründeten sich auf
eben so gute Schlüsse, als jener des Borrichius. Demokrit
war von Persischen Magiern erzogen worden: er war zwanzig
Jahre in den Morgenländern herumgereist; hatte mit Aegyptischen
Priestern, Chaldäern, Brachmanen und Gymnosophisten
Umgang gepflogen, und war in allen ihren Mysterien eingeweiht;
hatte tausend Arkane von seinen Reisen mit sich gebracht,
und wußte zehntausend Dinge, wovon niemals etwas
in eines Abderiten Sinn gekommen war. — Machte dieß
alles zusammengenommen nicht den vollständigsten Beweis,
daß er ein ausgelernter Meister in der Magie und allen davon
abhängenden Künsten seyn mußte? — Der ehrwürdige
Vater Delrio hätte Spanien, Portugal und Algarbien auf
die Hälfte eines Beweises wie dieser zu Asche verbrennen
lassen.Aber die guten Abderiten hatten noch nähere Beweisthümer
in Händen, daß ihr gelehrter Landsmann — ein wenig
hexen könne. Er sagte Sonnen- und Mondfinsternisse, Mißwachs,
Seuchen und andre zukünftige Dinge zuvor. Er hatte
einem verbuhlten Mädchen aus der Hand geweissagt, daß sie —
zu Falle kommen, und einem Rathsherrn von Abdera, dessen
ganzes Leben zwischen Schlafen und Schmausen getheilt war,
daß er — an einer Unverdaulichkeit sterben würde; und beides
war genau eingetroffen. Ueberdieß hatte man Bücher mit
wunderlichen Zeichen in seinem Cabinette gesehen; man hatte
ihn bei allerlei, vermuthlich magischen, Operationen mit Blut
von Vögeln und Thieren angetroffen, man hatte ihn verdächtige
Kräuter kochen sehen; und einige junge Leute wollten
ihn sogar in später Nacht — bei sehr blassem Mondschein —
zwischen Gräbern sitzend überschlichen haben. "Um ihn zu
schrecken hatten wir uns in die scheußlichsten Larven verkleidet,
sagten sie: Hörner, Ziegenfüße, Drachenschwänze, nichts fehlte
uns, um leibhafte Feldteufel und Nachtgespenster vorzustellen;
wir bliesen sogar Rauch aus Nasen und Ohren, und machten
es so arg um ihn herum, daß ein Hercules vor Schrecken
hätte zum Weibe werden mögen. Aber Demokrit achtete
unser nicht; und, da wir es ihm endlich zu lange machten,
sagte er bloß: nun, wird das Kinderspiel noch lange währen?"Da sieht man augenscheinlich, sagten die Abderiten, daß es
nicht recht richtig mit ihm ist! Geister sind ihm nichts
Neues; er muß wohl wissen, wie er mit ihnen steht!Er ist ein Zauberer; nichts kann gewisser seyn, sagte der
Priester Strobylus; wir müssen ein wenig besser Acht auf ihn
geben!"Man muß gestehen, daß Demokrit, entweder aus Unvorsichtigkeit,
oder (welches glaublicher ist) weil er sich wenig
aus der Meinung seiner Landsleute machte, zu diesen und
andern bösen Gerüchten einige Gelegenheit gab. Man konnte
in der That nicht lange unter den Abderiten leben, ohne in
Versuchung zu gerathen, ihnen etwas auszuheften. Ihr Vorwitz
und ihre Leichtgläubigkeit auf der einen Seite, und die
hohe Einbildung, die sie sich von ihrer eigenen Scharfsinnigkeit
machten, auf der andern, forderten einen gleichsam heraus;
und überdieß war auch sonst kein Mittel, sich für die
lange Weile, die man bei ihnen hatte, zu entschädigen. Demokrit
befand sich nicht selten in diesem Falle; und da die
Abderiten albern genug waren, alles, was er ihnen ironischer
weise sagte, im buchstäblichen Sinne zu nehmen, so entstanden
daher die vielen ungeräumten Meinungen und Mährchen, die
auf seine Rechnung in der Welt herumliefen, und noch viele
Jahrhunderte nach seinem Tode von andern Abderiten für
baares Geld angenommen, oder wenigstens ihm selbst unbilligerweise
zur Last gelegt wurden.Er hatte sich, unter andern, auch mit der Physiognomik
abgegeben, und theils aus seinen eigenen Beobachtungen, theils
aus dem was ihm andere von den ihrigen mitgetheilt, sich eine
Theorie davon gemacht, von deren Gebrauch er (sehr vernünftig,
wie uns däucht) urtheilte, daß es damit eben so wie mit
der Theorie der poetischen oder irgend einer andern Kunst beschaffen
sey: denn so wie noch keiner durch die bloße Wissenschaft
der Regeln ein guter Dichter oder Künstler geworden sey, und
nur derjenige, welchen angebornes Genie, emsiges Studium,
hartnäckiger Fleiß und lange Uebung zum Dichter oder Künstler
gemacht, geschickt sey, die Regeln seiner Kunst recht zu verstehen
und anzuwenden; so sey auch die Theorie der Kunst, aus dem
Aeußerlichen des Menschen auf das Innerliche zu schließen, nur
für Leute von großer Fertigkeit im Beobachten und Unterscheiden
brauchbar, für jeden andern hingegen eine höchst ungewisse und
betrügliche Sache; und eben darum müsse sie als eine von den
geheimen Wissenschaften oder großen Mysterien der Philosophie
immer nur der kleinen Zahl der Epopten vorbehalten bleiben.Diese Art von der Sache zu denken bewies, daß Demokrit
kein Charlatan war: aber den Abderiten bewies sie bloß, daß
er ein Geheimniß aus seiner Wissenschaft mache. Daher ließen
sie nicht ab, ihn, so oft sich die Rede davon gab, zu necken und
zu plagen, daß er ihnen etwas davon entdecken sollte. Besonders
drückte dieser Vorwitz die Abderitinnen. Sie wollten von
ihm wissen — an was für äußerlichen Merkmalen ein getreuer
Liebhaber zu erkennen sey? ob Milon von Krotona eine sehr
große Nase gehabt habe? ob eine blasse Farbe ein nothwendiges
Zeichen eines Verliebten sey? — und hundert andere Fragen
dieser Art, mit denen sie seine Geduld so sehr ermüdeten,
daß er endlich, um ihrer los zu werden, auf den Einfall
kam, sie ein wenig zu erschrecken.Aber das haben Sie sich wohl nicht vorgestellt, sagte Demokrit,
daß die Jungferschaft ein untrügliches Merkzeichen
in den Augen haben könnte?"In den Augen? riefen die Abderitinnen. O! das ist
nicht möglich! Warum just in den Augen?"Es ist nicht anders, versetzte er; und was Sie mir gewiß
glauben können, ist, daß mir dieses Merkmal schon öfters
von den Geheimnissen junger und alter Schönen mehr entdeckt
hat, als sie Lust gehabt haben würden mir von freien
Stücken anzuvertrauen.Der zuversichtliche Ton, womit er dieß sagte, verursachte
einige Entfärbungen; wiewohl die Abderitinnen (die in allen
Fällen, wo es auf die gemeine Sicherheit ihres Geschlechts
ankam, einander getreulich beizustehen pflegten) mit großer
Hitze darauf bestanden, daß sein vorgeblichem Geheimniß eine
Chimäre sey.Sie nöthigen mich durch Ihren Unglauben, daß ich Ihnen
noch mehr sagen muß, fuhr der Philosoph fort. Die Natur
ist voll solcher Geheimnisse, meine schönen Damen; und wofür
sollt' ich auch, wenn es sich der Mühe nicht verlohnte, bis nach
Aethiopien und Indien gewandert seyn? Die Gymnosophisten,
deren Weiber — wie Sie wissen —nackend gehen, haben mir
sehr artige Sachen entdeckt."Zum Beispiel?" sagten die Abderitinnen.Unter andern ein Geheimniß, welches ich, wenn ich ein
Ehemann wäre, lieber nicht zu wissen wünschen würde."Ach nun haben wir die Ursache, warum sich Demokrit
nicht verheirathen will," — rief die schöne Thryallis.Als ob wir nicht schon lange wüßten, sagte Salabanda,
daß es seine Aethiopische Venus ist, die ihn für unsere Griechische
so unempfindlich macht. — Aber Ihr Geheimniß, Demokrit,
wenn man es keuschen Ohren anvertrauen darf?"Zum Beweise, daß man es darf, will ich es den Ohren
aller gegenwärtigen Schönen anvertrauen, antwortete der
Naturforscher. Ich weiß ein unfehlbares Mittel, wie man
machen kann, daß ein Frauenzimmer, im Schlafe, mit vernehmlicher
Stimme alles sagt was sie auf dem Herzen hat."O gehen Sie, riefen die Abderitinnen, Sie wollen uns
bang machen; aber —wir lassen uns nicht so leicht erschrecken."Wer wird auch an Erschrecken denken, sagte Demokrit,
wenn von einem Mittel die Rede ist, wodurch einer jeden
ehrlichen Frau Gelegenheit gegeben wird, zu zeigen, daß sie
keine Geheimnisse hat, die ihr Mann nicht wissen dürfte?"Wirkt Ihr Mittel auch bei Unverheiratheten?" —fragte
eine Abderitin, die weder jung noch reizend genug zu seyn
schien, um eine solche Frage zu thun.Es wirkt vom zehnten Jahre an bis zum achtzigsten, erwiederte
er, ohne Beziehung auf irgend einen andern Umstand,
worin sich ein Frauenzimmer befinden kann.Die Sache fing an ernsthaft zu werden. — Aber Sie
scherzen nur, Demokrit? sprach die Gemahlin eines Thesmotheten,
nicht ohne eine geheime Furcht des Gegentheils
versichert zu werden.Wollen Sie die Probe machen, Lysistrata?"Die Probe? — Warum nicht? — Vorausbedungen,
daß nichts Magisches dazu gebraucht wird. Denn mit Hülfe
Ihrer Talismane und Geister könnten Sie eine arme Frau
sagen machen was Sie wollten."Es haben weder Geister noch Talismane damit zu thun.
Alles geht natürlich zu. Das Mittel, das ich gebrauche, ist
die simpelste Sache von der Welt.Die Damen fingen an, bei allen Grimassen von Herzhaftigkeit,
wozu sie sich zu zwingen suchten, eine Unruhe zu
verrathen, die den Philosophen sehr belustigte. —"Wenn man
nicht wüßte, daß Sie ein Spötter sind, der die ganze Welt
zum Besten hat. — Aber darf man fragen, worin Ihr Mittel
besteht?"Wie ich Ihnen sagte, die natürlichste Sache von der Welt.
Ein ganz kleines unschädliches Ding, einem schlafenden Frauenzimmer
aufs Herzgrübchen gelegt, das ist das ganze Geheimniß:
aber es thut Wunder, Sie können mirs glauben! Es
macht reden, so lange noch im innersten Winkel des Herzens
was zu entdecken ist.Unter sieben Frauenzimmern, die sich in der Gesellschaft
befanden, war nur Eine, deren Miene und Gebärde unverändert
die nämliche blieb wie vorher. Man wird denken, sie
sey alt, oder häßlich, oder gar tugendhaft gewesen; aber nichts
von allem diesem! Sie war — taub."Wenn Sie wollen, daß wir Ihnen glauben sollen, Demokrit,
so nennen Sie Ihr Mittel."Ich will es dem Gemahl der schönen Thryallis ins Ohr
sagen, sprach der boshafte Naturkündiger.Der Gemahl der schönen Thryallis war, ohne blind zu
seyn, so glücklich, als Hagedorn einen Blinden schätzt dessen
Gemahlin schön ist. Er hatte immer gute Gesellschaft, oder
wenigstens was man zu Abdera so nannte, in seinem Hause.
Der gute Mann glaubte, man finde so viel Vergnügen an
seinem Umgang, und an den Versen die er seinen Besuchen
vorzulesen pflegte. In der That hatte er das Talent, die
schlechtesten Verse, die er machte, nicht übel zu lesen; und
weil er mit vieler Begeisterung las, so wurde er nicht gewahr,
daß seine Zuhörer, anstatt auf seine Verse Acht zu
geben, mit der schönen Thryallis liebäugelten. Kurz, der
Rathsherr Smilax war ein Mann, der eine viel zu gute
Meinung von sich selbst hatte, um von der Tugend seiner
Gemahlin eine schlimme zu hegen.Er bedachte sich also keinen Augenblick, dem Geheimniß
sein Ohr darzubieten.Es ist weiter nichts, flüsterte ihm der Philosoph ins Ohr,
als die Zunge eines lebendigen Frosches, die man einer schlafenden
Dame auf die linke Brust legen muß. Aber Sie müssen
sich beim Ausreißen wohl in Acht nehmen, daß nichts
von den daran hängenden Theilen mitgeht, und der Frosch
muß wieder ins Wasser gesetzt werden."Das Mittel mag nicht übel seyn, sagte Smilax leise;
nur Schade daß es ein wenig bedenklich ist! Was würde der
Priester Strobylus dazu sagen?Sorgen Sie nicht dafür, versetzte Demokrit: ein Frosch
ist doch keine Diana, der Priester Strobylus mag sagen was
er will. Und zudem geht es dem Frosche ja nicht ans Leben."Ich darf es also weiler geben?" — fragte Smilax.Von Herzen gern! Alle Mannspersonen in der Gesellschaft
dürfen es wissen; und ein jeder mag es ungescheut
allen seinen Bekannten entdecken; nur mit der Bedingung,
daß es keiner weder seiner Frau noch seiner Geliebten wieder
sage.Die guten Abderitinnen wußten nicht was sie von der
Sache glauben sollten. Unmöglich schien sie ihnen nicht; und
was sollte auch Abderiten unmöglich scheinen? —Ihre gegenwärtigen
Männer oder Liebhaber waren nicht viel ruhiger;
jeder setzte sich heimlich vor, das Mittel ohne Aufschub zu
probiren, und jeder (den glücklichen Smilax ausgenommen)
besorgte, gelehrter dadurch zu werden als er wünsche."Nicht wahr, Männchen — sagte Thryallis zu ihrem
Gemahl, indem sie ihn freundlich auf die Backen klopfte, du
kennst mich zu gut, um einer solchen Probe nöthig zu
haben?""Der meinige sollte sich so etwas einfallen lassen, sagte
Lagiska. Eine Probe setzt Zweifel voraus, und ein Mann,
der an der Tugend seiner Frau zweifelt" —— Ist ein Mann, der Gefahr läuft seine Zweifel in Gewißheit
verwandelt zu sehen, setzte Demokrit hinzu, da er
sah, daß sie einhielt. — Das wollten Sie doch sagen, schöne
Lagiska?"Sie sind ein Weiberfeind," riefen die Abderitinnen allzumal,
aber vergessen Sie nicht, daß wir in Thracien sind,
und hüten Sie sich vor dem Schicksal des Orpheus!"Wiewohl dieß im Scherz gesagt wurde, so war doch
Ernst dabei. Natürlicher Weise läßt man sich nicht gern ohne
Noth schlaflose Nächte machen; eine Absicht, von welcher wir
den Philosophen um so weniger frei sprechen können, da er
die Folgen seines Einfalles nothwendig voraussehen mußte.
Wirklich gab diese Sache den sieben Damen so viel zu denken,
daß sie die ganze Nacht kein Auge zuthaten; und da das
vorgebliche Geheimniß den folgenden Tag in ganz Abdera herum
lief, so verursachte er dadurch etliche Nächte hinter einander
eine allgemeine Schlaflosigkeit.Indessen brachten die Weiber bei Tage wieder ein, was
ihnen bei Nacht abging: und weil verschiedene sich nicht einfallen
ließen, daß man ihnen das Arkanum, wenn sie am
Tage schliefen, eben so gut appliciren könne als bei Nacht,
und daher ihr Schlafzimmer zu verriegeln vergaßen, so bekamen
die Männer unverhofft Gelegenheit, von ihren Froschzungen
Gebrauch zu machen. Lysistrata, Thryallis, und einige
andere, die am meisten dabei zu wagen hatten, waren die
ersten, an denen die Probe, mit dem Erfolg den man leicht
voraussehen kann, gemacht wurde.Aber eben dieß stellte in kurzem die Ruhe in Abdera
wieder her. Die Männer dieser Damen, nachdem sie das
Mittel zwei- oder dreimal ohne Erfolg gebraucht hatten, kamen
in vollem Sprunge zu unserm Philosophen gelaufen, um
sich zu erkundigen, was dieß zu bedeuten hätte. — So?
rief er ihnen entgegen, hat die Froschzunge ihre Wirkung
gethan? Haben Ihre Weiber gebeichtet? — Kein Wort, keine
Sylbe, sagten die Abderiten. —Desto besser! rief Demokrit:
triumphiren Sie darüber! Wenn eine schlafende Frau mit
einer Froschzunge auf dem Herzen nichts sagt, so ist es ein
Zeichen, daß sie — nichts zu sagen hat. Ich wünsche Ihnen
Glück, meine Herren! Jeder von Ihnen kann sich rühmen,
daß er den Phönix der Weiber in seinem Hause besitze.Wer war glücklicher als unsere Abderiten! Sie liefen so
schnell als sie gekommen waren wieder zurück, fielen ihren
erstaunten Weibern um den Hals, erstickten sie mit Küssen
und Umarmungen, und bekannten nun freiwillig was sie gethan
hatten, um sich von der Tugend ihrer Hälften (wiewohl
wir davon schon gewiß waren, sagten sie) noch gewisser
zu machen.Die guten Weiber wußten nicht ob sie ihren Sinnen glauben
sollten. Aber, wiewohl sie Abderitinnen waren, hatten
sie doch Verstand genug sich auf der Stelle zu fassen, und
ihren Männern ein so unzärtliches Mißtrauen, als dasjenige
war dessen sie sich selbst anklagten, nachdrücklich zu verweisen.
Einige trieben die Sache bis zu Thränen; aber alle hatten Mühe
die Freude zu verbergen, die ihnen eine so unverhoffte Bestätigung
ihrer Tugend verursachte; und wiewohl sie, der Anständigkeit
wegen, auf Demokriten schmähen mußten, so war
doch keine, die ihn nicht dafür hätte umarmen mögen, daß
er ihnen einen so guten Dienst geleistet hatte. Freilich war
dieß nicht was er gewollt hatte. Aber die Folgen dieses einzigen
unschuldigen Scherzes mochten ihn lehren, daß man
mit Abderiten nicht behutsam genug scherzen kann.Indessen (wie alle Dinge dieser Welt mehr als Eine
Seite haben) so fand sich auch, daß aus dem Uebel, welches
unser Philosoph den Abderiten wider seine Pflicht zugefügt
hatte, gleichwohl mehr Gutes entsprang, als man vermuthlich
hätte erwarten können, wenn die Froschzungen gewirkt
hätten. Die Männer machten die Weiber durch ihre unbegränzte
Sicherheit, und die Weiber die Männer durch ihre
Gefälligkeit und gute Laune glücklich. Nirgends in der Welt
sah man zufriednere Ehen als in Abdera. Und bei allem dem
waren die Stirnen der Abderiten so glatt, und — die Ohren
und Zungen der Abderitinnen so keusch, als bei andern
Leuten.—————
Dreizehntes Kapitel.Demokrit soll die Abderitinnen die Sprache der Vögel lehren. Im Vorbeigehen
eine Probe, wie sie ihre Töchter bildeten.Ein andermal geschah es, daß sich unser Philosoph an
einem schönen Frühlingsabend mit einer Gesellschaft in einem
von den Lustgärten befand, womit die Abderiten die Gegend
um ihre Stadt verschönert hatten."Wirklich verschönert?" — Dieß nun eben nicht: denn
woher hätten die Abderiten nehmen sollen, daß die Natur
schöner ist als die Kunst, und daß zwischen künsteln und
verschönern ein Unterschied ist? — Doch davon soll nun die
Rede nicht seyn.Die Gesellschaft lag auf weichen mit Blumen bestreuten
Rasen, unter einer hohen Laube, im Kreise herum. In den
Zweigen eines benachbarten Baums sang eine Nachtigall.
Eine junge Abderitin von vierzehn Jahren schien etwas dabei
zu empfinden, wovon die übrigen nichts empfanden. Demokrit
bemerkte es. Das Mädchen hatte eine sanfte Gesichtsbildung
und Seele in den Augen. Schade für dich, daß du
eine Abderitin bist! dacht' er. Was sollte dir in Abdera eine
empfindsame Seele? Sie würde dich nur unglücklich machen.
Doch es hat keine Gefahr! Was die Erziehung deiner Mutter
und Großmutter an dir unverdorben gelassen hat, werden
die Söhnchen unsrer Archonten und Rathsherren, und was
diese verschonen, wird das Beispiel deiner Freundinnen zu
Grunde richten. In weniger als vier Jahren wirst du eine
Abderitin seyn wie die andern; und wenn du erst erfährst,
daß eine Froschzunge auf dem Herzgrübchen nichts zu bedeuten
hat —Was denken Sie, schöne Nannion? sagte Demokrit zu
dem Mädchen."Ich denke, daß ich mich dort unter die Bäume setzen
möchte, um dieser Nachtigall recht ungestört zuhören zu
können."Das alberne Ding! sagte die Mutter des Mädchens.
Hast du noch keine Nachtigall gehört?"Nannion hat Recht," sagte die schöne Thryallis; ich
selbst höre für mein Leben gern den Nachtigallen zu. Sie
singen mit einem solchen Feuer, und es ist etwas so Eigenes
in ihren Modulationen, daß ich schon oft gewünscht habe, zu
verstehen was sie damit sagen wollen. Ich bin gewiß, man
würde die schönsten Dinge von der Welt hören. Aber Sie,
Demokrit, der alles weiß, sollten Sie nicht auch die Sprache
der Nachtigallen verstehen?"Warum nicht? antwortete der Philosoph mit seinem gewöhnlichen
Phlegma: und die Sprache aller übrigen Vögel
dazu!"Im Ernste?"Sie wissen ja, daß ich immer im Ernste rede."O das ist allerliebst! Geschwind, übersetzen Sie uns
was aus der Sprache der Nachtigallen! Wie hieß das, was
diese dort sang, als Nannion so davon gerührt wurde?"Das läßt sich nicht so leicht ins Griechische übersetzen als
Sie denken, schöne Thryallis. Es gibt keine Redensarten
in unsrer Sprache, die dazu zärtlich und feurig genug wären."Aber wie können Sie denn die Sprache der Vögel verstehen,
wenn Sie nicht auf Griechisch wieder sagen können,
was Sie gehört haben?"Die Vögel können auch kein Griechisch, und verstehen
einander doch?"Aber Sie sind kein Vogel, wiewohl Sie ein loser
Mann sind, der uns immer zum Besten hat."Daß man in Abdera doch so gern Arges von seinem
Nächsten denkt! Indessen verdient Ihre Antwort, daß ich mich
näher erkläre. Die Vögel verstehen einander durch eine gewisse
Sympathie, welche ordentlicher Weise nur unter gleichartigen
Geschöpfen Statt hat. Jeder Ton einer singenden
Nachtigall ist der lebende Ausdruck einer Empfindung, und
erregt in der zuhörenden unmittelbar den Unisono dieser
Empfindung. Sie versteht also, vermittelst ihres eignen
innern Gefühls, was ihr jene sagen wollte; und gerade
auf die nämliche Weise versteh' ich sie auch."Aber wie machen Sie denn das?" — fragten etliche
Abderitinnen.Die Frage war, nachdem Demokrit sich bereits so deutlich
erklärt hatte, gar zu Abderitisch, als daß er sie ihnen
so ungenossen hätte hingehen lassen können. Er besann sich
einen Augenblick.Ich verstehe ihn, — sagte die kleine Nannion leise."Du verstehst ihn, du naseweises Ding? — schnarrte
ihre Mutter das arme Mädchen an: — nun, lass' hören,
Puppe, was verstehst du denn davon?"Ich kann es nicht zu Worte bringen; aber ich empfind'
es, däucht mich, erwiederte Nannion."Sie ist, wie Sie hören, noch ein Kind, sagte die Mutter;
wiewohl sie so schnell aufgeschossen ist, daß viele Leute
sie für meine jüngere Schwester angesehen haben. Aber halten
wir uns nicht mit dem Geplapper eines läppischen Mädchens
auf, das noch nicht weiß was es sagt!"Nannion hat Gefühl, sagte Demokrit; sie findet den
Schlüssel zur allgemeinen Sprache der Natur in ihrem Herzen,
und vielleicht versteht sie mehr davon als —"O mein Herr, ich bitte Sie, machen Sie mir die kleine
Närrin nicht noch einbildischer! sie ist ohnedieß naseweis
und schnippisch genug —"Bravo, dachte Demokrit; nur so fortgefahren! Auf diesem
Wege möchte noch Hoffnung für den Kopf und das Herz
der kleinen Nannion seyn."Bleiben wir bei der Sache! (fuhr die Abderitin fort,
die, ohne jemals recht gewußt zu haben wie und warum,
die unerkannte Ehre hatte Nannions Mutter zu seyn.) Sie
wollten uns ja erklären wie es zuginge, daß Sie die Sprache
der Vögel verstehen?"Wir sind den Abderitinnen die Gerechtigkeit schuldig,
nicht zu bergen, daß sie alles, was Demokrit von seiner Kenntniß
der Vögelsprache gesagt hatte, für bloße Prahlerei hielten.
Aber dieß hinderte nicht, daß die Fortsetzung dieses Gesprächs
nicht etwas sehr Unterhaltendes für sie gehabt hätte: denn sie
hörten von nichts lieber reden, als von Dingen, die sie nicht
glaubten und doch glaubten: als da ist von Sphinxen, Meermännern,
Sibyllen, Kobolden, Popanzen, Gespenstern, und
allem was in diese Rubrik gehört; und die Sprache der
Vögel gehörte auch dahin, dachten sie.Es ist ein Geheimniß, erwiederte Demokrit, das ich von
dem Oberpriester zu Memphis lernte, da ich mich in die
Aegyptischen Mysterien einfuhren ließ. Er war ein langer
hagerer Mann, hatte einen sehr langen Namen, und einen
noch längeren eisgrauen Bart, der ihm bis an den Gürtel
reichte. Sie würden ihn für einen Mann aus der andern
Welt gehalten haben, so feierlich und geheimnißvoll sah er
in seiner spitzigen Mütze und in seinem schleppenden Mantel.Die Aufmerksamkeit der Abderiten nahm merklich zu.
Nannion, die sich ein wenig weiter zurückgesetzt hatte, lauschte
mit dem linken Ohr der Nachtigall entgegen; aber von Zeit
zu Zeit schoß sie einen dankvollen Seitenblick auf den Philosophen,
welchen dieser, so oft die Mutter auf ihren Busen
sah oder ihren Hund küßte, mit aufmunterndem Lächeln
beantwortete.Das ganze Geheimniß, fuhr er fort, besteht darin: man
schneidet unter einer gewissen Constellation sieben verschiedenen
Vögeln (deren Namen ich nicht entdecken darf) die Hälse ab,
läßt ihr Blut in eine kleine Grube, die zu dem Ende in die
Erde gemacht wird, zusammenfließen, bedeckt die Grube mit
Lorberzweigen, und —geht seines Weges. Nach Verfluß von
einundzwanzig Tagen kommt man wieder, deckt die Grube auf,
und findet einen kleinen Drachen von seltsamer Gestalt. der
aus der Fäulniß des vermischten Blutes entstanden ist. —"Einen Drachen!" — riefen die Abderitinnen mit allen
Merkmalen des Erstaunens.Einen Drachen, wiewohl nicht viel größer als eine gewöhnliche
Fledermaus. Diesen Drachen nehmen Sie, schneiden
ihn in kleine Stücke, und essen ihn mit etwas Essig, Oel und
Pfeffer, ohne das mindeste davon übrig zu lassen; gehen darauf
zu Bette, decken sich wohl zu, und schlafen einundzwanzig
Stunden in einem Stücke fort. Darauf erwachen Sie wieder,
kleiden sich an, gehen in Ihren Garten oder in ein Wäldchen.
und erstaunen nicht wenig, indem Sie sich augenblicklich auf
allen Seiten von Vögeln umgeben und gegrüßt finden, deren
Sprache und Gesang Sie so gut verstehen, als ob Sie alle
Tage Ihres Lebens nichts als Elstern, Gänschen und Truthühner
gewesen wären.Demokrit erzählte den Abderitinnen alles dieß mit einer
so gelassenen Ernsthaftigkeit, daß sie sich um so weniger entbrechen
konnten ihm Glauben beizumessen, da er (ihrer Meinung
nach) die Sache unmöglich mit so vielen Umständen hätte
erzählen können, wenn sie nicht wahr gewesen wäre. Indessen
wußten sie jetzt doch gerade nur so viel davon als nöthig
war, um desto ungeduldiger zu werden alles zu wissen —"Aber, fragten sie, was für Vögel sind es denn, die man
dazu braucht? Ist der Sperling, der Finke, die Nachtigall, die
Elster, die Wachtel, der Rabe, der Kibitz, die Nachteule u. s. f.
auch darunter? Wie sieht der Drache aus? Hat er Flügel?
Wie viele hat er deren? Ist er gelb, oder grün, oder blau,
oder rosenfarben? Speit er Feuer? Beißt oder sticht er nicht,
wenn man ihn anrühren will? Ist er gut zu essen? Wie
schmeckt er? Wie verdaut er sich? Was trinkt man dazu?" —
Alle diese Fragen, womit der gute Naturforscher von allen
Seiten bestürmt wurde, machten ihm so warm, daß er sich
endlich am kürzesten aus dem Handel zu ziehen glaubte, wenn
er ihnen gestände, er habe die ganze Historie nur zum Scherz
ersonnen."O, dieß sollen Sie uns nicht weiß machen! — riefen
die Abderitinnen: Sie wollen nur nicht daß wir hinter Ihre
Geheimnisse kommen. Aber wir werden Ihnen keine Ruhe
lassen, verlassen Sie sich darauf! Wir wollen den Drachen
sehen, betasten, beriechen, kosten, und mit Haut und Knochen
aufessen, oder — Sie sollen uns sagen, warum nicht!"—————
Zweites Buch.Hippokrates in Abdera.Erstes Kapitel.Eine Abschweifung über den Charakter und die Philosophie des Demokritus,
welche wir den Leser nicht zu überschlagen bitten.Wir wissen nicht, wie Demokrit es angefangen, um sich
die neugierigen Weiber vom Halse zu schaffen. Genug, daß
uns diese Beispiele begreiflich machen, wie ein bloßer zufälliger
Einfall Gelegenheit habe geben können, den unschuldigen
Naturforscher in den Ruf zu bringen, als ob er Abderit genug
gewesen sey, alle die Mährchen, die er seinen albernen Landsleuten
aufheftete, selbst zu glauben. Diejenigen, die ihm dieß
zum Vorwurf nachgesagt haben, berufen sich auf seine Schriften.
Aber schon lange vor den Zeiten des Vitruvius und
Plinius wurden eine Menge unächter Bächlein mit vielbedeutenden
Titeln unter seinem Namen herumgetragen. Man
weiß, wie gewöhnlich diese Art von Betrug den müßigen Graeculis
der spätern Zeiten war. Die Namen Hermes, Trismegistus,
Zoroaster, Orpheus, Pythagoras, Demokritus, waren
ehrwürdig genug, um die armseligen Geburten schaler Köpfe
verkäuflich zu machen; insonderheit nachdem die Alexandrinische
Philosophenschule die Magie in eine Art von allgemeiner
Achtung, und die Gelehrten in den Geschmack gebracht hatte,
sich bei den Ungelehrten das Ansehen zu geben als ob sie
gewaltige Wundermänner wären, die den Schlüssel zur Geisterwelt
gefunden hätten, und für die nun in der ganzen
Natur nichts Geheimes sey. Die Abderiten hatten den Demokrit
in den Ruf der Zauberei gebracht, weil sie nicht begreifen
konnten, wie man ohne ein Hexenmeister zu seyn so
viel wissen könne, als sie — nicht wußten; und spätere Betrüger
fabricirten Zauberbücher in seinem Namen, um von
jenem Ruf bei den Dummköpfen ihrer Zeit Vortheile zu
ziehen.Ueberhaupt waren die Griechen große Liebhaber davon,
mit ihren Philosophen den Narren zu treiben. Die Athener
lachten herzlich, als ihnen der witzige Possenreißer Aristophanes
weiß machte, Sokrates halte die Wolken für Göttinnen, messe
aus, wie viele Flohfüße hoch ein Floh springen könne, lasse
sich, wenn er meditiren wolle, in einem Korbe aufhängen,
damit die anziehende Kraft der Erde seine Gedanken nicht
einsauge u. s. w., und es dünkte sie überaus kurzweilig, den
Mann, der ihnen immer die Wahrheit und also oft unangenehme
Dinge sagte, wenigstens auf der Bühne platte Pedantereien
sagen zu hören. Und wie mußte sich nicht Diogenes
(der unter den Nachahmern des Sokrates noch am meisten
die Miene seines Originals hatte) von diesem Volke, das so
gern lachte, mißhandeln lassen! Sogar der begeisterte Plato
und der tiefsinnige Aristoteles blieben nicht von Anklagen frei,
wodurch man sie zu dem großen Haufen der alltäglichen
Menschen herabzusetzen suchte. Was Wunder also, daß es dem
Manne nicht besser ging, der so verwegen war, mitten unter
Abderiten Verstand zu haben!Demokrit lachte zuweilen, wie wir alle, und würbe vielleicht,
wenn er zu Korinth oder Smyrna oder Syracus oder
an irgend einem andern Orte der Welt gelebt hätte, nicht
mehr gelacht haben, als jeder andre Biedermann, der sich,
aus Gründen oder von Temperaments wegen, aufgelegter
fühlt die Thorheiten der Menschen zu belachen als zu beweinen.
Aber er lebte unter Abderiten. Es war einmal die Art dieser
guten Leute, immer etwas zu thun, worüber man entweder
lachen oder weinen oder ungehalten werden mußte: und Demokrit
lachte, wo ein Phocion die Stirne gerunzelt, ein Cato
gepoltert, und ein Swift zugepeitscht hätte. Bei einem ziemlich
langen Aufenthalt in Abdera konnte ihm also die Miene
der Ironie wohl eigenthümlich werden: aber daß er im buchstäblichen
Verstande immer aus vollem Halse gelacht habe, wie
ihm ein Dichter, der die Sachen gern übertreibt, nachsagt
dieß hätte wenigstens niemand in Prosa sagen sollen.Doch diese Nachrede möchte immer hingehen, zumal da
ein so gepriesener Philosoph wie Seneca unsern Freund Demokrit
über diesen Punct rechtfertigt, und sogar nachahmenswürdig
findet. "Wir müssen uns dahin bestreben, sagt Seneca,
daß uns die Thorheiten und Gebrechen des großen
Haufens sammt und sonders nicht hassenswürdig, sondern
lächerlich vorkommen; und wir werden besser thun, wenn wir
uns hierin den Demokrit als den Heraklit zum Muster nehmen.
Dieser pflegte, so oft er unter die Leute ging, zu weinen:
jener, zu lachen; dieser sah in allem unserm Thun eitel
Noth und Elend; jener eitel Tand und Kinderspiel. Nun ist
es aber freundlicher, das menschliche Leben anzulachen als es
anzugrinsen; und man kann sagen, daß sich derjenige um das
Menschengeschlecht verdienter macht, der es belacht, als der
es bejammert. Denn jener läßt uns doch noch immer ein wenig
Hoffnung übrig; dieser hingegen weint alberner Weise über
Dinge, die er bessern zu können verzweifelt. Auch zeigt derjenige
eine größere Seele, der, wenn er einen Blick über das
Ganze wirft, sich nicht des Lachens —als jener, der sich der
Thränen nicht enthalten kann; denn er gibt dadurch zu erkennen,
daß alles, was andern groß und wichtig genug scheint
um sie in die heftigsten Leidenschaften zu setzen, in seinen Augen
so klein ist, daß es nur den leichtesten und kaltblütigsten
unter allen Affekten in ihm erregen kann."Im Vorbeigehen, däucht mich, die Entscheidung des
Sophisten Seneca habe Verstand; wiewohl er vielleicht besser
gethan hätte, seine Gründe weder so weit herzuholen, noch
in so gekünstelte Antithesen einzuschrauben. Doch, wie gesagt,
der bloße Umstand, daß Demokrit unter Abderiten lebte, und
über Abderiten lachte, macht den Vorwurf, von welchem die
Rede ist (wie übertrieben er auch seyn mag), zum erträglichsten
unter allem was unserm Weisen aufgebürdet worden.
Läßt doch Homer die Götter selbst über einen weit weniger
lächerlichen Gegenstand — über den hinkenden Vulcan, der
aus der gutherzigen Absicht, Friede unter den Olympiern zu
stiften, den Mundschenken macht — in ein unauslöschliches
Gelächter ausbrechen! Aber das Vorgeben, daß Demokrit sich
selbst freiwillig des Gesichts beraubt habe, und die Ursachen,
warum er das gethan haben soll, dieß setzt auf Seiten derjenigen,
bei denen es Eingang finden konnte, eine Neigung
voraus, die wenigstens ihrem Kopfe wenig Ehre macht.Und was für eine Neigung mag denn das seyn? —Ich
will es euch sagen, lieben Freunde, und gebe der günstige
Himmel, daß es nicht gänzlich in den Wind gesagt seyn möge!Es ist die armselige Neigung, jeden Dummkopf, jeden
hämischen Buben für einen unverwerflichen Zeugen gelten zu
lassen, sobald er einem großen Manne irgend eine überschwängliche
Ungereimtheit nachsagt, welche sogar der alltäglichste
Mensch bei fünf gesunden Sinnen zu begehen unfähig wäre.Ich möchte nicht gern glauben, daß diese Neigung so
allgemein sey als die Verkleinerer der menschlichen Natur behaupten:
aber dieß wenigstens lehrt die Erfahrung, daß die
kleinen Anekdoten, die man von großen Männern auf Unkosten
ihrer Vernunft circuliren zu lassen pflegt, sehr leicht
bei den meisten Eingang finden. Doch vielleicht ist dieser
Hang im Grunde nicht sträflicher als das Vergnügen, womit
die Sternseher Flecken in der Sonne entdeckt haben? Vielleicht
ist es bloß das Unerwartete und Unbegreifliche, was die Entdeckung
solcher Flecken so angenehm macht? Außerdem findet
sich auch nicht selten, daß die armen Leute, indem sie einen
großen Manne Widersinnigkeiten andichten, ihm (nach ihrer
Art zu denken) noch viel Ehre zu erweisen glauben; und dieß
mag wohl, was die freiwillige Blindheit unsers Philosophen
betrifft, der Fall bei mehr als Einem Abderitischen Gehirne
gewesen seyn."Demokrit beraubte sich des Gesichtes, sagt man, damit
er desto tiefer denken könnte. Was ist hierin so Unglaubliches?
Haben wir nicht Beispiele freiwilliger Verstümmelungen
von ähnlicher Art. Kombabus — Origenes —"Gut! — Kombabus und Origenes warfen einen Theil
ihrer selbst von sich, und zwar einen Theil, den wohl die
meisten (im Fall der Noth) mit allen ihren Augen, und wenn
sie deren so viel als Argus hätten, erkaufen würden. Allein
sie hatten auch einen großen Beweggrund dazu. Was gibt
der Mensch nicht um sein Leben! Und was thut oder leidet
man nicht, um der Günstling eines Fürsten zu bleiben, oder
gar eine Pagode zu werden! — Demokrit hingegen konnte keinen
Beweggrund von dieser Stärke haben. Es möchte noch
hingehen, wenn er ein Metaphysiker oder ein Poet gewesen
wäre. Dieß sind Leute, die zu ihrem Geschäfte des Gesichts
entbehren können. Sie arbeiten am meisten mit der Einbildungskraft,
und diese gewinnt sogar durch die Blindheit.
Aber wann hat man jemals gehört, daß ein Beobachter der
Natur, ein Zergliederer, ein Sternseher, sich die Augen ausgestochen
hätte, um desto besser zu beobachten, zu zergliedern
und nach den Sternen zu sehen?Die Ungereimtheit ist so handgreiflich, daß Tertullian die
angebliche That unsers Philosophen aus einer andern Ursache
ableitet, die ihm aber zum wenigsten eben so ungereimt hätte
vorkommen müssen, wenn er nicht gerade vonnöthen gehabt
hätte, die Philosophen, die er zu Boden legen wollte, in
Strohmänner zu verwandeln. "Er beraubte sich der Augen,
sagt Tertullian, weil er kein Weib ansehen konnte, ohne ihrer
zu begehren." — Ein feiner Grund für einen Griechischen
Philosophen aus dem Jahrhunderte des Perikles! Demokrit,
der sich gewiß nicht einfallen ließ weiser seyn zu wollen als
Solon, Anaxagoras, Sokrates, hatte auch vonnöthen zu einem
solchen Mittel seine Zuflucht zu nehmen! Wahr ist's: der
Rath des letztern (der Demokriten gewiß nichts Unbekanntes
war, weil er Verstand genug hatte, sich ihn selbst zu geben)
verfängt wenig gegen die Gewalt der Liebe; und einem Philosophen,
der sein ganzes Leben dem Erforschen der Wahrheit
widmen wollte, war allerdings sehr viel daran gelegen, sich
vor einer so tyrannischen Leidenschaft zu hüten. Allein von
dieser hatte auch Demokrit, wenigstens in Abdera, nichts zu
besorgen. Die Abderitinnen waren zwar schön; aber die gütige
Natur hatte ihnen die Dummheit zum Gegengift ihrer körperlichen
Reizungen gegeben. Eine Abderitin war nur schön bis
sie — den Mund aufthat, oder bis man sie in ihrem Hauskleide
sah. Leidenschaften von drei Tagen waren das Aeußerste,
was sie einem ehrlichen Manne, der kein Abderit war, einflößen
konnte; und eine Liebe von drei Tagen ist einem Demokrit
am Philosophiren so wenig hinderlich, daß wir vielmehr
allen Naturforschern, Zergliederern, Meßkünstlern und
Sternsehern demüthig rathen wollten, sich dieses Mittels, als
eines vortrefflichen Recepts gegen Milzbeschwerungen, öfters
zu bedienen, wenn nicht zu vermuthen wäre, daß diese Herren
zu weise sind eines Rathes vonnöthen zu haben. Ob Demokrit
selbst die Kraft dieses Mittels zufälliger Weise bei einer oder
der andern von den Abderitischen Schönen, die wir bereits
kennen gelernt, versucht haben möchte, können wir aus Mangel
authentischer Nachrichten weder bejahen noch verneinen. Aber
daß er, um gar nicht oder nicht zu stark von so unschädlichen
Geschöpfen eingenommen zu werden, und weil er auf allen
Fall sicher war daß sie ihm die Augen nicht auskratzen würden,
— schwach genug gewesen sey, sich solche selbst auszukratzen;
dieß mag Tertullian glauben so lang es ihm beliebt;
wir zweifeln sehr, daß es jemand mitglauben wird.Aber alle diese Ungereimtheiten werden unerheblich, wenn
wir sie mit demjenigen vergleichen, was ein sonst in seiner
Art sehr verdienter Sammler von Materialien zur Geschichte
des menschlichen Verstandes die Philosophie des Demokritus
nennt. Es würde schwer seyn, von einem Haufen einzelner
Trümmer, Steine und zerbrochner Säulen, die man als vorgebliche
Ueberbleibsel des großen Tempels zu Olympia aus
unzähligen Orten zusammengebracht hätte, mit Gewißheit zu
sagen, daß es wirklich Trümmer dieses Tempels seyen. Aber
was würde man von einem Manne denken, der — wenn er
diese Trümmer, so gut es ihm in der Eile möglich gewesen
wäre, auf einander gelegt, und mit etwas Lehm und Stroh
zusammengeflickt hätte — ein so armseliges Stückwerk, ohne
Plan, ohne Fundament, ohne Größe, ohne Symmetrie und
Schönheit, für den Tempel zu Olympia ausgeben wollte?Ueberhaupt ist es gar nicht wahrscheinlich, daß Demokrit
ein System gemacht habe. Ein Mann, der sein Leben mit
Reisen, Beobachtungen und Versuchen zubringt, lebt selten
lange genug, um die Resultate dessen was er gesehen und
erfahren in ein kunstmäßiges Lehrgebäude zusammenzufügen.
Und in dieser Rücksicht könnte wohl auch Demokrit, wiewohl
er über ein Jahrhundert gelebt haben soll, noch immer zu
früh vom Tod überrascht worden seyn. Aber, daß ein solcher
Mann, mit dem durchdringenden Verstande und mit dem
brennenden Durste nach Wahrheit, den ihm das Alterthum
einhellig zuschreibt, fähig gewesen sey, handgreiflichen Unsinn
zu behaupten, ist noch etwas weniger als unwahrscheinlich.
"Demokrit" (sagt man uns) "erklärte das Daseyn der Welt
lediglich aus den Atomen, dem leeren Raum, und der Nothwendigkeit
oder dem Schicksal. Er fragte die Natur achtzig
Jahre lang, und sie sagte ihm kein Wort von ihrem Urheber,
von seinem Plan, von seinem Endzweck? Er schrieb den
Atomen allen einerlei Art von Bewegung zu, und wurde
nicht gewahr, daß aus Elementen, die sich in parallelen
Linien bewegen, in Ewigkeit keine Körper entstehen können?
Er läugnete, daß die Verbindung der Atomen nach dem Gesetze
der Aehnlichkeit geschehe; er erklärte alles in der Welt
aus einer unendlich schnellen aber blinden Bewegung, und
behauptete gleichwohl daß die Welt ein Ganzes sey?" u. s. w.
Diesen und andern ähnlichen Unsinn setzt man auf seine Rechnung:
citiret den Stobäus, Sextus, Censorinus; und bekümmert
sich wenig darum, ob es unter die möglichen Dinge
gehöre, daß ein Mann von Verstand (wofür man gleichwohl
den Demokrit ausgibt) so gar erbärmlich räsonniren könnte.
Freilich sind große Geister von der Möglichkeit sich zu irren,
oder unrichtige Folgerungen zu ziehen, eben so wenig frei als
kleine; wiewohl man gestehen muß, daß sie unendlichemal
seltner in diese Fehler fallen, als es die Liliputer gern hätten:
aber es gibt Albernheiten die nur ein Dummkopf zu
denken oder zu sagen fähig ist, so wie es Unthaten gibt die
nur ein Schurke begehen kann. Die besten Menschen haben
ihre Anomalien, und die weisesten leiden zuweilen eine vorübergehende
Verfinsterung; aber dieß hindert nicht, daß man
nicht mit hinlänglicher Sicherheit von einem verständigen
Manne sollte behaupten können: daß er gewöhnlich, und
besonders bei solchen Gelegenheiten, wo auch die dümmsten
allen den ihrigen zusammenraffen, wie ein Mann von Verstand
verfahren werde.Diese Maxime könnte uns, wenn sie gehörig angewendet
würde, im Leben manches rasche Urtheil, manche von wichtigen
Folgen begleitete Verwechslung des Scheins mit der
Wahrheit ersparen helfen. Aber den Abderiten half sie
nichts. Denn zum Anwenden einer Maxime wird gerade das
Ding erfordert — das sie nicht hatten. Die guten Leute behalfen
sich mit einer ganz andern Logik als vernünftige Menschen;
und in ihren Köpfen waren Begriffe associirt, die,
wenn es keine Abderiten gäbe, sonst in aller Ewigkeit nie zusammenkommen
würden. Demokrit untersuchte die Natur der
Dinge, und bemerkte Ursachen gewisser Naturbegebenheiten
ein wenig früher als die Abderiten: also war er ein Zauberer.
— Er dachte über alles anders als sie, lebte nach andern
Grundsätzen, brachte seine Zeit auf eine ihnen unbegreifliche
Art mit sich selbst zu, — also war es nicht recht richtig in
seinem Kopfe; der Mann hatte sich überstudirt, und man besorgte,
daß es einen unglücklichen Ausgang mit ihm nehmen
werde. — Solche Schlüsse machen die Abderiten aller Zeiten
und Orte!—————
Zweites Kapitel.Demokrit wird eines schweren Verbrechens beschuldigt, und von einem
seiner Verwandten damit entschuldigt, daß er seines Verstandes nicht
recht mächtig sey. Wie er das Ungewitter, welches ihm der Priester
Strobylus zubereiten wollte, noch zu rechter Zeit ableitet.Was hört man von Demokriten? —sagten die Abderiten
unter einander. —"Schon sechs ganzer Wochen will niemand
nichts von ihm gesehen haben. —Man kann seiner nie habhaft
werden; oder wenn man ihn endlich trifft, so sitzt er in tiefen
Gedanken und ihr habt eine halbe Stunde vor ihm gestanden,
habt mit ihm gesprochen, und seyd wieder weggegangen, ohne
daß er es gewahr worden ist. Bald wühlt er in den Eingeweiden
von Hunden und Katzen herum; bald kocht er Kräuter,
oder steht mit einem großen Blasebalg in der Hand vor einem
Zauberofen, und macht Gold, oder noch was Aerger's. Bei
Tage klettert er wie eine Gemse die steilsten Klippen des
Hämus hinan, um — Kräuter zu suchen, als ob es deren
nicht genug in der Nähe gäbe; und bei Nacht, wo sogar die
unvernünftigen Geschöpfe der Ruhe pflegen, wickelt er sich in
einen Skythischen Pelz, und guckt, beim Kastor! durch ein
Blaserohr nach den Sternen."Ha, ha, ha! Man könnte sich's nicht närrischer träumen
lassen! Ha, ha, ha! — lachte der kurze dicke Rathsherr.Es ist bei allem dem Schade um den Mann, sagte der
Archon von Abdera; man muß gleichwohl gestehen daß er
viel weiß.Aber was hat die Republik davon? — versetzte ein
Rathsherr, der sich mit Projecten, Verbesserungsvorschlägen
und Deductionen veralteter Ansprüche eine hübsche runde
Summe von der Republik verdient hatte, und in Kraft dessen
immer aus vollen Backen von seinen Verdiensten um das
Abderitische Wesen prahlte, wiewohl das Abderitische Wesen
sich durch alle seine Projecte, Deductionen und Verbesserungen
nicht um hundert Drachmen besser befand.Es ist wahr (sprach ein andrer), mit seiner Wissenschaft
läuft es auf lauter Spielwerk hinaus; nichts Gründliches!
In minimis maximus!Und dann sein unerträglicher Stolz! seine Widersprechungssucht!
sein ewiges Vernünfteln und Tadeln und Spötteln!Und sein schlimmer Geschmack!Von der Musik wenigstens versteht er nicht den Kuckuck,
sagte der Nomophylax.Vom Theater noch weniger, rief Hyperbolus.Und von der hohen Ode gar nichts, sagte Physignathus.Er ist ein Charlatan, ein Windbeutel —Und ein Freigeist obendrein, schrie der Priester Strobylus;
ein ausgemachter Freigeist, ein Mensch der nichts
glaubt, dem nichts heilig ist! Man kann ihm beweisen, daß
er einer Menge Frösche die Zunge bei lebendigem Leibe ausgerissen
hat.Man spricht stark davon, daß er deren etliche sogar
lebendig zergliedert habe, sagte jemand.Ist's möglich? rief Strobylus mit allen Merkmalen des
äußersten Entsetzens; sollte dieß bewiesen werden können?
Gerechte Latona! wozu diese verfluchte Philosophie einen
Menschen nicht bringen kann! Aber, sollt' es wirklich bewiesen
werden können?Ich geb' es wie ich es empfangen habe, erwiederte jener.Es muß untersucht werden, schrie Strobylus, hochpreislicher
Herr Archon! Wahlweise Herren! — ich fordre Sie
hiermit im Namen der Latona auf! Die Sache muß untersucht
werden!Wozu eine Untersuchung? sagte Thrasyllus, einer von
den Häuptern der Republik, ein naher Anverwandter und
vermuthlicher Erbe des Philosophen. Die Sache hat ihre
Richtigkeit. Aber sie beweist weiter nichts, als was ich, leider!
schon seit geraumer Zeit an meinem armen Vetter wahrgenommen
habe, — daß es mit seinem Verstande nicht so gut
steht als zu wünschen wäre. Demokrit ist kein schlimmer
Mann; er ist kein Verächter der Götter: aber er hat Stunden
da er nicht bei sich selber ist. Wenn er einen Frosch
zergliedert hat, so wollt' ich für ihn schwören daß er den
Frosch für eine Katze ansah.Desto schlimmer! sagte Strobylus.In der That, desto schlimmer —für seinen Kopf und für
sein Hauswesen! — fuhr Thrasyllus fort. Der arme Mann
ist in einem Zustande, wobei wir nicht länger gleichgültig
bleiben können. Die Familie wird sich genöthiget sehen die
Republik um Hülfe anzurufen. Er ist in keiner Betrachtung
fähig sein Vermögen selbst zu verwalten. Er wird bevogtet
werden müssen.Wenn dieß ist — sagte der Archon mit einer bedenklichen
Miene — und hielt inne.Ich werde die Ehre haben, Ihre Herrlichkeit näher von
der Sache zu unterrichten, versetzte der Rathsherr Thrasyllus.Wie? Demokrit sollte nicht bei Verstande seyn? rief
einer von den Anwesenden. Meine Herren von Abdera, bedenken
Sie wohl was Sie thun! Sie sind in Gefahr, dem
ganzen Griechenland ein großes Lachen zuzubereiten. Ich will
meine Ohren verloren haben, wenn Sie einen verständigern
Mann diesseits und jenseits des Hebrus finden, als diesen
nämlichen Demokrit! Nehmen Sie sich in Acht, meine
Herren! die Sache ist kitzlicher als Sie vielleicht denken.Unsre Leser erstaunen — aber wir wollen ihnen sogleich
aus dem Wunder helfen. Derjenige, der dieß sagte, war
kein Abderit. Es war ein Fremder aus Syrakus, und (was
die Rathsherren von Abdera in Respect erhielt) ein naher
Verwandter des ältern Dionysius, der sich vor kurzem zum
Fürsten dieser Republik aufgeworfen hatte.Sie können versichert seyn, antwortete der Archon dem
Syrakuser, daß wir nicht weiter in der Sache gehen werden
als wir Grund finden.Ich nehme zu viel Antheil an der Ehre, welche der erlauchte
Syrakuser meinem Vetter durch seine gute Meinung
erweist, sagte Thrasyllus, als daß ich nicht wünschen sollte,
sie bestätigen zu können. Es ist wahr, Demokrit hat seine
hellen Augenblicke; und in einem solchen wird ihn der Prinz
gesprochen haben. Aber leider! es sind nur Augenblicke —So müssen die Augenblicke in Abdera sehr lang seyn, fiel
der Syrakuser ein.Hoch- und wohlweise Herren, sagte der Priester Strobylus,
die Umstände mögen beschaffen seyn wie sie wollen, bedenken
Sie daß die Rede von einem lebendig zergliederten
Frosche ist! Die Sache ist wichtig, und ich dringe auf Untersuchung.
Denn davor sey Latona und Apollo, daß ich
fürchten sollte —Beruhigen Sie sich, Herr Oberpriester, fiel ihm der Archon
ins Wort — der (unter uns gesagt) selbst ein wenig im Verdachte
stand, von den Fröschen der Latona nicht so gesund zu
denken, wie man in Abdera davon denken mußte. —Auf die
erste Anregung, welche von Seiten der Vorsteher des geheiligten
Teiches beim Senat gemacht werden wird, sollen die
Frösche alle gebührende Genugthuung erhalten!Der Syrakuser benachrichtigte Demokriten unverzüglich
von allem, was in dieser Gesellschaft gesprochen worden war.Laß den fettesten jungen Pfau im Hühnerhofe würgen,
und an den Bratspieß stecken, sagte Demokrit zu seiner Haushälterin,
und benachrichtige mich wenn er gar ist.Des nämlichen Abends, als sich Strobylus zu Tische setzte,
ward der gebratne Pfau in einer silbernen Schüssel, als ein
Geschenk Demokrits, aufgetragen. Als man ihn öffnete, siehe,
da war er mit hundert goldnen Dariken gefüllt. Es muß
doch nicht so gar übel mit dem Verstande des Mannes stehen,
dachte Strobylus.Das Mittel wirkte unverzüglich was es wirken sollte.
Der Oberpriester ließ sich den Pfau herrlich schmecken, trank
Griechischen Wein dazu, strich die hundert Dariken in seinen
Beutel, und dankte der Latona für die Genugthuung,
die sie ihren Fröschen verschafft hatte.Wir haben alle unsre Fehler, sagte Strobylus des folgenden
Tages in einer großen Gesellschaft. Demokrit ist zwar
ein Philosoph; aber ich finde doch, daß er es so übel nicht
meint als ihn seine Feinde beschuldigen. Die Welt ist schlimm,
man hat wunderliche Dinge von ihm erzählt: aber ich denke
gern das Beste von jedermann. Ich hoffe sein Herz ist besser
als sein Kopf! Es soll nicht gar zu richtig in dem letztern
seyn, und ich glaub' es selbst. Einem Menschen in solchen
Umständen muß man viel zu gut halten. Ich bin gewiß,
daß er der feinste Mann in ganz Abdera wäre, wenn ihm
die Philosophie den Verstand nicht verdorben hätte!Strobylus fing durch diese Rede zwei Fliegen mit Einer
Klappe. Er entledigte sich seiner Verbindlichkeit gegen unsern
Philosophen, da er von ihm als von einem guten Manne
sprach, und machte sich ein Verdienst um den Rathsherrn
Thrasyllus, indem er es auf Unkosten seines Verstandes that.
Woraus zu ersehen ist, daß der Priester Strobylus, bei
aller seiner Einfalt oder Dummheit (wenn man es so nennen
will) ein schlauer Gast war.—————
Drittes Kapitel.Eine kleine Abschweifung in die Regierungszeit Schach-Baham des Weisen.
Charakter des Rathsherrn Thrasyllus.Es gibt eine Art von Menschen, die man viele Jahre lang
kennen und beobachten kann, ohne mit sich selbst einig zu
werden, ob man sie in die Classe der schwachen oder der bösen
Leute setzen soll. Kaum haben sie einen Streich gemacht,
dessen kein Mensch von einiger Ueberlegung fähig zu seyn
scheint, so überraschen sie uns durch eine so wohl ausgedachte
Bosheit, daß wir, mit allem guten Willen von ihrem Herzen
das Beste zu denken, uns in der Unmöglichkeit befinden, die
Schuld auf ihren Kopf zu legen. Gestern nahmen wir es für
ausgemacht an, daß Herr Quidam so schwach von Verstand sey,
daß es Sünde wäre ihm seine Ungereimtheiten zu Verbrechen
zu machen; heute überführt uns der Augenschein, daß der
Mann zu übelthätig ist um ein bloßer Dummkopf zu sein; wir
sehen keinen Ausweg, ihn von der Schuld eines bösen Willens
frei zu sprechen. Aber kaum haben wir hierüber unsre Partei
genommen, so sagt oder thut er etwas, das uns wieder in
unsre vorige Hypothese zurückwirft, oder wenigstens in eine
der unangenehmsten Seelenlagen, in die Verlegenheit setzt,
nicht zu wissen was wir von dem Manne denken, oder —
wenn unser Unstern will daß wir mit ihm zu thun haben
müssen — was wir mit ihm anfangen sollen.Die geheime Geschichte von Agra sagt, daß der berühmte
Schach-Baham sich einmals mit einem seiner Omrahs in
diesem Falle befunden habe. Der Omrah wurde beschuldigt,
daß er Ungerechtigkeiten ausgeübt habe.So soll er gehangen werden, sagte Schach-Baham."Aber, Sire, hielt man ihm entgegen, der arme Kurli
ist ein so schwacher Kopf, daß noch die Frage ist, ob er den
Unterschied zwischen Recht und Link deutlich genug einsieht,
um zu wissen ob er eine Ungerechtigkeit begeht oder nicht."Wenn dies ist, sagte Schach-Baham, so schickt ihn ins
Narrenhospital."Gleichwohl, Sire, da er Verstand genug hat einem
Wagen mit Heu auszuweichen, und bei einem Pfeiler, an
dem er sich den Kopf zerschellen könnte, vorbeizugehen, weil
er wohl merkt, daß der Pfeiler nicht bei ihm vorbeigehen
werde —"Merkt er das? rief der Sultan; beim Barte des Propheten,
so sagt mir nichts weiter. Morgen soll man sehen,
ob Justiz in Agra ist."Indessen gibt es Leute, die Eure Majestät versichern
werden, daß der Omrah — seine Dummheit ausgenommen,
die ihn zuweilen boshaft macht — der ehrlichste Mann von
der Welt ist.""Um Vergebung! (fiel ein andrer von den anwesenden
Höflingen ein) gerade das Gegentheil! Kurli hat alles,
was noch gut an ihm ist, seiner Dummheit zu danken. Er
würde zehnmal schlimmer seyn als er ist, wenn er Verstand
genug hätte zu wissen wie er's anfangen sollte."Wißt ihr auch, meine Freunde, daß in allem, was ihr
mir da sagt, kein Menschenverstand ist? versetzte Schach-Baham.
Vergleicht euch erst mit euch selbst, wenn ich bitten
darf! Kurli, spricht dieser, ist ein böser Mann weil er dumm
ist. —Nein, spricht jener, er ist dumm weil er boshaft ist. —
Gefehlt, spricht der dritte; er würde ein schlimmerer Mann
seyn, wenn er nicht so dumm wäre. — Wie wollt ihr, daß
unser einer aus diesem Galimathias klug werde? Da entscheide
mir einmal jemand, was ich mit ihm anfangen soll!
Denn entweder ist er zu boshaft fürs Narrenhospital, oder zu
dumm für den Galgen."Dieß ist es eben, sagte die Sultanin Darejan. Kurli
ist zu dumm um sehr boshaft zu seyn; und doch würde
Kurli noch weniger boshaft seyn als er ist, wenn er weniger
dumm wäre."Der Henker hole den räthselhaften Kerl! rief Schach-Baham.
Da sitzen wir und zerbrechen uns die Köpfe, um
ausfindig zu machen ob er ein Esel oder ein Schurke sey;
und am Ende werdet ihr sehen daß er beides ist. — Alles
wohl überlegt, wißt ihr was ich thun will? —Ich will ihn
laufen lassen! Seine Bosheit und seine Dummheit werden
einander die Wage halten. Er wird, insofern er nur kein
Omrah ist, weder durch diese noch jene großen Schaden thun.
Die Welt ist weit; laß ihn laufen, Itimadulet! Aber vorher
soll er kommen und sich bei der Sultanin bedanken!
Nur noch vor drei Minuten wollt' ich ihm keine Feige um
seinen Hals gegeben haben!Man hat lange nicht ausfindig machen können, warum
Schach-Baham den Beinamen des Weisen in den Geschichtsbüchern
von Hindostan führt. Aber nach dieser Entscheidung
kann es keine Frage mehr seyn. Alle sieben Weisen aus
Griechenland hätten den Knoten nicht besser auflösen können,
als ihn Schach-Baham — zerhieb.Der Rathsherr Thrasyllus hatte das Unglück, einer von
diesen (zum Glück der Welt) nicht sogar gewöhnlichen Menschen
zu seyn, in deren Kopf und Herzen Dummheit und
Bosheit, nach dem Ausdruck des Sultans, einander die
Wage halten. Seine Anschläge auf das Vermögen seines
Verwandten waren nicht von gestern her. Er hatte darauf
gezählt, daß Demokrit nach einer so langen Abwesenheit gar
nicht wiederkommen würde; und auf diese Voraussetzung
hatte er sich die Mühe gegeben, einen Plan zu machen, den
die Wiederkunft desselben auf eine sehr unangenehme Art
vereitelte. Thrasyllus, dessen Einbildung schon daran gewöhnt
war, das Erbgut Demokrits für einen Theil seines eignen
Vermögens anzusehen, konnte sich nun nicht so leicht gewöhnen
anders zu denken. Er betrachtete ihn also als einen
Räuber, der ihm das Seinige vorenthalte. Aber unglücklicherweise
hatte dieser Räuber — die Gesetze auf seiner Seite.Der arme Thrasyllus durchsuchte alle Winkel in seinem
Kopfe, ein Mittel gegen diesen ungünstigen Umstand zu finden;
und suchte lange vergebens. Endlich glaubte er in der Lebensart
seines Vetters einen Grund, auf den er bauen könnte,
gefunden zu haben. Die Abderiten waren schon vorbereitet!
dachte Thrasyllus; denn daß Demokrit ein Narr sey, war zu
Abdera eine gemeine Sache. Es kam also nur noch darauf
an, dem großen Rath legaliter darzuthun, daß seine Narrheit
von derjenigen Art sey, welche den damit behafteten unfähig
macht sein eigner Herr zu seyn. Dieß hatte nun einige
Schwierigkeiten. Mit seinem eignen Verstande würde Thrasyllus
schwerlich durchgekommen seyn. Aber in solchen Fällen
finden seinesgleichen für ihr Geld immer einen Spitzbuben,
der ihnen seinen Kopf leiht; und dann ist es so viel als ob
sie selbst einen hätten.—————
Viertes Kapitel.Kurze, doch hinlängliche, Nachrichten von den Abderitischen Sykophanten.
Ein Fragment aus der Rede, worin Thrasyllus um die Bevogtung seines
Vetters ansuchte.Es gab damals zu Abdera eine Art von Leuten, die sich
von der Kunst nährten, schlimme Händel so zurechte zu machen,
daß sie wie gut aussahen. Sie gebrauchten dazu nur
zwei Hauptkunstgriffe: entweder sie verfälschten das Factum,
oder sie verdrehten das Gesetz. Weil diese Lebensart sehr einträglich
war, so legte sich nach und nach eine so große Menge
von müßigen Leuten darauf, daß die Pfuscher zuletzt die Meister
verdrängten. Die Profession verlor dadurch von ihrem
Ansehen. Man nannte diejenigen, die sich damit abgaben,
Sykophanten, weil die meisten so arme Schelme waren, daß
sie für eine Feige alles sagten was man wollte.Indessen, da die Sykophanten wenigstens den zwanzigsten
Theil der Einwohner von Abdera ausmachten, und die Leute
gleichwohl nicht bloß von Feigen leben konnten: so reichten die
gewöhnlichen Gelegenheiten, wobei die Rechtshändel zu entstehen
pflegen, nicht mehr zu. Die Vorfahren der Sykophanten
hatten gewartet, bis man sie um ihren Beistand ansprach.
Aber bei dieser Methode hätten ihre Nachfolger hungern oder
graben müssen: denn betteln war in Abdera nicht erlaubt;
welches (im Vorbeigehen zu sagen) das einzige war, was die
Fremden an der Abderitischen Polizei zu loben fanden. Nun
waren die Sykophanten zum Graben zu faul; folglich blieb
den meisten kein andres Mittel übrig, als — die Händel,
die sie führen wollten, selbst zu machen.Weil die Abderiten Leute von sehr hitziger Gemüthsart
und von geringer Besonnenheit waren, so fehlt' es dazu nie
an Gelegenheit. Jede Kleinigkeit gab also einen Handel;
jeder Abderit hatte seinen Sykophanten: und so wurde wieder
eine Art von Gleichgewicht hergestellt, wodurch sich die Profession
um so mehr in Ansehen erhielt, weil die Nacheiferung
große Talente entwickelte.Abdera gewann dadurch den Ruhm, daß die Kunst Facta
zu verfälschen und Gesetze zu verdrehen in Athen selbst nicht
so hoch gebracht worden sey: und dieser Ruhm wurde in der
Folge dem Staat einträglich. Denn wer einen ungewöhnlich,
schlimmen Handel von einiger Wichtigkeit hatte, verschrieb
sich einen Abderitischen Sykophanten; und es müßte nicht
natürlich zugegangen seyn, wenn der Sykophant eher von
einem solchen Clienten abgelassen hätte, bis nichts mehr an
ihm abzunagen war.Doch dieß war noch nicht der größte Vortheil, den die
Abderiten von ihren Sykophanten zogen. Was diese Leute in
ihren Augen am vorzüglichsten machte, war — die Bequemlichkeit,
eine jede Schelmerei ausführen zu können, ohne sich
selbst dabei bemühen zu müssen oder sich mit der Justiz abzuwerfen.
Man brauchte die Sache nur einem Sykophanten zu
übergeben, so konnte man, gewöhnlicher Weise, des Ausgangs
wegen ruhig seyn. Ich sage gewöhnlicher Weise; denn freilich
gab es mitunter auch Fälle, wo der Sykophant, nachdem
er sich erst von seinem Clienten tüchtig hatte bezahlen lassen,
gleichwohl heimlich dem Gegentheil zu seinem Rechte verhalf:
aber dieß geschah auch niemals, als wenn dieser wenigstens
zwei Drittel mehr gab als der Client.Uebrigens konnte man nichts Erbaulicher's sehen als das
gute Vernehmen, worin zu Abdera die Sykophanten mit den
Magistratspersonen standen. Die einzigen, die sich übel bei
dieser Eintracht befanden, waren — die Clienten. Bei allen
andern Unternehmungen, so gefährlich und gewagt sie auch
immer seyn mögen, bleibt doch wenigstens eine Möglichkeit
mit ganzer Haut davon zu kommen. Aber ein Abderitischer
Client war immer gewiß um sein Geld zu kommen, er mochte
seinen Handel gewinnen oder verlieren. Nun rechteten die
Leute zwar darum weder mehr noch weniger; allein ihre
Justiz kam dabei in einen Ruf, gegen welchen nur Abderiten
gleichgültig seyn konnten. Denn es wurde zu einem Sprüchwort
in Griechenland, demjenigen, dem man das Aergste an
den Hals wünschen wollte, einen Proceß in Abdera zu
wünschen.Aber, beinahe hätten wir über den Sykophanten vergessen,
daß die Rede von den Absichten des Rathsherrn
Thrasyllus auf das Vermögen unsers Philosophen, und von
den Mitteln war, wodurch er seinen vorhabenden Raub unter
dem Schutze der Gesetze zu begehen versuchen wollte.Um den geneigten Leser mit keiner langweiligen Umständlichkeit
aufzuhalten, begnügen wir uns zu sagen, daß Thrasyllus
die Sache seinem Sykophanten auftrug. Es war einer
von den geschicktesten in ganz Abdera; ein Mann, der die
gemeinen Kunstgriffe seiner Mitbrüder verachtete, und sich
viel darauf zu gut that, daß er, seitdem er sein edles Handwerk
trieb, ein paar hundert schlimme Händel gewonnen hatte,
ohne jemals eine einzige directe Lüge zu sagen. Er steifte
sich auf lauter unläugbare Facta; aber seine Stärke lag in
der Zusammensetzung und im Helldunkeln. Demokrit hätte in
keine bessern Hände fallen können. Wir bedauern nur, daß
wir, weil die Acten des ganzen Processes längst von Mäusen
gefressen worden, außer Stande sind, jungen neu angehenden
Sykophanten zum Besten, die Rede vollständig mitzutheilen,
worin dieser Meister in der Kunst dem großen Rathe zu
Abdera bewies, daß Demokrit seines Vermögens entsetzt werden
müsse. Alles, was von dieser Rede übrig geblieben, ist
ein kleines Bruchstück, welches uns merkwürdig genug scheint,
um, zur Probe wie diese Herren eine Sache zu wenden pflegten,
ein paar Blätter in dieser Geschichte einzunehmen."Die größten, die gefährlichsten, die unerträglichsten
aller Narren (sagte er) sind die räsonnirenden Narren. Ohne
weniger Narren zu seyn als andre, verbergen sie dem undenkenden
Haufen die Zerrüttung ihres Kopfes durch die Fertigkeit
ihrer Zunge, und werden für weise gehalten, weil sie
zusammenhangender rasen als ihre Mitbrüder im Tollhause.
Ein ungelehrter Narr ist verloren, sobald es so weit mit ihm
gekommen ist daß er Unsinn spricht. Bei dem gelehrten Narren
hingegen sehen wir gerade das Widerspiel. Sein Glück ist
gemacht und sein Ruhm befestiget, sobald er Unsinn zu reden
oder zu schreiben anfängt. Denn die meisten, wiewohl sie sich
ganz eigentlich bewußt sind daß sie nichts davon verstehen, sind
entweder zu mißtrauisch gegen ihren eigenen Verstand, um
gewahr zu werden daß die Schuld nicht an ihnen liegt; oder
zu dumm um es zu merken, und also zu eitel, um zu gestehen
daß sie nichts verstanden haben. Je mehr also der gelehrte Narr
Unsinn spricht, desto lauter schreien die dummen Narren über
Wunder, desto emsiger verdrehen sie sich die Köpfe, um Sinn
in dem hochtönenden Unsinn zu finden. Jener, gleich einem
durch den öffentlichen Beifall angefrischten Luftspringer, thut
immer desto verwegnere Sätze, je mehr ihm zugeklatscht wird:
diese klatschen immer stärker, um den Gaukler noch größere
Wunder thun zu sehen. Und so geschieht es oft, daß der
Schwindelgeist eines Einzigen ein ganzes Volk ergreift, und
daß, so lange die Mode des Unsinns dauert, dem nämlichen
Manne Altäre aufgerichtet werden, den man zu einer andern
Zeit, ohne viele Umstände mit ihm zu machen, in einem
Hospital versorgt haben würde."Glücklicher Weise für unsere gute Stadt Abdera ist es
so weit mit uns noch nicht gekommen. Wir erkennen und
bekennen alle aus Einem Munde, daß Demokrit ein Sonderling,
ein Phantast, ein Grillenfänger ist. Aber wir begnügen
uns über ihn zu lachen; und dieß ist es eben worin wir
fehlen. Jetzt lachen wir über ihn, aber wie lange wird es
währen, so werden wir anfangen etwas Außerordentliches in
seiner Narrheit zu finden? Vom Erstaunen zum Bewundern
ist nur ein Schritt; und haben wir diesen erst gethan —
Götter! wer wird uns sagen können wo wir aufhören werden? —
Demokrit ist ein Phantast, sprechen wir jetzt und
lachen. Aber was für ein Phantast ist Demokrit? Ein eingebildeter
starker Geist, ein Spötter unsrer uralten Gebräuche
und Einrichtungen; ein Müßiggänger, dessen Beschäftigungen
dem Staate nicht mehr Nutzen bringen als wenn er gar nichts
thäte; ein Mann, der Katzen zergliedert, der die Sprache der
Vögel versteht, und den Stein der Weisen sucht; ein Nekromant,
ein Schmetterlingsjäger, ein Sterngucker! — Und wir
können noch zweifeln, ob er eine dunkle Kammer verdient?
Was würde aus Abdera werden, wenn seine Narrheit endlich
ansteckend würde? Wollen wir lieber die Folgen eines
so großen Uebels erwarten, als das einzige Mittel vorkehren
wodurch wir es verhüten könnten? Zu unserm Glücke
geben die Gesetze dieses Mittel an die Hand. Es ist einfach,
es ist rechtmäßig, es ist unfehlbar. Ein dunkles Kämmerchen,
hochweise Väter, ein dunkles Kämmerchen! so sind
wir auf einmal außer Gefahr, und Demokrit mag rasen so
viel ihm beliebt."Aber, sagen seine Freunde — denn so weit ist es schon
mit uns gekommen, daß ein Mann, den wir alle für unsinnig
halten, Freunde unter uns hat — Aber, sagen sie, wo
sind die Beweise, daß seine Narrheit schon zu jenem Grade gestiegen
sey, den die Gesetze zu einem dunkeln Kämmerchen
erfordern? — Wahrhaftig! wenn wir, nach allem was wir
schon wissen, noch Beweise fordern, so wird er glühende Kohlen
für Goldstücke ansehen, oder die Sonne am Mittag mit
einer Laterne suchen müssen, wenn wir überzeugt werden sollen.
Hat er nicht behauptet daß die Liebesgöttin in Aethiopien
schwarz sey? Hat er unsere Weiber nicht bereden wollen,
nackend zu gehen wie die Weiber der Gymnosophisten? Versicherte
er nicht neulich in einer großen Gesellschaft, die Sonne
stehe still, die Erde überwälze sich dreihundert und fünfundsechzigmal
des Jahrs durch den Thierkreis; und die Ursache,
warum wir bei ihren Burzelbäumen nicht ins Leere hinausfielen,
sey, weil mitten in der Erde ein großer Magnet liege,
der uns, gleich eben so vielen Feilspänen, anziehe, wiewohl
wir nicht von Eisen sind? —Doch, ich will gern zugeben, daß dieß alles Kleinigkeiten
sind. Man kann närrische Dinge reden, und kluge thun.
Wollte Latona, daß der Philosoph sich in diesem Falle befände!
Aber (mir ist es leid, daß ich es sagen muß) seine Handlungen
setzen einen so ungewöhnlichen Grad von Wahnwitz
voraus, daß alle Niesewurz in der Welt zu wenig seyn würde,
das Gehirn zu reinigen worin sie ausgeheckt werden. Um die
Geduld des erlauchten Senats nicht zu ermüden, will ich aus
unzähligen Beispielen nur zwei anführen, deren Gewißheit
gerichtlich erwiesen werden kann, falls sie ihrer Unglaublichkeit
wegen in Zweifel gezogen werden sollten."Vor einiger Zeit wurden unserm Philosophen Feigen
vorgesetzt, die, wie es ihm däuchte, einen ganz besondern
Honiggeschmack hatten. Die Sache schien ihm von Wichtigkeit
zu seyn. Er stand vom Tisch auf, ging in den Garten, ließ
sich den Baum zeigen von welchem die Feigen gelesen worden
waren, untersuchte den Baum von unten bis oben, ließ ihn
bis an die Wurzeln ausgraben, erforschte die Erde worin er
stand, und (wie ich nicht zweifle) auch die Constellation, in
der er gepflanzt worden war. Kurz, er zerbrach sich etliche
Tage lang den Kopf darüber, wie und welchergestalt die Atomen
sich mit einander vergleichen müßten, wenn eine Feige
nach Honig schmecken sollte. Er ersann eine Hypothese, verwarf
sie wieder, fand eine andre, dann die dritte und vierte;
und verwarf alle wieder, weil ihm keine scharfsinnig und gelehrt
genug zu seyn schien. Die Sache lag ihm so sehr am
Herzen, daß er Schlaf und Essenslust darüber verlor. Endlich
erbarmte sich seine Köchin über ihn. Herr, sagte die
Köchin, wenn Sie nicht so gelehrt wären, so hätte Ihnen
wohl längst einfallen müssen warum die Feigen nach Honig
schmeckten — Und warum denn? fragte Demokrit. — Ich
legte sie, um sie frischer zu erhalten, in einen Topf, worin
Honig gewesen war, sagte die Köchin; dieß ist das ganze Geheimniß,
und da ist weiter nichts zu untersuchen, dächt' ich. —
Du bist ein dummes Thier, rief der mondsüchtige Philosoph.
Eine feine Erklärung, die du mir da gibst! Für Geschöpfe
deinesgleichen mag sie vielleicht gut genug seyn; aber meinst
du daß wir uns mit so einfältigen Erklärungen befriedigen
lassen? Gesetzt, die Sache verhielte sich wie du sagst, was
geht das mich an? Dein Honigtopf soll mich wahrlich nicht
abhalten, nachzuforschen, wie die nämliche Naturbegebenheit
auch ohne Honigtopf hätte erfolgen können. Und so fuhr der
weise Mann fort, der Vernunft und seiner Köchin zu Trotz,
eine Ursache, die nicht tiefer als in einem Honigtopfe lag, in
dem unergründlichen Brunnen zu suchen, worin (seinem Vorgeben
nach) die Wahrheit verborgen liegt; bis eine andre
Grille, die seiner Phantasie in den Wurf kam, ihn zu andern
vielleicht noch ungeräumtern Nachforschungen verleitete."Doch, wie lächerlich auch diese Anekdote ist, so ist sie
doch nichts gegen die Probe von Klugheit, die er ablegte, als
im abgewichenen Jahre die Oliven in Thracien und allen angränzenden
Gegenden mißrathen waren. Demokrit hatte das
Jahr zuvor (ich weiß nicht, ob durch Punctation oder andre
magische Künste) herausgebracht, daß die Oliven, die damals
sehr wohlfeil waren, im folgenden Jahre gänzlich fehlen
würden. Ein solches Vorwissen würde hinlänglich seyn, das
Glück eines vernünftigen Mannes auf seine ganze Lebenszeit
zu machen. Auch hatte es anfangs das Ansehen, als ob er
diese Gelegenheit nicht entwischen lassen wollte; denn er kaufte
alles Oel im ganzen Lande zusammen. Ein Jahr darauf
stieg der Preis des Oels (theils des Mißwachses wegen,
theils weil aller Vorrath in Demokrits Händen war) viermal
so hoch als es ihm gekostet hatte. Nun gebe ich allen Leuten,
welche wissen, daß Vier viermal mehr als Eins sind, zu errathen,
was der Mann that. — Können Sie sich vorstellen,
daß er unsinnig genug war, seinen Verkäufern ihr Oel um
den nämlichen Preis, wie er es von ihnen erhandelt hatte,
zurückzugeben? Wir wissen auch, wie weit die Großmuth
bei einem Menschen, der seiner Sinne mächtig ist, gehen
kann. Aber diese That lag so weit außer den Gränzen der
Glaubwürdigkeit, daß die Leute, die dabei gewannen, selbst
die Köpfe schüttelten, und gegen den Verstand des Mannes,
der einen Haufen Gold für einen Haufen Nußschalen ansah,
Zweifel bekamen, die, zum Unglück für seine Erben, nur zu
wohl gegründet waren."—————
Fünftes Kapitel.Die Sache wird auf ein medicinisches Gutachten ausgestellt. Der Senat
läßt ein Schreiben an den Hippokrates abgehen. Der Arzt kommt in
Abdera an, erscheint vor Rath, wird vom Rathsherrn Thrasyllus zu
einem Gastgebot gebeten, und hat — lange Weile. Ein Beispiel, daß
ein Beutel voll Dariken nicht bei allen Leuten anschlägt.So weit geht das Fragment, und wenn man von einem
so kleinen Theile auf das Ganze schließen könnte, so hätte der
Sykophant allerdings mehr als einen Korb voll Feigen von
dem Rathsherrn Thrasyllus verdient. Seine Schuld war es
wenigstens nicht, wenn der hohe Rath von Abdera unsern
Philosophen nicht zu einem dunkeln Kämmerchen verurtheilte.
Aber Thrasyllus hatte Mißgönner im Senat; und Meister
Pfriem, der inzwischen Zunftmeister geworden war, behauptete
mit großem Eifer: daß es wider die Freiheiten von Abdera
laufen würde, einen Bürger für wahnwitzig zu erklären,
eh' er von einem unparteiischen Arzte so befunden worden sey."Wohl, rief Thrasyllus, meinetwegen kann man den
Hippokrates selbst über die Sache sprechen lassen! Ich bin's
wohl zufrieden."Sagten wir nicht oben, daß die Dummheit des Rathsherrn
Thrasyllus seiner Bosheit die Wage gehalten habe? —
Es war ein dummer Streich von ihm, sich in einer so mißlichen
Sache auf den Hippokrates zu berufen. Aber freilich
fiel es ihm auch nicht ein, daß man ihn beim Worte nehmen
würde.Hippokrates, sagte der Archon, ist allerdings der Mann,
der uns am besten aus diesem bedenklichen Handel ziehen
könnte. Zu gutem Glücke befindet er sich eben zu Thasos;
vielleicht läßt er sich bewegen, zu uns herüber zu kommen,
wenn wir ihn im Namen der Republik einladen lassen.Thrasyllus entfärbte sich ein wenig, da er hörte, daß
man Ernst aus der Sache machen wollte. Aber die Mehrheit
der Stimmen fiel dem Archon bei. Man schickte unverzüglich
einen Deputirten mit einem Einladungsschreiben an den Arzt
ab, und brachte den Rest der Session damit zu, sich über die
Ehrenbezeugungen zu berathschlagen, womit man ihn empfangen
wollte."Dieß war doch so Abderitisch nicht" —werden die Aerzte
denken, die sich vielleicht unter unsern Lesern befinden. Aber
wo sagten wir denn, daß die Abderiten gar nichts gethan
hätten, was auch einem vernünftigen Volke anständig seyn
würde? Indessen lag doch der wahre Grund, warum sie dem
Hippokrates so viel Ehre erweisen wollten, keineswegs in der
Hochachtung, die sie für ihn empfanden, sondern lediglich in
der Eitelkeit, für Leute gehalten zu werden, die einen großen
Mann zu schätzen wüßten. Und überdieß, merkten wir nicht
schon bei einer andern Gelegenheit an, daß sie von jeher
außerordentliche Liebhaber von Feierlichkeiten gewesen?Die Abgeordneten hatten Befehl, dem Hippokrates nichts
weiter zu sagen, als daß der Senat von Abdera seiner Gegenwart
und seines Ausspruchs in einer sehr wichtigen Angelegenheit
vonnöthen habe; und Hippokrates konnte sich, mit
aller seiner Philosophie, nicht einbilden, was für eine wichtige
Sache dieß seyn könnte. Denn wozu (dacht' er) haben sie
nöthig, ein Geheimniß daraus zu machen? Der Senat von
Abdera kann doch schwerlich in corpore mit einer Krankheit
befallen seyn, die man nicht gern kund werden läßt?Indessen entschloß er sich um so williger zu dieser Reise,
weil er schon lange gewünscht hatte, Demokriten persönlich
kennen zu lernen. Aber wie groß war sein Erstaunen, da
ihm — nachdem er mit großem Gedräng eingeholt und vor
den versammelten Rath geführt worden war — von dem
regierenden Archon in einer wohlgesetzten Rede zu wissen gethan
wurde: "Daß man ihn bloß darum nach Abdera berufen
habe, um die Wahnsinnigkeit ihres Mitbürgers Demokrit zu
untersuchen, und gutächtlich zu berichten, ob ihm noch geholfen
werden könne, oder ob es nicht schon so weit mit
ihm gekommen sey, daß man ihn ohne Bedenken für bürgerlich
todt erklären könne?"Dieß muß ein andrer Demokrit seyn, dachte der Arzt
anfangs. Aber die Herren von Abdera ließen ihn nicht lange
in diesem Zweifel. — Gut, gut, sprach er bei sich selbst: bin
ich nicht in Abdera? Wie man auch so was vergessen kann!Hippokrates ließ ihnen nichts von seinem Erstaunen merken.
Er begnügte sich, den Senat und das Volk von Abdera
zu loben, daß sie eine so große Empfindung von dem Werth
eines solchen Mitburgers hätten, um seine Gesundheit als
eine Sache, woran dem gemeinen Wesen gelegen sey, anzusehen.
"Wahnwitz (sagte er mit großer Ernsthaftigkeit) ist
ein Punkt, worin die größten Geister und die größten Schöpse
zuweilen zusammen treffen. Wir wollen sehen!"Thrasyllus lud den Arzt zur Tafel ein, und hatte die
Höflichkeit, ihm die feinsten Herren und die schönsten Frauen
in der Stadt zur Gesellschaft zu geben. Aber Hippokrates,
der ein kurzes Gesicht und keine Lorgnette hatte, wurde nicht
gewahr, daß die Damen schön waren; und so kam es denn,
ohne Schuld der guten Geschöpfe, die sich (zum Ueberfluß) in
die Wette herausgeputzt hatten, daß sie nicht völlig den Eindruck
auf ihn machten, den sie sich sonst versprechen konnten.
Es war wirklich Schade daß er nicht besser sah. Für einen
Mann von Verstand ist der Anblick einer schönen Frau allemal
etwas sehr Unterhaltendes; und wenn die schöne Frau erwas
Dummes sagt (welches den schönen Frauen zuweilen so gut
begegnen soll als den häßlichen), macht es einen merklichen
Unterschied, ob man sie nur hört oder ob man sie zugleich
sieht. Denn im letzten Falle ist man immer geneigt, alles,
was sie sagen kann, vernünftig oder artig oder wenigstens
erträglich zu finden. Da die Abderitinnen diesen Vortheil
bei dem kurzsichtigen Fremden verloren; da er genöthigt
war, von ihrer Schönheit durch den Eindruck, den sie auf
seine Ohren machten, zu urtheilen: so war freilich nichts
natürlicher, als daß der Begriff, den er dadurch von ihnen
bekam, demjenigen ziemlich ähnlich war, den sich ein Tauber
mittelst eines Paars gesunder Augen von einem Concerte
machen würde. —Wer ist die Dame, die jetzt mit dem witzigen Herrn
sprach? — fragte er den Thrasyllus leise. — Man nannte
ihm die Gemahlin eines Matadors der Republik. — Er
betrachtete sie nun mit neuer Aufmerksamkeit. Verzweifelt!
(dacht' er bei sich selbst) daß ich mir die verwünschte Austerfrau
nicht aus dem Kopfe bringen kann, die ich neulich
vor meinem Hause zu Larissa mit einem Molossischen Eseltreiber
scherzen hörte!Thrasyllus hatte geheime Absichten auf unsern Aesculap.
Seine Tafel war gut, sein Wein verführerisch, und zum Ueberfluß
ließ er Milesische Tänzerinnen kommen. Aber Hippokrates
aß wenig, trank Wasser, und hatte in Aspasiens Hause
zu Athen weit schönere Tänzerinnen gesehen. Es wollte alles
nichts verfangen. Dem weisen Mann begegnete etwas, das
ihm vielleicht in vielen Jahren nicht begegnet war: er hatte
lange Weile, und es schien ihm nicht der Mühe werth, es
den Abderiten zu verbergen.Die Abderitinnen bemerkten also, ohne großen Aufwand
von Beobachtungskraft, was er ihnen deutlich genug sehen
ließ; und natürlicherweise waren die Glossen, die sie darüber
machten, nicht zu seinem Vortheil. Er soll sehr gelehrt seyn,
flüsterten sie einander zu. Schade daß er nicht mehr Welt
hat! — Was ich gewiß weiß ist dieß, daß mir der Einfall nie
kommen wird, ihm zu Liebe krank zu werden, sagte die schöne
Thryallis.Thrasyllus machte inzwischen Betrachtungen von einer
andern Art. So ein großer Mann dieser Hippokrates seyn
mag, dacht' er, so muß er doch seine schwache Seite haben.
Aus den Ehrenbezeugungen, womit ihn der Senat überhäufte,
schien er sich nicht viel zu machen. Das Vergnügen liebt er
auch nicht. Aber ich wette, daß ihm ein Beutel voll neuer
funkelnder Dariken diese sauertöpfische Miene vertreiben soll!Sobald die Tafel aufgehoben war, schritt Thrasyllus zum
Werke. Er nahm den Arzt auf die Seite, und bemühte sich
(unter Bezeigung des großen Antheils, den er an dem unglücklichen
Zustande des Verwandten nehme), ihn zu überzeugen:
daß die Zerrüttung seines Gehirns eine so kundbare
und ausgemachte Sache sey, daß nichts, als die Pflicht allen
Formalitäten der Gesetze genug zu thun, den Senat bewogen
habe, eine Thatsache, woran niemand zweifle, noch zum Ueberfluß
durch den Ausspruch eines auswärtigen Arztes bestätigen
zu lassen. "Da man Sie aber gleichwohl in die Mühe gesetzt
hat, eine Reise zu uns zu thun, die Sie vermuthlich ohne diese
Veranlassung nicht unternommen haben würden, so ist nichts
billiger, als daß derjenige, den die Sache am nächsten angeht,
Sie wegen des Verlustes, den Sie durch Verabsäumung Ihrer
Geschäfte dabei erleiden, in etwas schadlos halte. Nehmen
Sie diese Kleinigkeit als ein Unterpfand einer Dankbarkeit
an, von welcher ich Ihnen stärkere Beweise zu geben hoffe. —"Ein ziemlich runder Beutel, den Thrasyllus bei diesen
Worten dem Arzt in die Hand drückte, brachte diesen aus
der Zerstreuung zurück, womit er die Rede des Rathsherrn
angehört hatte."Was wollen Sie, daß ich mit diesem Beutel machen
soll? fragte Hippokrates mit einem Phlegma, welches den
Abderiten völlig aus der Fassung setzte: Sie wollten ihn vermuthlich
Ihrem Haushofmeister geben. Sind Ihnen solche
Zerstreuungen gewöhnlich? Wenn dieß wäre, so wollt' ich
Ihnen rathen, mit Ihrem Arzte davon zu sprechen. — Aber
Sie erinnerten mich vorhin an die Ursache, warum ich hier
bin. Ich danke Ihnen dafür. Mein Aufenthalt kann nur
sehr kurz seyn; und ich darf den Besuch nicht länger aufschieben,
den ich, wie Sie wissen, dem Demokrit schuldig
bin." Mit diesen Worten machte der Aesculap seine Verbeugung
und verschwand.Der Rathmann hatte in seinem Leben nie so dumm ausgesehen,
als in diesem Augenblicke. — Wie hätte sich aber
auch ein Abderitischer Rathsherr einfallen lassen sollen, daß
ihm so etwas begegnen könnte? Das sind doch keine Zufälle,
auf die man sich gefaßt hält!—————
Sechstes Kapitel.Hippokrates legt einen Besuch bei Demokriten ab. Geheimnachrichten
von dem uralten Orden der Kosmopoliten.Hippokrates traf, wie die Geschichte sagt, unsern Naturforscher
bei der Zergliederung verschiedener Thiere an, deren
innerlichen Bau und animalische Oekonomie er untersuchen
wollte, um vielleicht auf die Ursachen gewisser Verschiedenheiten
in ihren Eigenschaften und Neigungen zu kommen. Diese
Beschäftigung bot ihnen reichen Stoff zu einer Unterredung
an, welche Demokriten nicht lange über die Person des Fremden
ungewiß ließ. Ihr gegenseitiges Vergnügen über eine so
unvermuthete Zusammenkunft war der Größe ihres beiderseitigen
Werthes gleich, aber auf Demokrits Seite um so viel
lebhafter, je länger er in seiner Abgeschiedenheit von der
Welt des Umgangs mit einem Wesen seiner Art hatte entbehren
müssen.Es gibt eine Art von Sterblichen, deren schon von den
Alten hier und da unter dem Namen der Kosmopoliten Erwähnung
gethan wird, und die —ohne Verabredung, ohne Ordenszeichen,
ohne Loge zu halten, und ohne durch Eidschwüre gefesselt
zu seyn — eine Art von Brüderschaft ausmachen, welche fester
zusammenhängt als irgend ein anderer Orden in der Welt.
Zwei Kosmopoliten kommen, der eine von Osten, der andere
von Westen, sehen einander zum erstenmale, und sind Freunde;
— nicht vermöge einer geheimen Sympathie, die vielleicht
nur in Romanen zu finden ist; — nicht, weil beschworne
Pflichten sie dazu verbinden; —sondern, weil sie Kosmopoliten
sind. In jedem andern Orden gibt es auch falsche oder wenigstens
unwürdige Brüder: in dem Orden der Kosmopoliten ist
dieß eine Unmöglichkeit; und dieß ist, däucht uns, kein geringer
Vorzug der Kosmopoliten vor allen andern Gesellschaften, Gemeinheiten,
Innungen, Orden und Brüderschaften in der Welt.
Denn wo ist eine von allen diesen, welche sich rühmen könnte,
daß sich niemals ein Ehrsüchtiger, ein Neidischer, ein Geiziger,
ein Wucherer, ein Verleumder, ein Prahler, ein Heuchler, ein
Zweizüngiger, ein heimlicher Ankläger, ein Undankbarer, ein
Kuppler, ein Schmeichler, ein Schmarotzer, ein Sklave, ein
Mensch ohne Kopf oder ohne Herz, ein Pedant, ein Mückenfänger,
ein Verfolger, ein falscher Prophet, ein Heuchler, ein
Gaukler, ein Plusmacher und ein Hofnarr in ihrem Mittel
befunden habe? Die Kosmopoliten sind .die einzigen, die sich
dessen rühmen können. Ihre Gesellschaft hat nicht vonnöthen,
durch geheimnißvolle Ceremonien und abschreckende Gebräuche,
wie ehmals die Aegyptischen Priester, die Unreinen von sich
auszuschließen. Diese schließen sich selbst aus; und man kann
eben so wenig ein Kosmopolit scheinen wenn man es nicht
ist, als man sich ohne Talent für einen guten Sänger oder
Geiger ausgeben kann. Der Betrug würde an den Tag kommen,
sobald man sich hören lassen müßte. Die Art, wie die
Kosmopoliten denken, ihre Grundsätze, ihre Gesinnungen, ihre
Sprache, ihr Phlegma ihre Wärme, sogar ihre Launen,
Schwachheiten und Fehler, lassen sich unmöglich nachmachen,
weil sie für alle, die nicht zu ihrem Orden gehören, ein wahres
Geheimniß sind. Nicht ein Geheimniß, das von der Verschwiegenheit
der Mitglieder, oder von ihrer Vorsichtigkeit nicht behorcht
zu werden, abhängt; sondern ein Geheimniß, auf welches
die Natur selbst ihren Schleier gedeckt hat. Denn die
Kosmopoliten könnten es ohne Bedenken bei Trompetenschall
durch die ganze Welt verkündigen lassen, und dürften sicher
darauf rechnen, daß außer ihnen selbst kein Mensch etwas davon
begreifen würde. Bei dieser Bewandtniß der Sache ist
nichts natürlicher, als das innige Einverständniß und das
gegenseitige Zutrauen, das sich unter zwei Kosmopoliten sogleich
in der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft festsetzt. Pylades
und Orestes waren, nach einer zwanzigjährigen Dauer ihrer
durch alle Arten von Prüfungen und Opfern bewährten Freundschaft,
nicht mehr Freunde, als es jene von dem Augenblick an,
da sie einander erkennen, sind. Ihre Freundschaft hat nicht vonnöthen
durch die Zeit zur Reife gebracht zu werden; sie bedarf
keiner Prüfungen: sie gründet sich auf das nothwendigste aller
Naturgesetze, auf die Nothwendigkeit, uns selbst in demjenigen
zu lieben, der uns am ähnlichsten ist.Man würde etwas wo nicht Unmögliches, doch gewiß Ungereimtes
von uns verlangen, wenn man erwartete, daß wir
uns über das Geheimniß der Kosmopoliten deutlicher herauslassen
sollten. Denn es gehört (wie wir deutlich genug zu vernehmen
gegeben haben) zur Natur der Sache, daß alles, was
man davon sagen kann, ein Räthsel ist, wozu nur die Glieder
dieses Ordens den Schlüssel haben. Das Einzige, was wir
noch hinzusetzen können, ist, daß ihre Anzahl zu allen Zeiten
sehr klein gewesen, und daß sie, ungeachtet der Unsichtbarkeit
ihrer Gesellschaft, von jeher einen Einfluß in die Dinge dieser
Welt behauptet haben, dessen Wirkungen desto gewisser
und dauerhafter sind, weil sie kein Geräusch machen, und meistens
durch Mittel erzielt werden, deren scheinbare Richtung
die Augen der Menge irre macht. Wem dieß ein
neues Räthsel ist — den ersuchen wir lieber fortzulesen,
als sich mit einer Sache, die ihn so wenig angeht, ohne
Noth den Kopf zu zerbrechen.Demokrit und Hippokrates gehören beide zu dieser wunderbaren
und seltnen Art von Menschen. Sie waren also schon
lange, wiewohl unbekannterweise, die vertrautesten Freunde
gewesen; und ihre Zusammenkunft glich vielmehr dem Wiedersehn
nach einer langen Trennung, als einer neuangehenden
Verbindung. Ihre Gespräche, nach welchen der Leser vielleicht
begierig ist, waren vermuthlich interessant genug um der Mittheilung
werth zu seyn. Aber sie würden uns zu weit von den
Abderiten entfernen, die der eigentliche Gegenstand dieser Geschichte
sind. Alles, was wir davon zu sagen haben, ist: daß
unsre Kosmopoliten den ganzen Abend und den größten Theil
der Nacht in einer Unterredung zubrachten, wobei ihnen die
Zeit sehr kurz wurde; und daß sie ihrer Gegenfüßler, der Abderiten
und ihres Senats und der Ursache warum sie den Hippokrates
hatten kommen lassen, so gänzlich darüber vergaßen,
als ob niemals so ein Ort und solche Leute in der Welt gewesen
wären.Erst des folgenden Morgens, da sie nach einem leichten
Schlaf von wenigen Stunden wieder zusammenkamen, um
auf einer an die Gärten Demokrits gränzenden Anhöhe der
Morgenluft zu genießen, erinnerte der Anblick der unter
ihnen im Sonnenglanz liegenden Stadt den Hippokrates,
daß er in Abdera Geschäfte habe. "Kannst du wohl errathen,
sagte er zu seinem Freunde, zu welchem Ende mich die Abderiten
eingeladen haben."Die Abderiten haben dich eingeladen? rief Demokrit. Ich
hörte doch diese Zeit her von keiner Seuche, die unter ihnen
wüthe! Es ist zwar eine gewisse Erbkrankheit, mit der sie alle
sammt und sonders, bis auf sehr wenige, von alten Zeiten
her behaftet sind; aber —"Getroffen, getroffen, guter Demokrit, dieß ist die Sache!"Du scherzest, erwiederte unser Mann: die Abderiten sollten
zum Gefühl, wo es ihnen fehlte, gekommen seyn? Ich
kenne sie zu gut. Darin liegt eben ihre Krankheit, daß sie
dieß nicht fühlen. —"Indessen, sagte der andre, ist nichts gewisser, als daß
ich jetzt nicht in Abdera wäre, wenn die Abderiten nicht von
dem nämlichen Uebel, wovon du sprichst, geplagt würden.
Die armen Leute!"Ah! nun versteh' ich dich! Deine Berufung konnte eine
Wirkung ihrer Krankheit seyn, ohne daß sie es selbst wußten.
Lass' dich sehen! — Ha! da haben wir's. Ich wette, sie haben
dich kommen lassen, um dem ehrlichen Demokrit so viel Aderlässe
und Niesewurz zu verordnen, als er vonnöthen haben
möchte, um ihresgleichen zu werden! Nicht wahr? —"Du kennst deine Leute vortrefflich, wie ich sehe, Demokrit:
aber um so kaltblütig von ihrer Narrheit zu reden, muß
man so daran gewöhnt seyn wie du."Als ob es nicht allenthalben Abderiten gäbe. —"Aber Abderiten in diesem Grade! Vergib mir, wenn
ich deinem Vaterlande nicht so viel Nachsicht schenken kann
als du. Indessen versichre dich, sie sollen mich nicht umsonst
zu sich berufen haben!"—————
Siebentes Kapitel.Hippokrates ertheilt den Abderiten seinen gutächtlichen Rath. Große
und gefährliche Bewegungen, die darüber im Senat entstehen, und wie
zum Glück für das Abderitische Gemeinwesen, der Stundenrufer alles
auf einmal wieder in Ordnung bringt.Die Zeit kam heran, wo der Aesculap dem Senat von
Abdera seinen Bericht erstatten sollte. Er kam, trat mitten
unter die versammelten Väter, und sprach mit einer Wohlredenheit,
die alle Anwesenden in Erstaunen setzte:"Friede sey mit Abdera! Edle, Feste, Fürsichtige und
Weise, liebe Herren und Abderiten! Gestern lobte ich Sie
wegen Ihrer Fürsorge für das Gehirn Ihres Mitbürgers
Demokrit; heute rathe ich Ihnen wohlmeinend, diese Fürsorge
auf Ihre ganze Stadt und Republik zu erstrecken.
Gesund an Leib und Seele zu seyn, ist das höchste Gut, das
Sie sich selbst, Ihren Kindern und Ihren Bürgern verschaffen
können; und dieß wirklich zu thun, ist die erste Ihrer
obrigkeitlichen Pflichten. So kurz mein Aufenthalt unter Ihnen
ist, so ist er doch schon lang genug, um mich zu überzeugen,
daß sich die Abderiten nicht so wohl befinden als es
zu wünschen wäre. Ich bin zwar zu Kos geboren und wohne
bald zu Athen, bald zu Larissa, bald anderswo; jetzt zu Abdera,
morgen vielleicht auf dem Wege nach Byzanz; aber
ich bin weder ein Koer noch ein Athener, weder ein Larisser
noch Abderit, ich bin ein Arzt. So lang' es Kranke auf dem
Erdboden gibt, ist meine Pflicht so viele gesund zu machen als
ich kann. Die gefährlichsten Kranken sind die, die nicht wissen
daß sie krank sind; und dieß ist, wie ich finde, der Fall der
Abderiten. Das Uebel liegt für meine Kunst zu tief; aber
was ich rathen kann, um die Heilung vorzubereiten, ist dieß!
Senden Sie mit dem ersten guten Winde sechs große Schiffe
nach Anticyra. Meinetwegen können sie, mit welcherlei Waaren
es den Abderiten beliebt, dahin befrachtet werden; aber
zu Anticyra lassen Sie alle sechs Schiffe so viel Niesewurz laden,
als sie tragen können ohne zu sinken. Man kann zwar
auch Niesewurz aus Galatien haben, die etwas wohlfeiler ist;
aber die von Anticyra ist die beste. Wenn die Schiffe angekommen
seyn werden, so versammeln Sie das gesammte
Volk auf Ihrem großen Markte; stellen Sie, mit Ihrer ganzen
Priesterschaft an der Spitze, einen feierlichen Umgang zu
allen Tempeln in Abdera an, und bitten die Götter, daß sie
dem Senat und dem Volke zu Abdera geben möchten, was
dem Senat und dem Volke zu Abdera fehlt. Sodann kehren
Sie auf den Markt zurück, und theilen den sämmtlichen
Vorrath von Niesewurz, auf gemeiner Stadt Unkosten, unter
alle Bürger aus; auf jeden Kopf sieben Pfund; nicht zu vergessen,
daß den Rathsherrn, welche (außerdem was sie für
sich selbst gebrauchen) noch für so viele andre Verstand haben
müssen, eine doppelte Portion gereicht werde! Die Portionen
sind stark, ich gesteh' es; aber eingewurzelte Uebel sind hartnäckig,
und können nur durch lange anhaltenden Gebrauch der
Arznei geheilt werden. Wenn Sie nun dieses Vorbereitungsmittel,
nach der Vorschrift, die ich Ihnen geben will, durch
die erforderliche Zeit gebraucht haben werden, dann überlasse
ich Sie einem andern Arzte. Denn, wie gesagt, die Krankheit
der Abderiten liegt zu tief für meine Kunst. Ich kenne
fünfzig Meilen rings um Abdera nur einen einzigen Mann,
der Ihnen von Grund aus helfen könnte, wenn Sie sich geduldig
und folgsam in seine Cur begeben wollten. Der Mann
heißt Demokrit, Damasippens Sohn. Stoßen Sie sich nicht
an den Umstand, daß er zu Abdera geboren ist! Er ist darum
kein Abderit, dieß können Sie mir auf mein Wort glauben;
oder wenn Sie mir nicht glauben wollen, so fragen Sie den
Delphischen Gott. Er ist ein gutherziger Mann, der sich ein
Vergnügen daraus machen wird, Ihnen seine Dienste zu leisten.
Und hiermit, meine Herren und Bürger von Abdera,
empfehle ich Sie und Ihre Stadt den Göttern. Verachten
Sie meinen Rath nicht, weil ich ihn umsonst gebe; es ist
der beste, den ich jemals einem Kranken, der sich für gesund
hielt, gegeben habe.Als Hippokrates dieß gesagt hatte, machte er dem Senat
eine höfliche Verbeugung, und ging seines Weges.Niemals — sagt der Geschichtschreiber Hekatäus, ein
desto glaubwürdigerer Zeuge, weil er selbst ein Abderit war
— niemals hat man zweihundert Menschen, alle zugleich,
in einer so sonderbaren Stellung gesehen, als diejenige des
Senats von Abdera in diesem Augenblicke war; es müßten
nur die zweihundert Phönicier seyn, welche Perseus durch den
Anblick des Kopfs der Medusa auf einmal in eben so viele
Bildsäulen verwandelte, als ihm ihr Anführer seine theuer
erworbene Andromeda mit Gewalt wieder abjagen wollte. In
der That hatten sie alle möglichen Ursachen von der Welt, auf
etliche Minuten versteinert zu werden. Beschreiben zu wollen,
was in ihren Seelen vorging, würde vergebliche Mühe seyn.
Nichts ging in ihnen vor; ihre Seelen waren so versteinert
als ihre Leiber. Mit dummem sprachlosem Erstaunen sahen
sie alle nach der Thür, durch welche der Arzt sich zurückgezogen
hatte; und auf jedem Gesichte drückte sich zugleich die angestrengte
Bemühung und das gänzliche Unvermögen aus,
etwas von dieser Begebenheit zu begreifen.Endlich schienen sie nach und nach, einige früher, einige
später, wieder zu sich selbst zu kommen. Sie sahen einander
mit großen Augen an; fünfzig Mäuler öffneten sich zugleich
zu der nämlichen Frage, und fielen wieder zu, weil sie sich
aufgethan hatten, ehe sie wußten was sie fragen wollten. Zum
Henker, meine Herren, rief endlich der Zunftmeister Pfriem,
ich glaube gar, der Quacksalber hat uns mit seiner doppelten
Portion Niesewurz zu Narren! — Ich versah mir gleich vom
Anfang nichts Gutes zu ihm, sagte Thrasyllus. — Meiner
Frau wollt' er gestern gar nicht einleuchten, sprach der Rathsherr
Smilax. — Ich dachte gleich es würde Übel ablaufen,
wie er von den sechs Schiffen sprach, die wir nach Anticyra
senden sollten, sagte ein anderer — Und die verdammte Ernsthaftigkeit,
womit er uns alles das vordeclamirte, rief ein
fünfter; ich gestehe, daß ich mir gar nicht einbilden konnte,
wo es hinaus laufen würde. — Ha, ha, ha! ein lustiger Zufall,
so wahr ich ehrlich bin! meckerte der kleine dicke Rathsherr,
indem er sich vor Lachen den Bauch hielt. Gestehen wir, daß
wir fein abgeführt sind! Ein verzweifelter Streich! Das hätt'
uns nicht begegnen sollen! Ha, ha, ha! — Aber wer konnte
sich auch zu einem solchen Manne so etwas versehen? rief der
Nomophylax. —Ganz gewiß ist er auch einer von euern Philosophen,
sagte Meister Pfriem. Der Priester Strobylus hat
wahrlich so Unrecht nicht! Wenn es nicht wider unsre Freiheiten
wäre, so wollt' ich der erste seyn, der darauf antrüge,
daß man alle diese Spitzköpfe zum Lande hinaus jagte."Meine Herren, fing jetzt der Archon an, die Ehre der
Stadt Abdera ist angegriffen, und anstatt daß wir hier sitzen
und uns wundern oder Glossen machen, sollten wir mit Ernst
darauf denken, was uns in einer so kitzlichen Sache zu thun
geziemt. Vor allen Dingen sehe man wo Hippokrates hingekommen
ist!"Ein Rathsdiener, der zu diesem Ende abgeschickt wurde,
kam nach einer ziemlichen Weile mit der Nachricht zurück,
daß er nirgends mehr anzutreffen sey.Ein verfluchter Streich! riefen die Rathsherren aus Einem
Munde; wenn er uns nun entwischt wäre! — Er wird doch
kein Hexenmeister seyn, sagte der Zunftmeister Pfriem, indem
er nach einem Amulet sah, das er gewöhnlich zu seiner Sicherheit
gegen böse Geister und böse Augen bei sich zu tragen
pflegte.Bald darauf wurde berichtet, man habe den fremden
Herrn auf seinem Maulesel ganz gelassen hinter dem Tempel
der Dioskuren nach Demokrits Landgut zutraben sehen.Was ist nun zu thun, meine Herren? sagte der Archon.Ja — allerdings! — was nun zu thun ist — was nun
zu thun ist? — dieß ist eben die Frage! riefen die Rathsherren
indem sie einander ansahen. Nach einer langen Pause
zeigte sich's, daß die Herren nicht wußten, was nun zu
thun war.Der Mann steht in großem Ansehen beim König von
Macedonien, fuhr der Archon fort; er wird in ganz Griechenland
wie ein zweiter Aesculap verehrt! Wir könnten uns
leicht in böse Händel verwickeln, wenn wir einer, wiewohl
gerechten, Empfindlichkeit Gehör geben wollten. Bei allem
dem liegt mir die Ehre von Abdera —Ohne Unterbrechung, Herr Archon! fiel ihm der Zunftmeister
Pfriem ein; die Ehre und Freiheit von Abdera kann
niemanden näher am Herzen liegen als mir selbst. Aber,
alles wohl überlegt, seh' ich wahrlich nicht, was die Ehre der
Stadt mit dieser Begebenheit zu thun haben kann. Dieser
Harpokrates und Hypokritus, wie er sich nennt, ist ein Arzt;
und ich habe mein Tage gehört, daß ein Arzt die ganze Welt
für ein großes Siechhaus und alle Menschen für seine Kranken
ansieht. Ein jeder spricht und handelt wie er's versteht; und
was einer wünscht das glaubt er gern. Hypokritus möcht' es,
denk' ich, wohl leiden wenn wir alle krank wären, damit er
desto mehr zu heilen hätte. Nun denkt er, wenn ich sie nur
erst dahin bringen kann daß sie meine Arzneien einnehmen,
dann sollen sie mir krank genug werden. Ich heiße nicht
Meister Pfriem, wenn dieß nicht das ganze Geheimniß ist!Meiner Seele! getroffen! rief der kleine dicke Rathsherr;
weder mehr noch weniger! Der Kerl ist so närrisch nicht! —
Ich wette, wenn er kann, schickt er uns alle möglichen Flüsse
und Fieber an den Hals, bloß damit er den Spaß habe,
uns für unser Geld wieder gesund zu machen! Ha, ha, ha!"Aber vierzehn Pfund Niesewurz auf jeden Rathsherrn!
rief einer von den Aeltesten, dessen Gehirn, nach seiner Miene
zu urtheilen, schon völlig ausgetrocknet seyn mochte. Bei
allen Fröschen der Latona, das ist zu arg! Man muß beinahe
auf den Argwohn kommen, daß etwas mehr dahinter
steckt!Vierzehn Pfund Niesewurz auf jeden Rathsherrn! wiederholte
Meister Pfriem, und lachte aus vollem Halse.
Und für jeden Zunftmeister, setzte Smilax mit einem
bedeutenden Ton hinzu.Das bitt' ich mir aus, rief Meister Pfriem; er sagte
kein Wort von Zunftmeistern.Aber das versteht sich doch wohl von selbst, versetzte jener;
Rathsherren und Zunftmeister, Zunftmeister und Rathsherren;
ich sehe nicht, warum die Herren Zunftmeister hierin
was besonders haben sollten.Wie, was? rief Meister Pfriem mit großem Eifer: ihr
seht nicht was die Zunftmeister vor den Rathsherren besonders
haben? — Meine Herren, Sie haben es gehört! —
Herr Stadtschreiber, ich bitt' es zum Protokoll zu nehmen!Die Zunftmeister standen alle mit großem Gebrumm
von ihren Sitzen auf."Sagt' ich nicht, rief der alte hypochondrische Rathsmeister,
daß etwas mehr hinter der Sache stecke? Ein geheimer
Anschlag gegen die Aristokratie — Aber die Herren
haben sich ein wenig zu früh verrathen."Gegen die Aristokratie? schrie Pfriem mit verdoppelter
Stimme: gegen welche Aristokratie? Zum Henker, Herr
Rathsmeister, seit wann ist Abdera eine Aristokratie? Sind
wir Zunftmeister etwa nur an die Wand hingemalt? Stellen
wir nicht das Volk vor? Haben wir nicht seine Rechte und
Freiheiten zu vertreten? Herr Stadtschreiber, zum Protokoll,
daß ich gegen alles Widrige protestire und dem löblichen
Zunftmeisterthum sowohl als gemeiner Stadt Abdera
ihre Rechte vorbehalte.Protestirt! protestirt! schrien die Zunftmeister alle zusammen.Reprotestirt! reprotestirt! schrien die Rathsherren.Der Lärm nahm überhand. "Meine Herren, rief der
regierende Archon so laut er konnte, was für ein Schwindel
hat Sie überfallen? Ich bitte, bedenken Sie wer Sie sind
und wo Sie sind! Was werden die Eierweiber und Obsthändlerinnen
da unten von uns denken, wenn sie uns wie
die Zahnbrecher schreien hören?"Aber die Stimme der Weisheit verlor sich ungehört in
dem betäubenden Getöse. Niemand hörte sein eigen Wort.Zu gutem Glück war es seit undenklichen Zeiten in Abdera
gebräuchlich, auf den Punkt zwölf Uhr durch die ganze
Stadt zu Mittag zu essen; und vermöge der Rathsordnung
mußte, so wie eine Stunde abgelaufen war, eine Art von
Herold vor die Rathsstube treten, und die Stunde ausrufen.Gnädige Herren, rief der Herold mit der Stimme des
Homerischen Stentors, die zwölfte Stunde ist vorbei!"Stille! der Stundenrufer!" — Was rief er? —"Zwölfe,
meine Herren, zwölfe vorbei!" — Schon zwölfe? — Schon
vorbei? — So ist es hohe Zeit!Der größte Theil der gnädigen Herren war zu Gaste
gebeten. Das glückliche Wort Zwölfe versetzte sie also auf
einmal in eine Reihe angenehmer Vorstellungen, die mit dem
Gegenstand ihres Zankes nicht in der mindesten Verbindung
standen. Schneller als die Figuren in einem Guckkasten sich
verwandeln, stand eine große Tafel, mit einer Menge niedlicher
Schüsseln bedeckt, vor ihrer Stirn; ihre Nasen weideten
sich zum voraus an Düften von bester Vorbedeutung; ihre
Ohren hörten das Geklapper der Teller; ihre Zunge kostete
schon die leckerhaften Brüten; in deren Erfindung die Abderitischen
Köche mit einander wetteiferten: kurz, das unwesentliche
Gastmahl beschäftigte alle Kräfte ihrer Seelen;
und auf einmal war die Ruhe des Abderitischen Staats
wieder hergestellt."Wo werden Sie heute speisen?" — Bei Polyphonten. —
"Dahin bin ich auch geladen." — Ich erfreue mich über die
Ehre Ihrer Gesellschaft! — "Sehr viel Ehre für mich!" —
Was werden wir diesen Abend für eine Komödie haben? —
"Die Andromeda des Euripides." —Also ein Trauerspiel! —
"O! mein Lieblingsstück! — Und eine Musik! Unter uns,
der Nomophylax hat etliche Chöre selbst gesetzt. Sie werden
Wunder hören!"Unter so sanften Gesprächen erhoben sich die Väter von
Abdera in eilfertigem aber friedsamem Gewimmel vom Rathhause,
zu großer Verwunderung der Eierweiber und Obsthändlerinnen,
welche kurz zuvor die Wände der Rathsstube von
ächtem Thracischem Geschrei widerhallen gehört hatten.Alles dieß hatte man dir zu danken, wohlthätiger Stundenrufer!
Ohne deine glückliche Dazwischenkunft würde wahrscheinlicherweise
der Zank der Rathsherren und Zunftmeister,
gleich dem Zorn des Achilles (so lächerlich auch seine Veranlassung
war), in ein Feuer ausgebrochen seyn, welches die
schrecklichste Zerrüttung, wo nicht gar den Umsturz der Republik
Abdera hätte verursachen können!Wenn jemals ein Abderit mit einer öffentlichen Ehrensäule
belohnt zu werden verdient hatte, so war es gewiß dieser
Stundenrufer. Zwar muß man gestehen, der große Dienst,
den er in diesem Augenblick seiner Vaterstadt leistete, verliert
seine ganze Verdienstlichkeit durch den einzigen Umstand, daß
er nur zufälligerweise nützlich wurde. Denn der ehrliche Mann
dachte, da er zur gesetzten Zeit maschinenmäßig Zwölfe rief,
an nichts weniger als an die unabsehbaren Uebel, die er dadurch
von dem gemeinen Wesen abwendete. Aber dagegen
muß man auch bedenken, daß seit undenklichen Zeiten kein
Abderit sich auf eine andre Weise um sein Vaterland verdient
gemacht hatte. Wenn es sich daher zutrug, daß sie etwas
verrichteten, das durch irgend einen glücklichen Zufall der
Stadt nützlich wurde, so dankten sie den Göttern dafür; denn
sie fühlten wohl, daß sie als bloße Werkzeuge oder gelegentliche
Ursachen mitgewirkt hatten. Indessen ließen sie sich doch
das Verdienst des Zufalls so gut bezahlen als ob es ihr eigenes
gewesen wäre; oder, richtiger zu reden, eben weil sie sich keines
eignen Verdienstes dabei bewußt waren, ließen sie sich das
Gute, was der Zufall unter ihrem Namen that, auf eben
dem Fuß bezahlen, wie ein Mauleseltreiber den täglichen
Verdienst seines Esels einzieht.Es versteht sich, daß die Rede hier bloß von Archonten,
Rathsherrn und Zunftmeistern ist. Denn der ehrliche Stundenrufer
mochte sich Verdienste um die Republik machen so
viel oder so wenig er wollte; er bekam seine sechs Pfennige
des Tages in guter Abderitischer Münze, und — Gott befohlen!—————
Drittes Buch.Euripides unter den Abderiten.Erstes Kapitel.Die Abderiten machen sich fertig in die Komödie zu gehen.Es war bei den Rathsherren von Abdera eine alte hergebrachte
Gewohnheit und Sitte, die vor Rath verhandelten
Materien unmittelbar darauf bei Tische (es sey nun daß sie
Gesellschaft hatten oder mit ihrer Familie allein speisten) zu
recapituliren und zu einer reichen Quelle entweder von witzigen
Einfällen und spaßhaften Anmerkungen, oder von patriotischen
Stoßseufzern, Klagen, Wünschen, Träumen, Aussichten,
u. d. gl. zu machen; zumal wenn etwa in dem abgefaßten
Rathsschlusse die Verschwiegenheit ausdrücklich empfohlen
worden war.Aber dießmal — wiewohl das Abenteuer der Abderiten
mit dem Fürsten der Aerzte sonderbar genug war, um einen
Platz in den Jahrbüchern ihrer Republik zu verdienen —
wurde an allen Tafeln, wo ein Rathsherr oder Zunftmeister
obenan saß, des Hippokrates und Demokrits eben so wenig
gedacht, als ob gar keine Männer dieses Namens in der
Welt gewesen wären. In diesem Stücke hatten die Abderiten
einen ganz besondern Public-Spirit, und ein feineres Gefühl,
als man ihnen in Betracht ihres gewöhnlichen Eigendünkels
hätte zutrauen sollen. In der That konnte ihre Geschichte
mit dem Hippokrates, man hätte sie wenden und coloriren
mögen wie man gewollt, auf keine Art, die ihnen Ehre
machte, erzählt werden. Das Sicherste war, die Sache auf
sich beruhen zu lassen, und zu schweigen.Die heutige Komödie machte also dießmal, wie gewöhnlich,
den Hauptgegenstand der Unterhaltung aus. Denn seitdem
sich die Abderiten, nach dem Beispiel ihres großen Musters,
der Athener, mit einem eignen Theater versehen,
und (ihrer Gewohnheit nach) die Sache so weit getrieben
hatten, daß den größten Theil des Jahres hindurch alle Tage
irgend eine Art von Schauspiel bei ihnen zu sehen war: so
wurde in Gesellschaften, sobald die übrigen Gemeinplätze,
Wetter, Putz und Stadtneuigkeiten, erschöpft waren, unfehlbar
entweder von der Komödie die gestern gespielt worden
war, oder von der Komödie die heute gespielt werden sollte,
gesprochen — und die Herren von Abdera wußten sich (besonders
gegen Fremde) nicht wenig damit, daß sie ihren Mitbürgern
eine so schöne Gelegenheit zu Verfeinerung ihres
Witzes und Geschmacks, einen so unerschöpflichen Stoff zu
unschuldigen Gesprächen in Gesellschaften, und besonders dem
schönen Geschlecht ein so herrliches Mittel gegen die Leib und
Seele verderbende lange Weile verschafft hätten.Wir sagen es nicht um zu tadeln, sondern zum verdienten
Lobe der Abderiten, daß sie ihr Komödienwesen für wichtig
genug hielten, die Aufsicht darüber einem besondern
Rathsausschusse zu übergeben, dessen Vorsitzer immer der
zeitige Nomophylax, folglich einer der obersten Väter des
Vaterlandes, war. Dieß war unstreitig sehr löblich. Alles,
was man mit Recht an einer so schönen Einrichtung aussetzen
konnte, war, daß es darum nicht um ein Haar besser mit
ihrem Komödienwesen stand. Weil nun die Wahl der Stücke
von der Rathsdeputation abhing, und die Erfindung der
Komödienzettel unter die ansehnliche Menge von Erfindungen
gehört, die den Vorzug der Neuern vor den Alten außer
allem fernern Widerspruch setzen: so wußte das Publicum —
ausgenommen wenn ein neues Abderitisches Originalstück aufs
Theater gebracht wurde —selten vorher, was gespielt werden
würde. Denn wiewohl die Herren von der Deputation eben
kein Geheimniß aus der Sache machten, so mußte sie doch,
ehe sie publik wurde, durch so manchen schiefen Mund und
durch so viele dicke Ohren gehen, daß fast immer ein Qui
pro quo herauskam, und die Zuhörer, wenn sie zum Beispiel
die Antigone des Sophokles erwarteten, die Erigone des
Physignatus für lieb und gut nehmen mußten — woran sie
es denn auch selten oder nie ermangeln ließen.Was werden sie uns heut für ein Stück geben? war
also jetzt die allgemeine Frage in Abdera — eine Frage, die
an sich selbst die unschuldigste Frage von der Welt war, aber
durch einen einzigen kleinen Umstand erzabderitisch wurde;
nämlich, daß die Antwort schlechterdings von keinem praktischen
Nutzen seyn konnte. Denn die Leute gingen in die
Komödie, es mochte ein altes oder ein neues, gutes oder
schlechtes Stück gespielt werden.Eigentlich zu reden gab es für die Abderiten gar keine
schlechten Stücke; denn sie nahmen alles für gut: und eine
natürliche Folge dieser unbegränzten Gutmüthigkeit war, daß
es für sie auch keine guten Stücke gab. Schlecht oder gut,
was ihnen die Zeit vertrieb war ihnen recht, und alles was
wie ein Schauspiel aussah, vertrieb ihnen die Zeit. —Jedes
Stück also, so elend es war, und so elend es gespielt worden
seyn mochte, endigte sich mit einem Geklatsche das gar nicht
aufhören wollte. Alsdann ertönte auf einmal durchs ganze
Parterre ein allgemeines: wie hat Ihnen das heutige Stück
gefallen? und wurde stracks durch ein eben so allgemeines:
sehr wohl! beantwortet.So geneigt auch unsre werthen Leser seyn mögen, sich
nicht leicht über etwas zu wundern, was wir ihnen von den
Jdiotismen unsers Thracischen Athens erzählen können: so
ist doch dieser eben erwähnte Zug etwas so ganz Besonderes,
daß wir besorgen müssen keinen Glauben zu finden, wofern
wir ihnen nicht begreiflich machen, wie es zugegangen, daß
die Abderiten mit einer so großen Neigung zu Schauspielen
es gleichwohl zu einer so hohen unbeschränkten dramatischen
Apathie oder vielmehr Hedypathie bringen konnten, daß ihnen
ein elendes Stück nicht nur kein Leiden verursachte, sondern
sogar eben (oder doch beinahe eben) so wohl that als ein
gutes.Man wird uns, wenn wir das Räthsel auflösen sollen,
eine kleine Ausschweifung über das ganze Abderitische Theaterwesen
erlauben müssen.Wir sehen uns aber genöthigt, uns von dem günstigen
und billig denkenden Leser vorher eine kleine Gnade auszubitten,
an deren großmüthiger Gewährung ihm selbst am
Ende noch mehr gelegen ist als uns. Und dieß ist: aller
widrigen Eingebungen seines Kakodämons ungeachtet, sich ja
nicht einzubilden, als ob hier, unter verdeckten Namen, die
Rede von den Theaterdichtern, den Schauspielern, und dem
Parterre seiner lieben Vaterstadt die Rede sey. Wir läugnen
zwar nicht, daß die ganze Abderitengeschichte in gewissem Betracht
einen doppelten Sinn habe: aber ohne den Schlüssel
zu Aufschließung des geheimen Sinnes, den unsere Leser
von uns selbst erhalten sollen, würden sie Gefahr laufen,
alle Augenblicke falsche Deutungen zu machen. Bis dahin
also ersuchen wir siePer genium, dextramque, Deosque Penates,
sich aller unnachbarlichen und unfreundlichen Anwendungen
zu enthalten, und alles was folgt, so wie dieß ganze Buch,
in keiner andern Gemüthsverfassung zu lesen, als womit sie
irgend eine andre alte oder neue unparteiische Geschichtserzählung
lesen würden.—————
Zweites Kapitel.Nähere Nachrichten von dem Abderitischen Nationaltheater. Geschmack
der Abderiten. Charakter des Nomophylax Gryllus.Als die Abderiten beschlossen hatten, ein stehendes Theater
zu haben, wurde zugleich aus patriotischen Rücksichten
festgesetzt, daß es ein Nationaltheater seyn sollte. Da nun
die Nation, wenigstens dem größten Theile nach, aus Abderiten
bestand, so mußte ihr Theater nothfolglich ein Abderitisches
werden. Dieß war natürlicher Weise die erste und
unheilbare Quelle alles Uebels.Der Respect, den die Abderiten für die heilige Stadt
der Minerva, als ihre vermeinte Mutter, trugen, brachte
es zwar mit sich, daß die Schauspiele der sämmtlichen Athenischen
Dichter, nicht weil sie gut waren (denn das war
eben nicht immer der Fall), sondern weil sie von Athen kamen,
in großem Ansehen bei ihnen standen. Und anfangs
konnte auch, aus Mangel einer genugsamen Anzahl einheimischer
Stücke, beinahe nichts andres gegeben werden. Allein
eben deßwegen hielt man, sowohl zur Ehre der Stadt und
Republik Abdera, als mancherlei anderer Vortheile wegen,
für nöthig eine Komödien- und Tragödienfabrik in ihrem
eigenen Mittel anzulegen, und diese neue poetische Manufactur
— in welcher Abderitischer Witz, Abderitische Gefühle,
Abderitische Sitten und Thorheiten als eben so viele rohe
Nationalproducte zu eigenem Gebrauch dramatisch verarbeitet
werden sollten — wie guten und weisen Regenten und Patrioten
zusteht, auf alle mögliche Art aufzumuntern.Dieß auf Kosten des gemeinen Seckels zu bewerkstelligen,
ging aus zwei Ursachen nicht wohl an; erstens, weil dieser
Seckel, vermöge der Art wie er verwaltet wurde, fast immer
weniger enthielt als man herausnehmen wollte; und zweitens,
weil es damals noch nicht Mode war die Zuschauer bezahlen
zu lassen, sondern das Aerarium die Unkosten des Theaters
tragen mußte, und also ohnedieß bei diesem neuen Artikel
schon genug auszugeben hatte. Denn an eine neue Auflage
auf die Bürgschaft war, vor der Hand und bis man
wußte wie viel Geschmack sie dieser neuen Lustbarkeit abgewinnen
würde, nicht zu denken. Es blieb also kein ander
Mittel, als die Authentischen Dichter auf Unkosten des Geschmacks
gemeiner Stadt aufzumuntern; d. i. alle Waaren
die sie gratis liefern würden, für gut zu nehmen — nach
dem alten Sprüchworte: geschenktem Gaul sieh nicht ins
Maul; oder, wie es die Abderiten gaben: wo man umsonst
ißt, wird immer gut gekocht.Was Horaz von seiner Zeit in Rom sagt:Scribimus indocti doctique poemata passim,
galt nun von Abdera im superlativsten Grade. Weil es
einem zum Verdienst angerechnet wurde wenn er ein Schauspiel
schrieb, und weil schlechterdings nichts dabei zu wagen
war: so machte Tragödien wer Athem genug hatte, ein paar
Duzend zusammengeraffte Gedanken in eben so viele von
Bombast strotzende Perioden aufzublasen; und jeder platte
Spaßmacher versuchte es, die Zwerchfelle der Abderiten, auf
denen er sonst in Gesellschaften oder Weinhäusern getrommelt
hatte, jetzt auch einmal vom Theater herab zu bearbeiten.Diese patriotische Nachsicht gegen die Nationalproducte
hatte eine natürliche Folge, die das Uebel zugleich vermehrte
und fortdauernd machte. So ein gedankenleeres, windiges,
aufgeblasenes, ungezogenes, unwissendes und aller Anstrengung
unfähiges Völkchen es auch um die jungen Patricier
von Abdera war, so ließ sich doch gar bald einer von ihnen,
wir wissen nicht ob von seinem Mädchen oder von seinen
Schmarotzern, oder auch von seinem eignen angestammten
Dünkel weiß machen, daß es nur an ihm liege, dramatische
Epheukränze zu erwerben so gut als ein anderer.
Dieser erste Versuch wurde mit einem so glänzenden Erfolg
gekrönt, daß Blemmias (ein Neffe des Archon Onolaus),
ein Knabe von siebzehn Jahren, und, was in der
Familie des Onolaus nichts Ungewöhnliches war, ein notorisches
Ganshaupt, ein unwiderstehliches Jucken in seinen
Fingern fühlte auch ein Bocksspiel zu machen, wie man damals
das Ding hieß, das wir jetzt ein Trauerspiel zu schelten
pflegen. Niemals seitdem Abdera auf Thracischem Boden
stand, hatte man ein dümmeres Nationalproduct gesehen:
aber der Verfasser war ein Neffe des Archon, und
so konnt' es ihm nicht fehlen. Der Schauplatz war so voll,
daß die jungen Herren den schönen Abderitinnen auf dem
Schooße sitzen mußten; die gemeinen Leute standen einander
auf den Schultern. Man hörte alle fünf Acte in unverwandter
dumm wartender Stille an; man gähnte, seufzte,
wischte sich die Stirne, rieb die Augen, hatte hündische lange
Weile —und hörte zu; und wie nun endlich das lang' erseufzte
Ende kam, wurde so abscheulich geklatscht, daß etliche zartnervige
Muttersöhnchen das Gehör darüber verloren.Nun war's klar, daß es keine so große Kunst seyn müsse
eine Tragödie zu machen, weil sogar der junge Blemmias
eine gemacht hatte. Jedermann konnte sich ohne große Unbescheidenheit
eben so viel zutrauen. Es wurde ein Familienehrenpunkt,
daß jedes gute Haus wenigstens mit einem
Sohne, Neffen, Schwager oder Vetter mußte prangen können,
der die National-Schaubühne mit einer Komödie oder einem
Bocksspiel, oder wenigstens mit einem Singspielchen beschenkt
hatte. Wie groß dieß Verdienst seinem innern Gehalte nach
etwa sey, daran dachte niemand; Gutes, Mittelmäßiges und
Elendes lief in Einer Heerde untereinander her. Es bedurfte,
um ein schlechtes Stück zu schützen, keiner Cabale. Eine
Höflichkeit war der andern werth. Und weil die Herren allerseits
Eselsöhrchen hatten: so konnte keinem einfallen, dem
andern das berühmte Auriculas asini Mida rex habet zuzuflüstern.Man kann sich leicht vorstellen, daß die Kunst bei dieser
Duldsamkeit nicht viel gewonnen haben werde. Aber was
kümmerte die Abderiten das Interesse der Kunst? Genug,
daß es für die Ruhe ihrer Stadt und das allerseitige Vergnügen
zuträglicher war, dergleichen Dinge friedlich und
schiedlich abzuthun.Da kann man sehen, pflegte der Archon Onolaus zu sagen,
wie viel darauf ankommt, daß man ein Ding beim rechten
Ende nimmt! Das Komödienwesen, das zu Athen alle
Augenblicke die garstigsten Händel anrichtet, ist zu Abdera ein
Band des allgemeinen guten Vernehmens und der unschuldigste
Zeitvertreib von der Welt. Man geht in die Komödie, man
ergötzt sich auf die eine oder andere Art, entweder mit Zuhören,
oder mit seiner Nachbarin, oder mit Träumen und
Schlafen, wie es einem jeden beliebt; dann wird geklatscht,
jedermann geht zufrieden nach Hause, und gute Nacht!Wir sagten vorhin, die Abderiten hätten sich mit ihrem
Theater so viel zu thun gemacht, daß sie in Gesellschaften
beinahe von nichts als von der Komödie gesprochen, und so
verhielt sich's auch wirklich. Aber wenn sie von Theaterstücken
und Vorstellungen und Schauspielern sprachen, so geschah es
nicht, um etwa zu untersuchen was daran in der That beifallswürdig
seyn möchte oder nicht. Denn, ob sie sich ein Ding
gefallen oder nicht gefallen lassen wollten, das hing (ihrer
Meinung nach) lediglich von ihrem freien Willen ab; und,
wie gesagt, sie hatten nun einmal eine Art von schweigender
Abrede mit einander getroffen, ihre einheimischen dramatischen
Manufacturen aufzumuntern. "Man sieht doch recht augenscheinlich,"
(sagten sie), "was es auf sich hat, wenn die
Künste an einem Orte aufgemuntert werden. Noch vor
zwanzig Jahren hatten wir kaum zwei oder drei Poeten, von
denen, außer etwa an Geburtstagen oder Hochzeiten, kein
Mensch Notiz nahm. Jetzt, seit den zehn bis zwölf Jahren
daß wir ein eignes Theater haben, können wir schon über
sechshundert Stücke, groß und klein in einander gerechnet,
aufweisen, die alle auf Abderitischem Grund und Boden gewachsen
sind."Wenn sie also von ihren Schauspielen schwatzten, so war
es nur, um einander zu fragen, ob, zum Beispiel, das
gestrige Stück nicht schön gewesen sey? und einander zu antworten:
ja, es sey sehr schön gewesen — und was die Schauspielerin,
welche die Jphigenia oder Andromache vorgestellt
(denn zu Abdera wurden die weiblichen Rollen von wirklichen
Frauenzimmern gespielt, und das war eben nicht so Abderitisch),
für ein schönes neues Kleid angehabt habe? Und das gab
dann Gelegenheit zu tausend kleinen interesssen Anmerkungen,
Reden und Gegenreden, über den Putz, die Stimme, den
Anstand, den Gang, das Tragen des Kopfs und der Arme,
und zwanzig andre Dinge dieser Art, an den Schauspielern
und Schauspielerinnen. Mitunter sprach man auch wohl von
dem Stücke selbst, sowohl von der Musik als von den Worten
(wie sie die Poesie davon nannten), das ist, ein jedes sagte,
was ihm am besten oder wenigsten gefallen hätte; man hob
die vorzüglich rührenden und erhabnen Stellen aus; tadelte
auch wohl hier und da einen Ausdruck, ein allzu niedriges
Wort, oder einen Gedanken, den man übertrieben oder
anstößig fand. Aber immer endigte sich die Kritik mit dem
ewigen Abderitischen Refrain: es bleibt doch immer ein schönes
Stück — und hat viel Moral in sich. Schöne Moral! pflegte
der kurze dicke Rathsherr hinzuzusetzen — und immer traf
sich's, daß die Stücke, die er ihrer schönen Moral wegen selig
pries, gerade die elendesten waren.Man wird vielleicht denken: da die besondern Ursachen,
die man zu Abdera gehabt habe, alle einheimischen Stücke,
ohne Rücksicht auf Verdienst und Würdigkeit, aufzumuntern,
bei auswärtigen nicht stattgefunden, so hätte doch wenigstens
die große Verschiedenheit der Athenischen Schauspieldichter,
und der Abstand eines Astydamas von einem Sophokles etwas
dazu beitragen sollen, ihren Geschmack zu bilden, und ihnen
den Unterschied zwischen gut und schlecht, vortrefflich und
mittelmäßig, besonders den mächtigen Unterschied zwischen
natürlichem Beruf und bloßer Prätension und Nachäfferei,
zwischen dem muntern, gleichen, aushaltenden Gang des
wahren Meisters, und dem Stelzenschritt oder dem Nachkeichen,
Nachhinken und Nachkriechen der Nachahmer — anschaulich
zu machen. Aber, fürs erste, ist der Geschmack eine
Sache, die sich ohne natürliche Anlage, ohne eine gewisse
Feinheit des Seelenorgans, womit man schmecken soll, durch
keine Kunst noch Bildung erlangen läßt; und wir haben gleich
zu Anfang dieser Geschichte schon bemerkt, daß die Natur den
Abderiten diese Anlage ganz versagt zu haben schien. Ihnen
schmeckte alles. Man fand auf ihren Tischen die Meisterstücke
des Genie's und Witzes mit dem Abgang der schalsten Köpfe,
den Tagelöhnerarbeiten der elendesten Pfuscher, unter einander
liegen. Man konnte ihnen in solchen Dingen weiß
machen was man wollte; und es war nichts leichter, als einem
Abderiten die erhabenste Ode von Pindar für den ersten Versuch
eines Anfängers, und umgekehrt das sinnloseste Geschmier,
wenn es nur den Zuschnitt eines Gesangs in Strophen und
Antistrophen hatte, für ein Wer von Pindar zu geben. Daher
war bei einem jeden neuen Stücke, das ihnen zu Gesicht
kam, immer ihre erste Frage: von wem? und man hatte
hundert Beispiele, daß sie gegen das vortrefflichste Werk
gleichgültig geblieben waren, bis sie erfahren hatten daß es
einem berühmten Namen zugehöre.Dazu kam noch der Umstand, daß der Nomophylax Gryllus,
des Cyniskus Sohn, der an der Errichtung des Abderitischen
Nationaltheaters den meisten Antheil gehabt hatte und der
Oberaufseher über ihr ganzes Schauspielwesen war, Anspruch
machte ein großer Musikverständiger und der erste Componist
seiner Zeit zu seyn — ein Anspruch, gegen welchen die gefälligen
Abderiten um so weniger einzuwenden hatten, weil er
ein sehr populärer Herr war, und weil seine ganze Compositionskunst
in einer Anzahl melodischer Formen oder Leisten bestand,
die er allen Arten von Texten anzupassen wußte, so daß nichts
leichter war, als seine Melodien zu singen und auswendig
zu lernen.Die Eigenschaft, auf welche sich Gryllus am meisten zu
gut that, war seine Behendigkeit im Componiren. — "Nu,
wie gefällt Ihnen meine Jphigenia, Hekuba, Alceste (oder was
es sonsten war), he?" — O, ganz vortrefflich, Herr Nomophylax,
—"Gelt: da ist doch reiner Satz! fließende Melodie!
hä, hä, hä! Und wie lange denken Sie daß ich daran gemacht
habe? — Zählen Sie nach! — Heute haben wir den
dreizehnten — Den vierten Morgens um fünf Uhr — Sie
wissen ich bin früh auf —setzt' ich mich an mein Pult und fing
an — und gestern Punkt zehn Uhr Vormittags macht' ich den
letzten Strich! — Nun zählen Sie nach, 4, 5, 6, 7, 8, 9,
10, 11, 12, —macht, wie Sie sehen, nicht volle neun Tage,
und darunter zwei Rathtage, und zwei oder drei wo ich zu
Gaste gebeten war; andre Geschäfte nicht gerechnet — Hm!
was sagen Sie? Heißt das nicht fix gearbeitet? — Ich sag'
es eben nicht um mich zu rühmen: aber das getrau' ich mir,
wenn's eine Wette gälte, daß kein Componist im ganzen
Europäischen und Asiatischen Griechenland eher mit einem
Stücke fertig werden soll als ich! — Es ist nichts! Aber es
ist doch so eine eigne Gabe die ich habe, hä, hä, hä!"Wir hoffen, unsre Leser sehen den Mann nun vor sich,
und wenn sie einige Anlage zur Musik haben, so muß ihnen
seyn, sie hätten ihn bereits seine ganze Jphigenia, Hekuba
und Alceste herunterorgeln gehört.Nun hatte dieser große Mann noch nebenher die kleine
Schwachheit, daß er keine Musik gut finden konnte als —seine
eigene. Keiner von den besten Tonsetzern zu Athen, Theben,
Korinth u. s. w. konnt' es ihm zu Danke machen. Den berühmten
Damon selbst, dessen gefällige, geistreiche und immer
zum Herzen sprechende Art zu componiren außerhalb Abdera
alles was eine Seele hatte bezauberte, nannte er unter seinen
Vertrauten nur den Bänkelsängercomponisten. Bei dieser Art
zu denken, und vermöge der unendlichen Leichtigkeit womit er
seinen musikalischen Laich von sich gab, hatte er nun binnen
wenig Jahren zu mehr als sechzig Stücken von berühmten und
unberühmten Athenischen Schauspieldichtern die Musik gemacht.
Denn die Abderitischen Nationalproducte überließ er meistens
seinen Schülern und Nachahmern, und begnügte sich bloß mit
der Revision ihrer Arbeit. Freilich fiel seine Wahl, wie man
denken kann, nicht immer auf die besten Stücke; die Hälfte
wenigstens waren mißlungene bombastische Nachahmungen des
Aeschylus, oder abgeschmackte Possenspiele, Jahrmarktsstücke,
die von ihren Verfassern selbst bloß für die Belustigung des
untersten Pöbels bestimmt waren. Aber genug, der Nomophylax,
ein Haupt der Stadt, hatte sie componirt; sie wurden
also unendlich beklatscht; und wenn sie denn auch bei der öftern
Wiederholung mitunter gähnen und hojanen machten daß die
Kinnladen hätten auseinander gehen mögen, so versicherte
man einander doch beim Herausgehen sehr tröstlich: es sey
gar ein schönes Stück und gar eine schöne Musik gewesen!Und so vereinigte sich denn alles bei diesen griechenzenden
Thaciern, nicht nur gegen die Arten und Stufen des Schönen,
sondern gegen den innern Unterschied des Vortrefflichen
und Schlechten selbst, jene mechanische Kaltsinnigkeit hervorzubringen,
wodurch sie sich als durch einen festen Nationalcharakterzug
von allen übrigen polizirten Völkern des Erdbodens
auszrichneten; eine Kaltsinnigkeit, die dadurch desto sonderbarer
wurde, weil sie ihnen gleichwohl die Fähigkeit ließ,
zuweilen von dem wirklich Schönen auf eine gar seltsame
Art afficirt zu werden — wie man in kurzem aus einem
merkwürdigen Beispiel ersehen wird.—————
Drittes Kapitel.Beiträge zur Abderitischen Literargeschichte. Nachrichten von ihren
ersten theatralischen Dichtern, Hyperbolus, Paraspasmus, Antiphilus
und Thlaps.Bei aller dieser anscheinenden Gleichgültigkeit, Toleranz,
Apathie, Hedypathie, oder wie man's nennen will, müssen wir
uns die Abderiten gleichwohl nicht als Leute ohne allen Geschmack
vorstellen. Denn ihre fünf Sinne hatten sie richtig
und voll gezählt: und wiewohl ihnen unter den angegebenen
Umständen Alles gut genug schmeckte, so däuchte sie doch, dieses
oder jenes schmecke ihnen besser als ein andres; uns so
hatten sie denn ihre Lieblingsstücke und Lieblingsdichter so
gut als andre Leute.Damals, als ihnen der kleine Verdruß mit dem Arzt
Hippokrates zustieß, waren unter einer ziemlichen Anzahl von
Theaterdichtern, welche Handwerk davon machten (die Freiwilligen
nicht gerechnet), vornehmlich zwei im Besitz der höchsten
Gunst des Abderitischen Publicums. Der eine machte
Tragödien und eine Art Stücke, die man jetzt komische Opern
nennt; der andere, Namens Thlaps, fabricirte eine Art von
Mitteldingen, wobei einem weder wohl noch weh geschah,
wovon er der erste Erfinder war; und die deßwegen nach
seinem Namen Thlapspödien genannt wurden.Der erste war eben der Hyperbolus, dessen schon zu Anfang
dieser eben so wahrhaften als wahrscheinlichen Geschichte
als des berühmtesten unter den Abderitischen Dichtern gedacht
worden ist. Er hatte sich zwar auch in den übrigen Gattungen
hervorgethan; die außerordentliche Parteilichkeit seiner Landsleute
für ihn hatte ihm in allen den Preis zuerkannt: und
eben dieser Vorzug erwarb ihm den hochtrabenden Zunamen
Hyperbolus; denn von Haus aus nannte er sich Hegesias.Der Grund, warum dieser Mensch ein so besonderes Glück
bei den Abderiten machte, war der natürlichste von der Welt
— nämlich eben der, weßwegen er und seine Werke an jedem
andern Orte der Welt als in Abdera ausgepfiffen worden wären.
Er war unter allen ihren Dichtern derjenige, in welchem der
eigentliche Geist von Abdera, mit allen seinen Jdiotismen und
Abweichungen von den schönern Formen, Proportionen und
Lineamenten der Menschheit am leibhaftesten wohnte; derjenige,
mit dem alle übrigen am meisten sympathisirten; der
immer alles just so machte wie sie es auch gemacht haben würden,
ihnen immer das Wort aus dem Munde nahm, immer
das eigentliche Pünktchen traf wo sie gekitzelt seyn wollten;
mit Einem Worte, der Dichter nach ihrem Sinn und Herzen!
Und das nicht etwa in Kraft eines außerordentlichen Scharfsinns,
oder als ob er sich ein besondres Studium daraus gemacht
hätte, sondern lediglich, weil er unter allen seinen Brüdern
im Marsyas am meisten —Abderit war. Bei ihm durfte
man sich darauf verlassen, daß der Gesichtspunkt, woraus er
eine Sache ansah, immer der schiefste war woraus sie gesehen
werden konnte; daß er zwischen zwei Dingen allemal die
Aehnlichkeit gerade da fand, wo ihr wesentlichster Unterschied
lag; daß er je und allezeit feierlich aussehen würde wo ein
vernünftiger Mensch lacht, und lachen würde, wo es nur
einem Abderiten einfallen kann zu lachen, u. s. w. Ein Mann,
der des Abderitischen Genius so voll war, konnte natürlicher
Weise in Abdera alles seyn was er wollte. Auch war er ihr
Anakreon, ihr Alcäus, ihr Pindar, ihr Aeschylus, ihr Aristophanes,
und seit kurzem arbeitete er an einem großen National-Heldengedicht
in achtundvierzig Gesängen, die Abderiade genannt —
zu großer Freude des ganzen Abderitischen Volkes!
Denn, sagten sie, ein Homer ist das einzige was uns noch
abgeht; und wenn Hyperbolus mit seiner Abderiade fertig
seyn wird, so haben wir Ilias und Odysse in Einem Stücke
beisammen; und dann laß die andern Griechen kommen, und
uns noch über die Achseln ansehen, wenn sie das Herz haben!
Sie sollen uns dann einen Mann stellen, dem wir nicht einen
aus unserm Mittel entgegenstellen wollen!Indessen war doch die Tragödie das eigentliche Fach des
Hyperbolus. Er hatte deren hundertundzwanzig (vermuthlich
auch groß und klein in einander gerechnet) verfertigt — ein
Umstand, der ihm bei einem Volke, das in allen Dingen nur
auf Anzahl und körperlichen Umfang sah, allein schon einen
außerordentlichen Vorzug geben mußte. Denn von allen seinen
Nebenbuhlern hatte es keiner auch nur auf das Drittel dieser
Zahl bringen können. Ungeachtet ihn die Abderiten wegen
des Bombasts seiner Schreibart ihren Aeschylus zu nennen
pflegten, so wußte er sich selbst doch nicht wenig mit seiner
Originalität. Man weise mir, sprach er, einen Charakter,
einen Gedanken, ein Gefühl, einen Ausdruck, in allen meinen
Werken, den ich aus einem andern genommen hätte! —Oder
aus der Natur, setzte Demokrit hinzu —"O! (rief Hyperbolus)
was das betrifft, das kann ich Ihnen zugeben, ohne daß
ich viel dabei verliere. Natur! Natur! Die Herren klappern
immer mit ihrer Natur und wissen am Ende nicht was
sie wollen. Die gemeine Natur — und die meinen Sie doch
—gehört in die Komödie, ins Possenspiel, in die Thlapsödie,
wenn Sie wollen! Aber die Tragödie muß über die Natur
gehen, oder ich gebe nicht eine hohle Nuß darum." Von den
seinigen galt dieß im vollsten Maß. So wie seine Personen
hatte nie ein Mensch ausgesehen, nie ein Mensch gefühlt,
gedacht, gesprochen noch gehandelt. Aber das wollten die Abderiten
eben — und daher kam es auch, daß sie unter allen
auswärtigen Dichtern am wenigsten aus dem Sophokles machten.
"Wenn ich aufrichtig sagen soll, wie ich denke, —sagte
einst Hyperbolus in einer vornehmen Gesellschaft, wo über
diese Materie auf gut Abderitisch räsonnirt wurde —ich habe
nie begreifen können, was an dem Oedipus oder an der Elektra
des Sophokles, besonders was an seinem Philoktet so
Außerordentliches seyn soll. Für einen Nachfolger eines so
erhabnen Dichters wie Aeschylus, fällt er wahrlich gewaltig ab!
Nun ja, Attische Urbanität, die streit' ich ihm nicht ab! Urbanität
so viel Sie wollen! Aber der Feuerstrom, die wetterleuchtenden
Gedanken, die Donnerschläge, der hinreißende
Wirbelwind — kurz, die Riesenstärke, der Adlersflug, der
Löwengrimm, der Sturm und Drang, der den wahren tragischen
Dichter macht, wo ist der?" — Das nenn' ich wie ein
Meister von der Sache sprechen, sagte einer von der Gesellschaft.
— O, über solche Dinge verlassen Sie sich auf das
Urtheil des Hyperbolus, rief ein andrer; wenn er's nicht
verstehen sollte! — Er hat hundertundzwanzig Tragödien
gemacht, flüsterte eine Abderitin einem Fremden in's Ohr;
er ist der erste Theaterdichter von Abdera!Indessen hatte es doch unter allen seinen Nebenbuhlern,
Schülern und Candatarien ihrer zweien geglückt, ihn auf dem
tragischen Thron, auf den ihn der allgemeine Beifall hinaufgeschwungen,
wanken zu machen — dem einen durch ein
Stück, worin der Held gleich in der ersten Scene des ersten
Acts seinen Vater ermordet, im zweiten seine leibliche Schwester
heirathet, im dritten entdeckt daß er sie mit seiner Mutter
gezeugt hatte, im vierten sich selber Ohren und Nase abschneidet
und im fünften, nachdem er die Mutter vergiftet und
die Schwester erdrosselt, von den Furien unter Blitz und Donner
in die Hölle geholt wird — dem andern durch eine Niobe,
worin außer einer Menge Ω! Ω! Αι, Αι! φεν, ψεν, und
Ελελελελεν, und einigen Blasphemien, wobei den Zuhörern
die Haare zu Berge standen, das ganze Stück in lauter Handlung
und Pantomime gesetzt war. Beide Stücke hatten den
erstaunlichsten Effect gethan. — Nie waren binnen drei
Stunden so viele Schnupftücher voll geweint worden, seit ein
Abdera in der Welt war. — Nein, es ist nicht zum Aushalten,
schluchzten die schönen Abderitinnen — Der arme
Prinz! wie er heulte, wie er sich herumwälzte! Und die Rede,
die er hielt, da er sich die Nase abgeschnitten hatte, rief eine
andere — Und die Furien, die Furien, schrie eine dritte —
ich werde vier Wochen lang kein Auge vor ihnen zuthun
können! — Es war schrecklich, ich muß gestehen, sagte die
vierte; aber, o die arme Niobe! wie sie mitten unter ihren
über einander hergewälzten Kindern da steht, sich die Haare
ausrauft, sie über die dampfenden Leichen hinstreut, dann sich
selbst auf sie hinwirft, sie wieder beleben möchte, dann in
Verzweiflung wieder auffährt, die Augen wie feurige Räder
im Kopfe herum rollt, dann mit ihren eigenen Nägeln die
Brust aufreißt, und Hände voll Bluts unter entsetzlichen Verwünschungen
gen Himmel wirft! — Nein, so was Rührendes
muß nie gesehen worden seyn! Was das für ein Mann seyn
muß, der Paraspasmus, der Stärke genug hatte, so eine
Scene aufs Theater zu bringen! — Nun, was die Stärke
anbetrifft, sagte die schöne Salabanda, darauf läßt sich eben
nicht immer so sicher schließen. Ich zweifle, ob Paraspasmus
alles halten würde was er zu versprechen scheint; große Prahler
schlechte Fechter. —Man kannte die schöne Salabanda für eine
Frau, die so was nicht ohne Grund sagte; und dieser geringfügige
Umstand brachte so viel zuwege, daß die Niobe des
Paraspasmus bei der zweiten Vorstellung nicht mehr die Hälfte
der vorigen Wirkung that; ja der Dichter selbst konnte sich in
der Folge nicht wieder von dem Schlag erholen, den ihm Salabanda
durch ein einziges Wort in der Einbildungskraft der
Abderitinnen gegeben hatte..
Indessen blieb ihm und seinem Freunde Antiphilus doch
immer die Ehre, der Tragödie zu Abdera einen neuen Schwung
gegeben zu haben, und die Erfinder zweier neuer Gattungen,
der griesgramischen und der pantomimischen, zu seyn, in welchen
den Abderitischen Dichtern eine Laufbahn eröffnet wurde, wo
es um so viel sichrer war Lorbern einzuernten, da im
Grunde nichts leichter ist als —Kinder zu erschrecken, und
seine Helden vor lauter Affect — gar nichts sagen zu lassen.Wie aber die menschliche Unbeständigkeit sich an allem,
was in seiner Neuheit noch so angenehm ist, gar bald ersättiget,
so fingen auch die Abderiten bereits an es überdrüssig zu
werden, daß sie immer und alle Tage gar schön finden sollten,
was ihnen in der That schon lange gar wenig Vergnügen machte:
als der junge Thlaps auf den Einfall kam, Stücke aufs Theater
zu bringen, die weder Komödie noch Tragödie noch Posse, sondern
eine Art von lebendigen Abderitischen Familiengemälden wären;
wo weder Helden noch Narren, sondern gute ehrliche hausgebackne
Abderiten auftreten, ihren täglichen Stadt-, Markt-,
Haus- und Familiengeschäften nachgehen, und vor einem löblichen
Spectatorium gerade so handeln und sprechen sollten, als
ob sie auf der Bühne zu Hause wären; und es sonst keine Leute
in der Welt gäbe als sie. Man sieht, daß dieß ungefähr die
nämliche Gattung war, wodurch sich Menander in der Folge
so viel Ruhm erwarb. Der Unterschied bestand bloß darin:
daß er Athener und jener Abderiten auf die Bühne brachte;
und daß er Menander, und jener Thlaps war. Allein da
dieser Unterschied den Abderiten nichts verschlug, oder vielmehr
gerade zu Thlapsens Vortheil gereichte, so wurde sein erstes
Stück in dieser Gattung mit einem Entzücken aufgenommen,
wovon man noch kein Beispiel gesehen hatte. Die ehrlichen
Abderiten sahen sich selbst zum erstenmal auf der Schaubühne
in puris Naturalibus, ohne Stelzen, ohne Löwenhäute, ohne
Keule, Scepter und Diadem, in ihren gewöhnlichen Hauskleidern,
ihre gewöhnliche Sprache redend, nach ihrer angebornen
eigenthümlichen Abderitischen Art und Weise lieben und leben,
essen und trinken, freien und sich freien lassen u. s. w., und
das war eben was ihnen so viel Vergnügen machte. Es ging
ihnen wie einem jungen Mädchen, das sich zum erstenmal in
einem Spiegel sieht; sie konnten's gar nicht genug bekommen.
Die vierfache Braut wurde vierundzwanzigmal hinter einander
gespielt, und eine lange Zeit wollten die Abderiten nichts als
Thlapsödien sehen. Thlaps, dem es nicht so frisch von der
Faust ging wie dem großen Hyperbolus und dem Nomophylax
Gryllus, konnte deren nicht so viele fertig machen, als sie von
ihm zu haben wünschten. Aber da er seinen Mitbrüdern einmal
den Ton angegeben hatte, so fehlte es ihm nicht an Nachahmung.
Alles legte sich auf die neue Gattung; und in
weniger als drei Jahren waren alle möglichen Sujets und
Titel von Thlapsödien so erschöpft, daß es wirklich ein Jammer
war die Noth der armen Dichter zu sehen, wie sie drucks'ten
und schwitzten, um aus dem Schwamme, den schon so viele
vor ihnen ausgedrückt hatten, noch einen Tropfen trübes
Wasser herauszupressen.Die natürliche Folge davon war, daß unvermerkt alle
Dinge wieder ins gehörige Gleichgewicht kamen. Die Abderiten,
die, nach ziemlich allgemeiner menschlicher Weise, anfangs
für jede Gattung eine ausschließende Neigung faßten,
fanden endlich, daß es nur desto besser sey, wenn sie dem
Ueberdruß durch Abwechslung und Mannichfaltigkeit wehren
könnten. Die Tragödien, gemeine, griesgramische und pantomimische,
die Komödien, Operetten und Possenspiele kamen
wieder in Umlauf; der Nomophylax componirte die Tragödien
des Euripides: und Hyperbolus (zumal da ihm das Project
Abderitischer Homer zu werden im Kopfe steckte) ließ sich's,
weil's doch nicht zu andern war, am Ende gern gefallen, die
höchste Gunst des Abderitischen Parterre mit Thlapsen zu
theilen; zumal, da dieser durch die Heirath mit der Nichte
eines Oberzunftmeisters seit kurzem eine wichtige Person geworden
war.—————
Viertes Kapitel.Merkwürdiges Beispiel von der guten Staatswirthschaft der Abderiten.
Beschluß der Digression über ihr Theaterwesen.Ehe wir von dieser Abschweifung zum Verfolg unsrer
Geschichte zurückkehren, möchte es nöthig seyn, dem geneigten
Leser einen kleinen Zweifel zu benehmen, der ihm während
vorstehender kurzen Abschattung des Abderitischen Schauspielwesens
aufgestoßen seyn möchte.Es ist nicht wohl zu begreifen, wird man sagen, wie das
Aerarium von Abdera, dessen Einkünfte eben nicht so gar
beträchtlich seyn konnten, eine so ansehnliche Nebenaufgabe,
wie ein tägliches Schauspiel mit allen seinen Artikeln ist, in
die Länge habe bestreiten können; gesetzt auch, daß die Dichter
ohne Sold noch Lohn, aus purem Patriotismus, oder um
die bloße Ehre gedient hätten. Wofern aber dieß letztere
war, wird man kaum glaublich finden, daß es so manchen
Theaterdichter von Profession in Abdera gegeben, und daß der
große Hyperbolus, mit allem seinem Patriotismus und Eigennutz,
es bis auf einhundertundzwanzig dramatische Stücke
sollte getrieben haben.Um nun den günstigen Leser nicht ohne Noth aufzuhalten,
wollen wir ihm nur gleich unverhohlen gestehen, daß ihre
Theaterdichter keineswegs umsonst arbeiteten (denn das große
Gesetz: "dem Ochsen, der da drischt, sollst du nicht das Maul
verbinden!" ist ein Naturgesetz, dessen allgemeine Verbindlichkeit
auch sogar die Abderiten fühlten), und daß, vermöge
einer besondern Finanzoperation, das Stadtärarium des
Theaters halben eigentlich keine neue Ausgabe zu bestreiten
hatte, sondern dieser Aufwand größtentheils an andern nöthigern
und nützlichern Artikeln erspart wurde.Die Sache verhielt sich so. Sobald die Gönner des Theaters
sahen, daß die Abderiten Feuer gefaßt hatten, und Schauspiele
zum Bedürfniß für sie geworden waren, ermangelten sie nicht,
dem Volke durch die Zunftmeister vorstellen zu lassen: daß das
Aerarium einem so großen Zuwachs von Ausgaben ohne neue
Einnahmsquellen oder Einziehung andrer Ausgaben nicht gewachsen
sey. Dieß veranlaßte denn, daß eine Commission niedergesetzt
wurde, welche, nach mehr als sechzig zahlbaren Sitzungen,
endlich einen Entwurf einer Einrichtung des gemeinen Abderitischen
Theaterwesens vor Rath legte, den man so gründlich
und wohl ausgesonnen fand, daß er stracks in einer allgemeinen
Versammlung der Bürgerschaft zu einem Fundamentalgesetz
der Stadt Abdera gestempelt wurde.Wir würden uns ein Vergnügen daraus machen, dieses
Abderitische Meisterstück auch vor unsre Leser zu legen, wenn
wir ihnen Geduld genug zutrauen dürften es zu lesen. Sollte
aber irgend ein gemeines Wesen in oder außer dem heiligen
Römischen Reiche die Mittheilung desselben wünschen: so ist
man erbötig, solche auf erfolgte Requisition, gegen bloße Erstattung
der Schreibauslagen unentgeldlich mitzutheilen. Alles
was wir hier davon sagen können, ist: daß, vermöge dieser
Einrichtung sine aggravio Publici, —durch bloße Ersparung
einer Menge anderer Ausgaben, die man freilich in jedem
andern Staate für nöthiger und nützlicher als die Unterhaltung
eines Nationaltheaters angesehen hätte —hinlängliche Fonds
ausgemacht wurden, "die Abderiten wöchentlich viermal mit
Schauspielen zu tractiren; sowohl Dichter, Schauspieler und
Orchester, als die Herren Deputirten und den Nomophylax
gehörig zu remuneriren; und überdieß noch die beiden untersten
Classen der Zuschauer bei jeder Vorstellung viritim mit
einem Pfennigbrot und zwei trocknen Feigen zu gratificiren."
— Der einzige Fehler dieser schönen Einrichtung war, daß
die Herren von der Commission sich in Berechnung der Einnahme
und Ausgabe (wegen deren Richtigkeit man sich auf
ihre bekannte Dexterität verließ) um achtzehntausend Drachmen
(ungefähr dritthalbtausend Thaler schwer Geld) verrechnet
hatten, die das Aerarium mehr bezahlen mußte, als die angewiesenen
Fonds betrugen. Das war nun freilich kein ganz
gleichgültiger Rechnungsverstoß! Indessen waren die Herrn
von Abdera gewohnt, so glattweg und bona fide bei ihrer
Staatswirthschaft zu Werke zu gehen, daß etliche Jahre verstrichen,
bis man gewahr wurde, woran es liege, daß sich alle
Jahre ein Deficit von zweitausendfünfhundert Thalern in
der Hauptrechnung ergab. Wie man es endlich mit vieler
Mühe herausgebracht hatte, fanden die Häupter für nöthig,
die Sache vor das gesammte Volk zu bringen, und pro forma
auf Einziehung der Schaubühne anzutragen. Allein die Abderiten
gebärdeten sich zu diesem Vorschlag, als ob man ihnen
Wasser und Feuer nehmen wolle. Kurz, es wurde ein Plebiscitum
errichtet, daß die jährlich abgängigen dritthalb Talente
aus dem gemeinen Schatz, der im Tempel der Latona
niedergelegt war, genommen werden sollten; und derjenige,
der sich künftig unterfangen würde, auf Abschaffung der Schaubühne
anzutragen, sollte für einen Feind der Stadt Abdera
angesehen werden.Die Abderiten glaubten nun ihre Sache recht klug gemacht
zu haben, und pflegten gegen Fremde sich viel darauf
zu gut zu thun, daß ihre Schaubühne jährlich achtzig Talente
(achtzig tausend Thaler) und gleichwohl der Bürgerschaft von
Abdera keinen Heller koste. "Es kommt alles auf eine gute
Einrichtung an, sagten sie. Aber dafür haben wir auch ein
Nationaltheater, wie kein andres in der Welt seyn muß!"
— Das ist eine große Wahrheit, sagte Demokrit; solche Dichter,
solche Schauspieler, solche Musik, und wöchentlich viermal,
für achtzig Talente! Ich wenigstens habe das an keinem
andern Orte in der Welt angetroffen.Was man ihnen lassen mußte, war, daß ihr Theater für
eines der prächtigsten in Griechenland gelten konnte. Freilich
hatten sie dem Könige von Macedonien ihr bestes Amt versetzt,
um es bauen zu können. Aber da ihnen der König zugestanden,
daß der Amtmann, der Amtsschreiber und der
Rentmeister allezeit Abderiten bleiben sollten, so konnte ja
niemand was dagegen einzuwenden haben.Wir bitten es den Lesern ab, wenn sie mit dieser allgemeinen
Nachricht von dem Abderitischen Theaterwesen zu
lange aufgehalten worden sind. Die Schauspielstunde ist inzwischen
herbeigekommen, und wir versetzen uns also ohne
weiters in das Amphitheater dieser preiswürdigen Republik,
wo der geneigte Leser nach Gefallen, entweder bei dem kleinen
dicken Rathsherrn, oder bei dem Priester Strobylus, oder
bei dem Schwätzer Antistrepsiades, oder bei irgend einer
von den schönen Abderitinnen, mit welchen wir sie in den
vorigen Kapiteln bekannt gemacht haben, Platz zu nehmen
belieben wird.—————
Fünftes Kapitel.Die Andromeda des Euripides wird ausgeführt. Großer Succeß des
Nomophylax, und was die Sängerin Eukolpis dazu beigetragen. Ein
paar Anmerkungen über die übrigen Schauspieler, die Chöre und die
Decoration.Das Stück, das diesen Abend gespielt wurde, war die
Andromeda des Euripides, eines von den sechzig oder siebzig
Werken dieses Dichters, wovon nur wenige kleine Späne und
Splitter der Vernichtung entronnen sind. Die Abderiten
trugen, ohne eben sehr zu wissen warum, große Ehrerbietung
für den Namen Euripides und alles was diesen Namen trug.
Verschiedene seiner Tragödien oder Singspiele (wie wir sie
eigentlich nennen sollten) waren schon öfters aufgeführt, und
allemal sehr schön gefunden worden. Die Andromeda, eines
der neuesten, wurde jetzt zum erstenmal auf die Abderitische
Schaubühne gebracht. Der Nomophylax hatte die Musik
dazu gemacht, und (wie er seinen Freunden ziemlich laut ins
Ohr sagte) dießmal sich selbst übertroffen; das heißt, der
Mann hatte sich vorgesetzt, alle seine Künste auf einmal zu
zeigen, und darüber war ihm der gute Euripides unvermerkt
ganz aus den Augen gekommen. Kurz, Herr Gryllus hatte
sich selbst componirt; unbekümmert, ob seine Musik den Text,
oder der Text seine Musik zu Unsinn mache — welches denn
gerade der Punkt war, der auch die Abderiten am wenigsten
kümmerte. Genug, sie machte großen Lärm, hatte (wie seine
Brüder, Vettern, Schwäger, Clienten und Hausbedienten,
als sämmtliche Kenner, versicherten) sehr erhabne und rührende
Stellen, und wurde mit dem lautesten entschiedensten Beifall
aufgenommen. Nicht, als ob nicht sogar in Abdera noch hier
und da Leute gesteckt hätten, die — weil sie vielleicht etwas
dünnere Ohren auf die Welt gebracht als ihre Mitbürger,
oder weil sie anderswo was Besseres gehört haben mochten —
einander unter vier Augen gestanden: daß der Nomophylax,
mit aller seiner Anmaßung ein Orpheus zu seyn, nur ein
Leyermann, und das beste seiner Werke eine Rhapsodie ohne
Geschmack und meistens auch ohne Sinn sey. Diese Wenigen
hatten sich ehemals sogar erkühnt, etwas von dieser ihrer
Heterodoxie ins Publicum erschallen zu lassen; aber sie waren
jedesmal von den Verehrern der Gryllischen Muse so übel
empfangen worden, daß sie, um mit heiler Haut davon zu
kommen, für gut befanden, sich in Zeiten der Majorität zu
submittiren; und nun waren diese Herren immer die, die
bei den elendesten Stellen am ersten und lautesten klatschten.Das Orchester that dießmal sein Aeußerstes, um sich seines
Oberhauptes würdig zu zeigen. "Ich hab' ihnen aber auch
alle Hände voll zu thun gegeben," sagte Gryllus, und schien
sich viel darauf zu gut zu thun, daß die armen Leute schon
im zweiten Act keinen trocknen Faden mehr am Leibe hatten.Im Vorbeigehen gesagt, das Orchester war eines von
den Instituten, worin die Abderiten es mit allen Städten in
der Welt aufnahmen. Das erste, was sie einem Fremden
davon sagten, war: daß es hundert und zwanzig Köpfe
stark sey. "Das Athenische, pflegten sie mit bedeutendem
Accent hinzu zu setzen, soll nur achtzig haben: aber freilich
mit hundert und zwanzig Mann läßt sich auch was ausrichten!"
— Wirklich fehlte es unter so vielen nicht an geschickten
Leuten, wenigstens an solchen, aus denen ein Vorsteher, wie
— in Abdera keiner war noch seyn konnte, etwas hätte machen
können. Aber was half das ihrem Musikwesen? Es war nun
einmal im Götterrathe beschlossen, daß im Thracischen Athen
nichts an seinem Platze, nichts seinem Zweck entsprechend,
nichts recht und nichts ganz seyn sollte. Weil die Leute
wenig für ihre Mühe hatten, so glaubte man auch nicht viel
von ihnen fordern zu können; und weil man mit einem jeden
zufrieden war, der sein Bestes that (wie sie's nannten), so
that niemand sein Bestes. Die Geschickten wurden lässig,
und wer noch auf halbem Weg war, verlor den Muth und
zuletzt auch das Vermögen weiter zu kommen. Wofür hätten
sie sich am Ende auch Mühe um Vollkommenheit geben sollen,
da sie für Abderitische Ohren arbeiteten? —Freilich hatten die
leidigen Fremden auch Ohren: aber sie hatten doch keine
Stimme zu geben; fanden es auch nicht einmal der Mühe
werth, oder waren zu höflich oder zu politisch, gegen den
Geschmack von Abdera Sturm laufen zu wollen. Der Nomophylax,
so dumm er war, merkte zwar selbst so gut wie ein
andrer, daß es nicht so recht ging wie es sollte. Aber außerdem,
daß er keinen Geschmack hatte, oder (welches auf Eins
hinaus lief) daß ihm nichts schmeckte, was er nicht selbst gekocht
hatte, und er also immer die rechten Mittel, wodurch
es besser werden konnte, verfehlte — war er auch zu träge
und zu ungeschmeidig, sich mit andern auf die gehörige Art
abzugeben. Vielleicht mocht' er's auch am Ende wohl leiden,
daß er, wenn sein Leyerwerk (wie wohl zuweilen geschah) sogar
den Abderiten nicht recht zu Ohren gehen wollte, die
Schuld aufs Orchester schieben, und die Herren und Damen,
die ihm ehrenhalber ihr Compliment deßwegen machten, versichern
konnte: daß nicht eine Note, so wie er sie gedacht
und geschrieben habe, vorgetragen worden sey. Allein das
war doch immer nur eine Feuerthüre für den Nothfall. Denn
aus dem naserümpfenden Tone, womit er von allen andern
Orchestern zu sprechen pflegte, und aus den Verdiensten, die
er sich um das Abderitische beilegte, mußte man schließen,
daß er so gut damit zufrieden war, als es — einem patriotischen
Nomophylax von Abdera ziemte.Wie es aber auch mit der Musik dieser Andromeda und
ihrer Ausführung beschaffen seyn mochte: gewiß ist, daß in
langer Zeit kein Stück so allgemein gefallen hatte. Dem
Sänger, der den Perseus spielte, wurde so gewaltig zugeklatscht,
daß er mitten in der schönsten Scene aus dem Tone
kam, und in eine Stelle aus dem Kyklops sich verirrete.
Andromeda — in der Scene, wo sie, an den Felsen gefesselt,
von allen ihren Freunden verlassen und dem Zorn der Nereiden
Preis gegeben, angstvoll das Auftauchen des Ungeheuers erwartet —
mußte ihren Monolog dreimal wiederholen. Der
Nomophylax konnte seine Freude über einen so glänzenden
Erfolg nicht bändigen. Er ging von Reihe zu Reihe herum,
den Tribut von Lob einzusammeln, der ihm aus allen Lippen
entgegen schallte; und mitten unter der Versicherung daß ihm
zu viel Ehre widerfahre, gestand er, daß er selbst mit keinem
seiner Spielwerke (wie er seine Opern mit vieler Bescheidenheit
zu nennen beliebte) so zufrieden sey wie mit dieser
Andromeda.Indessen hätt' er doch, um sich selbst und den Abderiten
Gerechtigkeit zu erweisen, wenigstens die Hälfte des glücklichen
Erfolgs auf Rechnung der Sängerin Eukolpis setzen müssen,
die zwar vorher schon im Besitz zu gefallen war, aber als
Andromeda Gelegenheit fand, sich in einem so vortheilhaften
Lichte zu zeigen, daß die jungen und alten Herren von Abdera
sich gar nicht satt an ihr —sehen konnten. Denn da war so
viel zu sehen, daß ans Hören gar nicht zu denken war.
Eukolpis war eine große wohlgedrehte Figur — zwar um ein
Namhaftes materieller, als man in Athen zu einer Schönheit
erforderte —aber in diesem Stücke waren die Abderiten (wie
in vielen andern) ausgemachte Thracier; und ein Mädchen,
aus welchem ein Bildhauer in Sicyon zwei gemacht hätte,
war nach ihrem angenommenen Ebenmaß ein Wunder von
einer Nymphenfigur. Da die Andromeda nur sehr dünn angezogen
seyn durfte, so hatte Eukolpis, die sich stark bewußt
war, worin eigentlich die Kraft ihres Zaubers liege, eine
Draperie von rosenfarbnem Koischem Zeug erfunden, unter
welcher, ohne daß der Wohlstand sich allzusehr beleidigt finden
konnte, von den schönen Formen, die man an ihr bewunderte,
wenig oder nichts für die Zuschauer verloren ging.
Nun hatte sie gut singen. Die Composition hätte, wo möglich,
noch abgeschmackter, und ihr Vortrag noch zehnmal
fehlerhafter seyn können; immer würde sie ihren Monolog
haben wiederholen müssen, weil das doch immer der ehrlichste
Vorwand war, sie desto länger mit lüsternen Blicken — betasten
zu können. Wahrlich, beim Jupiter, ein herrliches
Stück! sagte einer zum andern mit halb geschloss'nen Augen;
ein unvergleichliches Stück! — Aber finden Sie nicht auch,
daß Eukolpis heute wie eine Göttin singt? — "O über allen
Ausdruck! Es ist, beim Anubis! nicht anders als ob Euripides
das ganze Stück bloß um ihrentwillen gemacht hätte!" —
der junge Herr, der dieß sagte, pflegte immer beim Anubis
zu schwören, um zu zeigen daß er in Aegypten gewesen sey.Die Damen, wie leicht zu erachten, fanden die neue
Andromeda nicht ganz so wundervoll als die Mannspersonen. —
"Nicht übel! Ganz artig! sagten sie. Aber wie kommt's, daß
die Rollen dießmal so unglücklich ausgetheilt wurden? Das
Stück verlor dadurch. Man hätte die Rollen vertauschen und
die Mutter der dicken Eukolpis geben sollen! Zu einer Kassiopeia
hätte sie sich trefflich geschickt." —Gegen ihren Anzug,
Kopfputz u. s. w. war auch viel zu erinnern. — Sie war
nicht zu ihrem Vortheil aufgesetzt — der Gürtel war zu hoch,
und zu stark geschürzt — und besonders fand man die Ziererei
ärgerlich, immer ihren Fuß zu zeigen, auf dessen unproportionirte
Kleinheit sie sich ein wenig zu viel einbilde, — sagten
die Damen, die aus dem entgegengesetzten Grunde die ihrigen
zu verbergen pflegten. Indessen kamen doch Frauen und Herren
sämmtlich darin überein, daß sie überaus schön singe, und
daß nichts niedlicher seyn könne als die Arie, worin sie ihr
Schicksal bejammerte. Eukolpis, wiewohl ihr Vortrag wenig
taugte, hatte eine gute, klingende und biegsame Stimme; aber
was sie eigentlich zur Lieblingssängerin der Abderiten gemacht
hatte, war die Mühe, die sie sich mit ziemlichem Erfolge gegeben,
den Nachtigallen gewisse Läufer und Tonsärge abzulernen,
in welchen sie sich selbst und ihren Zuhörern so wohl gefiel,
daß sie solche überall, zu rechter Zeit und zur Unzeit, einmischte,
und immer damit willkommen war. Sie mochte zu thun
haben was sie wollte, zu lachen oder zu weinen, zu klagen
oder zu zürnen, zu hoffen oder zu fürchten; immer fand sie
Gelegenheit, ihre Nachtigallen anzubringen, und war immer
gewiß beklatscht zu werden, wenn sie gleich die besten Stellen
damit verdorben hatte.Von den übrigen Personen, die den Perseus als den ersten
Liebhaber, den Agenor, vormaligen Liebhaber der Andromeda,
den Vater, die Mutter und einen Priester des Neptuns vorstellten,
finden wir nicht viel mehr zu sagen, als daß man im
Einzelnen zwar sehr viel an ihnen auszusetzen hatte, im Ganzen
aber sehr wohl mit ihnen zufrieden war. Perseus war ein
schön gewachs'ener Mensch, und hatte ein großes Talent einen
— Abderitischen Pickelhäring zu machen. Der vorerwähnte
Kyklops, im Satyrenspiele dieses Namens, war seine Meisterrolle.
Er spielt den Perseus gar schön, sagten die Abderitinnen;
nur Schade daß ihm immer unvermerkt der Kyklops
dazwischen kommt. —Kassiopeia, ein kleines zieraffiges Ding,
voll angemaßter Grazien, hatte keinen einzigen natürlichen
Ton; aber sie galt alles bei der Gemahlin des zweiten Archon,
hatte eine gar drollige Manier kleine Liedchen zu singen, und
that ihr Bestes. — Der Priester des Neptuns brüllte einen
ungeheuern Matrosenbaß; und Agenor — sang so elend als
einem zweiten Liebhaber zusteht. Er sang zwar auch nicht
besser, wenn er den ersten machte; aber weil er sehr gut
tanzte, so hatte er eine Art von Freibrief erhalten, desto
schlechter singen zu dürfen. Er tanzt sehr schön, war immer
die Antwort der Abderiten, wenn jemand anmerkte, daß sein
Krächzen unerträglich sey; indessen tanzte Agenor nur selten,
und sang hingegen in allen Singspielen und Operetten.Um die Schönheit dieser Andromeda ganz zu übersehen,
muß man sich noch zwei Chöre, einen von Nereiden, und einen
von den Gespielinnen der Andromeda, einbilden, beide aus
verkleideten Schuljungen bestehend, die sich so ungebärdig dazu
anschickten, daß die Abderiten (zu ihrem großen Troste) genug
und satt zu lachen bekamen. Besonders that der Chor der
Nereiden, durch die Erfindungen, die der Nomophylax dabei
angebracht hatte, die schnurrigste Wirkung von der Welt. Die
Nereiden erschienen mit halbem Leib aus dem Wasser hervorragend,
mit falschen gelben Haaren, und mit mächtigen falschen
Brüsten, die von fern recht natürlich wie —ausgestopfte
Bälle und also sich selbst vollkommen gleich sahen. Die Symphonie,
unter welcher diese Meerwunder herangeschwommen
kamen, war eine Nachahmung des berühmten Wreckeckeck
Koax Koax in den Fröschen des Aristophanes; und, um die
Illusion vollkommner zu machen, hatte Herr Gryllus verschiedene
Kuhhörner angebracht, die von Zeit zu Zeit einfielen,
um die auf ihren Schneckenmuscheln blasenden Tritonen
nachzuahmen.Von den Decorationen wollen wir, beliebter Kürze halben,
weiter nichts sagen, als daß sie — von den Abderiten sehr schön
gefunden wurden. Insonderheit bewunderte man einen Sonnenuntergang,
den sie vermittelst eines mit langen Schwefelhölzern
besteckten Windmühlenrades zuwege brachten; welches
einen guten Effect gethan hätte, sagten sie, wenn es nur ein
wenig schneller umgetrieben worden wäre. Bei der Art, wie
Perseus mit seinen Merkurstiefeln aufs Theater angeflogen
kam, wünschten die Abderitischen Kenner, daß man die Stricke,
in denen er hing, luftfarbig angestrichen hätte, damit sie
nicht so gar deutlich in die Augen gefallen wären.—————
Sechstes Kapitel.Sonderbares Nachspiel, das die Abderiten mit einem unbekannten
Fremden spielten, und dessen höchst unvermuthete Entwickelung.Sobald das Stück geendigt war, und das betäubende
Klatschen ein wenig nachließ, fragte man einander, wie gewöhnlich:
nun, wie hat Ihnen das Stück gefallen? und erhielt
überall die gewöhnliche Antwort: sehr wohl! Einer von den
jungen Herren, der für einen vorzüglichen Kenner galt, richtete
die große Frage auch an einen etwas bejahrten Fremden,
der in einer der mittlern Reihen saß, und dem Ansehen nach
kein gemeiner Mann zu seyn schien. Der Fremde, der sich's
vielleicht schon gemerkt hatte was man zu Abdera auf eine
solche Frage antworten mußte, war so ziemlich bald mit seinem
"sehr wohl" heraus: aber weil seine Miene diesen Beifall etwas
verdächtig machte, und sogar eine unfreiwillige, wiewohl ganz
schwache Bewegung der Achseln, womit er ihn begleitete, für
ein Achselzucken ausgedeutet werden konnte, so ließ ihn der
junge Abderitische Herr nicht so wohlfeil durchwischen. —
"Es scheint, sagte er, das Stück hat Ihnen nicht gefallen?
Es passirt doch für eine der besten Piecen von Euripides!"Das Stück mag nicht so übel seyn, erwiederte der
Fremde."So haben Sie vielleicht an der Musik etwas auszusetzen?"An der Musik? — O was die Musik betrifft, die ist
eine Musik — wie man sie nur zu Abdera hört."Sie sind sehr höflich! In der That, unser Nomophylax
ist ein großer Mann in seiner Art."Ganz gewiß!"So sind Sie vermuthlich mit den Schauspielern nicht
zufrieden?"Ich bin mit der ganzen Welt zufrieden."Ich dächte doch, die Andromeda hätte ihre Rolle scharmant
gemacht?"O sehr scharmant!"Sie thut einen großen Effect: nicht wahr?"Das werden Sie am besten wissen; ich bin dazu nicht
mehr jung genug."Wenigstens gestehen Sie doch, daß Perseus ein großer
Schauspieler ist?"In der That, ein hübscher wohlgewachs'ner Mensch."Und die Chöre? das waren doch Chöre, die dem Meister
Ehre machten! Finden Sie zum Beispiel den Einfall,
wie die Nereiden eingeführt werden, nicht ungemein glücklich?"Der Fremde schien des Abderiten satt zu seyn. Ich finde,
versetzte er mit einiger Ungeduld, daß die Abderiten glücklich
sind, an allen diesen Dingen so viel Freude zu haben.Mein Herr, sagte der Gelbschnabel in einem spöttelnden
Tone, gestehen Sie nur, daß das Stück die Ehre und das
Glück nicht gehabt hat, Ihren Beifall zu erhalten."Was ist Ihnen an meinem Beifall gelegen? Die Majora
entscheiden."Da haben Sie recht. Aber ich möchte doch um Wunders
willen hören, was Sie denn gegen unsre Musik oder gegen
unsre Schauspieler einwenden könnten."Könnten? sagte der Fremde etwas schnell, hielt aber
gleich wieder an sich — Verzeihen Sie mir, ich mag niemand
sein Vergnügen abdisputiren. Das Stück, wie es da gespielt
wurde, hat zu Abdera allgemein gefallen; was wollen Sie
mehr?"Nicht so allgemein, da es Ihnen nicht gefallen hat!"Ich bin ein Fremder —"Fremd oder nicht, Ihre Gründe möcht' ich hören! Hi,
hi, hi! Ihre Gründe, mein Herr, Ihre Gründe! Die werden
doch wenigstens keine Fremden seyn? Hi, hi, hi, hi!"Dem Fremden fing die Geduld an auszugehen. Junger
Herr, sagte er, ich habe für meinen Antheil an Ihrem Schauspiel
bezahlt; denn ich habe geklatscht wie ein andrer. Lassen
Sie's damit gut seyn! Ich bin im Begriff wieder abzureisen.
Ich habe meine Geschäfte.Ei, ei, sagte ein andrer Abderitischer junger Mensch der
dem Gespräch zugehört hatte, Sie werden uns ja nicht schon
verlassen wollen? Sie scheinen ein großer Kenner zu seyn:
Sie haben unsre Neugier, unsre Lehrbegierde (er sagte dieß
mit einem dumm-naseweisen Hohnlächeln) gereizt; wir lassen
Sie wahrlich nicht gehen, bis Sie uns gesagt haben, was
Sie an dem heutigen Singspiel zu tadeln finden. Ich will
nichts von den Worten sagen; aber ich bin Kenner; aber die
Musik, dächt' ich, war doch unvergleichlich?Das müßten am Ende doch wohl die Worte entscheiden,
wie Sie's nennen, sagte der Fremde."Wie meinen Sie das? Ich denke Musik ist Musik,
und man braucht nur Ohren zu haben, um zu hören was
schön ist."Ich gebe Ihnen zu, wenn Sie wollen, erwiederte jener,
daß schöne Stellen in dieser Musik sind; es mag überhaupt
eine gelehrte, nach allen Regeln der Kunst zugeschnittene,
schulgerechte, artikelmäßige Musik seyn; ich habe dagegen
nichts; ich sage nur, daß es keine Musik zur Andromeda
des Euripides ist!"Sie meinen, daß die Worte besser ausgedrückt seyn
sollten?"O die Worte sind zuweilen nur zu sehr ausgedrückt; aber
im Ganzen, meine Herren, im Ganzen ist der Sinn und Ton
des Dichters verfehlt. Der Charakter der Personen, die
Wahrheit der Leidenschaften und Empfindungen, das eigene
Schickliche der Situationen — das, was die Musik seyn kann
und seyn muß, um Sprache der Natur, Sprache der Leidenschaft
zu seyn — was sie seyn muß, damit der Dichter auf ihr
wie in seinem Elemente schwimme, und emporgetragen, nicht
ersäuft werde — das alles ist durchaus verfehlt — kurz, das
Ganze taugt nichts! — Da haben Sie meine Beichte in drei
Worten!"Das Ganze, schrien die beiden Abderiten, das Ganze
taugt nichts! Nun, das ist viel gesagt! Wir möchten wohl
hören, wie Sie das beweisen wollten?"Die Lebhaftigkeit, womit unsre beiden Verfechter ihres
vaterländischen Geschmacks dem graubärtigen Fremden zusetzten,
hatte bereits verschiedne andre Abderiten herbeigezogen;
jedermann wurde aufmerksam auf einen Streit, der die Ehre
ihres Nationaltheaters zu betreffen schien. Alles drängte sich
hinzu; und der Fremde, wiewohl er ein langer stattlicher
Mann war, fand für nöthig sich an einen Pfeiler zurückzuziehen,
um wenigstens den Rücken frei zu behalten.Wie ich das beweisen wollte? erwiederte er ganz gelassen:
ich werde es nicht beweisen! Wenn Sie das Stück gelesen,
die Aufführung gesehen, die Musik gehört haben, und können
noch verlangen, daß ich Ihnen mein Urtheil davon beweisen
soll: so würd' ich Zeit und Athem verlieren, wenn ich mich
weiter mit Ihnen einließe.Der Herr ist, wie ich höre, ein wenig schwer zu befriedigen,
sagte ein Rathsherr, der sich ins Gespräch mischen
wollte, und dem die beiden jungen Abderiten aus Respect
Platz machten. — Wir haben doch hier in Abdera auch Ohren!
Man läßt zwar jedem seine Freiheit; aber gleichwohl —Wie? was? was gibt's da? schrie der kurze dicke Rathsherr,
der auch herbeigewatschelt kam: hat der Herr da etwas
wider das Stück einzuwenden? Das möcht' ich hören! ha ha,
ha! Eins der besten Stücke, mein Treu! die seit langem aufs
Theater gekommen sind! Viel Action! Viel — ä! ä! — Was
ich sage! Ein schön Stück! Und schöne Moral!Meine Herren, sagte der Fremde, ich habe Geschäfte.
Ich kam hierher, um ein wenig auszurasten; ich habe geklatscht
wie's der Landesgebrauch mit sich bringt, und wäre
still und friedlich wieder meines Weges gegangen, wenn mich
diese jungen Herren hier nicht auf die zudringlichste Art genöthigt
hätten ihnen meine Meinung zu sagen."Sie haben auch vollkommenes Recht dazu, erwiederte
der andre Rathsherr, der im Grunde kein großer Verehrer
des Nomophylax war, und aus politischen Ursachen seit einiger
Zeit auf Gelegenheit lauerte ihm mit guter Art weh zu thun.
Sie sind ein Kenner der Musik, wie es scheint, und —"Ich spreche nach meiner Ueberzeugung, sagte der Fremde.Die Abderiten um ihn her wurden immer lauter.Endlich kam Herr Gryllus, der von fern gehört hatte
daß die Rede von seiner Musik war, in eigner Person dazu.
Er hatte eine ganz eigne Art die Augen zusammenzuziehen,
die Nase zu rümpfen, die Achseln zu zucken, zu grinsen und
zu meckern, wenn er jemand, mit dem er sich in einen Wortwechsel
einließ, seine Verachtung zum Voraus zu empfinden
geben wollte. — "So? sagte er, hat meine Composition nicht
das Glück dem Herrn zu gefallen? — Er ist also ein Kenner?
Hä, hä, hä! — versteht ohne Zweifel die Setzkunst? Ha?"Es ist der Nomophylax — sagte jemand dem Fremden
ins Ohr — um ihn durch die Entdeckung des hohen Rangs
des Mannes, von dessen Werke er so ungünstig geurtheilt
hatte, auf einmal zu Boden zu schlagen.Der Fremde machte dem Nomophylax sein Compliment,
wie's in Abdera Sitte war, und schwieg."Nun, ich möchte doch hören, was der Herr gegen die
Composition vorzubringen hätte? Für die Fehler des Orchesters
geb' ich kein gut Wort; aber hundert Drachmen für
einen Fehler in der Composition! Hä, hä, hä! Nun! Lassen
Sie hören!"Ich weiß nicht was Sie Fehler nennen, sagte der Fremde;
meines Bedünkens hat die ganze Musik, wovon die Rede ist,
nur Einen Fehler."Und der ist?" grins'te der Nomophylax naserümpfend —Daß der Sinn und Geist des Dichters durchaus verfehlt
ist, antwortete der Fremde.So? Nichts weiter? Hä, hä, hä, hä! Ich hätte also
den Dichter nicht verstanden? Und das wissen Sie? Denken
Sie daß wir hier nicht auch Griechisch verstehen? Oder haben
Sie dem Poeten etwa im Kopfe gesessen? hi, hi, hi!"Ich weiß was ich sage, versetzte der Fremde; und wenn's
denn seyn muß, so erbiet' ich mich, von Vers zu Vers durchs
ganze Stück mein Urtheil zu Olympia vor dem ganzen Griechenlande
zu beweisen.Das möchte zu viel Umstände machen, sagte der politische
Rathsherr."Es braucht's auch nicht, rief der Nomophylax. Morgen
geht ein Schiff nach Athen; ich schreibe an den Euripides,
an den Dichter selbst! schicke ihm die ganze Musik! Der Herr
wird das Stück doch wohl nicht besser verstehen wollen als
der Dichter selbst? — Sie alle hier unterschreiben sich als
Zeugen. — Euripides soll selbst den Ausspruch thun!"Die Mühe können Sie sich ersparen, sagte der Fremde
lächelnd; denn, um dem Handel mit Einem Wort ein Ende
zu machen, der Euripides, an den Sie appeliren — bin ich
selbst.Unter allen möglichen schlimmen Streichen, welche Euripides
dem Nomophylax von Abdera hätte spielen können,
war unstreitig der schlimmste, daß er — in dem Augenblicke,
da man an ihn als an einen Abwesenden appellirte — in eigner
Person da stand. Aber wer konnte sich auch einen solchen
Streich vermuthen? Was, zum Anubis! hatte er in Abdera
zu thun? Und gerade in dem Augenblicke, wo man lieber
den Lernäischen Drachen gesehen hätte als ihn? Wär' er,
wie man doch natürlicher Weise glauben müßte, zu Athen
gewesen, wo er hin gehörte — nun so wäre alles seinen ordentlichen
Weg gegangen. Der Nomophylax hätte seine Musik
mit einem hübschen Briefe begleitet, und seinem Namen
alle seine Titel und Würden beigefügt. Das hätte doch wirken
müssen! Euripides hätte eine urbane Attische Antwort gegeben;
Gryllus hätte sie in ganz Abdera lesen lassen: und wer
hätte ihm dann den Sieg über den Fremden streitig machen
wollen? — Aber daß der Fremde, der naseweise kritische
Fremde, der ihm so frisch ins Gesicht gesagt hatte, was in
Abdera niemand einem Nomophylax in Gesicht sagen durfte,
Euripides selbst war: das war einer von den Zufällen, auf
die ein Mann wie er sich nicht gefaßt gehalten hatte, und die
vermögend wären, jeden andern als — einen Abderiten zu
Schanden zu machen.Der Nomophylax wußte sich zu helfen; indessen betäubte
ihn doch der erste Schlag auf einen Augenblick. Euripides!
rief er und prallte drei Schritte zurück; und Euripides, riefen
im nämlichen Augenblicke der politische Rathsherr, der kurze
dicke Rathsherr, die beiden jungen Herren und alle Umstehenden,
indem sie ganz erstaunt herumguckten, als ob sie sehen
wollten, aus welcher Wolke Euripides so auf einmal mitten
unter sie herabgefallen sey.Der Mensch ist nie ungeneigter zu glauben, als wenn
er von einer Begebenheit überrascht wird, an die er gar nicht
als eine mögliche Sache gedacht hatte. — Wie? Das sollte
Euripides seyn? Der nämliche Euripides, von dem die Rede
war? der die Andromeda gemacht? an den der Nomophylax
zu schreiben drohte? — Wie konnte das zugehen?Der politische Rathsherr war der erste, der sich aus dem
allgemeinen Erstaunen erholte. — Ein glücklicher Zufall, wahrhaftig,
rief er, beim Kastor! ein glücklicher Zufall, Herr
Nomophylax! So brauchen Sie Ihre Musik nicht abschreiben
zu lassen, und ersparen einen Brief.Der Nomophylax fühlte die ganze Wichtigkeit des Moments:
und wenn der ein großer Mann ist, der in einem
solchen entscheidenden Augenblick auf der Stelle die einzige
Partei ergreift, die ihn aus der Schwierigkeit ziehen kann,
so muß man gestehen, daß Gryllus eine starke Anlage hatte,
ein großer Mann zu seyn. — Euripides! rief er — Wie?
Der Herr sollte so auf einmal Euripides geworden seyn? Hä,
hä, hä! Der Einfall ist gut! Aber wir lassen uns hier in
Abdera nicht so leicht Schwarz für Weiß geben. —Das wäre lustig, sagte der Fremde, wenn ich mir in
Abdera das Recht an meinem Namen streitig machen lassen
müßte."Verzeihen Sie, mein Herr, fiel der Sykophant des
Thrasyllus ein, nicht das Recht an Ihren Namen, sondern
das Recht, sich für den Euripides auszugeben, auf den der
Nomophylax provocirte. Sie können Euripides heißen; ob
Sie aber Euripides sind, das ist eine andre Frage."Meine Herren, sagte der Fremde, ich will alles seyn was
Ihnen beliebt, wenn Sie mich nur gehen lassen wollen. Ich
verspreche Ihnen, mit diesem Schritte gehe ich den geradesten
Weg, den ich finden werde, zu Ihrem Thore hinaus,
und der Nomophylax soll mich — componiren, wenn ich in
meinem Leben wieder komme!Nä, nä, nä, rief der Nomophylax, das geht so hurtig
nicht! Der Herr hat sich für den Euripides ausgegeben, und
nun da er sieht daß es Ernst gilt, tritt er auf die Hinterbeine —
Nä! so haben wir nicht gewettet! Er soll nun beweisen
daß er Euripides ist, oder — so wahr ich Gryllus
heiße —"Erhitzen Sie sich nicht, Herr College, sagte der politische
Rathsherr. Ich bin zwar kein Physiognomist: aber der Fremde
sieht mir doch völlig darnach aus daß er Euripides seyn
könnte; und ich wollte maßgeblich rathen, piano zu gehen."Mich wundert, fing einer von den Umstehenden an,
daß man hier so viel Worte verlieren mag, da der ganze
Handel in Ja und Nein entschieden seyn könnte. Da, oben
über dem Portal, steht ja die Büste des Euripides leibhaftig.
Es braucht ja nichts weiter, als zu sehen, ob der
Fremde der Büste gleich sieht."Bravo, bravo! schrie der kleine dicke Rathsherr; das
ist doch ein Wort von einem gescheidten Manne! Ha, ha, ha!
Die Büste! das ist gar keine Frage, die Büste muß den
Ausspruch thun — wiewohl sie nicht reden kann, ha, ha,
ha, ha, ha!"Die umstehenden Abderiten lachten alle aus vollem Halse
über den witzigen Einfall des kurzen runden Männchens, und
nun lief alles was Füße hatte dem Portale zu. Der Fremde
ergab sich mit guter Art in sein Schicksal, ließ sich von vorn
und hinten betrachten, und Stück für Stück mit seiner Büste
vergleichen so lange sie wollten. Aber leider! die Vergleichung
konnte unmöglich zu seinem Vortheil ausfallen; denn besagte
Büste sah jedem andern Menschen oder Thier ähnlicher
als ihm."Nun, schrie der Nomophylax triumphirend — was kann
der Herr nun zu seinem Vorstand sagen?"Ich kann etwas sagen (versetzte der Fremde, den die Komödie
nachgerade zu belustigen anfing), woran von Ihnen
allen keiner zu denken scheint: wiewohl es eben so wahr ist,
als daß Sie — Abderiten und ich Euripides bin."Sagen, sagen! grins'te der Nomophylax; man kann
freilich viel sagen wenn der Tag lang ist, hä, hä, hä! —
Und was kann der Herr sagen?"Ich sage, daß diese Büste dem Euripides ganz und gar
nicht ähnlich sieht."Nein, mein Herr, rief der dicke Rathsherr, das müssen
Sie nicht sagen! Die Büste ist eine schöne Büste; sie ist
von weißem Marmor wie Sie sehen, Marmor von Paros,
straf' mich Jupiter! und kostet uns hundert baare Dariken
Species, das können Sie mir nachsagen! — Es ist ein
schönes Stück von unserm Stadtbildhauer — Ein geschickter
berühmter Mann! — nennt sich Moschion — werden von
ihm gehört haben? — ein berühmter Mann! — Und, wie
gesagt; alle Fremden, die noch zu uns gekommen sind, haben
die Büste bewundert! Sie ist ächt, das können Sie mir
nachsagen! Sie sehen ja selbst, es steht mit großen goldnen
Buchstaben darunter ΕΥΙΠΙΔΗΣ."Meine Herren, sagte der Fremde, der alle seine angeborne
Ernsthaftigkeit zusammennehmen mußte um nicht auszubersten:
darf ich nur eine einzige Frage thun?"Von Herzen gern," riefen die Abderiten.Gesetzt, fuhr jener fort, es entstände zwischen mir und
meiner Büste ein Streit darüber, wer mir am ähnlichsten
sehe — wem wollen Sie glauben, der Büste oder mir?"Das ist eine curiose Frage," sagte der Abderiten einer
sich hinter den Ohren kratzend. — "Eine captiose Frage,
beim Jupiter! rief ein andrer: nehmen Sie sich in Acht,
was Sie antworten, hochgeachtet Herr Rathsherr!"Ist der dicke Herr ein Rathsherr dieser berühmten Republik? —
fragte der Fremde mit einer Verbeugung —so bitte
ich sehr um Verzeihung! Ich gestehe, die Büste ist ein schönes
glattes Werk, von schönem Parischem Marmor; und wenn sie
mir nicht ähnlich sieht, so kommt es wohl bloß daher, weil Ihr
berühmter Stadtbildhauer die Büste schöner gemacht hat als
die Natur —mich. Es ist immer ein Beweis seines guten
Willens, und der verdient alle meine Dankbarkeit.Dieses Compliment that eine große Wirkung; denn die
Abderiten hatten's gar zu gern, wenn man fein höflich mit
ihnen sprach. — Es muß doch wohl Euripides selber seyn,
murmelte einer dem andern ins Ohr; und der dicke Rathsherr
selbst bemerkte, bei nochmaliger Vergleichung der Büste mit
dem Fremden, daß die Bärte einander vollkommen ähnlich
waren.Zu gutem Glücke kam der Archon Onolaus und sein
Neffe Onobulus dazu, der den Euripides zu Athen hundertmal
gesehen und öfters gesprochen hatte. Die Freude des jungen
Onobulus über eine so unverhoffte Zusammenkunft, und seine
positive Bejahung, daß der Fremde wirklich der berühmte Euripides
sey, hieb den Knoten auf einmal durch; die Abderiten
versicherten nun einer den andern: sie hätten's ihm gleich beim
ersten Blick angesehen.Der Nomophylax, wie er sah, daß Euripides gegen seine
Büste Recht behielt, machte sich seitwärts davon. —Ein verdammter
Streich! brummte er zwischen den Zähnen vor sich
her: wozu brauchte er aber auch so hinterm Berge zu halten?
Wenn er wußte daß er Euripides war, warum ließ er sich
mir nicht präsentiren? Da hätte alles einen ganz andern
Schwung genommen!Der Archon Onolaus, der in solchen Fällen gemeiniglich
die Honneurs der Stadt Abdera zu machen pflegte, lud den
Dichter mit großer Höflichkeit ein das Gastrecht bei ihm zu
nehmen, und bat sich zugleich von dem politischen und dicken
Rathsherrn die Ehre auf den Abend aus, welches beide mit
vielem Vergnügen annahmen."Dacht' ich's nicht gleich? (sagte der dicke Rathsherr zu
einem der Umstehenden) Der leibhafte Euripides! Bart,
Nase, Stirn, Ohrenläppchen, Augenbrauen, alles auf ein
Haar! Man kann nichts Gleichers sehen! Wo doch wohl der
Nomophylax seine Sinne hatte? Aber, — ja, ja, er mochte
wohl ein bischen zu tief — Hm! Sie verstehen mich? —
Cantores amant humores — Ha, ha, ha, ha!" — Basta!
Desto besser, daß wir den Euripides bei uns haben! Was
ich sage, ein feiner Mann, beim Jupiter! und der uns viel
Spaß machen soll! Ha, ha, ha!"—————
Siebentes Kapitel.Was den Euripides nach Abdera geführt hatte, nebst einigen Geheimnachrichten
von dem Hofe zu Pella.So möglich es an sich selbst war, daß sich Euripides zu
Abdera befinden konnte, und eben so gut in dem Augenblicke,
wo der Nomophylax Gryllus auf ihn provocirte als in jedem
andern — und so gewohnt man dergleichen unvermutheter
Erscheinungen auf dem Theater ist:: so begreifen wir doch wohl,
daß es eine andre Bewandtniß hat, wenn sich eine solche Erscheinung
im Parterre ereignet; und es ist solchenfalls der
Majestät der Geschichte gemäß, den Leser zu verständigen, wie
es damit zugegangen sey. Wir wollen alles was wir davon
wissen getreulich berichten: und sollte dem scharfsinnigen Leser
demungeachtet noch einiger Zweifel übrig bleiben, so müßte es
nur die allgemeine Frage betreffen, die sich bei jeder Begebenheit
unter und über dem Monde aufwerfen läßt;
nämlich, warum zum Beispiel just von einer Mücke, und
just von dieser individuellen Mücke, just in dieser Secunde
—dieser zehnten Minute —dieser sechsten Nachmittagsstunde,
dieses zehnten Augusts — dieses 1778sten Jahres gemeiner
Zeitrechnung, just diese nämliche Frau oder Fräulein von ***
nicht ins Gesicht, nicht in den Nacken, Ellnbogen, Busen, nicht
auf die Hand, noch in die Ferse u. s. w., sondern gerade vier
Daumen hoch über der linken Kniescheibe gestochen worden
u. s. w. —und da bekennen wir ohne Scheu, daß wir auf dieses
Warum nichts zu antworten wissen. — Fragt die Götter!
könnten wir allenfalls mit einem großen Manne sagen: aber
weil dieses offenbar eine heroische Antwort wäre, so halten
wir's für anständiger, die Sache lediglich auf sich beruhen
zu lassen.Also — was wir wissen. Der König Archelaus in Macedonien,
ein großer Liebhaber der schönen Künste und der schönen
Geister (wie man damals gewisse verzärtelte Kinder der Natur
nicht nannte, und wie man heutiges Tages einen jeden nennt,
von dem man nicht sagen kann was er ist)— dieser König
Archelaus war auf den Einfall gekommen ein eignes Hofschauspiel
zu haben; und vermöge einer Zusammenkettung von Umständen,
Ursachen, Mitteln und Zwecken, woran niemanden
mehr viel gelegen seyn kann, hatte er den Euripides unter
sehr vortheilhaften Bedingungen vermocht, mit einer Gesellschaft
ausgesuchter Schauspieler, Virtuosen, Baumeister, Maler
und Maschinisten, kurz mit allem, was zu einem vollständigen
Theaterwesen gehört, nach Pella an sein Hoflager zu kommen,
und die Aufsicht über die neue Hofschaubühne zu übernehmen.Auf dieser Reise war jetzt Euripides mit seiner ganzen
Gesellschaft begriffen; und wiewohl der Weg über Abdera weder
der einzige noch der kürzeste war, so hatte er ihn doch
genommen, weil er Lust hatte, eine wegen des Witzes ihrer Einwohner
so berühmte Republik mit eignen Augen zu sehen. Wie
es aber gekommen, daß er just an dem nämlichen Tage eingetroffen,
da der Nomophylax seine Andromeda zum erstenmale
gab, davon können wir, wie gesagt, keine Rechenschaft geben.
Dergleichen Apropos tragen sich häufiger zu als man denkt:
und es ist wenigstens kein größeres Mirakel, als daß, zum
Beispiel, der junge Herr von **eben im Begriff war seine
Beinkleider hinauszuziehen, als unvermuthet seine Nätherin ins
Zimmer trat, die seidnen Strümpfe, die er ihr zu stopfen geschickt
hatte, zu überbringen — welches, wie Sie wissen, die
Veranlassung zu einer zufälligen Begebenheit war, die in seiner
hohen Familie wenigstens eben so große Bewegungen verursachte,
als die unvorbereitete Erscheinung des Euripides in
dem Abderitischen Parterre. Wer sich über so was wundern
kann, muß sich nicht viel auf die ΔΑΙΜΟΝΙΑ verstehen, wie
eben dieser Euripides sagt.Uebrigens, wenn wir sagten, daß der König Archelaus ein
großer Liebhaber der schönen Künste und schönen Geister gewesen
sey, so muß das eben nicht so genau und im strengsten
Sinne der Worte genommen werden: denn es ist eigentlich
nur so eine Art zu reden, und dieser Herr war im Grunde
nichts weniger als ein Liebhaber der schönen Künste und schönen
Geister. Das Wahre davon war: daß besagter König Archelaus
seit einiger Zeit öfters lange Weile hatte — weil ihn
alle seine vormaligen Belustigungen, als da sind —F**, G**,
H**, J**, K**, L**, M** u. s. w., nicht länger belustigen
wollten. Ueberdem war er ein Herr von großer Ambition,
der sich von seinem Oberkammerherrn hatte sagen lassen, daß
es schlechterdings unter die Zuständigkeiten eines großen Fürsten
gehöre, Künste und Wissenschaften in seinen Schutz zu
nehmen. Denn, sagte der Oberkammerherr, Ihre Majestät
werden bemerkt haben, daß man niemals eine Statue, oder
ein Brustbild eines großen Herrn auf einer Medaille u. s. w.
sieht, an dessen rechter Hand nicht eine Minerva stände, neben
einem Trophäe von Panzern, Fahnen, Spießen und Morgensternen —
zur Linken knien immer etliche geflügelte Jungen
oder halbnackte Mädchen, mit Pinsel und Palet, Winkelmaß,
Flöte, Leyer und einer Rolle Papier in den Händen, die Künste
vorstellend, die sich dem großen Herrn gleichsam zur Protection
empfehlen; oben darüber aber schwebt eine Fama mit der Trompete
am Mund, anzudeuten, daß Könige und Fürsten sich durch
den Schutz, den sie den Künsten angedeihen lassen, einen
unsterblichen Ruhm erwerben u. s. w.Der König Archelaus hatte also die Künste in seinen Schutz
genommen: und demzufolge wissen uns die Geschichtschreiber
ein Langes und Breites davon zu erzählen, wie viel er gebaut
habe, und wie viel er auf Malerei und Bildhauerei, auf schöne
Tapeten und andere schöne Möbeln verwandt; und wie alles
bis auf die Commodität, bei ihm habe Hetrurisch seyn müssen;
und wie er berühmte Künstler, Virtuosen und schöne Geister
an seinen Hof berufen habe u. s. w., welches alles (sagen sie)
er um so mehr that, weil ihm daran gelegen war, das Andenken
der Uebelthaten auszulöschen, durch die er sich den Weg
zum Throne, zu dem er nicht geboren war, gebahnt hatte —
wie Euer Edeln aus Ihrem Bayle mit Mehrerm ersehen
können.Nach dieser kleinen Abschweifung kehren wir zu unserm
Attischen Dichter zurück, den wir unter einem schimmernden
Cirkel von Abderiten und Abderitinnen vom ersten Range,
unter einem grünen Pavillon im Garten des Archon Onolaus
antreffen werden.—————
Achtes Kapitel.Wie sich Euripides mit den Abderiten benimmt. Sie machen einen
Anschlag auf ihn, wobei sich ihre politische Betriebsamkeit in einem
starken Lichte zeigt, und der ihnen um so gewisser gelingen muß, weil
alle Schwierigkeiten, die sie dabei sehen, bloß eingebildet sind.Es ist oben schon bemerkt worden, daß Euripides schon
lange, wiewohl unbekannter Weise, bei den Abderiten in großem
Ansehen stand. Jetzt, sobald es erschollen war, daß er
in Person zugegen sey, war die ganze Stadt in Bewegung.
Man sprach von nichts als von Euripides. — "Haben Sie
den Euripides schon gesehen? — Wie sieht er aus? — Hat
er eine große Nase? Wie trägt er den Kopf? Was hat
er für Augen? Er spricht wohl in lauter Versen? Ist er
stolz?" — und hundert solche Fragen machte man einander
schneller als es möglich war auf Eine zu antworten. Die
Neugier, den Euripides zu sehen, zog noch außer denen, die
der Archon hatte bitten lassen, verschiedene herbei die nicht
geladen waren. Alles drängte sich um den guten glatzköpfigen
Dichter her, um zu beaugenscheinigen ob er auch so aussehe,
wie sie sich vorgestellt hatten daß er aussehen müsse. Verschiedne,
insonderheit unter den Damen, schienen sich zu wundern,
daß er am Ende doch gerade so aussah wie ein andrer
Mensch. Andre bemerkten, daß er viel Feuer in den Augen
habe; und die schöne Thryallis raunte ihrer Nachbarin ins
Ohr, man seh' es ihm stark an daß er ein ausgemachter
Weiberfeind sey. Sie machte diese Bemerkung mit einem
Ausdruck von anticipirtem Vergnügen über den Triumph, den
sie sich davon versprach, wenn ein so erklärter Feind ihres Geschlechts
die Macht ihrer Reizungen würde bekennen müssen.Die Dummheit hat ihr Sublimes so gut als der Verstand,
und wer darin bis zum Absurden gehen kann, hat das Erhabne
in dieser Art erreicht, welches für gescheidte Leute immer
eine Quelle von Vergnügen ist. Die Abderiten hatten
das Glück im Besitz dieser Vollkommenheit zu seyn. Ihre
Ungereimtheit machte einen Fremden anfangs wohl zuweilen
ungeduldig; aber sobald man sah, daß sie so ganz aus Einem
Stücke war, und (eben darum) so viel Zuversicht und Gutmüthigkeit
in sich hatte: so versöhnte man sich gleich wieder
mit ihnen, und belustigte sich oft besser an ihrer Albernheit
als an andrer Leute Witz.Euripides war in seinem Leben nie bei so guter Laune
gewesen, als bei diesem Abderitenschmause. Er antwortete
mit der größten Gefälligkeit auf alle ihre Fragen, lachte über
alle ihre platten Einfälle, ließ jeden so hoch gelten als er sich
selbst würdigte, und erklärte sich sogar über ihr Theater und
Musikwesen so billig, daß jedermann vollkommen mit ihm
zufrieden war. — "Ein feiner Gast! raunte der politische
Rathsherr der Dame Salabanda, die über ihm saß, ins Ohr;
der tritt leise auf!" — "Und so höflich, so bescheiden, als ob
er kein großer Kopf wäre!" erwiederte Salabanda. — "Der
drolligste Mann von der Welt, beim Jupiter!" sagte der kurze
dicke Rathsherr, beim Aufstehen von Tische; "ein recht kurzwelliger
Mann! Hätt's ihm nicht zugetraut, mein Seel!" —
Die Damen, die er schön gefunden hatte, waren dafür so
höflich, und thaten, als ob sie ihn um zwanzig Jahre jünger
fänden als er war, kurz, man war ganz von ihm bezaubert,
und bedauerte nur, daß man die Ehre und das Vergnügen
ihn in Abdera zu sehen, nicht länger haben sollte. Denn Euripides
blieb dabei, daß er sich nicht aufhalten könne.Endlich nahm Frau Salabanda den politischen Rathsherrn
und den jungen Onobulus auf die Seite. "Was meinen Sie,
sagte sie, wenn wir ihn dahin bringen könnten, daß er uns
seine Andromeda gäbe? Er hat seine eigne Truppe bei sich.
Es sollen ganz außerordentliche Virtuosen seyn." — Onobulus
fand den Einfall göttlich. — Ich hatte ihn eben selbst gehabt,
sagte der politische Rathsherr, und war im Begriff es
Ihnen vorzutragen. Aber es wird Schwierigkeiten absetzen.
Der Nomophylax — "O, dafür lassen Sie mich sorgen, fiel
Salabanda ein; ich will ihm schon warm machen!"Für meinen Oheim steh' ich, sagte Onobulus; und noch
in dieser Nacht will ich unter unsern jungen Leuten eine Partei
zusammentrommeln, die Lärms genug in der Stadt machen
soll."Nur nicht zu hitzig, munkelte der politische Rathsherr
mit dem Kopfe wackelnd; wir wollen uns nichts merken lassen!
Erst das Terrain sondirt, und fein leise aufgetreten!
Das ist was ich immer sage.""Aber, wir haben keine Zeit zu verlieren, Herr Froschpfleger!
Euripides geht fort —"Wir wollen ihn schon aufhalten, erwiederte Salabanda;
er soll morgen bei mir seyn! — Eine Gartenpartie, und
alle unsre hübschen Leute dazu eingeladen — kassen Sie nur
mich machen; es soll gewiß gehen.Frau Salabanda passirte in Abdera für eine gar weise
Frau. Sie war stark in Politicis und hatte großen Einfluß
auf den Archon Onolaus. Der Oberpriester war ihr Oheim,
und fünf oder sechs Rathsherren, die sie in ihrer Freundschaft
zählte, gaben selten eine andre Meinung im Rathe von sich,
als die sie ihnen des Abends zuvor eingetrichtert hatte. Ueberdieß
standen ihr die Liebhaber der schönen Thryallis, mit der
sie im engsten Vertrauen lebte, gänzlich zu Gebote: nichts
von ihren eignen zu sagen, deren sie immer einige hatte die
auf Hoffnung dienten, und also so geschmeidig waren wie
Handschuhe. Ihr Haus, das unter die besten in der Stadt
gehörte, war der Ort, wo alle Geschäfte vorbereitet, alle
Händel geschlichtet, und alle Wahlen ins Reine gebracht
wurden: mit Einem Worte, Frau Salabanda machte in Abdera
was sie wollte.Euripides, ohne die mindeste Absicht, Gebrauch von der
Wichtigkeit dieser Frau zu machen, hatte sich diesen Abend so
gut bei ihr insinuirt, als ob er zum wenigsten eine Froschpflegerstelle
auf dem Korn gehabt hätte. Brachte sie ein politisches
Weidsprüchlein als einen Gedanken vor, so fand er,
daß es eine sehr scharfsinnige Bemerkung sey, citirte sie den
Simonides oder Homer, so bewunderte er ihr Talent Verse
zu declamiren. Sie hatte .ihn mit einigen Stellen seiner Werke
aufgezogen, die ihn zu Athen in den bösen Ruf eines Weiberfeindes
gesetzt; und er hatte, indem er sich gegen sie und die
schöne Thryallis verbeugte, versichert, daß es sein Unglück sey
nicht eher nach Abdera gekommen zu seyn. Kurz, er hatte
sich so aufgeführt, daß Frau Salabanda bereit war einen Aufstand
zu erregen, falls ihr mit dem politischen Rathsherrn
eingefädeltes Project durch kein gelinderes Mittel hätte durchgesetzt
werden können.Man säumte nicht, sich vor allen Dingen des Archons zu
versichern, der gewöhnlich bald gewonnen war, wenn man ihm
sagte, daß eine Sache der Republik Abdera zu großem Ruhm
gereichen und dem Volke sehr angenehm seyn werde. Aber,
weil er ein Herr war der seine Ruhe liebte, so erklärte er sich:
er überlasse es ihnen, alles in die gehörigen Wege einzuleiten;
er seines Orts möchte sich mit niemand deßwegen überwerfen,
am wenigsten mit dem Nomophylax, der ein Grobian sey und
unter dem Volk einen starken Anhang habe. — "Wegen des
Volkes machen sich Eure Herrlichkeit keine Sorge, flüsterte
ihm der Rathsherr zu; das will ich durch die dritte Hand
schon stimmen lassen wie wir's nur wünschen können." —
Und ich, sagte Salabanda, nehme die Rathsherren auf mich.
— Wir wollen sehen, sprach der Archon, indem er zur Gesellschaft
zurückkehrte.Sey'n Sie ruhig, sprach die Dame zum politischen
Rathsherrn, indem sie ihn auf die Seite nahm: ich kenne
den Archon. Wenn man ihn haben will, so muß man ihm
nur des Abends von einer Sache sprechen, und wenn er Nein
gesagt hat, des Morgens wieder kommen und, ohne den Mund
zu verkrümmen, so reden als ob er Ja gesagt habe, und ihm
dabei zeigen daß man des Erfolgs gewiß ist, so kann man
sich auf ihn verlassen wie auf Gold. Es ist nicht das erstemal,
daß ich ihn auf diese Art dran gekriegt habe."Sie sind eine schlaue Frau, versetzte der Herr Froschpfleger,
indem er sie sachte auf den runden Arm klopfte. —
Was Sie leise auftreten! — Aber man wird merken daß
wir etwas vorhaben — und das könnte nachtheilig seyn. —
Wir müssen piano gehn!"In diesem Augenblick trippelten ein paar Abderitinnen
herbei, denen bald alle übrigen von der Gesellschaft folgten,
um zu hören wovon die Rede sey. Der politische Rathsherr
schlich sich weg."Nun, wie gefällt euch Euripides? sagte Frau Salabanda:
nicht wahr, das ist ein Mann?"O ein scharmanter Mann! riefen die Abderitinnen.Nur Schade daß er so kahl ist — setzte eine hinzu;
und daß ihm ein paar Zähne fehlen, sagte die andre.Närrchen, desto weniger kann er dich beißen, sagte die
dritte: und weil dieß ein witziger Einfall war, so lachten
sie alle herzlich darüber.Ist er schon verheirathet? fragte ein junges Ding, das
so aussah, als ob es, wie ein Pilz, in einer einzigen Nacht
aus dem Boden aufgeschossen wäre.Möchtest du ihn etwa haben? antwortete ein andres
Fräulein spöttisch; ich denke, er hat schon Urenkel zu verheirathen.O die will ich dir überlassen, sagte jene schnippisch; und
der Stich war desto wespenartiger, weil das besagte Fräulein,
wiewohl sie so jung that als ein Mädchen von achtzehn, wenigstens
ihre vollen fünfunddreißig auf dem Nacken trug."Kinder, unterbrach sie Frau Salabanda, von dem allen
ist jetzt die Rede nicht. Es ist was ganz andres auf dem
Tapete. Wie gefiel' es euch, wenn ich den fremden Herrn
beredete etliche Tage hier zu bleiben, und uns mit der Truppe,
die er bei sich hat, eine seiner Komödien zu geben?"O das ist herrlich! riefen die Abderitinnen alle vor
Freuden aufhüpfend; o ja, wenn Sie das machen könnten!"Das will ich schon machen können, versetzte Salabanda;
aber ihr müßt alle dazu helfen!O ja, o ja! schnatterten die Abderitinnen; und nun
liefen sie in hellem Haufen auf den Euripides zu, und
schrien alle auf einmal: o ja, Herr Euripides, Sie müssen
uns eine Komödie spielen! Wir lassen Sie nicht gehen, bis
Sie uns eine Komödie gespielt haben. Nicht wahr? Sie
versprechen's uns?Der arme Mann, dem die Zumuthung auf den Hals
kam wie ein Kübel Wassers auf den Kopf, trat ein paar
Schritte zurück, und versicherte sie, es sey ihm nie in den
Sinn gekommen in Abdera Komödie zu spielen, er müsse
seine Reise beschleunigen, u. s. w. Aber das half alles nichts
— O Sie müssen, schrien die Abderitinnen; wir lassen Ihnen
keine Ruhe; Sie sind viel zu artig, als daß Sie uns was
abschlagen sollten. Wir wollen Sie so schön bitten —"Im Ernst," sagte Frau Salabanda, "wir haben einen
Anschlag auf Sie gemacht" — Und der nicht zu Wasser
werden soll, fiel Onobulus ein, oder ich will nicht Onobulus
heißen.Was gibt's? was gibt's? fragte der politische Rathsherr,
der den Unwissenden machte, indem er langsam und mit unstetem
Blick hinzuschlich; was haben Sie mit dem Herrn
vor? — Der kurze dicke Rathsherr kam auch herbei gewatschelt.
"Ich glaube gar, straf' mich! Sie wollen alle auf
einmal sein Herz mit Arrest beschlagen, ha, ha, ha!" —
schrie er und lachte, daß er sich die Seiten halten mußte.
Man verständigte ihm, wovon die Rede sey. — "Ha, ha,
ha, ha! ein schöner Gedanke! straf' mich Jupiter! da komm'
ich gewiß auch, das versprech' ich Ihnen! Der Meister selbst!
das muß der Mühe werth seyn! wird recht viel Ehre für
Abdera seyn, Herr Euripides, große Ehre! haben uns glücklich
zu schätzen, daß unsre Leute von so einem geschickten
Mann profitiren sollen!" — Noch ein paar Herren von Bedeutung
machten ihm ungefähr das nämliche Compliment.Euripides, wiewohl er den Einfall nicht so übel fand
sich diese Lust mit den Abderiten zu machen, spielte noch
immer den Erstaunten, und entschuldigte sich damit, daß
er dem König Archelaus versprochen habe seine Reise zu
beschleunigen."Ei, was! sagte Onobulus, Sie sind ein Republicaner,
und eine Republik hat ein näheres Recht an Sie.""Sagen Sie dem Könige nur, schnarrte die schöne Myris,
daß wir Sie so gar schön gebeten haben. Er soll ein galanter
Herr seyn. Er wird Ihnen nicht übel nehmen, daß Sie
sechs Frauenzimmern auf einmal nichts abschlagen konnten."O du, Tyrann der Götter und der Menschen, Amor!
rief Euripides im Ton der Tragödie, indem er zugleich die
schöne Thryallis ansah."Wenn das Ihr Ernst ist, sagte Thryallis, mit der
Miene einer Person, die nicht gewohnt ist weder abzuweisen
noch abgewiesen zu werden; wenn das Ihr Ernst ist, so beweisen
Sie es dadurch daß Sie sich von mir erbitten lassen."Dieß "von mir" verdroß die andern Abderitinnen. Wir
wollen nicht unbescheiden seyn, sagte eine, indem sie die
Lippen einzog, und auf die Seite sah. — Man muß dem
Herrn nichts zumuthen was ihm unmöglich ist, sagte eine
andre.Um Ihnen Vergnügen zu machen, meine schönen Damen,
sprach der Dichter, könnte mir das Unmögliche möglich
werden.Weil dieß Unsinn war, so gefiel es allgemein. Onobulus
war hurtig mit seiner Schreibtafel heraus, um sich den
Gedanken aufzunotiren. Die Weiber und Mädchen warfen
einen Blick auf Thryallis, als ob sie sagen wollten: ätsch! er
hat uns auch schön geheißen! Madame braucht sich eben nicht
so viel auf ihre Atalantenfigur einzubilden; er bleibt so gut
um unsertwillen hier als um ihrentwillen.Salabanda machte endlich dem Handel ein Ende, indem
sie sich bloß die Gefälligkeit ausbat, daß er ihr und ihren
Freunden, die alle seine großen Verehrer seyen, nur noch
den morgenden Tag schenken möchte. Weil Euripides im
Grunde nicht zu eilen hatte und sich in Abdera sehr gut
amusirte, so ließ er sich nicht lange bitten, eine Einladung
anzunehmen, die ihm hübsche Beiträge zu — Possenspielen
für den Hof zu Pella versprach. Und so ging denn die Gesellschaft,
auf die Ehre sich morgen bei Frau Salabanda wieder
zu sehen, gegen Mitternacht in allerseitigem Vergnügen
auseinander.—————
Neuntes Kapitel.Euripides besieht die Stadt, wird mit dem Priester Strobylus bekannt,
und vernimmt von ihm die Geschichte der Latonenfrösche. Merkwürdiges
Gespräch, welches bei dieser Gelegenheit zwischen Demokrit, dem Priester
und dem Dichter vorfällt.Inzwischen führte Onobulus, in Begleitung etlicher
junger Herren seines Schlages, seinen Gast in der Stadt
herum, um ihm alles was darin sehenswürdig wäre zu zeigen.
Unterwegs begegnete ihnen Demokrit, mit welchem
Euripides schon von langem her bekannt war. Sie gingen
also mit einander; und da die Stadt Abdera ziemlich
weitläufig war, so hatten die beiden Alten Gelegenheit genug,
von den jungen Herren zu profitiren, die immer den Mund
offen hatten, über alles entschieden, alles wußten, und sich
gar nicht zu Sinne kommen ließen, daß es ihresgleichen in
Gegenwart von Männern anständiger sey zu hören als sich
hören zu lassen.Euripides hatte also diesen Morgen genug zu hören und
zu sehen. Die jungen Abderiten, die nie weiter als bis an
die äußersten Schlagbäume ihrer Vaterstadt gekommen waren,
sprachen von allem, was sie ihm zeigten, als von Wundern
die gar nicht ihresgleichen in der Welt hätten. Onobulus
hingegen, der die große Reise gemacht hatte, verglich alles
mit dem, was er in eben dieser Art zu Athen, Korinth
und Syrakus gesehen, und brachte in einem albernen Tone
von Entschuldigung eine Menge lächerlicher Ursachen hervor,
warum diese Dinge in Athen, Korinth und Syrakus schöner
und prächtiger wären als in Abdera.Junger Herr, sagte Demokrit, es ist hübsch daß Sie
Ihre Vater- und Mutterstadt in Ehren halten; aber wenn
Sie uns einen Beweis davon geben wollen, so lassen Sie
Athen, Korinth und Syrakus aus dem Spiele. Nehmen
wir jedes Ding wie es ist, und keine Vergleichung, so braucht's
auch keine Entschuldigung.Euripides fand alles, was man ihm zeigte, sehr merkwürdig;
und das war es auch. Denn man zeigte ihm eine
Bibliothek, worin viele unnütze und ungelesene Bücher, ein
Münzcabinet, worin viel abgegriffene Münzen, ein reiches
Spital, worin viel übelverpflegte Arme, ein Arsenal, worin
wenig Waffen, und einen Brunnen, worin noch weniger
Wasser war. Man zeigte ihm auch das Rathhaus, wo die
gute Stadt Abdera so wohl berathen wurde, den Tempel
des Jasons, und ein vergoldetes Widderfell, welches sie,
wiewohl wenig Gold mehr daran zu sehen war, für das
berühmte goldne Vließ ausgaben. Sie nahmen auch den
alten rauchigen Tempel der Latona in Augenschein, und
das Grabmal des Abderus, der die Stadt zuerst erbauet
haben sollte, und die Galerie, wo alle Archonten von Abdera
in Lebensgröße gemalt standen, und einander alle so ähnlich
sahen, als ob der folgende immer die Copie von dem vorübergehenden
gewesen wäre. Endlich, da sie alles gesehen
hatten, führte man sie auch an den geheiligten Teich, worin
auf Unkosten gemeiner Stadt die größten und fettesten Frösche
gefüttert wurden die man je gesetzen hat, und die, wie der
Oberpriester Strobylus sehr ernsthaft versicherte, in gerader
Linie von den Lyrischen Bauern abstammten, die der umherirrenden,
nirgends Ruhe findenden und vor Durst verschmachtenden
Latona nicht gestatten wollten aus einem
Teiche, der ihnen zugehörte, zu trinken, und dafür von
Jupiter zur Strafe ihrer Ungeschlachtheit in Frösche verwandelt
wurden.O Herr Oberpriester, sagte Demokrit, erzählen Sie doch
dem fremden Herrn die Geschichte dieser Frösche, und wie
es zugegangen, daß der geheiligte Teich aus Lucien über das
Ionische Meer herüber bis nach Abdera versetzt worden ist,
welches, wie Sie wissen, eine ziemliche Strecke Wegs über
Länder und Meere ausmacht, und (wenn man so sagen darf)
beinahe ein noch größeres Wunder ist, als die Froschwerdung
der Lycischen Bauern selbst.Strobylus sah Demokriten und dem Fremden mit einem
bedenklichen Blick unter die Augen. Weil er aber nichts
darin sehen konnte, das ihn berechtigt hätte sie für Spötter
zu erklären, welche nicht verdienten zu so ehrwürdigen Mysterien
zugelassen zu werden: so bat er sie, sich unter einen
großen wilden Feigenbaum zu setzen, der eine Seite des
kleinen Latonentempels beschattete, und erzählte ihnen hierauf
mit eben der Treuherzigkeit, womit man die alltäglichste
Begebenheit erzählen kann, alles was er von der Sache zu
wissen glaubte."Die Geschichte des Latonendienstes in Abdera, sagte
er, verliert sich im Nebel des grauesten Alterthums. Unsre
Vorfahren, die Tejer, die sich vor ungefähr hundertundvierzig
Jahren von Abdera Meister machten, fanden ihn bereits seit
undenklichen Zeiten eingeführt; und dieser Tempel hier ist
vielleicht einer der ältesten in der Welt, wie Sie schon aus
seiner Bauart und andern Zeichen eines hohen Alterthums
schließen können. Es ist, wie Sie wissen, nicht erlaubt, mit
strafbarem Vorwitz den heiligen Schleier aufzuheben, den die
Zeit um den Ursprung der Götter und ihres Dienstes geworfen
hat. Alles verliert sich in Zeiten, wo die Kunst zu schreiben
noch nicht erfunden war. Allein die mündliche Ueberlieferung,
die von Vater zu Sohn durch so viele Jahrhunderte fortgepflanzt
wurde, ersetzt den Abgang schriftlicher Urkunden mehr
als hinlänglich, und macht, so zu sagen, eine lebendige Urkunde
aus, die dem todten Buchstaben billig noch vorzuziehen
ist. Diese Tradition sagt: als die vorerwähnte Verwandlung
der Lycischen Bauern vorgegangen, hätten die benachbarten
Einwohner und einige von den besagten Bauern selbst, welche
an dem Frevel der übrigen keinen Theil genommen, als Zeugen
des vorgegangenen Wunders, Latonen mit ihren noch an
der Brust liegenden Zwillingen, Apollo und Diana, für Gottheiten
erkannt, ihnen an dem Teiche, wo die Verwandlung
geschehen, einen Altar errichtet, auch die Gegend und das
Gebüsche, das den Teich umgab, zu einem Hain geheiligt.
Das Land hieß damals noch Milia, und die in Frösche verwandelten
Bauern waren also, eigentlich zu reden, Milier;
als aber lange Zeit hernach Lycus, Pandions des Zweiten
Sohn, sich mit einer Attischen Colonie des Landes bemächtigte,
bekam es von ihm den Namen Lycia, und der ältere
Name verlor sich gänzlich. Bei dieser Gelegenheit verließen
die Einwohner der Gegend, wo der Altar und Hain der Latona
stand, weil sie sich der Herrschaft des besagten Lycus
nicht unterwerfen wollten, ihr Vaterland, setzten sich zu Schiffe,
irrten eine Zeit lang auf dem Aegeischen Meere herum, und
ließen sich endlich zu Abdera nieder, welches kurz zuvor durch
die Pest beinahe gänzlich entvölkert worden war. Bei ihrem
Abzuge schmerzte sie, wie die Tradition sagt, nichts so sehr,
als daß sie den geheiligten Hain und Teich der Latona zurücklassen
mußten. Sie sannen hin und her, und fanden endlich,
das Beste wäre, einige junge Bäume aus dem besagten Haine
mit Wurzeln und Erde, und eine Anzahl von Fröschen aus
dem besagten Teich in einer Tonne voll geheiligten Wassers
mitzunehmen. Sobald sie zu Abdera anlangten, war ihre
erste Sorge einen neuen Teich zu graben, welches eben dieser
ist den Sie hier vor sich sehen."Sie leiteten einen Arm des Flusses Nestus in denselben,
und besetzten ihn mit den Abkömmlingen der in Frösche verwandelten
Lycier oder Milier, die sie in dem geweihten Wasser
mit sich gebracht hatten. Um den neuen Teich her, dem sie
sorgfältig die völlige Gestalt und Größe des alten gaben,
pflanzten sie die mitgebrachten heiligen Bäume, weiheten sie
aufs neue der Latona zum Hain, bauten ihr diesen Tempel,
und verordneten einen Priester, der den Dienst desselben versehen,
und des Hains und Teiches warten sollte, welche sich
auf diese Weise, ohne ein so großes Wunder als Herr Demokrit
für nöthig hielt, aus Lycien nach Abdera versetzt fanden.
Dieser Tempel, Hain und Teich erhielt sich, vermöge der Ehrfurcht
welche sogar die benachbarten wilden Thracier für denselben
hegten, durch alle Veränderungen und Unfälle, denen
Abdera in der Folge unterworfen war, bis die Stadt endlich
von den Tejern, unsern Vorfahren, zu den Zeiten des großen
Cyrus wiederhergestellt, und (wie man ohne Ruhmredigkeit
sagen kann) zu einem Glanz erhoben wurde, daß sie keine Ursache
hat irgend eine andre in der Welt zu beneiden.Sie reden wie ein wahrer Patriot, Herr Oberpriester,
sagte Euripides. Aber wenn es erlaubt wäre, eine bescheidene
Frage zu thun —"Fragen Sie was Sie wollen, fiel ihm Strobylus ein;
ich werde Gott Lob! nie verlegen seyn Antwort zu geben."Mit Euer Ehrwürden Erlaubniß also, fuhr Euripides
fort; die ganze Welt kennt die edle Denkart und die Liebe
zur Pracht und zu den schönen Künsten, die den Tejischen
Abderiten eigen ist, und wovon ihre Stadt überall die merkwürdigsten
Beweise darstellt. Wie kommt es also, da zumal
die Tejer schon von alten Zeiten her im Ruf einer besondern
Ehrfurcht für Latonen stehen, daß die Abderiten nicht auf
den Gedanken gekommen sind, ihr einen ansehnlichen Tempel
aufzubauen?"Ich vermuthete mir diesen Einwurf," sagte Strobylus
mit einem Lächeln, wobei er die Augenbrauen in die Höhe
zog und mächtig weise aussehen wollte.Es soll kein Einwurf seyn, versetzte Euripides, sondern
eine bescheidene Frage."Ich will sie Ihnen beantworten, sagte der Priester.
Ohne Zweifel wäre es der Republik leicht gewesen, der Latona
als einer Göttin vom ersten Rang einen so prächtigen
Tempel aufzubauen, wie sie dem Jason, der doch nur ein
Heros ist, gebaut hat. Aber sie hat mit Recht geglaubt,
daß es der Ehrfurcht, die wir der Mutter des Apollo und
der Diana schuldig sind, gemäßer sey, ihren uralten Tempel
zu lassen wie sie ihn gefunden; und er ist und bleibt demungeachtet
der oberste und heiligste Tempel von Abdera, was
auch immer der Priester Jasons dagegen einwenden mag."Strobylus sagte dieses letzte mit einem Eifer und einem
Crescendo il Forte, daß Demokrit für nöthig fand ihn zu versichern,
daß dieß wenigstens bei allen Gesunddenkenden eine
ausgemachte Sache sey."Indessen, fuhr der Oberpriester fort, hat die Republik
gleichwohl solche Beweise ihrer besondern Devotion für den
Tempel der Latona und dessen Zubehörden gegeben, daß gegen
die Lauterkeit ihrer Absichten nicht der geringste Zweifel übrig
seyn kann. Sie hat zu Versehung des Dienstes nicht nur ein
Collegium von sechs Priestern, deren Vorsteher zu seyn ich
unwürdiger Weise die Ehre habe, sondern auch aus dem Mittel
des Senats drei Pfleger des heiligen Teichs angeordnet,
von welchen der erste allezeit eines von den Häuptern der
Stadt ist. Ja, sie hat, aus Beweggründen deren Richtigkeit
streitig zu machen nicht länger erlaubt ist, die Unverletzlichkeit
der Frösche des Latonenteichs auf alle Thiere dieser Gattung
in ihrem ganzen Gebiet ausgedehnt, und zu diesem Ende das
ganze Geschlecht der Störche, Kraniche und aller andern
Froschfeinde aus ihren Gränzen verbannt."Wenn die Versicherung, daß es nicht länger erlaubt ist
an der Richtigkeit dieses Verfahrens zu zweifeln, mir nicht
die Zunge bände, sagte Demokrit, so würde ich mir die Freiheit
nehmen zu erinnern, daß selbiges mehr in einer zwar an
sich selbst löblichen, aber doch aufs äußerste getriebenen Deisidämonie,
als in der Natur der Sache, oder der Ehrfurcht,
die wir der Latona schuldig sind, gegründet zu seyn scheint.
Denn in der That ist nichts gewisser, als daß die Frösche zu
Abdera und in der Gegend umher, die den Einwohnern bereits
sehr beschwerlich sind, mit der Zeit sich unter einem
solchen Schutze so überschwänglich vermehren werden, daß ich
nicht begreife, wie unsre Nachkommen sich mit ihnen werden
vergleichen können. Ich rede hier bloß menschlicher Weise,
und unterwerfe meine Meinung dem Urtheil der Obern, wie
einem rechtgesinnten Abderiten zukommt.Daran thun Sie wohl, sagte Strobylus, es mag nun
Ihr Ernst seyn oder nicht; und Sie würden, nehmen Sie
mir's nicht übel, noch besser thun, wenn Sie dergleichen
Meinungen gar nicht laut werden ließen. Uebrigens kann
nichts lächerlicher seyn als sich vor Fröschen zu fürchten; und
unter dem Schutz der Latona können wir, denke ich, gefährlichere
Feinde verachten, als diese guten unschuldigen Thierchen
jemals seyn könnten, wenn sie auch unsre Feinde würden.Das sollt' ich auch denken, sagte Euripides. Mich wundert,
wie einem so großen Naturforscher als Demokrit unbekannt
seyn kann, daß die Frösche, die sich von Insecten
und kleinen Schnecken nähren, dem Menschen vielmehr nützlich
als schädlich sind.Der Priester Strobylus nahm diese Anmerkung so wohl
auf, daß er von diesem Augenblick an ein hoher Gönner und
Beförderer unsers Dichters wurde. Die Herren hatten sich
kaum von ihm beurlaubt, so ging er in einige der besten
Häuser, und versicherte, Euripides sey ein Mann von großen
Verdiensten. Ich habe sehr wohl bemerkt, sagte er, daß er
mit Demokriten nicht zum Besten steht; er gab ihm ein-
oder zweimal tüchtig auf die Kolbe. Er ist wirklich ein
hübscher verständiger Mann — für einen Poeten.£
Zehntes Kapitel.Der Senat zu Abdera gibt dem Euripides, ohne daß er darum angesucht
Erlaubnis, eines seiner Stücke auf dem Abderitschen Theater auszuführen.
Kunstgriff, wodurch sich die Abderitische Kanzlei in solchen
Fällen zu helfen pflegte. Schlaues Betragen des Nomophylax. Merkwürdige
Art der Abderiten, einem, der ihnen im Wege stand, allen
Vorschub zu thun.Nachdem Euripides die Wahrzeichen von Abdera sämmtlich
in Augenschein genommen hatte, führte man ihn nach
dem Garten der Salabanda, wo er den Rathsherrn ihren
Gemahl (einen Mann, der bloß wegen seiner Gemahlin bemerkt
wurde), und eine große Gesellschaft von Abderitischem
Beau-Monde fand, alle sehr begierig zu sehen, wie man es
machte, um Euripides zu seyn.Euripides sah nur Ein Mittel sich mit Ehren aus der
Sache zu ziehen; und das war — in so guter Abderitischer
Gesellschaft nicht Euripides — sondern so sehr Abderit zu
seyn als ihm nur immer möglich war. Die wackern Leute
wunderten sich, ihn so gleichartig mit ihnen selbst zu finden.
Es ist ein scharmanter Mann, sagten sie; man dächte, er
wäre sein Leben lang in Abdera gewesen.Die Cabale der Dame Salabanda ging inzwischen tapfer
ihren Gang, und des folgenden Morgens war schon die ganze
Stadt des Gerüchtes voll, der fremde Dichter würde mit
seinen Leuten eine Komödie aufführen, wie man in Abdera
noch keine gesehen habe.Es war ein Rathstag. Die Herren versammelten sich,
und einer fragte den andern, wann Euripides sein Stück
geben würde? Keiner wollte was davon wissen, wiewohl jeder
positiv versicherte, daß bereits die Zurüstungen dazu gemacht
würden.Als der Archon die Sache in Vortrag brachte, formalisirten
sich die Freunde des Nomophylax nicht wenig darüber.
"Wozu," sagten sie, "braucht's uns noch zu fragen, ob wir
erlauben wollen was schon beschlossen ist, und wovon jedermann
als von einer ausgemachten Sache spricht?"Einer der hitzigsten behauptete, daß der Senat eben
deßwegen Nein dazu sagen, und dadurch zeigen sollte daß er
Meister sey."Das wäre mir ein sauberes Participium, rief der
Zunftmeister Pfriem; weil die ganze Stadt für die Sache
bordirt ist, und die fremden Komödianten zu hören wünscht,
so soll der Senat Nein dazu sagen? Ich behaupte gerade
das Gegentheil. Eben weil das Volk sie zu hören wünscht,
so sollen sie aufspielen! Fox Populus, Fox Deus! Das ist
immer mein Simplum gewesen, und soll es bleiben, so lange
ich Zunftmeister Pfriem heißen werde!"Die meisten traten auf des Zunftmeisters Seite. Der
politische Rathsherr zuckte die Achseln, sprach dafür und
dawider, und beschloß endlich: wenn der Nomophylax nichts
dabei zu erinnern hätte, so glaubte er, man könnte für
dießmal connivendo geschehen lassen, daß die Fremden auf
dem Stadttheater spielten.Der Nomophylax hatte bisher bloß die Nase gerümpft,
gegrins't, seinen Knebelbart gestrichen, und einige abgebrochene
Worte mit unvermischtem Hä, hä, hä, gemeckert.
Er mochte nicht gern dafür angesehen werden, als ob ihm
daran gelegen sey die Sache zu hintertreiben. Allein, je
mehr er's verbergen wollte, desto stärker fiel's in die Augen.
Er schwoll zusehend's auf, wie ein Truthahn dem man ein
rothes Tuch vorhält; und endlich, da er entweder bersten
oder reden mußte, sagte er: "Die Herren mögen nun glauben
was sie wollen — aber ich bin wirklich der erste, der
das neue Stück zu hören wünscht. Ohne Zweifel hat der Poet
den Text und die Musik selbst gemacht, und da muß es ja
wohl ein ganzes Wunderding seyn. Indessen, weil er sich
nicht aufhalten kann, wie man sagt, so seh' ich nicht, wie
man mit den Decorationen wird fertig werden können. Und
wenn wir zu den Chören unsre Leute hergeben sollen, wie
zu vermuthen ist, so bedaur' ich, daß ich sagen muß, vor
vierzehn Tagen wird nicht daran zu denken seyn."Dafür lassen wir den Euripides sorgen, sagte einer von
den Vätern, aus deren Sprachröhren die Stimme der Dame
Salabanda sprach: man wird ihm ohnehin ehrenhalber die
ganze Direction seines Schauspiels überlassen müssen. — Den
Rechten eines zeitigen Nomophylax und der Theatercommission
in alle Wege unpräjudicirlich, setzte der Archon hinzu."Ich bin alles zufrieden," sagte Gryllus; "die Herren
wollen was Neues — Gut! Gut! wünsche daß es wohl bekomme!
Bin selbst begierig das Ding zu hören, wie gesagt. Es
kommt freilich alles bloß darauf an, ob man Glauben an die
Leute hat — verstehen Sie mich? — Indessen wird Recht
Recht, und Musik Musik bleiben; und ich wette was die
Herren wollen, die Terzen und Quinten und Octaven der
Herren Athener werden gerade so klingen wie die unsrigen,
hä, hä, hä, hä!"Es ging also mit einem großen Mehr durch: "daß den
fremden Komödianten, ein-für allemal, und ohne daß dieser
Fall zu einiger Consequenz sollte gezogen werden können, erlaubt
seyn sollte, eine Tragödie auf der National-Schaubühne
aufzuführen, und daß ihnen hierzu von Seiten der Theaterdeputation
aller Vorschub gethan, und die Kosten von der
Casse bestritten werden sollten." — Allein, weil der Ausdruck
"erlaubt seyn sollte" dem Euripides, der nichts verlangt
hatte, sondern sich bloß erbitten lassen, hätte anstößig seyn
können: so veranstaltete Frau Salabanda, daß der Rathsschreiber
(der ihr besonderer Freund und Diener war) im
Bescheid die Worte "erlaubt seyn sollte" in "ersucht werden
sollte," und die fremden Komödianten in den berühmten
Euripides verwandelte — Alles übrigens dem Rathschluß
und der Kanzlei unpräjudicirlich und citra consequentiam.So wie der Senat auseinanderging, begab sich der Nomophylax
zum Euripides, überschüttete ihn mit Complimenten,
bot ihm seine Dienste an, und versicherte ihn, daß
ihm aller möglicher Vorschub gethan werden sollte um sein
Stück recht bald aufführen zu können. Die Wirkung dieser
Versicherung war, daß ihm, ohne daß jemand Schuld daran
haben wollte, alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt
wurden, und daß es immer an allem fehlte was er nöthig
hatte. Beschwerte er sich, so wies ihn immer einer an den
andern, und jeder betheuerte seine Unschuld und seinen guten
Willen, indem er ganz deutlich zu verstehen gab, daß der
Fehler bloß an diesem oder jenem liege, der eine Viertelstunde
zuvor seinen guten Willen eben so stark betheuert hatte.Euripides fand die Abderitische Art, allen möglichen Vorschub
zu thun, so beschwerlich, daß er sich nicht entbrechen
konnte, der Dame Salabanda am Morgen des dritten Tages
zu erklären: seine Meinung sey, sich mit dem ersten Winde,
woher er auch blasen möchte, wieder einzuschiffen, wofern sie
nicht einen Rathsschluß auswirkte, der den Herren von der
Commission anbeföhle ihm keinen Vorschub zu thun. Da der
Archon, wiewohl eigentlich alle executive Gewalt von ihm
abhing, kein Mann von Execution war, so war das einzige
Mittel in dieser Noth, den Zunftmeister Pfriem und den
Priester Strobylus, welche sehr viel beim Volke vermochten,
in Bewegung zu setzen. Salabanda übernahm beides mit so
guter Wirkung, daß binnen Tag und Nacht alles, was von
Seiten der Theatercommission besorgt werden mußte, fertig
und bereit war; welches um so leichter geschehen konnte, da
Euripides seine eignen Decorationen bei sich hatte, und also
beinahe nichts weiter zu thun war, als sie dem Abderitischen
Theater anzupassen.—————
Eilftes Kapitel.Die Andromeda des Euripides wird endlich trotz aller Hindernisse von
seinen eignen Schauspielern aufgeführt. Ausserordentliche Empfindsamkeit
der Abderiten, mit einer Digression, welche unter die lehrreichsten in
diesem ganzen Werke gehört, und folglich von gar keinem Nutzen
seyn wird.Die Abderiten hatten ein neues Stück erwartet, und
waren daher übel zufrieden, da sie hörten, daß es eben die
Andromeda war, die sie vor wenig Tagen schon gesehen zu haben
glaubten. Noch weniger wollten ihnen anfangs die fremden
Schauspieler einleuchten, deren Ton und Action so natürlich
war, daß die guten Leute — gewohnt ihre Helden und Heldinnen
wie Besessene herumfahren zu sehen, und schreien zu
hören wie der verwundete Mars in der Iliade — gar nicht
wußten was sie daraus machen sollten. Das ist eine wunderliche
Art zu agiren, flüsterten sie einander zu; man
merkt gar nicht daß man in der Komödie ist; es klingt ja
ordentlich als ob die Leute ihre eignen Rollen spielten. Indessen
bezeugten sie doch ihr Erstaunen über die Decorationen,
die zu Athen von einem berühmten Meister in der Theaterperspectiv
gemalt waren; und da die meisten in ihrem Leben
nichts Gutes in dieser Art gesehen hatten, so glaubten sie
bezaubert zu seyn, wie sie das Ufer des Meers, den Felsen
wo Andromeda angefesselt war, und den Hain der Nereiden
an einer kleinen Bucht auf der einen Seite, und den Palast
des Königs Cepheus in der Ferne auf der andern, so natürlich
vor sich sahen, daß sie geschworen hätten, es sey alles wirklich
und wahrhaftig so wie es sich darstellte. Da nun überdieß
die Musik vollkommen nach dem Sinne des Dichters, und also
das alles war, was die Musik des Nomophylax Gryllus —
nicht war; da sie immer gerade aufs Herz wirkte, und ungeachtet
der größten Einfalt und Singbarkeit doch immer neu
und überraschend war: so brachte alles dieß, mit der Lebhaftigkeit
und Wahrheit der Declamation und Pantomime
und mit der Schönheit der Stimmen und des Vortrags vereinigt,
einen Grad von Täuschung bei den guten Abderiten
hervor, wie sie noch in keinem Schauspiel erfahren hatten.
Sie vergaßen gänzlich, dass sie in ihrem Nationaltheater
saßen, glaubten unvermerkt mitten in der wirklichen Scene
der Handlung zu seyn, nahmen Antheil an dem Glück und
Unglück der handelnden Personen, als ob es ihre nächsten
Blutsfreunde gewesen wären, betrübten und ängstigten sich,
hofften und fürchteten, liebten und haßten, weinten und
lachten, wie es dem Zauberer, unter dessen Gewalt sie waren,
gefiel; — kurz, Andromeda wirkte so außerordentlich auf sie,
daß Euripides selbst gestand, noch niemals des Schauspiels
einer so vollkommnen Empfindsamkeit genossen zu haben.Wir bitten — in Parenthesi —die empfindsamen Frauenzimmerchen
und Jüngelchen unserer vor lauter Empfindsamkeit
höchst unempfindsamen Zeit sehr um Verzeihung! Aber
es war in der That unsre Meinung nicht, durch diesen
Zug der außerordentlichen Empfindsamkeit der Abderiten —
Ihnen einen Stich zu geben — und gleichsam dadurch einigen
Zweifel gegen ihren guten Verstand bei ihnen selbst oder
bei andern Leuten zu erwecken. — In ganzem Ernst, wir erzählen
die Sache bloß wie sie sich zutrug; und wem eine so
große Empfindsamkeit an Abderiten befremdlich vorkommt, den
ersuchen wir höflichst — zu bedenken, daß sie, bei aller ihrer
Abderitheit, am Ende doch Menschen waren wie andere; ja,
in gewissem Sinne, nur desto mehr Menschen — je mehr
Abderiten sie waren. Denn gerade ihre Abderitheit machte,
daß es eben so leicht war sie zu betrügen, als die Vögel, die
in die gemalten Trauben des Zeuxis hinein pickten; indem
sie sich jedem Eindruck, besonders den Täuschungen der Kunst,
viel ungewahrsamer und treuherziger überließen, als feinere
und kältere, folglich auch gescheidtere Leute zu thun pflegen,
welche man so leicht nicht verhindern kann, durch den Zauberdunst,
den man um sie her macht, durchzusehen.Uebrigens macht der Verfasser dieser Geschichte hier die
Anmerkung: "die große Disposition der Abderiten, sich von
den Künsten der Einbildungskraft und der Nachahmung täuschen
zu lassen, sey eben nicht das, was er am wenigsten an
ihnen liebe." Er mag aber wohl dazu seine besondern Ursachen
gehabt haben.In der That haben Dichter, Tonkünstler, Maler, einem
aufgeklärten und verfeinerten Publicum gegenüber, schlimmes
Spiel; und gerade die eingebildeten Kenner, die unter
einem solchen Publicum immer den größten Haufen ausmachen,
sind am schwersten zu befriedigen. Anstatt der Einwirkung
still zu halten, thut man alles was man kann um
sie zu verhindern. Anstatt zu genießen was da ist, raisonnirt
man darüber was da seyn könnte. Anstatt sich zur Illusion
zu bequemen, wo die Vernichtung des Zaubers zu nichts
dienen kann als uns eines Vergnügens zu berauben, setzt
man ich weiß nicht welche kindische Ehre darein, den Philosophen
zur Unzeit zu machen; zwingt sich zu lachen, wo Leute,
die sich ihrem natürlichen Gefühl überlassen, Thränen im
Auge haben, und, wo diese lachen, die Nase zu rümpfen,
um sich das Ansehen zu geben als ob man zu stark oder zu
fein oder zu gelehrt sey, um sich von so was aus seinem
Gleichgewicht setzen zu lassen.Aber auch die wirklichen Kenner verkümmern sich selbst
den Genuß, den sie von tausend Dingen, die in ihrer Art
gut sind, haben könnten, durch Vergleichungen derselben mit
Dingen anderer Art; Vergleichungen, die meistens ungerecht
und immer wider unsern eignen Vortheil sind. Denn das
was unsre Eitelkeit dabei gewinnt, ein Vergnügen zu verachten,
ist doch immer nur ein Schatten, nach welchem wir
schnappen indem uns das Wirkliche entgeht.Wir finden daher, daß es allezeit unter noch rohen Menschen
war, wo die Söhne des Musengottes jene großen Wunder
thaten, wovon man noch immer spricht ohne recht zu wissen
was man sagt. Die Wälder in Thracien tanzten zur
Leyer des Orpheus, und die wilden Thiere schmiegten sich
zu seinen Füßen, nicht weil er — ein Halbgott war, sondern
weil die Thracier — Bären waren, nicht, weil er übermenschlich
sang, sondern weil seine Zuhörer wie bloße Naturmenschen
hörten; kurz, aus eben dem Grunde, warum (nach
Forsters Bericht) eine Schottische Sackpfeife die guten Seelen
von Tabiti in Entzücken setzte.Die Anwendung dieser nicht sehr neuen, aber sehr praktischen
Bemerkung, die man so oft gehört hat und doch fast
immer aus der Acht läßt, wird der geneigte Leser selbst machen;
wenn's ihm beliebt. Unser eignes Gewissen mag uns
sagen, ob und in wie fern wir in andern Dingen mehr oder
weniger Thracier und Abderiten sind: aber wenn wir's in
diesem einzigen Punkte wären, so möcht' es nur desto besser
für uns — und freilich auch für den größten Theil unsrer
poetischen Sackpfeifer seyn.—————
Zwölftes Kapitel.Wie ganz Abdera vor Bewunderung und Entzücken über die Andromeda
des Euripides zu Narren wurde. Philosophisch-kritischer Versuch
über diese seltsame Art von Phrenesie, welche bei den Alten insgemein
die Abderitische Krankheit genannt wird, — den Geschichtschreibern
ergebenst zugeeignet.Als der Vorhang gefallen war, sahen die Abderiten noch
immer mit offnem Aug' und Munde nach dem Schauplatze
hin; und so groß war ihre Verzückung, daß sie nicht nur ihrer
gewöhnlichen Frage: wie hat Ihnen das Stück gefallen? vergaßen;
sondern sogar des Klatschens vergessen haben würden,
wenn Salabanda und Onolaus (die bei der allgemeinen Stille
am ersten wieder zu sich selbst kamen) nicht eilends diesem
Mangel abgeholfen, und dadurch ihren Mitbürgern die Beschämung
erspart hätten, gerade zum erstenmale, wo sie
wirklich Ursache dazu hatten, nicht geklatscht zu haben. Aber
dafür brachten sie auch das Versäumte mit Wucher ein. Denn
sobald der Anfang gemacht war, wurde so laut und so lange
geklatscht, bis kein Mensch mehr seine Hände fühlte. Diejenigen,
die nicht mehr konnten, pausirten einen Augenblick,
und fingen dann wieder desto stärker an, bis sie von andern,
die inzwischen ausgeruht hatten, wieder abgelöst wurden.Es blieb nicht bei diesem lärmenden Ausbruch ihres Beifalls.
Die guten Abderiten waren so voll von dem, was sie
gehört und gesehen hatten, daß sie sich genöthigt fanden,
ihrer Ueberfüllung noch auf andere Weise Luft zu machen. Verschiedene
blieben im Nachhausegehen auf öffentlicher Straße
stehen, und declamirten überlaut die Stellen des Stücks,
wovon sie am stärksten gerührt worden waren. Andre, bei
denen die Leidenschaft so hoch gestiegen war daß sie singen
mußten, fingen zu singen an, und wiederholten, wohl oder
übel, was sie von den schönsten Arien im Gedächtniß behalten
hatten. Unvermerkt wurde (wie es bei solchen Gelegenheiten
zu gehen pflegt) der Parorysmus allgemein; eine Fee
schien ihren Stab über Abdera ausgestreckt, und alle seine
Einwohner in Komödianten und Sänger verwandelt zu haben.
Alles was Odem hatte sprach, sang, trällerte, leyerte und
pfiff, wachend und schlafend, viele Tage lang nichts als Stellen
aus der Andromeda des Euripides. Wo man hin kam,
hörte man die große Arie — O du, der Götter und der
Menschen Herrscher, Amor u. s. w., und sie wurde so lange gesungen,
bis von der ursprünglichen Melodie gar nichts mehr
übrig war, und die Handwerksbursche, zu denen sie endlich
herabsank, sie bei Nacht auf der Straße nach eigner Melodie
brüllten.Wenn der Rath nicht (wie so viele andre die uns von
den Weisen gegeben werden) den einzigen Fehler hätte —
daß er nicht praktikabel ist, so würden wir eilen was wir
könnten, allen Menschen den Rath zu geben: "niemals von
irgend einer Begebenheit, die ihnen erzählt wird, ein Wort
zu glauben." Denn unzählige Erfahrungen, die wir hierüber
seit mehr als dreißig Jahren gemacht, haben uns überzeugt,
daß an solchen Erzählungen ordentlicherweise kein Wort wahr
ist: und wir wissen uns im ganzen Ernste nicht eines einzigen
Falles zu besinnen, wo eine Sache, wiewohl sie sich erst vor
wenigen Stunden zugetragen, nicht von jedem, der sie erzählte,
anders, und also (weil doch ein Ding nur auf Eine
Art wahr ist) von jedem falsch erzählt worden wäre.Da es diese Bewandniß mit Dingen hat, die zu unsrer
Zeit, an dem Orte unsers Aufenthalts, und beinahe vor
unsern sichtlichen Augen geschehen sind: so kann man leicht ermessen,
wie es um die historische Treue und Zuverlässigkeit
solcher Begebenheiten stehen müsse, die sich vor langer Zeit zugetragen,
und für die wir keine andre Gewähr haben, als was
uns davon in geschriebenen oder gedruckten Büchern vorgespiegelt
wird. Weiß der liebe Gott, wie sie da der armen
ehrlichen Wahrheit mitspielen, und was von ihr übrig bleiben
kann, wenn sie ein paar tausend Jahre lang durch alle die
verfälschenden Fortpflanzungsmittel von Traditionen, Chroniken,
Jahrbüchern, pragmatischen Geschichten, kurzen Inbegriffen,
historischen Wörterbüchern, Anekdotensammlungen
u. s. w. und durch so manche gewaschene oder ungewaschene
Hände von Schreibern und Abschreibern, Setzern und Uebersetzern,
Censoren und Correctoren u. s. w. durchgebeutelt,
geseigt und gepreßt worden ist! Ich meines Orts bin durch
die genauere Betrachtung dieser Umstände schon lange bewogen
worden ein Gelübde zu thun, keine andre Geschichte zu schreiben,
als von Personen, an deren Existenz — und von Begebenheiten,
an deren Zuverlässigkeit — keinem Menschen in
der Welt etwas gelegen seyn kann.Was mich zu dieser kleinen Expectoration veranlaßt, ist
gerade die Begebenheit die wir vor uns haben, und die von
den verschiedenen Schriftstellern, welche ihrer Erwähnung thun,
so seltsam behandelt und mißhandelt worden ist, als ein gutherziger
nichts Arges wähnender Leser sich vorstellen kann.Da ist nun, zum Beispiel, dieser Yorick, dieser Erfinder,
Vater, Protoplastus und Prototypus aller empfindsamen Reisen
und empfindelnden Wandersleute, die ohne Beutel und
Tasche, ja ohne nur ein Paar Schuhsohlen darüber abgenutzt
zu haben, empfindsame Reisen, wer weiß wohin? bloß in der
Absicht gethan haben, um mit deren Beschreibung ihre Bier-
und Tabaksrechnung zu saldiren —ich sage, da ist nun dieser
Yorick, der, um ein hübsches Kapitelchen in sein berühmtes
Sentimental Journey daraus zu machen, diese nämliche Begebenheit
so zubereitet hat, daß sie zwar so wunderbar und
abenteuerlich als ein Feenmährchen geworden ist, aber auch
darüber alle ihre individuelle Wahrheit, und sogar alle Abderitische
Familienähnlichkeit verloren hat.Man höre nur an! —"Die Stadt Abdera (sagt er) war
die schändlichste und gottloseste Stadt in gang Thracien —
wimmelte und drudelte von Giftmischerei, Verschwörungen,
Meuchelmord, Schmähschriften, Pasquillen und Tumult. Bei
hellem Tage war man seines Lebens nicht sicher; bei Nacht
war's noch ärger. Nun begab sich's (fährt er fort), als der
Gräuel aufs höchste gestiegen war, daß man zu Abdera die
Andromeda des Euripides vorstellte. Sie gefiel allen Zuschauern;
aber von allen Stellen, die dem Volke gefielen,
wirkte keine stärker auf seine Imagination als die zärtlichen
Naturzüge, die der Dichter in die rührende Rede des Perseus
verwebt hatte — | O du, der Götter und der Menschen Herrscher, Amor! | Alle Welt sprach den folgenden Tag in Jamben, und von
nichts als der rührenden Anrede des Perseus: o Amor, du
der Götter und der Menschen Herrscher! In jeder Gasse von
Abdera, in jedem Hause: o Amor, o Amor! — In jedem
Munde u. s. w. nichts als: o du, der Götter und der Menschen
Herrscher, Amor. Das Feuer griff um sich, und die ganze
Stadt, gleich dem Herzen eines einzigen Mannes, öffnete sich
der Liebe. Kein Droguist konnte einen Skrupel Niesewurz los
werden — kein Waffenschmied hatte das Herz, ein einziges
Werkzeug des Todes zu schmieden —Freundschaft und Tugend
begegneten sich auf den Gassen —das goldne Alter kehrte zurück,
und schwebte über der Stadt Abdera. Jeder Abderit nahm
sein Haberrohr, und jede Abderitin verließ ihr Purpurgewebe,
und setzte sich keusch und horchte auf den Gesang."In der That ein sehr schönes Kapitelchen! Alle jungen
Knaben und Mädchen fanden es deliciös — "O Amor, Amor!
der Götter und der Menschen Herrscher, Amor!" — Und daß
ein einziger Vers aus dem Euripides — ein Vers, wie wahrlich,
bei beiden Ohren des Königs Midas! der geringste unter
euern Haberrohrsängern sich alle Augenblicke zwanzig auf Einem
Beine stehend zu machen getrauen kann — ein Wunder gewirkt
haben soll, das alle Priester, Propheten und Weisen der ganzen
Welt mit gesammter Hand nicht im Stande gewesen sind nur
ein einzigesmal zu bewirken — das Wunder, eine so schändliche,
heillose und gottvergessene Stadt und Republik, wie Abdera
gewesen seyn soll, auf einmal in ein unschuldiges, liebevolles
Arkadien zu verwandeln —das gefällt freilich den gauchhaarigen,
empfindsamen, gelbschnäbligen Turteltäubchen und
Turteltaubern! Nur Schade, wie gesagt, daß am ganzen
Histörchen, so wie es Bruder Yorick erzählt, kein wahres
Wort ist.Das ganze Geheimniß ist: der wunderliche Mensch war
verliebt als er sich das alles einbildete; und so schrieb er (wie
es jedem ehrlichen Amoroso und Virtuoso, Steckenpferdler und
Mondritter zu gehen pflegt) alles was er sich einbildete für
Wahrheit hin. Nur ist's nicht hübsch an ihm, daß er —
um seinem Leibgötzen und Fetisch, Amor, ein desto größeres
Compliment zu machen — den armen Abderiten das ärgste
nachsagt, was sich von Menschen denken und sagen läßt. Aber
das ganze Griechische und Römische Alterthum soll auftreten
und zeugen, ob jemals so etwas auf die guten Leute gebracht
worden sey! Sie hatten freilich, wie man weiß, ihre Launen
und Mucken, und, was man im eigentlichen Verstande
Klugheit und Weisheit nennt, war nie ihre Sache gewesen:
aber ihre Stadt deßwegen zu einer Mördergrube zu machen,
das geht ein wenig über die Gränzen der berüchtigten Dichterfreiheit,
die (so einen großen Tummelplatz man ihr auch
immer zugestehen will) doch am Ende, wie alle andern Dinge
in der Welt, ihre Gränzen haben muß.Lucian von Samosata, im Eingang seines berühmten
Büchleins, wie man die Geschichte schreiben müßte — wenn
man könnte, erzählt die Sache ganz anders, wiewohl, mit
seiner Erlaubniß, nicht viel richtiger als Yorick. Er muß, wie
es scheint, etwas vom König Archelaus und von der Andromeda
des Euripides und von der seltsamen Schwärmerei, die
sich der Abderiten bemächtigte, gehört haben; und daß man
zuletzt genöthigt war, den Hippokrates zu Hülfe zu rufen,
damit er alles zu Abdera wieder ins alte Geleis setzen möchte
— Und nun sehe man einmal, wie der Mann das alles durcheinander
wirft! — "Der Komödiant Archelaus (der damals
so viel war, als wenn man dei uns Brockmann, oder Schröter,
oder der deutsche Garrick sagt)— dieser Archelaus kam
in den Tagen des Königs Lysimachus nach Abdera, und gab
die Andromeda des Euripides. Es war gerade ein außerordentlich
heißer Sommertag. Die Sonne brannte den Abderiten
auf ihre Köpfe, die wahrlich ohnehin schon warm genug
waren. Die ganze Stadt brachte ein starkes Fieber aus der
Komödie nach Hause. Am siebenten Tage brach sich bei den
meisten die Krankheit entweder durch heftiges Nasenbluten
oder einen starken Schweiß; hingegen blieb ihnen eine seltsame
Art von Zufall davon zurück. Denn wie das Fieber vorbei
war, überfiel sie allesammt ein unwiderstehlicher Drang, tragische
Verse zu declamiren. Sie sprachen in lauter Jamben,
schrien wo sie standen und gingen aus vollem Halse ganze
Tiraden aus der Andromeda daher, sangen den Monolog des
Perseus" u. s. w.Lucian, nach seiner spöttischen Art, macht sich sehr lustig
mit der Vorstellung, wie närrisch es ausgesehen haben müsse,
alle Straßen in Abdera von bleichen, entbauchten, und vom
siebentägigen Fieber ausgemergelten Tragikern wimmeln zu
sehen, die aus allen ihren Leibeskräften: "du aber, der Götter
und der Menschen Herrscher, Amor! u. s. w." gesungen, und
er versichert, diese Epidemie habe so lange gedauert, bis der
Winter und eine eingefallene große Kälte dem Unwesen endlich
ein Ende gemacht.Man muß gestehen, Lucians Art den Hergang zu erzählen,
hat vor der Yorick'schen vieles voraus. Denn so seltsam
dieses Abderitische Fieber scheinen mag, so werden doch alle
Aerzte gestehen, daß es wenigstens möglich, und alle Dichter,
daß es charaktermäßig ist. Es gilt also davon, was die Jtaliener
zu sagen pflegen: Se non è vero, è ben trovata. Aber
wahr ist's freilich nicht; wie schon aus dem einzigen Umstand
erhellt, daß um die Zeit, da sich diese Begebenheit in Abdera
zugetragen haben soll, eigentlich kein Abdera mehr war, weil
die Abderiten schon einige Jahre zuvor ausgezogen waren, und
ihre Stadt den Fröschen und Ratten überlassen hatten.Kurz, die Sache begab sich — wie wir sie erzählt haben:
und wenn man den Paroxysmus, der die Abderiten nach der
Andromeda des Euripides überfiel, ein Fieber nennen will:
so war es wenigstens von keiner andern Art als das Schauspielfieber,
womit wir bis auf diesen Tag manche Städte unsers
werthen Deutschen Vaterlandes behaftet sehen. Das Uebel
lag nicht sowohl im Blute, als in der Abderitheit der guten
Leute überhaupt.Indessen ist nicht zu läugnen, daß es bei einigen, bei denen
es mehr Zunder und Nahrung als bei andern finden mochte,
ernsthaft genug wurde um des Arztes zu bedürfen; woraus
denn vermuthlich in der Folge der Irrthum Lucians entstanden
seyn mag, die ganze Sache für eine Art von hitzigem Fieber
zu halten. Zum Glück befand sich Hippokrates noch in der
Nähe: und da er die Natur der Abderiten schon ziemlich kennen
gelernt hatte, so setzten etliche Centner Niesewurz alles in
kurzem wieder in den alten Stand — das ist, die Abderiten
hörten auf: o du, der Götter und der Menschen Herrscher,
Amor! zu singen, und waren nun sammt und sonders wieder —
so weise als zuvor.Anmerkungen
zu den Abderiten erster Theil.Erstes Buch.1.S. 5. Z. 12. Diomedes — — von seinen Pferden aufgefressen —
Paläphatus in seinem Buche von unglaublichen Dingen
erklärt auf diese Weise die Fabel, daß dieser Fürst seine Pferde mit Menschenfleisch
gefüttert habe, und ihnen endlich selbst von Hercules zur
Speise vorgeworfen worden sey. W.S. 9. Z. 1. Anakreons Lied, worin ein Mädchen als Thracisches
Füllen dargestellt wird, ist den Kritikern allerdings verdächtig gewesen,
auf eine feinere, geistreichere Weise aber ist die Unächtheit desselben
nie erklärt worden, als hier von Wieland.
S. 9. Z. 18. Wie Juvenal sie beschuldigt. Sat. 10, 50.
2.
S. 13. Z. 20. Protagoras — Ein berühmter Sophist von
Abdera (etwas älter als Demokritus), welchen Cicero dem Hippias,
Prodikus, Gorgias, und also den größten Männern seiner Profession
an die Seite setzt. W.S. 15. Z. 21. Der Fechtsaal —— ausgeziert — Was
hier von den Abderiten gesagt wird, erzählen andere alte Schriftsteller
von der Stadt Alabandus. S. Coel. Rhodog. Lect. Ant. L. XXVI.
Cap. 25. W.S. 20. Z. 6. Eine Eigenschaft — — aus der Helvetius
folgerte — Helvetius ging in seinem praktischen System von der
Selbstliebe aus, als einem von der Natur uns eingepflanzten Gefühl,
und folgerte unter vielem andern auch dies daraus, daß jeder Mensch
von sich selbst den höchsten Begriff habe und in Andern nur sein Bild
schätze. G.3.S. 21. Z. 16. Nicht jedermann konnte nach Korinth reisen,
war ein Sprüchwort bei den Griechen, dessen sich auch Horaz bediente
(Epp. I. 17, 36), und dessen Sinn ist: nicht jedem gelingt das
Schwierige (Erasmi Adagia IV. 4, 68.) Da hier die schöne Lais damit
in Verbindung gebracht ist, so hat Wieland wohl an folgende Sage von
dem Ursprunge dieses Sprüchwortes gedacht. Korinth war eine sehr
reiche Stadt, hatte viel Luxus und viele — Hetären, die daselbst unter
dem Schutze der Venus standen. Die berühmteste von allen war Lais,
aber auch die theuerste. Wollte man nun ihretwegen nach Korinth reisen,
so mußte man reich seyn: sonst kam man allenfalls nach Korinth,
aber nicht zu Lais. G.S. 24. Z. 17. Garamanten. Agriophagen u. s. w. —
Solinus, c. XXX., auch Plinius, Mela, und andere Alte und Neuere,
welche uns alle die Wundermenschen, von denen hier die Rede ist, für
wirkliche Geschöpfe Gottes zu geben kein Bedenken tragen. W.4.S. 34. Z. 16. Homers Kuhaugen — Eins der Beiwörter,
wodurch Homer die Götterkönigin auszeichnet, ist βοωπις, die Farrenäugige,
um ihre großen und lebhaften Augen anzudeuten. Myris muß
den Ausdruck eben so anstößig gefunden haben als die sonstigen Uebersetzer.
G.S. 35. Z. 26. Parmenides — Parmenides von Elea wird
für den Erfinder der Lehre von den Ideen oder wesentlichen Urbildern
gehalten, welche Plato in sein System aufgenommen, und sich zu eigen
gemacht hat, daß man sie gewöhnlich nach seinem Namen zu nennen
pflegt. W.S. 39. Z. 26. Anristrepsiades — Anspielung auf den
Strepsiades in den Aristophanischen Wolken, der sich auf ähnliche Paradoxen
einließ als hier angeführt werden. Die Behauptung, daß
Achilles keine Schnecke im Laufen einholen könne, rührt von einem
Trugschluß des Eleaten Zenon her. Dieser Trugschluß ist unter dem
Namen des Achilles bekannt. G.8.S. 51. Z. 12. Satyrenspiele — Griechische Possenspiele, die
mit der Opera buffa der Wälschen einige Aehnlichkeit hatten, und wovon
uns der Cyklops des Euripides, das einzige übrig gebliebene Stück dieser
Art, einen Begriff gibt. W.S. 58. Z. 26. Die Schwarzen an der Goldküste — Diese
wurde freilich für uns erst durch Johann von Santarem und Peter Escobar
im J. 1471 entdeckt. Lebte aber Hanno wenigstens 500 Jahre vor
Christus und kam auf seiner Entdeckungsreise an der Westküste von Afrika
bis zum Vorgebirge der drei Spitzen, was Bougainville sehr wahrscheinlich
gemacht hat; so könnte Demokrit jene Küste, zwar nicht diesem Namen,
doch aber der Lage nach gekannt haben. G.9.S. 65. Z. 7. Die Athener eben so sinnreiche Streiche —
Die Athener hatten zu ihrem Kriege mit Megara keinen bessern Grund
(wenn man dem Aristophanes glauben dürfte), als daß etliche junge
Herren von Megara, um die Entführung einer Megarischen Hetäre zu
rächen, ein paar junge Dirnen von der nämlichen Profession aus Aspasiens
Pflanzschule entführt hatten. Aspasia vermochte alles über den
Perikles, Perikles alles in Athen, und so wurde den Megarern der Krieg
angekündigt. W.10.S. 77. Z. 27. Die Amphiktyonen des Teleklides —
Dieser Komödiendichter war ein Zeitgenoß des Aristophanes. Die Lebenszeit
Demokrits nimmt man von 457 bis 353 vor Chr. G. an. G.S. 78. Z. 1. Beschreibung des goldenen Alters — Frau
Salabanda sagte die Wahrheit. Lange vor dem Hammel der Madame
Daulnoy machte Lucian in seiner wahren Geschichte, und lange vor Lucian
machten die Griechischen Komödiendichter, Metagenes, Pherekrates,
Teleklides, Krates und Kratinus, Beschreibungen vom Schlaraffenlande
und vom Schlaraffenleben, worin sie sich in die Wette beeiferten,
der ausschweifendsten Einbildungskraft eines neuern Mährchenmachers
nichts übrig zu lassen. Die kühnsten Züge im Gemälde, welches Demokrit
davon macht, sind aus den Fragmenten genommen, die uns Athenäus
im sechsten Buche seines Gastmahls davon aufbehalten hat. W.11.S. 81. Z. 19. Protagoras — Eigendünkel und Albernheit erkennt
man an dem einzigen Zuge hinlänglich, daß er einstmals ganz
Athen in das Lykeion einlud, um ihn über jede mögliche Frage, die man
in irgend einer Wissenschaft ihm vorlegen möchte, diskutiren zu hören. G.S. 82. Z. 20. Sie ging aus einem Ei hervor — Um denjenigen
Lesern, welche weder den Diogenes Laertius, noch Bruckers oder
eine neuere Geschichte der Philosophie gelesen haben, irrige Vermuthungen
zu ersparen, erinnert der Verfasser, daß alle hier vorkommenden
Hypothesen sich eines sehr ehrwürdigen Alterthums, und zum Sheil einer
Menge Verfechter und Anhänger rühmen können. Die Meinung unsers
Demokrit ist die einzige, welche, vermuthlich bloß weil sie die vernünftigste
ist, keine Secte gemacht hat. W.S. 84. Z. 6. Homöomerien (von όμοιος gleichartig und μερος
Theil) hießen in den Systemen des Anaxagoras und Empedokles die
allerkleinsten Theile des Weltstoffes, von derselben Natur wie das, was
sich nachher im Großen daraus bildete, im Grunde aiso Elemente im
Kleinen. Die Art der Ausbildung erklärte Empedokles durch den Satz:
Freundschaft ist die Ursache der Bewegung, welche die Materie von einander
scheidet. Dieß heißt nichts anders als: die gleichartigen Theile
sammeln sich mittelst der Bewegung zu einander, nachdem die ungleichartigen
Theile sich von einander geschieden haben. G.12.S. 93. Z. 2. Demokrit von Persischen Magiern
erzogen — Xerxes, der bei seinem Kriegszuge gegen die Griechen
einige Tage zu Abdera bei Demokrits Vater sein Hauptquartier gehabt,
hatte damals den noch sehr jungen Demokrit lieb gewonnen, und zu
dessen besserer Erziehung ein paar von den Magiern, die er bei sich hatte,
zurückgelassen. W.Diogen. Laert.S. 95. Z. 25. Epopten — Epopten (Anschauer) hießen diejenigen,
welche nach ausgestandener Prüfung zum Anschauen der großen
Mysterien zu Eleusis zugelassen wurden. W.S. 96. Z. 5. Milon von Krotona — Ein Mann, von dessen
wunderbarer Leibesstärke und Gefrässigkeit die fabelhaften Graeculi erstaunliche
Dinge zu erzählen wissen; zum Beispiel, daß er einen wohlgemästeten
Ochsen dreihundert Schritte weit auf den Schultern getragen, und,
nachdem er ihn mit einem einzigen Faustschlag todt gemacht, in einem
Tage aufgefressen habe. W.13.S. 108. Z. 19. Kleiner Drache von seltsamer Gestalt
u. s. w. — Plinius, der in seiner Natur- und kunstgeschichte Wahres
und Falsches ohne Unterschied zusammengetragen hat, erzählt im neunundvierzigsten
Kapitel seines zehnten Buchs in ganzem Ernst: Demokrit
habe in einer seiner Schriften gewisse Vögel benennet, aus deren
vermischtem Blut eine Schlange entstehe, welche die Eigenschaft habe,
daß derjenige, der sie esse (ob mit Essig und Oel, sagt er nicht), von
Stund' an alles verstehe, was die Vögel mit einander reden. Wegen
dieser und anderer ähnlicher Albernheiten, wovon (wie er sagt) die
Schriften des Demokrit wimmeln, liest er ihm an einem andern Orte
seines Werkes den Text sehr schulmeisterhaft. Aber Gellius (Noct. Atticar.
L. X. Cap, 12.) vertheidigt unsern Philosophen mit besserm Grund,
als Plinius ihn verurtheilt. Was konnte Demokrit dafür, daß die
Abderiten dumm genug waren, alles, was er im Ernste sagte, für
Ironie, und alles, was er scherzweise sagte, für Ernst zu nehmen?
Oder, wie konnt' er verhindern, daß nicht lange nach seinem Tode Abderitische
Köpfe tausend Albernheiten, an die er nie gedacht hatte, unter
seinem Namen und Ansehen an andere Abderiten verkauften? Was
für klägliches Zeug ließ ihn nicht erst im Jahre 1646 Magnenus in seinem
Democritus redivivus sagen! Und was müssen nicht die Leute in der
andern Welt von sich sagen lassen! W.S. 109. Z. 6. Truthühner — Dies ist wohl ein Irrthum
des Uebersetzers. Denn wer weiß nicht, daß die Truthühner dem
Aristoteles selbst unbekannt waren, und unbekannt seyn mußten, weil
sie erst aus Westindien zu uns und in die übrigen Theile unsrer Halbkugel
gekommen sind! S. Buffon Histoire naturelle des Oiseaux, T. III.
p. 187 u. f. W.Zweites Buch.1.S. 112, Z. 19. Wie viele Flohfüsse hoch ein Floh
springen könne — Nichts ist möglicher, als daß Sokrates
wirklich einmal etwas gesagt haben konnte, das zu diesem Aristophanischen
Spaß Anlaß gegeben. Er durfte nur in einer Gesellschaft,
wo die Rede von Größe und Kleinheit war, den Irrthum angemerkt
haben, den man gewöhnlich begeht, da man von Groß und Klein als
von wesentlichen Eigenschaften spricht, und nicht bedenkt, daß es bloß
auf den Maßstab ankommt, ob eben dasselbe Ding groß oder klein
seyn soll. Er konnte nach seiner scherzhaften Art gesagt haben: man
habe Unrecht, den Sprung eines Flohs nach der Attischen Elle zu
messen; man müsse, um die Schnellkraft des Flohs mit derjenigen
eines Luftspringers zu vergleichen, nicht den menschlichen Fuß, sondern
den Flohfuß zum Maß nehmen, wenn man anders den Flöhen Gerechtigkeit
widerfahren lassen wolle — und dergleichen. Nun brauchte
nur ein Abderit in der Gesellschaft zu seyn, so können wir sicher darauf
rechnen, daß er es als eine große Ungereimtheit, die dem Philosophen
entfahren sey, nach seiner eignen Art wieder erzählt haben werde: und
wenn gleich Aristophanes klug genug war zu begreifen, daß Sokrates
etwas Kluges gesagt haben werde, so war es doch für einen Mann
von seiner Profession und zu seiner Absicht, den Philosophen lächerlich
zu machen, schon genug, daß man diesem Einfall eine Wendung geben
konnte, wodurch er geschickt wurde, die Zwerchfelle der Athener, welche
(den Geschmack und den Witz abgerechnet) ziemlich Abderiten waren,
einen Augenblick zu erschüttern. W.S. 113. Z. 20. Ein Dichter, der die Sachen gern übertreibt —Perpetuo risu pulmonem agitare solebatDemocritus. — Juvenal. Sat. X. 33. W.S. 114. Z. 1. Heraklit zum Muster nehmen — Man
pflegt das Leben des Herakleitos dem des Demokritos entgegen zu
setzen, wie man den Styl beider sich entgegensetzen kann, der bei jenem
dunkel, gedrängt, schwerfällig, bei diesem klar, leicht, fließend, war.
Von jenem sagt man, daß er beständig über die Welt geweint, dieser
beständig über sie gelacht habe. Beide hätten dann etwas Gescheidteres
thun können, beide thaten es aber ohne Zweifel nicht. Herakleitos aber
war von melancholischer Gemüthsart und sah nur den ewigen Fluß
der Dinge, Demokritos war von sanguinischer Gemüthsart, zuweilen
gewiß launig und schalkhaft, und schien doch einigen Grund gefunden
zu haben, worauf er bei dem ewigen Wandel der Dinge sicher fußen
könne. G.S. 114. Z. 17. Nur den — — Affect erregen kann. —
Bei allem dem erklärt sich doch Seneca bald darauf, daß es noch besser
und einem weisen Manne anständiger sey, die herrschenden Sitten und
Fehler der Menschen sanft und gleichmüthig zu ertragen, als darüber zu
lachen und zu weinen. Mich dünkt, er hätte mit wenig Mühe finden
können, daß es — noch was bessers gibt als dies Bessere. Warum
immer lachen, immer weinen, immer zürnen, oder immer gleichgültig
seyn? Es gibt Thorheiten, welche belachenswerth sind; es gibt andere,
die ernsthaft genug sind um dem Menschenfreunde Seufzer auszupressen;
andre, die einen Heiligen zum Unwillen reizen könnten; endlich noch
andre, die man der menschlichen Schwachheit zu gut halten soll. Ein
weiser und guter Mann (nisi pituita molesta est, wie Horaz weislich
ausbedingt) lacht oder lächelt, bedauert oder beweint, entschuldigt oder
verzeiht, je nachdem es Personen und Sachen, Ort und Zeit mit sich
bringen. Denn lachen und weinen, lieben und hassen, züchtigen und
loslassen, hat seine Zeit, sagt Salomo, welcher älter, klüger und besser
war als Seneca mit allen seinen Antithesen. W.S. 116. Z. 6. Origines, Kirchenvater, geb. im 3ten Jahrhundert,
zu Alexandria, soll sich, weil er die Stelle bei Matthäus 19, 12.
mißverstanden, selbst entmannt haben. G.S. 116. Z. 24. Tertullian, auch ein Kirchenvater, geb. zu
Carthago im 3ten Jahrhundert. Die hier angeführte Stelle s. Apolog.
c. 46. W.S. 177. Z. 8. Der Rath des Sokrates — Memorab. Socrat.
Lib. I. Cap. 3. Num. 14. W.S. 119. Z. 10. Demokrit — — erklärte bloß aus
Atomen u. s. w. Seit die Abderiten erschienen, wo Wieland sich
nur auf Brucker berufen konnte, hat man auch den Demokrit richtiger
beurtheilt, und durch Buhle, Tennemann, Carus, Krug u. A. ist ihm
sein Recht geworden. Bleibt er gleich ein Atheist, so nahm er doch
Naturgesetze an, ja entdeckte sie, Aber schon Cicero (N. D. 1, 24)
verstand ihn nicht. G.S. 120. Z. 1. Liliputer, diese Zwerglein unter den Zwergen
sind seit Gullivers Reisen von Swift als das Kleinste menschlicher Kleinheit
bekannt. G.2.S. 125. Z. 20. Pfau — Hier scheint sich eine Unrichtigkeit
in den Text eingeschlichen zu haben. Der Pfau war vor Alexanders
Eroberung des Persischen Reiches ein unbekannter Vogel in Griechenland.
Und da er nachmals aus Asien nach Europa überging, war er anfangs
so selten, daß man ihn zu Athen um Geld sehen ließ. Jedoch wurde
er in kurzer Zeit (nach dem Ausdruck des Komödienschreibers Antiphanes)
so gemein als die Wachteln. In der üppigen Epoche von Rom
wurde deren eine unendliche Menge daselbst erzogen, und der Pfau
machte ein vorzügliches Gericht auf den römischen Tafeln aus. Woher
der Herr von Buffon genommen hat, daß die Griechen keine Pfauen
gegessen, weiß ich nicht: das Gegentheil hätte ihm eine Stelle aus dem
Poeten Alexis beim Athenäus beweisen können. Indessen wäre doch,
wenn es vor Alexandern keine Pfauen in Europa gegeben hätte, gewiß,
daß Demokrit dem Priester Strobylus keinen gebratnen Pfau hätte
schicken können; man müßte denn voraussetzen, daß dieser Naturforscher
unter andern Seltenheiten auch Pfauen aus Indien mitgebracht hätte.
Und warum sollte man dieß nicht voraussetzen können? Im Nothfall
könnten uns auch die alten Samischen Münzen, auf denen man neben
der Juno einen Pfau abgebildet sieht, aus der Schwierigkeit helfen —
wenn es der Mühe werth wäre. W.S. 125. Z. 26. Dariken — Eine Persische Goldmünze, die von
Cyaxares II. oder Darius aus Medien, nach der Eroberung Babylons,
zuerst soll geschlagen worden seyn. W.4.S. 189. Z. 24. Verkäufern ihr Oel — — — zurückzugeben —
Wie ungleich sich doch die nämliche Sache erzählen läßt! Von
eben dieser That, die unser Sykophant für den vollständigsten Beweis
eines verrückten Gehirns hält, spricht Plinius als bon einer höchst edeln
und der Philosophie Ehre machenden Handlung. Demokrit war viel zu
gutherzig, um sich aus Unkosten andrer, die nicht so viel entbehren
konnten, wie er, bereichern zu wollen. Ihre ängstliche Unruhe und Verzweiflung,
einen so großen Gewinnst verfehlt zu haben, rührte ihn: er
gab ihnen ihr Oel, oder das daraus gelöste Geld zurück, und begnügte
sich den Abderiten gezeigt zu haben, daß es nur von ihm abhange Reichthümer
zu erwerben, wenn er es der Mühe werth hielte. In diesem
Lichte sieht Plinius die Sache an; und in der That muß man ein Abderit,
ein Sykophant und ein Schurke zugleich seyn, um so wie unser Sykophant
davon zu sprechen. W.5.S. 141. Z. 17. Einladungsschreiben an Hippokrates
— Es befindet sich noch etwas unter dieser Rubrik in den Ausgaben
der Werke des Hippokrates. Es ist aber ohne allen Zweifel untergeschoben,
und die Arbeit irgend eines schalen Graeculus späterer Zeiten;
so wie die ganze Erzählung von der Zusammenkunft dieses Arztes mit
Demokrit in einem der unächten Briefe, die den Namen des erstern
führen. W.S. 148. Z. 12. Keine Lorgnette hatte — Denen, welche sich
etwa hierüber wundern möchten, dienet zur Nachricht, daß die Lorgnetten
damals — noch nicht erfunden waren. W.7.S. 134. Z. 19. Hekatäus von Abdera — Zum Unglück sind
alle seine Werke verloren gegangen. S. Antiq. Recherches sur Hecatée
de Milet, Tom. IX. des Mém. de Littérat. W.Die Fragmente desselben gesammelt und das Beste über ihn gesagt
findet man von Creuzer: Historicorum graecorum antiquassimorum
fragmenta. Heidelb. 1806. G.Drittes Buch.1.S. 166. Z. 22. Dramatische Apathie könnte man, nach
Campe, durch dramatischen Gleichmuth übersetzen; für Hedypathie
möchte ich in komischer Beziehung Lustseuche vorschlagen, deren üble
Wirkung war, daß sie alles schön fanden. G.2.S. 170. Z. 18. Bocksspiel, Tragödie nämlich, von τραγος
Bock und ώδη Gesang. Die dramatische Poesie entwickelte sich nämlich
aus den Chorgesängen an den Bacchusfesten und den lustigen Wettgesängen
bei Weinlese und Keltern, wobei der Preis des Siegers ein
Bock war.Ich bemerke gleich hier für dieses ganze Buch, daß Wieland in
Ansehung des Schauspielwesens viel modernisirt hat. In allem, wo
Ironie bei ihm zum Grunde liegt, kommt es ihm auf Verletzung der
Costüme nie an, wenn er auf seine Zeitgenossen desto mehr zu wirken
hoffen konnte. Manche Punkte sind aber auch seit seiner Zeit erst in
ein helleres Licht gesetzt worden, und über etliche ist man noch nicht
einig. G.3.S. 182. Z. 5. Caudatarien, von cauda, Schwanz, komisch
statt Anhänger. G.S. 181. Z. 22. Thlapsens erstes Stück — Es hieß Eugamia,
oder die vierfache Braut. Eugamia war von ihrem Vater an einen,
von der Mutter an den andern, und von einer Tante, an deren Erbschaft
ihr gelegen war, an den dritten Mann versprochen worden. Am
Ende kam heraus, daß das voreilige Mädchen sich selbst in der Stille
bereits an einen vierten verschenkt hatte. W.5.S. 195. Z. 7. Draperie von rosenfarbnem Koischem
Zeug. Die Schleier, die man auf der Insel Kos verfertigte, waren
ihrer Durchsichtigkeit wegen berühmt. G.7.S. 212. Z. 16. Majestät der Geschichte. Ein Ausdruck, welchen
Wieland von einem französischen Schriftsteller entlehnt, der ihn gerade
damals bei einer so sehr unbedeutenden Gelegenheit gebraucht hatte,
daß unserm Dichter schien, er könne fortan nur zu komischem Gebrauche
dienen, den er selbst auch hier davon machen wollte. G.8.S. 217. Z. 10. Euripides —— Weiberfeind — Es ist bekannt,
daß dieses häßliche Laster dem Euripides, wiewohl unverdienter
Weise, Schuld gegeben wurde. W.S. 119. Z. 7. Froschpfleger — der Rathsherr war einer
von den Fürsorgern des geheiligten Froschgrabens, welches in Abdera
eine sehr ansehnliche Stelle war. Man nannte sie die Batrachotrophen,
welches zu Deutsch sehr füglich durch Froschpfleger gegeben
werden kann. W.9.S. 227. Z. 17. Von den Lycischen Bauern. S. Ovid.
Metam. 13. 336, 635. G.S. 232. Z. 18. Deisidämonie — Der Apostel Paul bedient sich
des von diesem Worte abgeleiteten Beiwortes, da er die Athener, ironischer
oder wenigstens zweideutiger Weise, wegen ihrer unbegränzten Religiosität
zu loben scheint. Apostelgeschichte XVII, 22. Man könnte es
Götterfurcht oder Dämonenfurcht übersetzen. W.11.S. 240. Z. 22. Die empfindsamen Frauenzimmerchen
u. s. w. — Man vergesse nicht daß dies Im Jahre 1777 geschrieben worden.
W.[Damals hatte durch Goethe's Werther und Millers Siegwart
eine empfindelnde Periode begonnen, die mit dem sonstigen Sturm und
Drange (nach einem Schauspiel dieses Titels von Klinger) in der damaligen
schönen Literatur einen seltsamen Contrast bildete.] G.S. 241. Z. 28. Anstatt sich zur Illusion zu bequemen,
— Es versteht sich von selbst, daß der Dichter das Seinige gethan haben
muß, um die Illusion zu bewirken und zu unterhalten: denn sonst hat
er freilich kein Recht, von uns zu verlangen, daß wir, ihm zu Gefallen,
thun sollen, als ob wir sähen, was er uns nicht zeigt, fühlten, was er
uns nicht fühlen macht u. s. w. W.12.S. 247. Z. 14. O Amor, du — — Herrscher — Aufrichtig
zu reden, dieser Vers ist der einzige rührende in dem ganzen
Fragment der Rede des Perseus, das zufälliger Weise noch vorhanden
ist, wie unsre des Griechischen kundigen Leser selbst urtheilen mögen —
denn so lauten die Worte: | Αλλ' ω τνρανε Θεων τε χάνuρωπων, Ερως,
Η μη διδασχε τα χαχα ψαινεσeαι χαλα,
Η τοις ερωσιν, ών σν δημιοσνγος ει,
Μοζoονσι μοζoονς εντνζως συνεaπονει, χ. τ. λ. W. | Du aber, der Götter und der Menschen Herrscher, Amor, entweder
lehr' uns, daß das Schöne uns nicht schön erscheine (ich lese χαλά
statt χαχα), oder hilf der leidenden Liebe, deren Schöpfer du bist, den
Schmerz leichter ertragen. G.—————
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