C. M. Wieland's
Werke.
Neunter Band.
Leipzig.G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.1854.
Buchdruckerei der J. G. Gotta'schen Buchhandlung in Stuttgart.
Geschichte
des
weisen Danischmend.
Inhalt.Seite
Keine Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX
Erstes Capitel. Wie der Sultan Gebal und Danischmend aus
einander kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Zweites Cap. Danischmend läßt sich in Kischmir nieder.
Sein Hauswesen. Ein neues Bedürfniß . . . . . . . . . 8
Drittes Cap. Mysterien — . . . . . . . . . . . . . .. 13
Viertes Cap. Was Danischmend den Leuten ins Ohr sagte 17
Fünftes Cap. Bedarf keiner Ueberschrift . . . . . . . 22
Sechstes Cap. Worin Danischmend die Schwachheit hat,
mit einem Kalender über häusliche Glückseligkeit zu
disputiren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .24
Siebentes Cap. Wer dieser Kalender war, und wie ein
Kalender aussieht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
Achtes Cap. Geschichte der drei Kalender . . . . . . .32
Neuntes Cap. Ein Dialog zwischen dem Leser und dem Autor38
Zehntes Cap. Schutzrede des Kalenders für seinen Stand41
Eilftes Cap. Ein ehevertrauliches Gespräch zwischen
Danischmend und Perisadeh . . . . . . . . . . . . . . 48
SeiteZwölftes Cap. Fortsetzung der Geschichte des
ersten Kalenders . . . . . . . . . . . . . . . . . . .51
Dreizehntes Cap. Der Kalender sagt Danischmenden im
Vertrauen, was er von der menschlichen Gattung denke .56
Vierzehntes Cap. Was Danischmend dazu sagt . . . . . .72
Fünfzehntes Cap. Ein Familienstück . . . . . . . . . .77
Sechzehntes Cap. Worin Danischmend seinem Herzen Luft zu
machen anfängt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .81
Siebenzehntes Cap. Geschichte der Sultanschaft . . . .85
Achtzehntes Cap. Schutzrede für die Menschheit . . . .91
Neunzehntes Cap. Ein Intermezzo von drei Fakirn . . . 94
Zwanzigstes Cap. Warum es bei Allem dem noch ganz
leidlich in der Welt hergeht . . . . . . . . . . . . .99
Einundzwanzigstes Cap. Eine seltsame Begebenheit.
Man bittet die Leser ernsthaft zu seyn . . . . . . . .104
Zweiundzwanzigstes Cap. Entwicklung und Ende der Tragödie111
Dreiundzwanzigstes Cap. Schließliche Nutzanwendung . .114
Vierundzwanzigstes Cap. Natürliche Folgen dessen,
was vorgegangen war . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
Fünfundzwanzigstes Cap. Eine moralische Betrachtung
von wichtigem Belang, weil sie den Schlüssel zu vielen
andern enthält . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .119
Sechsundzwanzigstes Cap. Danischmend hat den Einfall, sich
zum Iman auszuwerfen . . . . . . . . . . . . . . . . .125
Siebenundzwanzigstes Cap. Beantwortung einer Frage, die dem
Leser beigefallen seyn könnte . . . . . . . . . . . . 129
Achtundzwanzigstes Cap. Von zwei Menschen auf einer Planke156
Neunundzwanzigstes Cap. Ueber gewisse Eigenheiten im
Charakter Danischmends, die ihm von der Welt schlimmer
ausgelegt wurden, als er es verdiente . . . . . . . . 143
Dreißigstes Cap. Worin wir den Kalender immer näher
kennen lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Einunddreißigstes Cap. Erster Versuch des Kalenders
auf die Ruhe der Iemaliter . . . . . . . . . . . . . .151
SeiteZweiunddreißigstes Cap. Danischmend lernt Körbe machen161
Dreiunddreißigstes Cap. Glücklicher oder unglücklicher
Erfolg der Reise Feriduns nach der Stadt Kischmir . . 163
Vierunddreißigstes Cap. Danischmed und der Kalender
Alhafi entzweien sich . . . . . . . . . . . . . . . . 166
Fünfunddreißigstes Cap. Eine neue Erscheinung in Jemal,
und ein Gespräch darüber zwischen Zeineb und Perisadeh168
Sechsunddreißigstes Cap. Die ersten Faden eines
Anschlags, der sich gegen Danischmend entspinnt . . . 172
Siebenunddreißigstes Cap. Der alte Kalender trennt
sich von Danischmend. Bewegungen, welche die Erscheinung
der Bayadere in Jemal verursachte, nebst den Folgen,
die für Danischmend daraus entstehen, und einer
traulichen Unterredung zwischen ihm und Perisadeh . . 175
Achtunddreißigstes Cap. Worin sich die Absichten und
Entwürfe des alten Kalenders völlig entwickeln . .. . 185
Neununddreißigstes Cap. Wie Danischmend den Plan des
alten Kalenders zu Wasser macht . . . . . . . . . . . 193
Vierzigstes Cap. Wie Danischmend sich in seinem neuen
Aufenthalt einrichtet, und was für Gelegenheit er bekommt,
sich bei Schach-Gebal wieder in Erinnerung zu bringen 197
Einundvierzigstes Cap. Danischmend zieht in die Nähe von
Dehly und ernährt sich und die Seinigen mit Korbmachen207
Zweiundvierzigstes Cap. Schach-Gebal stattet dem
Körbchenmacher einen Besuch ab . . . . . . . . . . . 212
Dreiundvierzigstes Cap. Noch ein ehevertrauliches
Gespräch zwischen Danischmend und Perisadeh . . . . . 219
Vierundvierzigstes Cap. Schach-Gebal entdeckt
Danischmenden sein geheimes Anliegen . . . . . . . . 225
Fünfundvierzigstes Cap. Wie Danischmend seinen Auftrag
an Sadik ausrichtet, und was daraus erfolgt . . . . . 242
Sechsundvierzigstes Cap. Was für ein Pflaster der
getreue Kerim auf die Wunde seines Herrn legt. Der Sultan
entschießt sich, Danischmenden wieder zu entfernen . .256
soi SeiteSiebenundvierzigstes Cap. Eine unvermuthete
Zusammenkunft und Nachrichten aus Jemal . . . . . . . 260
Achtundvierzigstes Cap. Glücklicher Erfolg der Audienz,
welche Faruck bei dem Sultan erhielt . . . . . . . . .274
Neunundvierzigstes Cap. Einige Aufschlüsse, nebst
einem unfehlbarenMittel, wie man die Sultane von
phantastischen Leidenschaften curirt . . . . . . . . 278
Fünfzigstes Cap. Ankunft in Jemal und Beschluß
dieser Geschichte . . . . . . . . . . . . . .. . . . .287
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
Keine Vorrede.
Eine Vorrede vor ein Werk, wie die Geschichte des
Philosophen Danischmend? —Nein, bei Allem, was gut
ist, ich werde keine Vorrede dazu machen, es erfolge auch
daraus, was will!Für den verständigen Leser würde die kürzeste zu lang
seyn: und dem unverständigen hilft keine Vorrede, und
wenn sie dreimal länger wäre, als das Werk selbst.Es gibt Leute, sagte mir einer meiner Freunde (in
der weitern Bedeutung des Wortes), die hinter Ihren
Sultanen und Bonzen ganz was Andres suchen —"Als Sultane und Bonzen? — Da haben die Leute
Unrecht, Freund!"Aber es gibt nun einmal solche Leser, gegen die man
sich sehr kategorisch erklären muß, wenn man Unheil verhüten
will. Ich dächte, Sie wären's sich selbst schuldig,
diesen Leuten ein für alle Mal so deutlich, als nur
immer möglich ist, zu sagen, wie Sie verstanden seyn
wollen.Dieß ist längst geschehen, erwiederte ich. Wie kann
ich mich deutlicher erklären, als ich's im "goldnen Spiegel"
gethan habe? Wer nun nicht versteht, will nicht, —
oder befindet sich im Falle des ehrlichen Mannes, der
alle Brillen eines ganzen Ladens probirte, ohne einen
Buchstaben dadurch lesen zu können; am Ende zeigte
sich's, daß der Mann weder mit noch ohne Brille lesen
konnte.Schaffe mir Kinder, oder ich sterbe, sagte Rahel zu
Jakob, ihrem Manne. Bin ich denn Gott? antwortete
der Erzvater. —Dieß ist gerade der Fall eines ehrlichen
Autors, den unverständige Leser zwingen wollen, ihnen
Verstand zu geben.Licht ist nur Licht für den Sehenden: der Blinde
wandelt im Sonnenschein und dünkt sich im Finstern.Also keine Vorrede! ——————
Erstes Capital.Wie dir Sultan Gebal und Danischmend aus einander kommen.Schach-Gebal, ein durch gute und böse Gerüchte bekannter
Sultan, hatte, neben manchen gleichgültigen Eigenschaften,
die Schwachheit — wie es seine Tadler nannten — daß er
über Niemand, dem er einmal hold gewesen war, lange zürnen
konnte. Wahr ist's, in dem Augenblicke, wo man in
seine Ungnade fiel — welches leicht begegnete — waren zwei
oder drei hundert Prügel auf die Fußsohlen das Wenigste,
womit er den Unglücklichen, den dieser Zufall traf, bedrohte.
Aber seit die Sultanin Nurmahal von ihm erhielt, daß dergleichen
Züchtigungen nie anders als in seiner Gegenwart
vollzogen werden durften, hat man kein Beispiel, daß er's
bis zum zehnten Streiche hätte kommen lassen.Er ließ sich, nach der Weise der Sultane seiner Brüder,
bei solchen Anlässen große Complimente über seine Mildherzigkeit
machen. Allein das Wahre an der Sache war, daß
er, trotz seiner Sultanschaft, sich nicht erwehren konnte, bei
jedem Stench ein unangenehmes Zucken in seinen Nerven
zu fühlen. Der Gedanke, ich bin auch ein Mensch, denkt
ihr — Aber dieß war es nicht. Armer Schach-Gebal! du
warst zu sehr und zu lange Sultan, um so etwas aus dir
selbst zu denken. Aber die Natur, die Natur! die treibt ihr
Werk ohne Ansehen der Person, im Monarchen wie im
Bettler. Die mitzitternde Nerve wird beim Anblick des Leidens
eines Menschen an dem vermeinten Halbgotte zum Verräther;
er fühlt, daß er auch Fußsohlen hat. Um es eiligst
wieder zu vergessen, übt er eine seiner hohen Vorzüglichkeiten
aus und ruft: Gnade!Wie dem auch war, gewiß ist, daß der Philosoph Danischmend,
als er, ohne recht zu wissen, was ihm geschah, in des
Sultans Ungnade fiel, weit leichter davon kam, als es seine
guten Freunde, die Fakirn, gehofft hatten. Diese gutherzigen
Seelen würden mit den drei hundert Prügeln auf die Fußsohlen,
die ihm Schach-Gebal in der ersten Hitze seines
Zorns versprach, als einer noch ganz leidlichen Vergütung
aller Unbilden, die sie von ihm erlitten zu haben vorgaben,
allenfalls zufrieden gewesen seyn. Aber der Sultan fand
nach kälterer Ueberlegung diese Strafe für ein Verbrechen,
welches sein ehemaliger Itimadulet nur erst in Gedanken
begangen hatte, doch ein wenig zu hart und besann sich so
lange auf eine gelindere, bis ihm die Lust zu strafen gar
verging.Danischmend lag indessen in einem Gefängnisse, wo etliche
Spannen Himmel seine ganze Aussicht, und ein paar Fliegen
seine ganze Gesellschaft ausmachten. Er fing bereits an zu
glauben, daß nun weiter nicht mehr die Rede von ihm seyn
würde, als ihn der Sultan, in einer von seinen guten Launen,
holen ließ.Danischmend, sagte der Sultan, als er ihn mit seinem
langen Barte (der inzwischen gute Zeit zum Wachsen gehabt
hatte) ansichtig wurde: — wenn einem Menschen wie du zu
rathen wäre, so würd' ich dir rathen, wie du hier stehst, die
Philosophie abzuschwören und — ein Santon zu werden.
Den Bart dazu hättest du schon, wie ich sehe; und an Entbehrungen
solltest du, denk' ich, auch gewöhnt worden seyn,
seitdem sie dich zwischen vier Mauern eingekuffert haben.
Ich sehe wenigstens kein andres Mittel, dich mit den Derwischen
und Fakirn auszusöhnen, die dir, wie ich höre, so
herzlich gram sind, daß ich eine Empörung besorgen müßte,
wenn ich darauf bestehen wollte, dich gegen sie in Schutz zu
nehmen. Ein Santon, ich habe der Sache oft nachgedacht,
ein Santon ist das glücklichste Wesen in der Welt. Wenn
ich nicht mein Wort gegeben hätte, Sultan zu seyn, ich wüßte
nicht, was mich hindern sollte, heute noch Santon zu werden.Santon? — versetzte Danischmend. Die Sache mag ihr
Gutes haben; aber —ich wollte wohl darauf schwören, daß
ich niemals einen erträglichen Santon machen würde. Ich
habe gewisse Bedürfnisse, von denen ich mich unmöglich los
machen kann —Bedürfnisse, Bedürfnisse, fiel Schach-Gebal ein —
die sind immer das dritte Wort bei euch Philosophen.
Ich habe keine Bedürfnisse und bin Sultan! Es ist
ein häßliches, verächtliches Ding, so viele Bedürfnisse
zu haben. Unter uns, was für Bedürfnisse wären es
denn, von denen du nicht Lust hättest dich los zu
machen?Sire, Sie werden über mich lachen, versetzte Danischmend:
aber wer kann sich helfen? Es gibt gewisse Dinge, ohne die
ich weder leben noch weben kann: als da ist — die gute
Mutter Natur jedes Stückchen auf mir spielen zu lassen, das
sie auf mir spielen will; immer auszusehen, wie mir ums
Herz ist; nichts zu reden, als was ich denke; nichts zu
thun, als was ich mit Freuden thue; mich mitzutheilen,
wenn ich glücklich bin, und flugs in meine Schale zurück zu
kriechen, sobald ich eine Fliege, die mir um die Nase summt,
durch einen Wolkenbruch ertränken möchte: ferner, Alles was
Menschen angeht, als meine Privatsache anzusehen und mich
über ein Unrecht schrecklich zu ereifern, das vor drei tausend
Jahren einem Betteljungen zu Babylon geschehen ist; allen
harmlosen ehrlichen Gesichtern gut zu seyn und allen Schurken,
wo ich nur an sie kommen kann, auf den Fuß zu treten
und, während daß ich die Welt gehen lasse — wie sie kann,
mich (so oft ich nichts Angenehmeres zu empfinden oder
nichts Besseres zu thun habe) auf meinen Sopha zu lagern
und Entwürfe zu machen, was ich thun wollte, wenn ich
der große Lama oder die Favoritin des Königs von Serendib
oder der Dairi von Japan wäre. Mit einem Worte —Mit einem Worte, Herr Danischmend, fiel ihm der Sultan
lachend ins Wort, ich sehe, daß du ein Grillenfänger
bleiben wirst, solange du lebst. Aber betrüge dich nicht,
mein Freund. Ich habe dir schon gesagt, daß ich nichts für
dich thun kann. Es steht bei dir, ob du ein Santon oder
ein Kalender oder was du werden willst; aber aus Indostan
muß ich dich verbannen, dafür hilft nichts. Die Fakirn!
die Bonzen! — Um dein selbst willen muß ich's thun. Suche
dir in den Wildnissen des Imans einen Wohnort aus, wo
dir's am besten gefällt; näher kann ich, wenn ich Ruhe haben
will, keinen Philosophen bei mir leiden.Sultan von Indien, sagte Danischmend, es gibt sehr anmuthige
Gegenden in den Wildnissen, wohin Ihre Hoheit
mich zu verbannen die Gnade haben. Ich habe mir schon
lang eine Vorstellung gemacht, daß sich dort eine ganz artige
kleine Colonie von glücklichen Menschen anlegen ließe.Von glücklichen Menschen? — rief Schach-Gebal: Feenmährchen,
Zauberschlösser, Freund Danischmend! Wolltest du
nicht, da du mein Itimadulet warst, alle meine Unterthanen
zwischen dem Orus und Ganges glücklich machen? Und wie
viel fehlte noch, daß du mit dieser einzigen Grille ganz Indostan
zu Grunde gerichtet hättest? Ich dächte, von dieser
Narrheit wenigstens solltest du geheilt seyn, Danischmend!Was bei hundert Millionen verdorbener Menschen unmöglich
gewesen wäre, gelänge mir vielleicht bei einem kleinen
Häufchen roher, aber noch unangesteckter Söhne und Töchter
der Natur, erwiederte der Philosoph.Der Sultan schwieg eine Weile, wie er zu thun pflegte,
wenn ihm ein Einfall in den Wurf kam, mit dem er etliche
Augenblicke spielen konnte. Endlich sagte er: Weißt du wohl,
Danischmend, daß ich beinahe Lust hätte, dich eine Probe machen
zu lassen? nur um zu sehen, was heraus käme. Gut!
ich gebe dir einen Befehl an meinen Schatzmeister zu Kabal;
denn ohne Geld legt man keine Colonien an, zumal wenn
du sie, um eine schöne Zucht von Menschen zu bekommen,
mit hübschen Tschirkassierinnen versehen wolltest. Aber nimm
dich in Acht, daß der Bramine der Sultanin nichts davon
erfährt. Ich mag keine Fehde mehr mit diesen wackern Leuten,
ich will Ruhe haben!Herr, antwortete Danischmend, wenn mir zum letzten
Mal noch erlaubt ist, so freimüthig wie sonst mit Ihrer
Hoheit zu reden, ich habe keine Lust, mich in die Wildnisse
des Imans verbannen zu lassen. Ich bin nicht selbstständig
genug, um ohne Gesellschaft leben zu können, und schon zu
alt, um Waldmenschen zahm zu machen. Gern will ich für
die Nachwelt pflanzen; aber dann müssen auch die Bäume
schon gewachsen seyn, in deren Schatten ich selbst ausruhen
soll. Dem Braminen der Sultanin und allen Fakirn und
Bonzen in der Welt wird es gleichgültig seyn können, wo
ich lebe, wenn sie nur nichts weiter von mir hören. Und
hören sollen sie nichts mehr von mir, oder es müßte gar
kein bewohnbarer Ort mehr auf Gottes Boden seyn, wo man
sicher vor ihnen athmen könnte. Ich kenne in den Gebirgen
von Kischmir einen solchen Ort; ein einsames Thal, fruchtbar
und anmuthig, wie die Gärten Schedads, und von einem
harmlosen Völkchen bewohnt, das keinen Begriff davon hat,
wie man ein Fakir oder Santon seyn kann. Wenn mir
Ihre Hoheit so viel geben wollen, daß ich mir unter diesen
Leutchen eine Hütte bauen kann, so sind alle meine Wünsche
erfüllt. Für's Uebrige, was man noch, um glücklich zu seyn,
haben muß, will ich schon sorgen.Es sey darum, sagte Schach-Gebal. Wenn man einem
Gutes thun will, muß man's ihm nach seiner eignen Weise
thun. Lebe wohl, Danischmend. Möchtest du in deiner
Einsamkeit glücklich genug seyn, zu vergessen, daß du einst
der Freund eines Sultans warst!Danischmend war im Begriff, auf dieses gnädige Compliment
eine Antwort zu geben, die dem Sultan nothwendig
hätte mißfallen müssen. Aber er konnt' es nicht über sein Herz
bringen, den guten Herrn durch eine Wahrheit zu kränken,
die am Ende doch nichts helfen konnte. Es gibt Wahrheiten,
die ein Mann (Sultan oder nicht Sultan) sich selbst sagen
muß: thut er's nicht, oder kann er's nicht thun; so ist's
Menschlichkeit, ihn damit zu verschonen. In solchen Fällen
kann die Wahrheit nur demüthigen, nie besser machen.Danischmend verschwand noch an dem nämlichen Tage
aus Dehly, und weder der Bramine der Sultanin, noch die
Sultanin selbst konnten jemals von Schach-Gebal erhalten,
daß er ihnen gestanden hätte, was in dieser letzten Unterredung
zwischen ihm und seinem ehemaligen Günstling vorgegangen.
Dieses eigensinnige Stillschweigen des Sultans und die
Unmöglichkeit, vom Aufenthalte des verschwundenen Philosophen
etwas zu erfahren, brachte die schöne Nurmahal und
Alle, denen daran gelegen war, auf die Vermuthung, daß
ihn Schach-Gebal heimlich habe aus dem Wege schaffen lassen.
Auch dieß ist so übel nicht, sagten die Bonzen.—————
Zweites Capitel.Danischmend läßt sich in Kaschmir nieder. Sein Hauswesen. Ein
neues Bedürfniß.Unterdessen hatte Danischmend, nachdem er auf Befehl
des Sultans von dem Schatzmeister zu Lahor zehn tausend
Bahamd'or empfangen, in den Gebirgen, welche Kischmir von
Tibet absondern, sich einen Wohnplatz ersehen, wo er, fern
von Sultanen und Fakirn, nach seinem Geschmack und nach
seinem Herzen glücklich zu leben hoffte. Es war ein langes,
zwischen fruchtbaren Hügeln und waldigen Bergen sich hinziehendes
Thal, Jemal genannt, von tausend Bächen und
Quellen aus dem Gebirge bewässert und von den glücklichsten
Menschen bewohnt, die vielleicht damals auf dem ganzen
Erdboden anzutreffen waren.Hier war ihm vor allen Dingen nöthig, sich ein kleines
Hauswesen einzurichten. Denn (nach seiner Philosophie)
setzt ein weiser Mann sich zuerst in seinem Mittelpunkt so
wagrecht als immer möglich fest und sorgt —für sich selbst.
Dann zieht er einen Kreis mitfühlender Zuneigung und
wohlthätiger Wirksamkeit um sich her, schließt seine Strahlen
gegen alle Punkte dieses Kreises aus und macht, so viel an
ihm ist, Alles glücklich, was er erreichen kann.Diesem Plane gemäß kaufte sich Danischmend ein kleines
Gut, ungefähr so groß, wie Plinius meint, daß ein gelehrter
Müßiggänger eines nöthig habe; das heißt, "gerade so viel
Grund und Boden, als er brauchte, um den Kopf an einen
Baum zurückzulehnen, seine kurzsichtigen Augen an einer
Aussicht ins Grüne zu laben, auf dem nämlichen Fusspfade
zwischen seinem Kohlgarten und Kornfelde hin und her zu
kriechen, alle seine Weinstöcke auswendig zu wissen und über
alle seine Bäumchen ein Register zu halten."Danischmend, der ein wenig mehr Bedürfnisse hatte, als
Suetonius, legte sich noch überdieß ein Wäldchen an, wo er
in dunkeln kunstlosen Irrgängen herum schlendern konnte,
und vergaß nicht, hier und da eine Bank hinsetzen zu lassen,
damit zwei oder drei Personen in Frieden neben einander
Platz nehmen könnten, wenn sie des Gehens müde wären.
Auch leitete er eine Felsenquelle, die seine Wohnung mit
Wasser versah, durch eine Wiese, die er seinen Blumengarten
nannte, pflanzte da und dort auf die Wiese und längs seines
Kornfeldes Obstbäume, unter deren Schatten seine Mäher
und Schnitter ausruhen konnten, und ließ in den Felsen,
aus dem die Quelle kam, eine Grotte hauen (die Natur
hatte schon das Meiste dabei gethan), wo man in der Sommerhitze,
hinter einem Vordach von Eppich und Weinreben,
auf einer Bank von Moos, beim Gemurmel der Quelle
schlummern oder dem Gesang der Grillen zuhören konnte,
solange man wollte.Danischmend, wiewohl er eine Art von Philosophen war,
verstand wenig oder nichts von der Landwirthschaft. Kraft
dieser seiner Unwissenheit wollte er nichts besser wissen, als
die Natur, bepflanzte seine Felder nicht mit Disteln, um
eine Manufactur von ihrer Wolle anzulegen, pflügte mit
dem Pfluge seiner Voreltern und machte keine Versuche,
die ihm mehr kosteten, als sie werth waren. Kurz, seine
Unwissenheit ersparte ihm vielleicht mehr, als manchem hochgelehrten
landwirthschaftlichen Metaphysiker seine Wissenschaft
einträgt. Aber dafür ließ er sein Feld mit dem alten Pfluge
so lange ackern, bis es locker war; wo er einen leeren Platz
sah, da pflanzte er einen Baum hin oder etwas Anderes,
das besser war als nicht; und wo sich nach einem starken
Regen kleine Pfützen und Sümpfe zeigten, da ließ er so
lange Sand und Erde hinführen, bis sie ausgefüllt waren.
Die Sperlinge und die Raubvögel hatten alle Ruhe vor ihm:
denn (sagte er) jene thun mir gute Dienste gegen das Ungeziefer,
und diese gegen die Sperlinge. Ueberhaupt war er
ein großer Freund von der Maxime, nichts ausrotten zu
wollen, was Gott erschaffen hat. Der Urheber der Natur
(pflegte er zu sagen) versteht gewiß die Oekonomie besser, als
man glaubt. Er hat durch den einzigen kleinen Umstand,
daß immer eine Gattung die andere frißt, hinlänglich dafür
gesorgt, daß sie einander so ziemlich die Wage halten. Ich
lebe beinahe auf aller andern Gattungen Unkosten; und ich
sollte so unbillig seyn, nicht leiden zu wollen, daß sie sich
helfen, wie sie können?Der gute Philosoph, der (wie wir schon wissen) einer von
den empfindsamen war, hatte sich schon lange eine sehr einladende
Vorstellung von einem in der großen Welt wenig
bekannten Zustande gemacht, den er häusliche Glückseligkeit
nannte. Um sich in seinem vorerwähnten Mittelpunkt in
das gehörige Gleichgewicht zu setzen, schien ihm eine Gesellin,
an deren Busen er ruhen könnte, unentbehrlich zu seyn.
Was ihm, da er noch in der Welt lebte, höchstens — und
nur in gewissen Augenblicken — eine ganz behagliche Sache
schien, ward in seiner jetzigen Lage zum Bedürfniß. Er
dachte anfangs alle Tage beim Erwachen und alle Nächte
beim Einschlafen daran. Bald darauf dacht' er des Tages
etliche Mal und des Nachts auf seiner Matratze ganze Stunden
lang daran, bis er zuletzt gar nicht mehr davor schlafen
konnte, oder, wenn er ja einschlief, so träumte ihm von nichts
als Hochzeiten und Wochenstuben, Puppen und Steckenpferden,
und wenn er des Morgens vor Sonnen-Aufgang
ans Fenster ging, frische Luft zu schöpfen, sah er aus den
Wölkchen, die wie kleine Inseln im Morgenhimmel herum
schwammen, lauter gelblockige und schwarzlockige, blauaugige
und braunaugige Mädchenköpfe heraus gucken. Je mehr er
über die Sache philosophirte, je völliger überzeugte sich der
gute Mann, das schönste und beste aller Geschöpfe, der Auszug
und Inbegriff alles dessen, was in der Natur Reizendes
ist, das lieblichste, begehrenswürdigste und unentbehrlichste
aller Dinge sey — ein Weib. Kurz, er hörte nicht auf,
darüber zu philosophiren, bis er's endlich so weit brachte,
mit ich weiß nicht welchem alten Weisen sich selbst für die
bloße Hälfte eines Menschen zu halten, die unmöglich anders
als unvollkommen, dürftig, kröpelhaft und höchst unglückselig
seyn könne, bis sie ihre andere Hälfte gefunden und mit
ihr in einen wahren, ganzen, vollständigen Menschen zusammengewachsen
sey. Man sieht, daß es nun hohe Zeit mit
ihm war.Zwar hätte er, als ein Muselmann, sich wenigstens zwei
bis drei Weiber und allenfalls, nach alter morgenländischer
Sitte, noch eben so viel Kebsweiber zulegen mögen, ohne
daß weder der Iman von Mekka, noch der große Lama in
Tibet, noch der Bramine der Sultanin Nurmahal sich sehr
daran geärgert hätten. Denn jeder dieser würdigen Herren
hatte ihrer noch vielmehr in seinem Weiberstalle. Aber
Danischmenden war es nicht um Weiber, sondern um seine
Hälfte zu thun: und da zwei Hälften nach dem allgemeinen
Geständniß aller Menschen hinlänglich sind, ein Ganzes zu
machen; so wäre die dritte, vierte, fünfte u. s. w., wie liebenswürdig
sie an sich selbst hätte seyn mögen, im Grunde
doch nichts Anderes als ein Anwuchs, eine Art von Höcker,
Kropf oder Ueberbein gewesen, der, anstatt die Vollkommenheit
des Ganzen zu befördern, demselben nur überlästig gefallen
wäre und die schöne Eintracht beider Hälften gestört
hätte. Vernünftiger Weise blieb ihm also nichts übrig, als
diese nämliche, gleichartige, genau einpassende und, mit
einem Worte, geflissentlich für ihn allein gemachte Hälfte
seines Ichs je eher je lieber ausfündig zu machen.Wer ernstlich sucht, findet immer etwas, das des Auflesens
werth ist, entweder das Gesuchte oder auch wohl
zuweilen etwas Besseres. Danischmend, den das edelste unter
allen menschlichen Bedürfnissen — zu lieben und geliebt zu
werden — plagte, suchte sich ein Weib für sein Herz und
nach seinem Herzen und fand sie, wie man einen Schatz
findet oder den Schnupfen aufliest, unversehens und ohne
zu wissen wie.—————
Drittes Capitel.Mysterien — Procul este, profani!Unsere ehrlichen Altvordern mögen wohl nicht so Unrecht
gehabt haben, wenn sie glaubten, daß ein guter Genius (ob
sie ihn so oder so malten, thut nichts zur Sache) sich damit
abgebe, einem ehrlichen Kerl in Danischmends Umständen
auf die Spur zu helfen. Es ist wenigstens ein so tröstlicher
und harmloser Glaube, daß ich dem Manne nicht gut seyn
könnte, der mir ihn abraisonniren wollte.Eines Morgens früh, als Danischmend ausging, seine
Träumereien auszulüften, begegnete ihm auf dem Wege zu
seiner Grotte ein Mädchen, das mit einem großen Wasserkrug
auf dem Kopf in der Einfalt und Unschuld seines Herzens
daher schritt.Ob es eine Grille oder was es war, weiß ich nicht; aber
alle Weise aus Morgenland und Abendland hätten unserm
Manne nicht aus dem Kopfe gebracht, daß er seinen Genius
habe, so gut als Sokrates, der Athener. Alles, was ich vor
andern Leuten voraus habe, pflegte er zu sagen, ist lediglich,
daß ich mir angewöhnt habe, bei allen Gelegenheiten auf die
Stimme meines Genius zu lauschen, und daß mich die Natur
dazu mit einem Seelenohre von der feinsten Art begabt hat.Rede sie an, rief ihm der Genius in seinem ihm allein
vernehmlichen Rothwälsch zu. — Danischmend gehorchte.Woher so früh, schönes Mädchen, sagte er mit einer so
sanften Stimme, daß es unmöglich war, seine Frage übel
zu nehmen."Von jener Grotte," antwortete das Mädchen, indem sie
mit dem Zeigefinger der linken Hand nach dem Orte wies.
Danischmend bemerkte, wiewohl nur obenhin, daß es eine
kleine niedliche Hand war."Ich hole dort alle Morgen Wasser in diesem Kruge, fuhr
das Mädchen fort, denn es soll das beste in der ganzen Gegend
seyn."Und wozu brauchst du das Wasser? fragte Danischmend.
Es war eine alberne Frage; aber er wollte und mußte nun
einmal etwas fragen, und in der Eile fiel ihm nichts Klügeres
ein."Ich begieße Morgens und Abends einen Rosenstock damit,
den ich auf das Grab meiner Mutter gepflanzt habe, antwortete
das Mädchen, mit einem Tone der Stimme, der
alle empfindsame Saiten in seinem Herzen mitertönen machte.Er sah ihr ins Auge, oder, welches einerlei war, er sah
in den Grund ihrer Seele; und in dem nämlichen Nu fühlt'
er mit Gewißheit, daß dieß Mädchen die Hälfte sey, die er
suchte.Sie ist's, rief im nämlichen Nu sein Genius.Das Mädchen war von feiner Gestalt. Alle Züge ihres
Gesichts drückten die Unschuld, das zarte Gefühl und die
Ruhe ihrer Seele aus. Ihr Herz war in ihren Augen und
auf ihren Lippen. Man sah ihr ins Gesicht, und von Stund'
an war man ihr Freund, Vater, Bruder und Oheim, vertraute
ihr alle seine Geheimnisse, sein Leben, seine Ehre,
seine Seele und Seligkeit, wünschte sich keine andere Frau,
Tochter, Enkelin, Schwester, Nichte u. s. w. und würde lieber
zehntausendmal den Tod gelitten als zugegeben haben, daß
ihr ein Leid widerführe. —Uebrigens eine bloße Tochter der
Natur; ohne Verzierung, ohne Ansprüche, ohne List und so
unwissend, daß sie von Danischmenden sogar küssen lernen
mußte.Dieß werden wenig Mädchen glauben wollen; aber wir
können sie mit Gewißheit versichern, daß es wahr ist.Sie ist's, sie ist's, flüsterte der Genius noch einmal.Beim Himmel, sie ist's! antwortete Danischmend.Acht Tage darauf — Die ganze Geschichte ihrer Liebe in
diesen acht Tagen erlass' ich euch; sie beträgt sieben starke
Octavbände und würde für Liebende, wie Amandus und
Amanda, Hercules und Valisca, Seladon und Asträa, Aruns
und Clelia u. s. f. höchst unterhaltend seyn, wenn Liebende
—Zeit zum Lesen hätten.Acht Tage darauf vermählte sich Danischmend mit ihr,
führte sie in sein Haus und zeugte mit ihr Söhne und
Töchter.Weil dieß Jedermann kann — die Ausnahmen sind zu
selten, um in Anschlag zu kommen —so haben sich die Leute
angewöhnt, es für eine gemeine, alltägliche, verächtliche
Sache zu halten, die man, ohne lächerlich zu werden, Niemanden
zum Verdienst anrechnen könne. Viele gehen so
weit, .daß sie uns gar bereden wollen, man könne mit Anständigkeit
nicht einmal davon sprechen.Man sieht wohl, daß solche Leute nie bedacht haben müssen,
welch ein herrliches Geschöpf der Mensch ist! — Ja, solche
Caricaturen und Grotesken zu machen, wie man sie alle
Werkeltage in Menge sieht, — dabei ist freilich wenig Verdienst.
Aber dieß war Danischmends Sache nicht. Seine
Söhne und Töchter waren die wohlgestaltetsten, artigsten,
seelenvollsten kleinen Geschöpfe, die man mit Augen sehen
konnte. Alle Mädchen in der Gegend verliebten sich in seine
Buben, alle kleine Jungen waren in seine Mädchen vernarrt;
und wer zu alt zum Verlieben und Vernarren war, hatte die
Kinder kaum etliche Stunden um sich, so war's ihm schon,
als ob er ihnen Vater und Mutter sey.Dieß mochte wohl Ausnahmen leiden; denn es gibt (wie
ihr wißt) Leute, die nichts lieben können, als sich selbst und
was sie selbst gemacht haben. Allein von solchen Selbstlern
ist auch hier die Rede nicht.Viele Leute, die nicht begreifen konnten, warum Danischmends
Kinder alle so liebenswürdig waren, bildeten sich ein,
er müsse ein besonderes Geheimniß besitzen.Es ist etwas an der Sache, sprach er: ich wollt' es euch
wohl sagen, aber unter Zwanzigen würde vielleicht kaum
Einer seyn, dem es nützen könnte.Sey's darum, sagten sie, und wenn unter Hunderten nur
Einer wäre.Gut, sagte Danischmend: so findet mir erst einen Mann
und ein Weib, deren Liebe mit jedem Jahr ihrer Verbindung
wächst, immer herzlicher und zärtlicher wird, dergestalt,
daß es zuweilen ein Wunder in ihren eigenen Augen
ist, wie es zugehe, daß sie sich nach einer Reihe zusammen
gelebter Jahre oft verliebter in einander fühlen als an ihrem
Hochzeittage. Wer die Probe machen will, dem wollt' ich
wohl rathen, fuhr er fort) sich von seinem Genius eine Frau
wählen zu lassen: es möchte nicht bei Allen angehen. Oft
sind unser Herz und unser Genius verschiedener Meinung,
und seit die Welt steht, ist noch nichts gut gegangen, was
ein Mann wider Willen seines Genius gethan hat. Ich,
meines Orts, hörte den meinigen drei- oder viermal so
deutlich sagen, sie ist's, daß ich meiner Sache gewiß war.
Auch seht ihr, ob er mich betrogen hat.Aber, sagten die Leute, es muß außerdem noch etwas Andres
dahinter stecken, eine Art von geheimen — eine Art von —kurz,
etwas, das Ihr uns wohl entdecken könntet, wenn Ihr wolltet.Ich will's euch ins Ohr sagen, antwortete Danischmend.Viertes Capitel.Was Danischmend den Leuten ins Ohr sagte.Ich — der Erzähler dieser gegenwärtigen Geschichte —
kenne einen Arzt, dem ich — auf der Stelle eine Lobrede
zu halten versucht werde und auch sogleich eine Lobrede halten
würde, wenn ich so schön reden könnte, wie Isokrates und
Plinius; — einen Arzt, auf dem die Erfahrungskunst, die
Weisheit und die Menschenliebe des göttlichen Hippokrates
ruhen; — kurz, einen Arzt, wie ich, aus herzlicher Wohlmeinung
mit Bösen und Guten, Gerechten und Ungerechten,
wünschen möchte, daß an jedem Orte, wo ein paar tausend
Menschen beisammen wohnen, einer leben und so lange leben
möchte, bis er der Nachwelt einen Mann wie er an seinen
Platz gestellt hätte: — und eine von den Ursachen, warum
ich diesen meinen Hipprokates ehre und liebe, ist, daß er weiß,
was für ein Ding das Herz des Menschen ist, und welche
Wunder derjenige zuweilen thun kann — er sey nun Arzt
oder Gesetzgeber oder Pfarrer oder Feldherr oder Tragödienschreiber
oder was ihr wollt — der auf das Herz und auf
die Einbildung (in deren Gewalt jenes fast immer ist) zu
rechter Zeit den gehörigen Eindruck zu machen weiß.Was sind Jalappa und Sennesblätter und Rhabarber und
Fieberrinde und Genseng und Asa fötida gegen Mittel, die
geradezu auf die Phantasie und die Leidenschaften eines
Kranken wirken! Von wie viel mehr Krankheiten, als man
gemeiniglich glaubt, liegt die wahre Ursache in einem verwundeten
oder gepreßten oder entgeisterten Herzen! Wie viele
körperliche Uebel zeugt, nährt und verschlimmert eine kranke
Phantasie! Wie oft würde eine rührende Musik, eine scherzhafte
Erzählung, eine Scene aus dem Shakspeare, ein Capitel aus
dem Don Quixote oder Tristram Shandy das gestörte Gleichgewicht
in unsrer Maschine eher wieder herstellen, Verdauung
und Schlaf besser befördern, niedergeschlagene Lebensgeister
kräftiger ermuntern, Milzsucht, Mutterbeschwerungen,
Hypochondrie, Schwermuth, Muckerei, Intoleranz und andre
böse Geister schneller vertreiben, als irgend ein Recept im
neuverbesserten Dispensatorium!Ein fröhliches Herz und eine rosenfarbne oder himmelblaue
Phantasie sind in tausend Verrichtungen des
menschlichen Lebens unentbehrlich, wenn sie uns wohl von
Statten gehen sollen. — Grau in Grau mag zuweilen
hingehen, wiewohl ich kein Liebhaber davon bin. — Feuerfarben,
Pomeranzengelb und Violet sind Farben, mit denen
man sich wenigstens sehr in Acht nehmen muß. — Strohgelb,
Apfelgrün, Lilas, Pompadour sind ungefähr, was des
alten Herrn Shandy neutrale Namen; ich rathe Niemand,
seine Einbildung darein zu kleiden, wenn er was Kluges beginnen
will; aber in Grüngelb und Schwarzbraun geht der
Teufel, darauf kann man sich verlassen.Wenn ihr euch für zehn oder zwanzig oder dreißig
Tomans, mehr oder weniger, eine persische Tänzerin kommen
laßt, so macht's, wie ihr wollt; aber mit dem Weibe, das
die Mutter eurer Kinder seyn soll, wollt' ich dienstlich gebeten
haben ein wenig behutsam umzugehen."Bei allem dem macht die Farbe der Einbildung allein
noch nicht Alles aus." —Ich will es euch kurz und gut sagen, weil ihr's doch
wissen wollt!Man kann einen Freund herzlich lieben, ohne daß man
es darum immer gleich stark fühlt, wie sehr man ihn liebt;
ja, es gibt Augenblicke, Stunden, Tage, wo einer für
sein Leben nicht fähig wäre, seinem besten Freund ein herzliches
Wort zu sagen. Gerade so geht's einem Biedermanne
zuweilen, ohne seine Schuld, mit seinem Weibe. Jedermann
sieht, daß dieß sehr vielerlei physische, moralische, politische,
theologische, ökonomische, mercantilische, theatralische, musikalische
und andere Arten von Ursachen haben kann. Zum
Exempel, es ist nebliges Wetter —oder man hat unruhig geschlafen —
oder eine schlechte Verdauung gehabt —oder verdrießliche
Briefe erhalten —oder Briefe wider Willen zu schreiben —
oder unangenehme Geschäfte abzuthun — oder man hat unversehens
ein wenig Bonzengift in den Leib bekommen — oder ein
elendes Schauspiel anhören müssen, und hundert andere solcher
Zufälle mehr, die auch den fröhlichsten Menschen niederschlagen
und seine Phantasie mit Capuzinerbraun austapeziren
können.Zum Ersatz hat ein Mann von Gefühl Tage oder Stunden —
je häufiger, je besser für ihn — wo seine Seele ruhig,
klar und heiter ist, wie ein stiller See; offen jedem unverfälschten
Eindrucke der Natur; empfindlich für ihre leisesten
Berührungen; geneigt, mit Allem, was lebt und webt, sich zu
freuen; glücklich im Gefühl seiner selbst; glücklich durch allgemeines,
über die ganze Schöpfung ausfließendes Wohlwollen.In solchen Augenblicken (sagte Danischmend) spielen alle
Federn, Räder, Druck- und Saugwerke unserer Einbildung
und unsers Herzens leicht und harmonisch zusammen; der
Schleier der Gewohnheit fällt von den täglichen Gegenständen
unserer Zuneigung ab: sie verschönern und verklären sich in
unsern entzückten Augen; jede angenehme Erinnerung erwacht
und vereinigt sich mit dem gegenwärtigen Wonnegefühl.
Und nun, meine Freunde, sagt mir, gibt es einen Augenblick,
der geschickter wäre, als dieser, um einem glücklichen
Geschöpfe das Daseyn zu geben?Es gibt noch andere herzausdehnende Augenblicke von
ähnlicher Art, fuhr er fort: als da sind, — wenn wir eine
unverhoffte Gelegenheit bekommen haben, eine schöne That zu
thun — oder wenn wir nach trübseligen Stunden, wo dieser
umwölbende gränzenlose Himmel, wie das dumpfige Gewölbe
eines engen Kerkers, drückend auf uns liegt, im Arm einer
redlichen Gattin Ruhe, in ihrem liebenden Blicke Trost, in
der Ergießung unsers Kummers in ihr mitempfindendes
Herz Erleichterung finden; wo sie uns Alles ersetzt, Alles
vergütet, die ganze Welt für uns ist. — Erinnert euch,
meine Freunde, daß wir nicht von einer Zehn-Toman sprechen,
und daß es jetzt nicht um Spaß zu thun ist: — die Rede, ich
wiederhol' es, ist von den Müttern eurer Kinder. — Wartet
in Geduld solche Augenblicke ab und haschet sie, wenn sie kommen."Aber wer nicht warten kann?"Dem hab' ich nichts zu sagen, antwortete Danischmend.Und doch (fuhr er fort) wir sind, ich gesteh' es, am Ende
nur arme schwache Menschlein; es gibt leichtsinnige, empfindsame
Augenblicke, über die man nicht allezeit Herr ist.
In solchen wär' einem Manne zu wünschen, daß just eine
hübsche Heerde Ziegen und Ziegenböcke oder rüstiger Esel und
Eselinnen vor seinen Augen ausgetrieben würde: — er würde
sie ansehen, erseufzen und — weise werden. Wo nicht, so
wäre wenigstens zu wünschen, daß er von solchen Augenblicken
des Selbstvergessens nur überfallen würde, wenn nichts zu
verderben ist, —wofern dieß anders jemals der Fall seyn kann.Was Danischmenden betrifft, der hatte sich — ein wenig
grillenhaft, wie er war — fest in den Kopf gesetzt, daß sein
Genius sich auch in diese Sache mische, und daß er ihn allemal,
wenn es Zeit sey, ganz deutlich höre.Man wird nicht recht begreifen, wie er bei solchen Gelegenheiten,
mitten in dem Lärm, den die Lebensgeister
gewöhnlich dabei zu machen pflegen, fein genug habe hören
können, um gewiß zu seyn, ob sein Genius Ja oder Nein
sage. Aber der Genius schrie ihm, wie es scheint, so stark
ins Ohr, daß er ihn nothwendig hören mußte. Dieß war
die einzige Gelegenheit, wo er so laut schrie.Noch Eins wollt' ich euch rathen, setzte Danischmend hinzu:
— es ist ein wesentlicher Umstand — um aller Welt willen
das Licht nicht auszulöschen; es wäre denn, daß der keusche
Mond bei heiterm Himmel just mit vollem Lichte durch eure
Vorhänge schiene.Fünftes Capitel.Bedarf keiner Ueberschrift.Sollt' es wohl Frauen (unter denen, die uns lesen, nämlich)
geben können, die unser viertes Capitel lächerlich oder
wohl gar ärgerlich fänden?Wir wollen das Beste hoffen.Und doch — wenn Brantome wirklich nach der Natur
gemalt hätte? — Wenn die Königinnen, Prinzessinnen,
Duchessen, Marquisen, Comtessen und übrigen Damen an
Heinrichs II. und Karls IX. Hofe in Frankreich so gewesen
wären, wie er sie gekannt zu haben versichert? — und wahr
wäre, daß die Menschen — Männer und Weiber — in verschiedenen
Zeiten und Ländern nur in der Art, ihre Leidenschaften
und Sitten zu kleiden, aufzusetzen, zu schminken, zu
verbrämen und zu garniren, verschieden wären — so daß,
zum Exempel, zu Heinrichs II. Zeiten die Damen in Frankreich
nur mehr entblößt gegangen wären, als zu Ludwigs XVI.
Mode —war im Grunde aber (wie Arlekin schon vorlängst angemerkt
hat) allenthalben und zu allen Zeiten einander eben so
ähnlich, als die Individua der übrigen Gattung? Wenn
dem Allen so wäre — nu ja, dann — stehe ich für nichts!Alles, was ich solchen Falls sagen kann, ist dieses: daß
ich nicht nur für meine eigene Person weder Sohn noch
Vater, Oheim noch Neffe, Bruder noch Schwager, am allerwenigsten
aber —Ehemann oder Kebsmann von einem solchen
Weibchen seyn möchte; sondern auch allen meinen Abkömmlingen
männlichen Geschlechts bis ins tausendste Glied —
wenn die Welt noch so lange halten sollte — hiermit ausdrücklich,
und so lieb ihnen, wie ich hoffe, mein Andenken
seyn wird, anbefehle, sich bestens vorzusehen, damit sie mit
einem solchen Frauenzimmer, sie sey Jungfrau, Ehefrau oder
Wittwe, in keine von allen vorbenannten Beziehungen und
Verbindungen — insofern es bei ihnen steht, solches zu
vermeiden — jemals verwickelt werden mögen.Ich ersuche sie inständig sammt und sonders, diesen meinen
ernstlichen erzväterlichen Befehl wohl zu erwägen und solchem
getreulich nachzukommen.—————
Sechstes Capitel.Worin Danischmend die Schwachheit hat, mit einem Kalender über
häusliche Glückseligkeit zu disputiren.Wir wissen nun bereits so viel von unserm Philosophen,
daß wir begreifen können, wie er, ungeachtet seiner Verbannung
vom Hofe und aus der großen Welt, ein glückliches
Leben geführt habe.Er pflegte allemal zu lächeln und die Achseln ein wenig zu
zucken, wenn ihm einfiel, daß der Doctor Abu-Bekr-Muhamed-Ibn
Bajah-Ibn Fadhl Ibn Jaafar-Alfabali nicht weniger
als zweihundert und fünfundsechzig verschiedene Erklärungen
der Glückseligkeit gesammelt und dennoch die einzige, die
unserm Manne die wahre schien, vergessen hatte.Häusliche Glückseligkeit ist die einzige Art glücklich zu
seyn, die dem Menschen hienieden bestimmt ist, pflegte er zu
sagen. Ich habe noch nie einen Menschen mit seinem Daseyn
unzufrieden, neidisch über Andrer Glück, boshaft und
übelthätig gesehen, der in seinem Cabinet, in seiner Kinderstube
und in seinem Schlafzimmer glücklich war. Auch hab'
ich nie gehört noch gelesen, daß ein solcher Mann eine Verrätherei
gegen den Staat angezettelt oder einen Aufruhr
erregt oder sich zum Haupt einer Secte aufgeworfen oder an
die Spitze einer Räuberbande oder Schwärmerrotte gestellt
und Unheil auf Gottes Boden angerichtet hätte. Ein Mann,
der in seinem Hause glücklich ist, ist immer auch ein guter
Bürger, ein guter Gesellschafter, ein guter Mensch.Aber (wandte der Kalender, mit dem er einst über diese
Sache wortwechselte, ein) um dieser Art von Glückseligkeit,
der du einen so großen Werth beilegst, fähig zu seyn, wird,
däucht mich, eine besondere Gemüthsverfassung, eine gewisse
Empfindsamkeit, Mäßigung, Gutherzigkeit und Einfalt der
Sitten vorausgesetzt, ohne welche das größte häusliche Glück
nicht glücklich macht, mit welchen hingegen, auch ohne dieses,
Niemand unglücklich seyn kann."Unstreitig, versetzte Danischmend lachend, setzt der Genuß
des häuslichen Glücks die Fähigkeit — es zu genießen, voraus.
Aber was braucht man dazu mehr, als ein Mensch zu
seyn, ein bloß menschlicher Mensch, der weder mehr noch
weniger hat, als den Grad von Empfindung und Vernunft,
womit die Natur alle Söhne und Töchter Adams ausstattet?
Was ist der Mensch — er müßte denn im Keime schon
verunglückt seyn — in dessen Macht es nicht stände, wie
ein Mensch zu fühlen und zu handeln? Und liegt nicht eben
darin, daß die Fähigkeit zum Genuß des häuslichen Glücks
unter allen Fähigkeiten der menschlichen Natur die gemeinste
ist und am wenigsten Mitwirkung fremder Umstände, Verfeinerung
und Kunst voraussetzt, liegt nicht eben darin der
stärkste Beweis, daß häusliches Glück das wahre Glück des
Menschen ist?"Ihr Andere, die ihr euch so viel damit wißt, weiser zu
seyn, als wir natürliche Leute; und —weil ihr's besser verstehen
wollt, als die Natur — euch Gott weiß welch ein
System von Entbehrungen und Unabhängigkeit und erkünstelten
Tugenden ausgedacht habt, das den Mangel dessen, was
wir genießen, ersetzen soll, — wenn ihr aufrichtig seyn
wolltet! was für Geständnisse hättet ihr zu thun! Wie theuer
verkauft euch die Natur die unrühmlichen Siege, die ihr
über sie erfechtet!"Nach deiner Meinung, erwiederte der Kalender, wäre
also kein Heil für die ehrlichen Leute, denen gewisse Umstände
und Verhältnisse nicht erlauben, sich in diesen behäglichen
Stand zu setzen, in dessen engen Cirkel du das höchste Gut
des Menschen einzuschließen scheinst?"Wenn sie ein gesundes Herz und unverdorbne Sinne
haben, so bedaur' ich sie, antwortete Danischmend. Dann
ist freilich kein andrer Rath für sie, als allen Vorrath von
Liebe, die ihr Herz in sich faßt, über die ganze Menschheit
auszugießen. In einem engern Kreise würde ihr Geist zusammenschrumpfen,
ihr Herz vertrocknen. Fremde Glückseligkeit
muß nun ihre eigne werden. Nichts als gemeines
Wohlwollen und unablässiges Bestreben, Gutes zu thun,
kann die ungeduldigen Wünsche der Natur in ihrem Inwendigen
einschläfern; sie vergessen machen, daß sie selbst
des besten Theils der Glückseligkeit, die sie Andern zu verschaffen
oder zu erhalten suchen, entbehren müssen. Und
dennoch gibt es Augenblicke — desto häufiger, je näher wir
dem Abend des Lebens kommen — wo die Natur zu laut
schreit, um sich übertäuben oder in Schlaf singen zu lassen.
Es sind traurige Augenblicke! Noch einmal, ich bedaure den
Mann, der ein Herz hat, die süßesten, lautersten, besten
Freuden des Menschenstandes zu genießen, der sie mit Geschmack
genießen, mit Wollust hineinschlürfen würde — und
ihrer entbehren muß. So oft ich mir so einen Mann denke,
möcht' ich toll werden über die dummen Einrichtungen in
der Welt, die nicht selten den besten Sterblichen in eine so
unnatürliche und peinvolle Lage schrauben!"An die armen unschuldigen Geschöpfe, die Gott der
Allmächtige nach Seel' und Leib zu Müttern erschuf, und die
der Aberglaube oder eine grausame Familienpolitik zum
trostlosen Stand ewiger Unfruchtbarkeit verdammt, — an die
mag ich gar nicht denken! Das Herz im Leibe blutet einem
ehrlichen Kerl, der an sie denkt!"Es ist wahr, eure Bonzen und Bonzinnen wissen sich zu
helfen, sagt man. Aber desto schlimmer! Die wohlthätigen
Absichten der Natur werden doch verfehlt; und welcher Freund
der Menschheit kann gleichgültig bleiben, wenn er, bloß durch
Schuld unsrer weisen wohlgemeinten Anstalten, zu Verbrechen
werden sieht, was, ohne sie, Tugend hätte seyn können?"—————
Siebentes Capitel.Wer dieser Kalender war, und wie ein Kalender aussieht.Ich habe einen Fehler begangen, lieber Leser, den ich
erst jetzt gewahr werde. Da bring' ich einen Kalender auf
die Scene, lass' ihn reden und disputiren und habe nicht
gesagt, wann und wie und warum und von wannen er kam,
und wer er ist, und was er will. Ich müßte das ganze
sechste Capitel umkehren, ja wohl gar meinen ganzen Plan —
oder wie man das nennen will, was dieß Buch von einem
Wörterbuche, Collectaneen-Buche, Pot-pourri oder Florilegium
unterscheidet — verändern, wenn ich diesen Fehler verbergen
wollte. Dieß verlohnte sich wohl der Mühe nicht. Lassen
wir also den einmal gemachten Fehler gemacht seyn — denn
auch verborgen wär' er doch gemacht — und sehen zu, wie
wir ihn vergüten.Danischmend saß eines Abends unter der äußersten Linde
eines langen Spazierganges, der zu seinem Hause führte,
an der Landstraße. Er hatte seinen Knaben, einen Jungen
von drei bis vier Jahren, auf seinen Knieen stehen und
ließ sich nicht verdrießen, während daß der Junge mit seinen
Haaren spielte, auf alle seine kindischen Fragen — in denen
(nach seiner Philosophie) große Weisheit der Natur verborgen
steckte — zu antworten, so gut ein weiser Mann auf die
Fragen eines Kindes, die oft vor lauter Einfalt spitzfindig
sind, antworten kann.Aber, Papa, sagte der Junge, warum wird es denn jetzt
dunkel?Weil die Sonne untergegangen ist, mein Sohn, antwortete
der Papa.So? sagte der Bube: wohin geht sie denn?Danischmend war im Begriff, dem Kinde begreiflich zu
machen, daß dort hinterm Berge auch Leute wären, als sie
plötzlich durch die Annäherung eines schon etwas bejahrten
Kalenders gestört wurden, der so ermüdet schien, daß er sich
mit Hülfe einer großen knotigen Keule von Schwarzdorn
kaum noch mit fortschleppen konnte.Sie möchten gerne wissen, Madame, — was für eine Art
von Geschöpfen ein Kalender ist, und wie er denn aussieht,
weil man ihm seine Kalenderheit schon von fern ansehen
konnte? Denn, daß hier von keinem Almanach die Rede sey,
haben Sie schon gemerkt.Ein Kalender — es wird schwer seyn, Madame, Ihnen
ohne Hülfe eines Malers oder Kupferstechers einen anschauenden
Begriff davon zu geben, wie ein Kalender, insofern er
ein Kalender ist, aussieht. Denn, Sie auf andere Bücher
deßwegen zu verweisen, wäre unhöflich.Sie haben doch wohl in Ihrem Leben, es sey nun in
natura oder in der Abbildung, einen Capuziner oder Waldbruder,
mit einem langen Barte, einem Strick um den Leib
und einem langen Rosenkranz in der Hand oder an der
Seite, vor die Augen bekommen? — Gut! —Solchen Falls
nun schneiden Sie diesem Capuziner oder Waldbruder seinen
langen, schwarzen oder rothen oder weißen oder scheckigen
oder blauen Bart — denn man sieht ihrer von allen Farben —
an der Wurzel ab, — oder befehlen vielmehr Ihrer
Phantasie, es für Sie zu thun —sie ist eine große Meisterin,
Bärte (sonderlich Zwickelbärte) anzusetzen oder abzumähen. —
Lassen Sie ihm ferner Haare und Augenbraunen so glatt
wegscheren, als ob nie etwas dergleichen da gewesen wäre.
Alsdann ziehen Sie ihm seinen Mantel, seinen Capuz, seinen
langen Rock und seine hölzernen Schuhe —Doch, um Vergebung! Ich sehe eben, daß Sie ihm —
es ist auch um der Anständigkeit willen besser —seinen Rock
lassen können, wenn Sie sich nur die Mühe geben wollen,
die Aermel und den obern Theil, der Hals und Brust bedeckt,
gänzlich davon zu abstrahiren und ihn ein wenig über
den Anfang der Waden von unten auf ringsum abzustutzen.
Strick und Rosenkranz bleiben.Die Capuziner, Madame, tragen, der Reinlichkeit wegen,
keine Hemden, wie Sie wissen — oder jetzt zum ersten Mal
hören. Die Kalender auch nicht. Man erspart viel dabei
an Leinwand, Zwirn, Seife, Wäscherlohn u. s. w., anderer
Vortheile zu geschweigen.Nun, weil Capuzinertuch in den warmen Morgenländern,
wo die Kalender zu Hause sind, ein wenig zu schwer wäre,
so verwandeln Sie es in kothfarbene oder kuhrothe oder eierdottergelbe
Sackleinwand — und insofern Sie alle diese
verschiedenen Operationen des Geistes, Abstractionen, Depilationen,
Decurtationen, Defigurationen und Decolorationen
mit der erforderlichen Genauigkeit vorgenommen haben —
so kann es nicht fehlen, Sie haben das wahre leibhafte Bild
eines Kalenders vor sich stehen, so daß Sie gar nicht nöthig
haben, sich deßwegen nach Türkenland, Persien, Korassan, Zagatay
oder andern solchen Ländern im Heidenthum zu bemühen.Die Damen in Holstein, Mecklenburg, Pommern, Dänemark,
Norwegen, Schweden u. s. w., welche sich aus bekannten
Ursachen nicht in dem Falle befinden, den wir hier voraussetzen,
können sich ganz leidlich aus der Sache ziehen, wenn
sie alle vorbemeldete Abstractionen, Depilationen u. s. w.
mit dem einen oder andern von den Papions oder Sapajus,
im zwölften Theile der neuesten Octavausgabe von Büffons
Naturgeschichte, vorzunehmen belieben wollen. Wir wollen
Ihnen hierzu unmaßgeblich den Mandril von Guinea (S. 136)
oder den grauen Saju oder Sajuassu, den der Ritter Linné
in seinem Natursystem Simia capucina caudata, imberbis,
cauda longa hirsuta, nennet (S. 317), vorgeschlagen haben;
wiewohl in verschiedener Betrachtung der Wandern von Ceylon,
Simia caudata, barbata, corpore nigro, barba nivea,
prolixa (S. 102), noch bequemer dazu wäre; wenigstens zu
unserm vorliegenden Gebrauche. Denn, obgleich die Kalender
gewöhnlicher Weise eben so unbärtig sind, als des Ritters
Linné Simia capucina, imberbis, cauda longa etc., so führte
doch derjenige, von dem jetzt die Rede ist, vermuthlich aus
einer Art von kalenderischer Coquetterie, einen vollständigen,
langen, mausefarbenen Bart, der ihm, mit Hülfe eines
großen Stücks brauner Leinwand, das in Gestalt eines
Mantels um seine Schultern geschlagen war, so ziemlich das
Ansehen eines alten griechischen Philosophen aus einer von
den schmutzigen Secten gab.Danischmend nahm den Kalender mit nach Hause und bewirthete
ihn, so gut er konnte. Sie unterhielten sich von allerlei
Dingen, und sowie der Kalender seine Seele gelabet hatte, fing
er an, muntrer zu werden, und sprach wie einer, der viel gesehen
und mehr gedacht hat, als Capuziner, Waldbrüder, Kalender,
Fakirn, Mandrils und Wanderns gewöhnlich zu denken pflegen.Jetzt betrachtete Danischmend seinen Gast mit mehr Aufmerksamkeit.
Bruder, sagte er zu ihm, mich däucht, wir
sollten uns schon gesehen haben?Es ist möglich, antwortete der Kalender.—————
Achtes Capitel.Geschichte der drei Kalender."Warst du nicht einer von den drei Kalendern, die vor
fünf Jahren, um die Erntezeit, zu Dehly, den Gärten des
Serais gegenüber, unter einer Cypresse saßen?"Der Kalender erinnerte sich dessen nach einigem Besinnen.
Der Sultan, der euch gewahr wurde (fuhr Danischmend
fort) wollte wissen, wer ihr wäret, und wie es käme, daß ihr
euch just unter diesem Cypressenbaum seinem Serai gegenüber
und nicht unter irgend einem andern Baum und an
einem andern Ort in der Welt befändet. Ich ging also hin,
um mich ein wenig näher mit euch bekannt zu machen. Aber
ihr waret verschwunden, eh' ich zur Cypresse kam. Ich suchte
euch vergebens, und Niemand wollte etwas von den drei
Kalendern wissen. Einen, zwei, vier, fünf, sechs, sieben,
u. s. f. hatten viele Leute gesehen. Ich schickte unter alle
Thore und in alle Quartiere der Stadt, um die drei Kalender
zu erfragen. Endlich erfuhr ich des folgenden Morgens,
daß man hinter der großen Pagode vor dem östlichen Thore
drei Kalender unter den Bäumen frühstücken gesehen habe.
Ich begab mich sogleich an den Ort; aber, kaum wurdet ihr
gewahr, daß ich auf euch zuging, so standet ihr auf und
entferntet euch so behende, daß ich bald die Hoffnung aufgab,
euch einzuholen; und von Stund' an sah man euch nicht
wieder in Dehly.Sieben Tage lang wurde beim Schlafengehen des Sultans
von den drei Kalendern gesprochen. Jedermann wollte was
Besonderes von ihnen wissen; aber im Grunde wußte Niemand
etwas davon, als daß die drei Kalender — drei Kalender
waren. Es fehlte wenig daran, daß euch Schach-Gebal ein
paar tausend Reiter nachgeschickt hätte. Denn, wiewohl ihm
die Sache anfangs ziemlich gleichgültig war, so hatte man
doch so lang' und breit davon gesprochen, so viel gemuthmaßet,
verglichen, inducirt, argumentirt und disputirt, daß
seine Neugier endlich im Ernste rege ward. Es sind Kundschafter,
sagte einer; es sind drei Weise aus Griechenland,
sagte der andre; sie kommen von den Enden der Welt; sie
besitzen Geheimnisse, haben den Stein der Weisen, können
zaubern, sich unsichtbar machen, sich in Thiere verwandeln,
auf Wolken reiten, —sagte der dritte, vierte, fünfte u. s. f.
Es sind Kalender, sagte ich, und vermuthlich die müßigsten
Leute von der Welt; es müßten's nur diejenigen noch mehr
seyn, die nichts Besseres zu thun haben, als Hypothesen über
drei Kalender zu machen. Dieß, guter Alter, ist Alles, was
ich von eurer Geschichte weiß —— "und hier, versetzte der alte Kalender, Alles, was ich
zur Ergänzung derselben hinzu thun kann. Ich kenne die
beiden jungen Kalender, die du bei mir gesehen hast, sehr
wenig. Wir trafen uns einst in Samarkand an, reiseten
eine Zeit lang mit einander, trennten uns wieder, fanden
uns darauf unverhofft in Kandahar wieder zusammen und
durchzogen in Gesellschaft einen Theil von Persien, ohne daß
einem von uns einfiel, den andern um seine Geschichte zu
fragen. Indessen zeigte sich bald, daß der eine nicht übel
sang, 'und der andre mit der Wuth, Lieder und Verse aus
dem Stegreife zu machen, behaftet war. Wo uns unterwegs
in einem Dorfe eine erträgliche Dirne mit schwarzen Augen
in den Wurf kam, da setzt' er sich unter einen Baum hin,
krönte und salbte die Bäuerin zur Sultanin seines Herzens
und machte Lieder, klafterlang, zu Ehren ihrer schwarzen
Augen. Dann gingen beide Laffen und sangen's des Abends,
während daß sie ihre Ziegen melkte, vor ihrer Stallthür.
Dessen ward ich denn endlich überdrüssig, und wir trennten
uns abermals."Zwei Jahre gingen vorbei, ohne daß wir etwas von
einander hörten; bis ich einsmal zu Lahor meinen Sänger
vor der Pforte eines Palastes antraf, wo er lange die besten
Lieder seines Freundes, des Versemachers, aus voller Kehle
anstimmte, ohne daß Jemand Acht darauf gab. Zuletzt kam
ein Diener heraus und reichte ihm, vermuthlich um ihn
zum Schweigen zu bringen, ein kleines Almosen. Er schien
sich seit einiger Zeit, wider Willen, im Fasten geübt zu haben
und sah so nackt und armselig aus, daß mich seiner
jammerte. Die Leute von Lahor sind ein rohes Volk, sagte
er: ich habe ihnen vergebens nach den schönsten Weisen von
Jspahan gesungen; die Unmenschen lieben weder Tanz noch
Gesang; sie hätten mich singen lassen, bis mir die Zunge im
Gaumen vertrocknet wäre, ohne sich darum zu bekümmern.
Da lob' ich mir die Einwohner von Jspahan! Das ist doch
ein Ort, wo man seine Talente geltend machen kann! —
Warum bliebst du denn nicht dort, fragte ich, wenn's dir so
wohl ging? — Das will ich dir im Vertrauen sagen, erwiederte
er. Du weißt; daß ich einmal nicht übel aussah. Ich
sang noch nicht lange vor den Häusern einiger Großen zu
Jspahan, so hatte ich das Glück, einem von ihnen, da ein
sehr reicher Emir war, zu gefallen, und er nahm mich unter
seine Musikanten auf. Als ich einige Tage im Hause gewesen
war, so fand sich, daß ich glücklicher war, als ich gedacht
hatte; denn ich gefiel auch der Gemahlin des Emirs. Bei
allen Huri's des Paradieses, das nenn' ich eine Frau! Zu
meinem Unglück hatte sie den einzigen Fehler, daß sie ein
wenig zu eilfertig in ihren Sachen war und nicht aufhören
konnte. In wenig Wochen war meine Stimme weg, und
ich wurde so dünn, daß die Sonne durch mich schien. Der
Emir konnte nicht begreifen, wie dieß zuging: aber es sey
nun, daß er etwas argwöhnte, oder daß er einen Sänger,
der nicht mehr singen konnte, für ein unnützes Hausgeräth
ansah; genug, er jagte mich aus seinem Hause und aus Jspahan.
Was sollt' ich anfangen? Ich kehrte wieder zu meiner
vorigen Lebensart zurück; aber mit so schlechtem Erfolge,
daß ich, wie kurze Zeit es auch noch so fortgehen möchte,
allen Emirn und Emirsweibern auf ewig unnütz werden
müßte. — Komm mit mir, Alfaladdin, sagte ich: man
muß mehr als eine Saite auf seinem Bogen haben. Was
nützt dem Tauben ein Leiermann? Das Volk von Lahor
liebt die Musik nicht —oder vielleicht sind sie nur keine Liebhaber
von den Stimmen, die durch die Emirsweiber zu Jspahan
verdünnet wurden. Was thut's? Etwas müssen sie lieben,
und morgen sollst du sehen, ob ich es ausfindig gemacht habe."Ich führte den armen Schelm in meine Herberge, wo
drei oder vier Fakirn mit einer reichlichen Abendmahlzeit
meiner warteten. Er gerieth vor Freuden und Erstaunen
außer sich, da er sah, wie gute Anstalten wir gegen das
ungeduldigste aller menschlichen Bedürfnisse gemacht hatten.
Aber wie fängt ihr das an, Brüder? rief er aus. Was für
ein Geheimniß besitzt ihr, diese tauben Ottern von Lahor zu
beschwören, daß sie euch mit dem Mark ihres Landes mästen?
— Geduld, sagt' ich: du sollst es sehen. Es ist die leichteste
Sache von der Welt, die Mildherzigkeit dieses Volkes zu
besteuern. Der ungeschickteste Strohkopf hat dazu Geschicklichkeit
genug: du brauchst dazu weder deine Lenden noch deine
Lungenflügel anzugreifen. Mache nur, wie du diese guten
Fakirn machen siehst, und bekümmere dich weiter um nichts."Des andern Morgens nach dem zweiten Gebete begaben
wir uns in den Vorhof der großen Moschee. Eine Menge
Volks sammelte sich um uns her. Ich theilte den Fakirn
und dem nichts Arges besorgenden Alfaladdin Geißeln aus. —
Wozu dieß? fragte mich der Sänger heimlich. — Mache, wie
du deine Cameraden machen siehst, sagt' ich ihm mit großer
Ernsthaftigkeit, und schone deines Leders nicht, oder du bist
verloren. —Die Fakirn fingen an, sich aus Leibeskräften zu
peitschen, und arbeiteten so gelassen und tactmäßig auf ihren
bloßen Rücken zu, als ob er von Alabaster gewesen wäre.
Der arme Alfaladdin, wie er sah, daß kein anderes Mittel
war, entschloß sich endlich mit zusammengebissenen Zähnen
ihrem Beispiele zu folgen. Aber die Natur empörte sich schon
beim zweiten Streich. Er hob die Geißel so langsam, als
ob anstatt jedes Spörnchens ein Mühlstein daran hinge, und
eh' ich's mich versah, hatte er sich unterm Gedränge davon
geschlichen. Unterdessen daß sich die Fakirn, zu großer Erbauung
des Volkes von Lahor, ohne alles Mitleiden mit sich
selbst zerfetzten, theilte ich Amulete gegen die Krankheiten
und böse Geister, gegen Donner und Wetter, Ratten, Schlangen
und Skorpionen aus, und den Weibern verkaufte ich
Talismane, um ihren Männern .besser zu gefallen, und
Mittel gegen die Unfruchtbarkeit."Des Mittags zogen wir uns, mit der Beute von Lahor
beladen, in unsere Herberge zurück. Wir fanden da unsern
Abtrünnigen, der mir sein Instrument mit demüthigem
Danke zurückgab und bei den Bärten aller zwölf Imans
schwor, daß er lieber singen und hungern, als seine Mahlzeit
auf Unkosten seines Rückens verdienen wolle. Wohin
gedenkst du denn? fragte ich ihn. — "Nach Dehly, wo ich
vermuthe, daß sich mit Singen oder Leiern mehr als mit
Geißeln verdienen läßt." — Ich begleite dich, sprach ich:
meine Amulete und Talismane werden ungefähr bis dahin
für uns beide zureichen. Ich ließ also die Schafköpfe von
Fakirn zu Lahor zurück und kam mit Alfaladdin nach Dehly.
Weil wir sehr ermüdet waren, setzten wir uns den Gärten
des Serais gegenüber unter den ersten besten Baum, wo
wir unsern ehemaligen Gefährten Sinan, den Dichter, in
eben so verfallenen Umständen antrafen, als die, woraus ich
seinen Freund, den Sänger, gezogen hatte. Wir saßen noch
nicht lange beisammen, als wir gewahr wurden, daß man
uns aus einem Fenster des Serais beobachtete. Dieß beunruhigte
meine Gefährten. Der Sultan ist kein Freund unsers
Ordens, sagten sie: es könnte Seiner Hoheit leicht einfallen,
übel zu finden, daß wir uns hier im Angesichte seines Serais
gelagert haben. — Ich weiß nicht, ob der Sultan ein
Freund von Kalendern ist oder nicht, sagte ich: aber ich weiß,
daß ich kein Freund — von Sultanen bin. Man kann nie
zu weit von diesen Herren seyn. Wir machten uns also auf,
sobald wir sahen, daß man sich vom Fenster entfernte, und
schlichen uns hinter den Bäumen weg. Wir gingen über den
Fluß und übernachteten bei einer mildherzigen Wittwe, die
viel Mitleiden mit jungen Leuten unseres Standes zu tragen
schien. Des folgenden Morgens, da wir umher gingen, die
Stadt auszukundschaften, glaubten wir gewahr zu werden,
daß man uns mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit betrachte.
Dieß bewog uns, den einsamen Ort zu suchen, wo du uns
fandest. Deine Annäherung schien eine geheime Absicht zu
verrathen, die unsere Unruhe vermehrte. Wir trennten uns
also zum dritten Mal, und seitdem weiß ich nicht, was aus
den beiden jungen Kalendern geworden ist; ich vermuthe
aber, daß sie mit einander gegangen sind, ihre Talente in
den mittäglichen Provinzen von Indostan geltend zu machen.—————
Neuntes Capitel.Ein Dialog zwischen dem Leser und dem Autor."Und dieß wäre also die Geschichte der drei Kalender, nach
der man uns schon so lange den Mund wässern gemacht hat?"Wie Sie sehen."Es verlohnte sich wohl der Mühe nicht, uns damit zu
behelligen."Das beliebt Ihnen so zu sagen, meine Herren. Ich wollte
wetten, daß unter hundert so gelehrten, belesenen, Alles wissen
wollenden und Alles mit allen seinen Umständen wissen
wollenden Herren, wie viele unter Ihnen sind, wenigstens
achtzig seyn müssen, die keinen unbeträchtlichen Theil ihres
Lebens zugebracht haben, Historien zu lesen oder zu emendiren,
zu commentiren, zu excerpiren, in eine andere
Form zu gießen u. s. w., die sich der Mühe eben so wenig
und vielleicht weniger verlohnten, als diese. — Und dann,
ist es wohl billig, für nichts zu rechnen, daß ich Sie, da
Sie doch einmal die Geschichte der drei Kalender wissen wollten,
so leicht habe durchwischen lassen? Stand es etwa nicht
bei mir, diese nämliche Geschichte, wovon ich jetzt den Kern
und die Quintessenz in etlichen Blättern geliefert habe, in
eben so viel Bände auszudehnen?"Als ob wir dann verbunden gewesen wären, sie zu lesen?"O meine Herren, Sie würden sie gelesen haben, dafür
steh' ich Ihnen. Es gibt Mittel, die Leute lesen zu machen!"Wenn einiger Nutzen davon zu gewarten ist, ja. Aber
wozu soll wohl — | die Geschichte der drei Kalender | nützen?"Wie doch gelehrte Leute so eine Frage thun können! Alles
ist nützlich, meine Herren, Alles; Dornen und Disteln, Spreu
und Häckerling, Spinneweben und Wespennester, Froschzungen
und Froschleich, Wanzen und Blattläuse, Bärenfett
und Katzenfett, ja, in gewissen Umständen sogar Bonzenfett.
— Nur Bonzengift ganz allein nehm' ich aus; denn dieß
hat zu allen Zeiten in der ganzen Welt zu nichts getaugt —
als Unheil anzurichten, ehrlichen Leuten das Herz abzufressen,
Könige zu ermorden und gute Päpste zu vergiften —Wenn also (Bonzengift und Aqua Tofana ausgenommen)
Alles in der Natur zu etwas gut ist, warum, meine hochgelahrten
Freunde, sollte die Geschichte der drei Kalender zu
nichts gut seyn? —Wie, wenn sie sich entschlössen, sie noch
einmal zu lesen? Man entdeckt oft erst beim zweiten oder
dritten Male, wo der Hund begraben liegt."Alles, was sich darin entdecken läßt, läuft auf zwei
Punkte hinaus: erstens, daß der Sultan und die Sultanin,
seine Gemahlin, und Danischmend, sein Hofsophist,
und alle Mirza's und übrige Müßiggänger an seinem Hofe
von den drei Kalendern —nichts wußten; und zweitens, daß
Alles, was der alte Kalender von der Sache weiß und sagt,
schwerlich nur eine Stecknadel besser ist, als nichts."Meine Herren, haben Sie nicht gelesen und lesen vielleicht
noch täglich Bücher in groß und klein Folio, Quarto und
Octavo, voll gestopft und gepfropft mit unmenschlicher Gelehrsamkeit,
mit höchst mühseligen Nachforschungen und Berichtigungen,
mit ausführlicher Widerlegung aller gegenseitigen
Meinungen, mit Citationen zehn tausend anderer Bücher
und mit Digressionen durch alle Prädicamente, das Ganze
mit einem zwei- oder dreifachen Register wohl versehen, —
haben Sie, sage ich, nicht dergleichen Bücher gelesen, sie im
Schweiß Ihres Angesichts, bei nächtlicher Lampe, auf Unkosten
Ihrer Augen, Ihres Oelkrügleins, Ihres Schlafs und
vielleicht Ihrer häuslichen Obliegenheiten gelesen, ohne einen
andern Nutzen davon zu haben, als daß Sie nun entweder
nichts von der Sache wußten oder etwas wußten, das Ihnen
das Oel in der Lampe nicht bezahlte?Das ist eben die Sache, meine Freunde — und Sie haben
immer noch dabei gewonnen, wenn Sie wissen, daß
es so ist.Und nun gehen Sie hin und sagen mehr, die Geschichte
der drei Kalender sey zu nichts nütze.—————
Zehntes Capitel.Schutzrede des Kalenders für seinen Stand.Perisadeh sah bei einigen Stellen der Erzählung des Kalenders
bald auf ihren Mann, bald auf den Erzähler, mit
Augen, in deren eigenthümlicher Heiterkeit ein Wölkchen von
Mißfallen schwamm, welches dem Alten nicht unbemerkt blieb.
Danischmend selbst, wiewohl er mehr von der Welt gesehen
hatte, als Perisadeh, und in der Miene des Kalenders etwas
fand, das ihn zu dessen Vortheil einnahm, konnte sich doch
des Gedankens nicht erwehren, daß er einen schlimmen alten
Vogel und vielleicht einen gefährlichen Menschen unter sein
Dach aufgenommen habe.Der Kalender schien durch das, was seine Wirthe von
ihm dachten, wiewohl er es deutlich in ihren Augen las,
nicht beunruhigt zu werden. Er sprach noch eine Weile von
allerlei Dingen; aber, da er merkte, daß Perisadeh immer
ernsthafter, und Danischmend immer stummer wurde, fand
er für gut, den widrigen Eindruck in Zeiten auszulöschen,
den er ihnen in einer Art von Sorglosigkeit, die vielleicht
aus einem billigen Selbstvertrauen entsprang — von seinem
Charakter gegeben hatte."Nicht wahr, sagte er zu Danischmenden, mein Aufzug,
meine Lebensart, die Gesellschaft, worin du mich zu Dehly
gesehen hast, und die Peitschen und Amulete, die ich zu
Lahor austheilte, geben dir keine sehr vortheilhafte Meinung
von deinem Gaste? Allein in meinem Stande macht man
allerlei Bekanntschaften, lernt mit allerlei Menschen leben
und macht allerlei Thorheiten. Der Stand eines Kalenders
hat, wie alle andre, ohne Zweifel seine schlechte Seite; aber
er hat auch seine Vorzüge. Er wird vielleicht von den meisten
gemißbraucht; aber es ist gewiß, daß er eben so wohl eine
Schule der Weisheit seyn kann, wenn wir wollen. Unser
Orden ist wenig von der Secte jener Philosophen unterschieden,
die bei den alten Griechen Cyniker genannt wurden;
der ganze Unterschied liegt darin, daß der Pöbel ich weiß
nicht welchen Begriff von Heiligkeit und Verdienst mit unserer
Lebensart verknüpft, weil der Stifter derselben ein Santon
und vermuthlich, so wie seine ersten Nachahmer, im
Kopfe nicht allzu richtig war. Ich gestehe gern, wär' ich ein
Fürst oder der Wessir eines Fürsten, so würde meine erste
Sorge seyn, keine Müßiggänger und Landstreicher, unter
welche Namen sie sich auch verstecken wollten, in meinem
Lande zu dulden."So dacht' ich auch, sagte Danischmend und hielt plötzlich
wieder ein, weil ihm auch dieß Wenige wider Willen entwischt
war."Da ich aber, fuhr der Alte fort, ein Kalender bin und
in einem Theile der Welt lebe, wo eine allgemeine Verschwörung
der Sultanen und Wessire gegen die Kalender nicht
zu besorgen ist: so bediene ich mich der Freiheit, die man
mir lassen will, und schleiche mich so leise durch die Welt,
als ich kann."Ein Kalender, nach dem Begriff, den ich mir davon
mache, hat den Vortheil, auf diesem großen Markte des
menschlichen Lebens, — wo alle andre Leute etwas zu kaufen
oder zu verkaufen, zu tauschen oder zu wechseln, zu richten
oder zu schlichten, zu pfeifen oder zu tanzen, zu betrügen
oder zu stehlen haben, — den bloßen Zuschauer zu machen.
Er besitzt weder Land noch Geld, treibt weder Handwerk noch
Kunst, hat weder Weib noch Kind, ist keines Ortes Bürger,
keines Fürsten Diener, hat kein andres Vaterland als den
Erdboden, hängt an nichts, ist so frei wie der Vogel in der
Luft und, wenn er weise ist, glücklicher als der Sultan von
Indien."Das ist nicht viel gesagt, dachte Danischmend."Und warum sollt' er nicht weise seyn? Was so viel andere
Menschen daran hindert, ist kein Hinderniß für ihn.
Er hat sich angewöhnt, so wenig zu bedürfen, daß die
Begierlichkeit ihn selten zu Thorheiten verleitet, und so viel,
als die Natur bedarf, findet er allenthalben. Indessen wandert
er ohne sich zu bekümmern, ob die Welt gut oder übel geht,
aus einer Provinz in die andere, von Stadt zu Stadt, von
Dorf zu Dorf, macht sich mit allen Arten von Menschen bekannt,
übernachtet bald unter einer vergoldeten Decke, bald
in einer Lehmhütte, beobachtet aller Menschen Thun und
Lassen, lernt ihre Leidenschaften und Einbildungen, ihre
Tugenden und Laster, ihre Mummereien, Trugschlüsse und
Possenspiele, ihre schwache und ihre häßliche Seite kennen;
lernt, wodurch man ihnen gefallen, und wie man auch den
unbändigen Theil so kirre machen, zäumen und bemaulkorben
kann, daß er Alles mit sich anfangen läßt, was ihr wollt.
Warum sollte nun ein mit allen diesen Erfahrungen und
Kenntnissen bereicherter Mann nicht weise seyn, und wie
sollte ihn seine Weisheit nicht glücklich machen? Wenn die
Glückseligkeit darin besteht, so wenig als möglich zu leiden:
wer leidet weniger, als er, der so wenig bedarf, so wenig
verlieren kann, durch keine Begierden gequält, durch keine
Sorgen schlaflos gemacht wird und gegen alles unvermeidliche
Ungemach des Lebens durch die Gewohnheit abgehärtet
ist? der mit den übrigen Menschen in so wenigen und so
unbedeutenden Verhältnissen steht, daß es beinahe unmöglich
ist, jemals mit ihnen in einen empfindlichen Zusammenstoß
zu kommen? der sie so gut kennt und so wenig Ansprüche
an sie macht, daß es ihm nie einfällt, sich darum zu bekümmern,
ob sie ihn hochschätzen oder verachten? — Besteht die
Glückseligkeit in dem Gleichgewichte der Seele: wer ist ruhiger,
als der, der bei allen Veränderungen und Katastrophen
der Welt nichts zu gewinnen noch zu verlieren hat; der nichts
so heftig liebt noch haßt, daß seine eigne Ruhe dabei leiden
könnte; der nie ein fremdes Interesse verwickelt, nie von
fremden Leidenschaften herumgetrieben wird und, wenn alle
Sultane der Welt Lust bekämen, sich mit einander zu raufen,
sehr entschlossen ist, nicht ein einziges Haar von den
seinigen dazu herzugeben? — Liegt der höchste Grad der
Glückseligkeit in der Selbstgenügsamkeit: wer, als er, kann
sich rühmen, unter allen Arten der Sterblichen diesem Glücke
der Götter am nächsten zu kommen, er, der Alles, was er
sein nennt, immer bei sich trägt?"—O die verwünschten Declamationen! dachte Danischmend —— "und dem nichts unentbehrlich ist, als Luft zum
Athemholen, Wasser zum Trank, Wurzeln zur Speise und
ein Baum oder eine Höhle zum Obdach? — Entspringt die
Glückseligkeit aus dem Genuß des Vergnügens: welche Vergnügungen
sind lebhafter, vollströmender, unschädlicher und
wohlfeiler zu haben, als diejenigen, wovon alle Menschen
aus dem großen Becher der Natur bis zur Sättigung trinken
können? Und wer genießt diese freier, ungestörter und
behutsamer, als der Kalender; dieser echte Sohn der Natur,
dessen Einbildung durch keine Vorurtheile verwöhnt, dessen
Geschmack durch keine spitzfindige Verfeinerung verzärtelt,
dessen Organe durch Ueppigkeit und Ausschweifungen nicht
geschwächt und abgenutzt sind?"Der Kalender merkte endlich, daß Danischmenden die
Geduld auszugehen anfing. "Nun denn, was sagst du, fuhr
er lachend fort, zu allen diesen Glückseligkeiten des Kalenderstandes?
Ich gestehe, daß ein Bißchen Declamation mit untergelaufen
ist." —Das weiß der Himmel! rief Danischmend. —"Indessen ist doch immer so viel davon wahr, daß ich,
so wie du mich hier siehst, einer von diesen glückseligen
Sterblichen bin, die so wenig leiden, so wenig bedürfen, so
wenig fürchten noch hoffen, kurz so wenig Antheil an der
abgeschmackten Posse nehmen, die das Erdenvolk mit so viel
dummer Feierlichkeit auf der einen und mit so viel kindischem
Muthwillen auf der andern Seite spielt, als es einem Wesen,
das von vier Elementen leben muß, nur immer möglich ist."Gut! oder, wenn ich dir aufrichtig sagen soll, wie mir's
ums Herz ist, nicht gut, versetzte Danischmend. Ich bin
eines von den verträglichsten Geschöpfen auf Gottes Boden;
aber es ist mir unmöglich, einem Menschen hold zu seyn,
der nur für sich selbst lebt. Ich hasse die bloße Vorstellung
von einem gleichgültigen Zuschauer des menschlichen Lebens.
Nicht, als ob ich einem weisen Manne zumuthen wollte, sich
ohne Noth in die Angelegenheiten irgend einer besondern
Gemeinheit verflechten zu lassen. Aber ist er nicht ein
Weltbürger? und, so wenig es immer seyn mag, was die
Menschen für ihn thun, wie kann er vergessen, daß er auch
etwas für sie zu thun schuldig ist?"Schuldig? —erwiederte der Kalender ganz kaltsinnig; das
dächte ich nicht! Ja, wenn er irgend etwas von den Menschen
als Schuldigkeit forderte; dann! — Aber dieß ist ganz
wider die Grundsätze des echten Kalenders. Was er von
den Leuten empfängt, das gibt ihm ihre Gutherzigkeit oder
ihre Eitelkeit oder ihr Aberglaube. Die beiden ersten belohnen
sich selbst, und der letzte verdient, zur Strafe betrogen
zu werden. Denn wozu hat ein Mensch vonnöthen,
seinen fünf Sinnen und dem Menschenverstande zum Trotz
sich ungereimtes Zeug in den Kopf zu setzen?"Uebrigens seh' ich nicht, wie man die Philosophen unsers
Ordens einer gänzlichen Unthätigkeit beschuldigen kann. Sie
nützen der edlern Art von Menschen durch ihren Umgang,
durch Mittheilung ihrer Bemerkungen, durch ein Urtheil von
den menschlichen Dingen, das durch keine Parteilichkeit, keinen
Sectengeist, keine Art von Vorurtheilen verfälscht wird.
Die Großen hören zuweilen durch sie das Kostbarste, was
ein gemeiner Mann einem Großen geben kann, die
Wahrheit; und der leichtgläubige Pöbel empfängt aus
ihrer wohlthätigen Hand Amulete und Talismane; herrliche
Arzneien für eine kranke Phantasie; Dinge, die an sich
nichts sind, aber durch den Glauben, den man an sie hat,
zuweilen wunderthätig werden. Mir däucht, Alles dieß setzt
die Kalender mit den übrigen Erdebewohnern so ziemlich ins
Reine und gibt ihnen, wiewohl sie weder graben noch spinnen,
ein hinlängliches Recht an das Wenige, was sie vonnöthen
haben. — Von den Gunstbezeugungen milder Seelen
vom schönen Geschlecht, um die man uns zu beneiden pflegt,
sag' ich nichts; denn man kann sich leicht vorstellen, daß wir
sie verdienen müssen."Freund Kalender, sagte Danischmend, wenn deine Sache,
wie ich besorge, nicht die beste ist, so hast du ihr wenigstens
die beste Wendung gegeben, die man ihr geben kann. Uebrigens
finde ich eben so natürlich, daß ein Mann seine eigene
Art, über jede Sache zu denken, als daß er seine eigene individuelle
Nase habe. Es gibt freilich Nasen von so besonderer
Figur und Proportion, daß die Schönheit der menschlichen
Gattung nicht viel dabei gewinnen würde, wenn man
sie zu Modellen machen wollte. Aber unter tausend mehr
oder weniger gebogenen oder eingedrückten, viereckigen oder
aufgestülpten, längern oder kürzern Nasen vom gewöhnlichen
Schlage mag immer ein Elephantenrüssel oder ein Habichtsschnabel
ohne Schaden mitlaufen. So selten, als die kaltblütigen
Philosophen sind, zu denen du dich bekennst, würd'
es allerdings sehr unbillig seyn, ihnen den wenigen Raum,
den sie auf diesem ohnehin schlecht bevölkerten Erdenrund
einnehmen, zu mißgönnen. Doch leugne ich nicht, daß es
mir leid thun sollte, wenn sie jemals aufhörten, selten zu seyn.—————
Eilftes Capitel.Ein ehevertrauliches Gespräch zwischen Danischmend und Perisadeh.Als Danischmend und Perisadeh sich wieder allein befanden,
—— Sie sehen, meine Freunde, ich erlasse Ihnen den
Rest der Unterredung bei Tische, und wie man einander
gute Nacht wünschte, und die Beschreibung des Schlafzimmers,
welches dem Kalender angewiesen wurde, und die
Beschreibung einer schönen jungen Sklavin, die ihm Wasser
brachte und schon wieder verschwunden war, da er sie eben
mit einiger Aufmerksamkeit ansehen wollte, u. s. w. — und
dieß ist immer sehr höflich von einem Schriftsteller, der bei
gutem Muth ist und etliche Buch schönes weißes Papier
und ein Duzend schon zugeschnittene starke Gänsekiele vor
sich liegen hat —Als, sage ich, Perisadeh und Danischmend (zu großer Erleichterung
der erstern) sich wieder allein befanden, erfolgte
etliche Minuten lang eine tiefe Stille."Dieser Kalender ist mein Mann nicht," sagte endlich
Perisadeh, indem sie ihr leichtseidnes rosenfarbnes Untergewand
herabschlüpfen ließ.Ich wollte auch nicht, daß er's wäre, antwortete
Danischmend."Eine Frau wäre unglücklich bei einem solchen Manne,
fuhr sie fort: wie könnt' ein Mann, der so denkt, ein zärtlicher
Vater seyn?"Mit einer solchen Art zu denken, Perisadeh, wird man
ein Kalender — oder ein Bösewicht."Ich fürchte, wir haben einen schlimmen Menschen unter
unserm Dache, mein Lieber."Besorge nichts, Perisadeh; er ist nicht so arg, als er sich
macht. Und dann ist er ja ein Kalender!"Ich bin diesen Leuten nie gut gewesen."Ich auch nicht. Aber ein Kalender kann so denken, wie
dieser, ohne daß er darum ein schlimmerer Mann ist, als
tausend andere."Nichts so sehr lieben, daß seine Ruhe dabei in Gefahr
käme? — Begreifst du das, Danischmend? Was nennt der
Mensch lieben?"Wir müssen ihn nicht nach uns beurtheilen, meine Beste,
wenn wir ihm nicht Unrecht thun wollen. Der Mann trägt
sein Herz in seinem Kopfe."Ich kann nicht glauben (fuhr Perisadeh fort), daß ein
Mensch desto besser sey, wenn er so wenig Bedürfnisse hat.
Ich wenigstens schäme mich nicht, zu gestehen, daß ich ohne
dich und unsre Kinder keinen Augenblick leben möchte. Und
wenn ich jetzt denken müßte, daß ein einziges menschliches
Geschöpf in unserm Hause unglücklich wäre; ich könnte keine
Ruhe haben. Das Glück der Menschen, die um mich sind,
ist ein Bedürfniß für mich."Wie Sie sehen, war die gute Perisadeh, mit aller ihrer
Zärtlichkeit und Güte des Herzens, eine kleine Egoistin.
Allein dieß konnte nicht anders seyn. Wir haben es schon
gesagt, sie war eine bloße kunstlose Tochter der Natur.Danischmend liebte sie nur desto mehr darum.Was Perisadeh eben gesagt hatte, eröffnete zwischen ihnen
eine von diesen interessanten — aber nur für die redenden
Personen interessanten Dialogen, die sich in keine Wörtersprache
übersetzen lassen. Man könnte sie unmittelbare Seelengespräche
nennen, wenn es in unserm gegenwärtigen Zustande
möglich wäre, daß Seelen sich einander, ohne durch
ein materielles Medium zu gehen, mittheilen könnten.Aber eben darum, weil dieß nicht angeht; rathe ich einem
Jeden, der viel Seele hat und unter vier Augen mit einer
Freundin unvermerkt in eine so interessante Unterredung geräth,
daß die gewöhnliche Sprache unter der Gewalt ihrer
beiderseitigen Empfindungen einsinkt, — wofern die Freundin
nicht, zum Glücke, seine eigene Frau ist, so rathe ich
ihm, daß er von dem Augenblick an, da er merkt, daß seine
besagte Seele alle ihre Kräfte zusammenrafft, um durch
ihren Leib, wie durch eine zwischen ihr und der Seele aufgemauerte
Scheidewand, durchzubrechen, — auf allen seinen
Beinen so hurtig davon laufe, als er kann, — wenn es
anders, wie ich besorge, nicht schon zu spät ist.—————
Zwölftes Capitel.Fortsetzung der Geschichte des ersten Kalenders.Bei Allem dem, was du gestern zu Gunsten deines
Standes vorgebracht, —sagte Danischmend zu seinem Gaste,
indem sie früh Morgens auf dem Wege zur Grotte spazieren
gingen, — wundert's mich doch, wie ein Mann, wie du,
dazu gekommen ist, ein Kalender zu werden."Ein Mann, wie ich damals war, da ich's wurde, versetzte
der Kalender, hat wenig Hoffnung oder Gelegenheit,
jemals etwas Besseres zu werden. Alle Menschen —wenige
außerordentliche Genies vielleicht ausgenommen — werden
durch die Umstände, was sie sind. Was mich wenigstens
betrifft, ich bin sehr .überzeugt, daß ich das Beste, was an
mir ist, meiner Kalenderschaft zu danken habe; und auch du
würdest es so finden, wenn ich dir erzählte, wie ich dazu
gekommen bin.Ich wollte, daß ich alle Tage Jemanden hätte, der mir
erzählte, wie er dazu gekommen ist, der Mann zu werden,
der er ist, sagte Danischmend: ich kenne nichts Lehrreicheres."Meiner Mutter Mann, Herr Danischmend, war in
einer kleinen Stadt in Kandahar, was man einen Schuhflicker
nennt, wiewohl er auch in dieser Kunst sich keinen
besondern Ruhm erworben hatte."In der That war dieß an seinem Orte nichts so Leichtes:
denn, vermöge der Polizeiverfassung meiner lieben Vaterstadt,
zählte man vierzig bis fünfzig Schuhflicker daselbst, welche,
unter zwölfhundert beschuhte Einwohner dividirt, unmöglich
so viel Schuhe zu flicken haben konnten, daß sie Salz und
Kümmel damit verdient hätten; zumal, da sich unglücklicher
Weise zu so vielen Schuhflickern kein einziger Schuster im
Orte befand, daß also alle Leute, die es nur einigermaßen
möglich machen konnten, barfuß gingen."Nun weiß ich nicht, wie der Schuhflicker, mein Vater,
dazu kam, daß er eine hübsche Frau hatte: genug, er hatte
sie und (was er in seinen Umständen für ein großes Glück
ansah) noch oben drein einen Freund oder vielmehr einen
Gönner und Beschützer, in dem Vorsteher einer Derwischerei,
deren Gartenende an die Hinterthür unsers kleinen Hauses stieß."Es gibt gutherzige Leute, die es für ungereimt halten,
einen Mann, der allen Evatöchtern zu Trotz ein Gelübde
gethan hat, kein Mann zu seyn, mit einer menschlichen
Schwachheit im Verdacht zu haben. Es gibt aber auch
boshaftes argwöhnisches Volk, vor deren Afterreden ein Derwisch
selbst nicht sicher ist, wenn er sich herabläßt, der Freund eines
alten Schuhflickers zu seyn, der eine hübsche Frau hat."Mein Vater war von der ersten Classe, der Rest unserer
ganzen Stadt von der zweiten."Aber der Derwisch ließ sich dadurch in seinen wohlthätigen
Gesinnungen gegen uns nicht irre machen; und es
würde undankbar von mir seyn, nicht zu gestehen, daß ich
ihm und der Schönheit meiner Mutter, wo nicht mein Daseyn,
doch gewiß meine Erhaltung ganz allein schuldig bin."Meine Kindheit brachte ich, Dank sey den guten Derwischen!
so glücklich hin, als man in diesem Alter ist, wenn
man an Aepfeln, Nüssen, Castanien und Kuchen keinen
Mangel hat und ohne Zwang und Beschäftigung in seiner
natürlichen Wildheit herumlaufen darf."Als ich heranzuwachsen anfing, wollte der Schuhflicker,
mein Vater, mich zu seiner Kunst anführen. Aber, da ich
nicht das geringste Genie dazu verrieth und überhaupt einen
unheilbaren natürlichen Abscheu vor aller Arbeit zeigte: schlug
unser Beschützer endlich vor, mich in seinen eigenen Orden
aufzunehmen."Er malte mir die Pflichten desselben sehr leicht und
angenehm vor: es war weiter nichts als — meinem Bißchen
Menschenverstand, meiner Freiheit und noch einer solchen
Kleinigkeit zu entsagen, deren Bestimmung ich damals nicht
besser als den Werth der beiden erstern kannte. Das Uebrige,
sagte er, wären mechanische Fertigkeiten, zu deren Erwerbung
nichts als ein wenig Zeit und Uebung erfordert würde."Ich ließ mir Alles gefallen, oder vielmehr ich sah in dem
Stande der Deutschen nichts als seligen Müßiggang und
Essens und Trinkens die Fülle, d. i. Alles, was nach meinem
damaligen Begriffe das höchste Gut ausmachte."Aber nach etlichen Jahren fand sich's, daß mir die Natur
einige Triebe und Gaben zugetheilt hatte, die mit den
Pflichten meines Derwischenrockes unverträglich waren. Ich
bediente mich mit der größten Freiheit meiner Zunge, über
die Aufführung meiner Vorgesetzten und Brüder zu urtheilen;
auch fühlte ich einen unwiderstehlichen Trieb in mir, mit
allen Schuhflickern unsers Ortes, welche leibliche Weiber
hatten, Bekanntschaft zu machen. Weil ich noch zu jung
war, um vorsichtig zu seyn, so trieb ich's so arg, daß endlich
die Ehre der Derwischerei die Zärtlichkeit überwältigte, welche
Natur oder Gewohnheit dem Vorsteher für mich eingeflößt
hatte. Er beraubte mich aller Freiheit, legte mir häufige
Fasten auf, und da dieß noch nicht helfen wollte, verordnete
er mir gewisse periodische Geißelungen, die, seinem Vorgeben
nach, ein herrliches Mittel gegen die Anfechtungen von Schuhflickersweibern
seyn sollten."Ich zweifle sehr, daß der gute Derwisch dieß aus eigener
Erfahrung wußte. Mir wenigstens schien's, als ob seine
Arznei das Uebel nur vermehre; und da sie überdem so unangenehm
zu nehmen war, so fand ich für gut, an einem
schönen Morgen aus der Derwischerei zu entweichen und mich
der Natur und meinem Schicksal auf Gerathewohl zu überlassen."Ich trieb lange ohne Mast und Segel in der Welt umher
und brachte mein Leben kümmerlich davon, indem ich
alle Arten von Professionen, die man nicht zu lernen braucht,
versuchte. Bald zog ich als Troßjunge mit einer Karavane,
bald machte ich den Wasserträger, bald den Eseltreiber, bald
— gegen die Gebühr — den Esel selbst."Bei Allem diesem regte sich etwas in mir, das durch die
Verächtlichkeit der Rollen, die ich in diesem irrenden Zustande
spielte, beleidiget wurde. Aber was für Auswege standen
mir offen? Endlich schien mir der Stand eines Kalenders
in meiner Lage der einzige zu seyn, der in meiner Gewalt
war, und durch den ich mich in etwas für gebessert halten
konnte. Denn, wiewohl er in den Augen der Welt keiner
von den ehrsamsten ist, so war er's (wenigstens in der Meinung
des Pöbels) unendliche Mal mehr, als der Stand eines
Wasserträgers oder Eseltreibers. Ueberdieß vertrug er sich
vollkommen mit meiner Neigung zum Herumschwärmen, und
Erfahrungen über die verschiedenen Denkarten und Leidenschaften
der Menschen zu machen."Ich nahm also den Habit eines Kalenders, gesellte mich
zu einigen irrenden Rittern dieses Ordens, die ich für geschickt
ansah, mich in die Geheimnisse desselben einzuführen,
und durchwandre nun bereits über dreißig Jahre lang, bald
in Gesellschaft, bald allein, die meisten Provinzen in Asien."Ich würde nie fertig werden, wenn ich dir alle Abenteuer
erzählen sollte, die mir während dieser langen Wanderschaft
aufgestoßen sind. In der That, es wäre bloß meine Schuld,
wenn ich die Menschen nicht kennen gelernt hätte; und wenn
mir auch diese Kenntniß zu nichts hälfe, als mich durch und
durch zu überzeugen, daß es nicht der Mühe werth ist, in
dieser Trödelwelt etwas Anderes als ein Kalender zu seyn;
so wär' es genug, um mich's nie gereuen zu lassen, daß ich
diese Lebensart ergriffen habe."—————
Dreizehntes Capitel.Der Kalender sagt Danischmenden im Vertrauen, was er von der
menschlichen Gattung denke.Ich möchte wohl wissen, sagte Danischmend, auf welchem
Fuß du die Menschen kennen gelernt hast, um ein so schönes
Resultat heraus zu bringen?"So gern ich meine Meinung über Alles frei von der
Brust weg sage," versetzte der Kalender, "so möcht' ich doch
nicht in dem Falle seyn, auf dem großen Marktplatze zu
Dehly oder Jspahan sagen zu müssen, was ich von den
Menschen denke. Aber unter vier Augen seh' ich keine
Bedenklichkeit."Zumal da die Welt bleiben wird, was sie ist, du und ich
mögen von ihr denken, was wir wollen, sagte Danischmend."Dieß möcht' ich eben nicht so unbedingt für wahr annehmen,"
erwiederte der Kalender. "Ich denke, der Fall hat
sich schon oft zugetragen, wo es so gleichgültig nicht war, was
für einen Begriff dieser oder jener sich von den Sachen machte.
Wer kann uns gut dafür seyn, daß Glück und Zufall — die
schon so oft aus Grobschmieden, Küchenjungen, Kameeltreibern,
Kühhirten, ja sogar aus Fakirn, Luftspringern, Lohnhuren,
Kupplern und Gott weiß was für anderm Auskehricht
des menschlichen Geschlechtes wichtige Personen in der Welt
gemacht haben, — nicht einmal in einem Anstoß von Laune
den Einfall kriegen könnten, einem philosophischen Einsiedler,
wie du, oder einem Kalender, wie ich, eine Rolle in der Welt
zu spielen zu geben?"Danischmend lächelte und schüttelte den Kopf, indem er
an die Rolle dachte, die ihn der Bramine der Königin Nurmahal
in einem ringsum gut gemauerten und mit einer
doppelten Thür und großen eisernen Stangen und Riegeln
wohlverwahrten Käficht hatte spielen lassen."Ich bin kein Menschenfeind," fuhr der Kalender fort;
"wiewohl ich eben nicht sagen kann, daß ich sie sehr liebenswürdig
finde: aber ich bin ein herzlicher Feind aller Declamationen,
da ein Mann seine Backen so voll nimmt, als er
kann, um alles Gute und Böse, was er weiß, über die arme
Menschheit herauszublasen, ohne sich darum zu bekümmern,
wie viel oder wenig Wahres an der Sache ist."Ich möchte den Vorwurf nicht verdienen, daß ich der
Natur — auf die am Ende doch alle Schuld zurück fällt —
durch eine allzu schlechte Meinung von ihrem besten Stück
Arbeit Unrecht thue. Aber ich möchte doch auch der Mann
nicht seyn, der, nachdem er wohl geschlafen, wohl gegessen und
getrunken, eine gute Verdauung und einen leichten gesunden
Stuhlgang gehabt und sich mit seinem Weibe oder Kebsweibe
nach Wohlgefallen gütlich gethan hätte, auf seinem
Sopha ausgedehnt von Feenschlössern und Schlaraffenländern,
goldnen Zeiten und schönen Seelen träumte und dann
zwischen Wachen und Traum sich hinsetzte und ein System
daher fabelte, worin der Mensch als das gutartigste, edelste
und glücklichste aller Geschöpfe figurirte, Geschichte und tägliche
Erfahrungen möchten mir das Gegentheil noch so laut
in die Ohren schreien."Ich hasse das Uebermaß in allen Dingen. Indessen
gesteh' ich, wenn ja auf einer von beiden Seiten ausgeschweift
werden müßte, so würde die Wahrheit weniger verlieren,
wenn man zu schlimm, als wenn man zu gut von der menschlichen
Natur dächte."Ich höre für mein Leben gern paradoxe Sätze behaupten,
sagte Danischmend lächelnd."Die Wahrheit hat zuweilen das Unglück, paradox zu
klingen," erwiederte der Kalender: "aber der Beweis für
das, was ich jetzt sagte, ist nur gar zu leicht zu führen.""Setzen wir einmal den Fall, es gäb' eine Art von Geschöpfen,
— in welchem Planeten du willst — die mit einer so schlechten
Anlage auf die Welt käme, daß unter Tausenden kaum
eines, und auch dieß nicht anders als durch die sorgfältigste
und mühsamste Cultur, unter einem Zusammenstoß der günstigsten
Umstände, wovon nicht einer fehlen dürfte, zu einem
merklichen Grade von Werth zu bringen wäre: was würden
wir von der ganzen Art halten?"Würde die Art der Hyänen oder Krokodile darum besser
seyn, wenn man einige Beispiele hätte, daß durch außerordentliche
Mühe und gutes Glück dann und wann eine Hyäne
oder ein Krokodil zahm und nützlich gemacht worden wäre?""Ich besorge, daß dieß ganz eigentlich unser Fall seyn
möchte. Wie viel Kunst und Fleiß, welche lange Uebung und
wie viel Glück noch obendrein wird nicht dazu erfordert, bis
ein Mensch weise und gut wird? Und wie unendlich klein
ist die Anzahl dieser letzten gegen das unermeßliche Heer der
Narren, der Schafköpfe, der Gecken, der Betrüger und der
Bösewichte, deren ewiges Dichten und Trachten ist, Alles zu
verhindern, zu untergraben, zu ersticken und, wo möglich,
gänzlich zu vernichten und auszulöschen, was die Weisen und
Guten von jeher unternommen haben? — Oder ist es etwa
nicht wahr, daß ich in diesen wenigen Worten die Geschichte
des menschlichen Geschlechts ausgezogen habe?"Danischmend kraute sich hinterm linken Ohr und sagte —
nichts.Der Kalender verfolgte mit aller Unbarmherzigkeit eines
Misanthropen, der sich in seinem Vortheil sieht: "Ich gebe
zu, daß unter jener größern Zahl die Schafköpfe, die sich von
den Schlauköpfen verführen, betrügen und mißbrauchen lassen,
daß es einen Stein erbarmen möchte, — daß, sag' ich,
diese Schafköpfe — die ganze Zunft der Gecken Faselhansen
und Narren mit allen ihren Subdivisionen eingerechnet —
sich zu den Betrügern und Bösewichtern vielleicht wie Hundert
zu Eins verhalten. Aber was gewinnt die menschliche Gattung
dabei? Er braucht nur einen schlauen Spitzbuben, um
hundert dumme Knaben an eine lange Kette anzuschließen
und bei der Nase hinzuführen, wohin er will; und so sind
es (zur Schande der Menschheit!) doch immer die schlimmsten
unter den Menschen, die am Ende Meister sind."Lieber wollt' ich mir die Augen ausreißen, als dieß nur
einen Augenblick glauben, sagte Danischmend."Glauben? —versetzte der Kalender kaltsinnig: glauben
können wir, was uns beliebt, aber die Rede ist hier nicht
vom Glauben. Die Frage, wenn ich nicht irre, war, wie
die Sache sey; nicht, wie wir wünschen, hoffen, träumen, daß
sie seyn sollte und möchte. Facta müssen hier den Ausschlag
machen!"Facta sind Alles, was man daraus machen will, sagte
Danischmend: aus jedem neuen Augenpunkte scheinen sie
etwas Anderes; und in zehn Fällen gegen einen ist das vermeinte
Factum, worauf man mit großer Zuversicht seine
Meinung gestützt hatte, im Grund eine bloße Hypothese."Dieß mag seyn, erwiederte der Kalender. Aber die
Facta, von welchen ich rede, sind von der Art derjenigen,
die, aus allen möglichen Gesichtspunkten betrachtet, immer
die nämliche Gestalt zeigen und immer einerlei Resultate
geben. Auch wird ihre Wahrheit allgemein anerkannt, wiewohl
die Eitelkeit — das einzige Laster, das der menschlichen
Gattung ausschließlich eigen ist, uns für das Resultat die
Augen verschließt."Ich will mich bloß auf drei einschränken, die zu meinem
Zwecke völlig hinreichend sind."Das erste: Die menschliche Gattung ist von der Natur
mit Allem versehen, was zum Wahrnehmen, Beobachten,
Vergleichen und Unterscheiden der Dinge nöthig ist. Sie
hat zu diesen Verrichtungen nicht nur das Gegenwärtige
unmittelbar vor sich liegen und kann, um weise zu werden,
nicht nur ihre eignen Erfahrungen nützen: auch die Erfahrungen
aller vorhergehenden Zeiten und die Bemerkungen
einer Anzahl von scharfsinnigen Menschen, die, wenigstens
sehr oft, richtig gesehen haben, liegen zu ihrem Gebrauch
offen. Durch diese Erfahrungen und Bemerkungen ist schon
längst ausgemacht, nach welchen Naturgesetzen der Mensch —
in welcher Art von Gesellschaft und Verfassung er sich befinde —
leben und handeln muß, um in seiner Art glücklich zu seyn.
Durch sie ist Alles, was für die ganze Gattung — folglich
für jeden einzelnen Menschen — zu allen Zeiten und unter
allen Umständen nützlich oder schädlich ist, unwidersprechlich
dargethan; die Regeln, deren Anwendung uns vor Irrthümern
und Trugschlüssen sicher stellen kann, sind gefunden;
wir können mit befriedigender Gewißheit wissen, was schön
oder häßlich, recht oder unrecht, gut oder böse ist, warum es
so ist, und inwiefern es so ist; es ist keine Art von Thorheit,
Laster und Bosheit zu erdenken, deren Ungereimtheit
oder Schädlichkeit nicht schon längst scharf als irgend ein Lehrsatz
im Euklides erwiesen wäre. — Und dennoch, dessen Allen
ungeachtet, drehen sich die Menschen seit etlichen tausend
Jahren immer in dem nämlichen Cirkel von Thorheiten,
Irrthümern und Mißbräuchen herum, werden weder durch
fremde noch eigene Erfahrung klüger, verlassen immer wieder,
ihrem eigenen Gefühl zu Trotz, den richtigen Weg, wenn sie
ihn glücklicher Weise einmal gefunden haben, kurz, werden,
wenn's hoch kommt, witziger, scharfsinniger, gelehrter, aber
nie weiser, als ihre Vorfahren von jeher gewesen sind."Daß dem so sey, beweiset — der Augenschein; aber,
wie es möglich sey, kann, däucht mich, durch nichts in der
Welt begreiflich werden, als durch mein zweites Factum:
— Die Menschen, nämlich, raisonniren gewöhnlich nicht
nach den Gesetzen der Vernunft. — Im Gegentheil ihre angeborne
und allgemeinste Art zu raisonniren ist: von einzelnen
Fällen aufs Allgemeine zu schließen, aus flüchtig oder
nur von einer Seite wahrgenommenen Begebenheiten irrige
Folgerungen herzuleiten und alle Augenblicke Worte mit
Begriffen und Begriffe mit Sachen zu verwechseln. Die
allermeisten, das ist, nach dem billigsten Ueberschlag, neun
hundert neun und neunzig unter tausenden, urtheilen,
in den meisten und wichtigsten Vorfallenheiten ihres Lebens,
nach ersten sinnlichen Eindrücken, Vorurtheilen, Leidenschaften,
Grillen, Phantasien, Launen, zufälliger Verknüpfung
der Worte und Vorstellungen in ihrem Gehirne, anscheinenden
Aehnlichkeiten und geheimen Eingebungen der Parteilichkeit
für sich selbst, um derentwillen sie alle Augenblicke ihren
eigenen Esel für ein Pferd und eines andern Mannes Pferd
für einen Esel ansehen. Unter den besagten neun hundert
neun und neunzigen sind wenigstens neun hundert, die zu
Allem diesem nicht einmal ihre eigenen Organe brauchen,
sondern aus unbegreiflicher Trägheit lieber durch fremde
Augen falsch sehen, mit fremden Ohren übel hören, durch
fremden Unverstand sich zu Narren machen lassen, als durch
sich selbst vielleicht richtig empfinden wollen; nicht von einem
beträchtlichen Theil dieser neun hundert zu sagen, die sich
angewöhnt haben, von tausend Dingen in einem wichtigen
Tone zu sprechen, ohne überhaupt zu wissen, was sie sagen,
und ohne sich einen Augenblick darum zu bekümmern, ob sie
Sinn oder Unsinn sagen."Sollte dieß etwa nicht genug seyn, die Gültigkeit der
Ansprüche, die der Mensch an die Würde eines vernünftigen
Wesens macht, zu entscheiden; — nun, so laß sehen, ob mein
drittes Factum nicht den Ausschlag gibt?"Eine Maschine, ein bloßes Werkzeug, das sich von fremden
Händen brauchen und mißbrauchen lassen muß, ein
Bund Stroh, das alle Augenblicke durch einen einzigen Funken
in Flammen gerathen kann, eine Flaumfeder, die sich
von jedem Lüftchen nach einer andern Richtung treiben läßt,
— sind wohl, seit die Welt steht, nie für Bilder, wodurch
sich die Thätigkeit eines vernünftigen Wesens bezeichnen ließe,
angesehen worden: wohl aber hat man sich von jeher dieser Bilder
auf dem ganzen Erdboden bedient, um die Art und Weise auszudrücken,
wie die Menschen, besonders wenn sie in große Massen
zusammengedrängt sind, sich zu bewegen und zu handeln pflegen.""Nicht nur sind gewöhnlicher Weise Begier und Abscheu,
Furcht und Hoffnung — von Sinnlichkeit und Einbildung in
Bewegung gesetzt —die Triebräder aller der täglichen Handlungen,
die nicht das Werk einer bloß maschinenmäßigen Gewohnheit
sind: sondern in den meisten und angelegensten Fällen —
gerade da, wo es zum Glück oder Unglück des ganzen Lebens,
Wohlstand oder Elend ganzer Völker —und am allermeisten, wo
es um das Beste des ganzen menschlichen Geschlechts zu thun ist,
—sind es fremde Leidenschaften oder Vorurtheile, ist es der Druck
oder Stoß weniger einzelne Hände; die geläufige Zunge eines
einzigen Schwätzers, das wilde Feuer eines einzigen Schwärmers,
der geheuchelte Eifer eines einzigen falschen. Propheten,
der Zuruf eines einzigen Verwegenen, der sich an die Spitze
stellt — was Tausende und Hunderttausende in Bewegungen
setzt, wovon sie weder die Richtung noch die Folgen sehen,
was Staaten in Verwirrung bringt, Empörungen, Spaltungen
und Bürgerkriege verursacht, Tempel, Altäre und Thronen
umstürzt, die Werkstätte der Natur und der Kunst verwüstet
und oft die Gestalt ganzer Welttheile verändert."Durchlaufen wir die große Geschichte der Menschheit
oder die Geschichte eines einzelnen Menschenstammes: immer
sehen wir Myriaden hinter einem Einzigen herströmen, Myriaden
einem Einzigen nachsprechen, Myriaden ihre Hände und
Füße nach dem Wink eines Einzigen heben, Myriaden sich mit
sehenden Augen für einen Einzigen in den Abgrund stürzen."Und nun, lieber Danischmend, wenn wir diese drei unleugbaren
großen Facta, die, so zu sagen, der Ausgang der
allgemeinen Geschichte des Erdenvolks sind, zusammen nehmen
und uns dann fragen: Mit welchem Rechte kann eine
Gattung von Geschöpfen, die nach der Vernunft weder denkt
noch handelt, die durch fremde und eigene Erfahrung nie
klüger wird, immer das Spiel ihrer Phantasien und Leidenschaften
ist, immer von mechanischer Gewohnheit oder fremden
Kräften in Bewegung gesetzt wird, immer wider
ihr eigenes Interesse handelt, immer wieder zerstört, was
sie aufgebaut hat, immer mit dem Steine, den sie den Berg
hinauf gewälzt, wieder hinunter fällt, um ihn von neuem
hinauf zu wälzen, — mit welchem Rechte kann eine so unvernünftige
Gattung von Geschöpfen —"Halt, fiel ihm Danischmend ins Wort, nicht zu früh
Triumph gesungen! — Ich gebe zu — muß ich nicht? —
daß die Menschen, in Durchschnitt genommen, nie weise gewesen
sind und — wofern nicht ganz andre Anstalten dazu
gemacht werden — wenig Hoffnung von sich geben, jemals
merklich weiser zu werden. Aber laß es seyn! Immer ist
noch ein wichtiger Artikel übrig, der unserm Streit eine
ganz andre Wendung gibt. Es ist nicht zu leugnen, daß
ein gewisser Schwindelgeist, eine gewisse mechanische Tendenz,
unsre Pferde beim Schwanze zu zäumen, ein Erbübel in der
Familie Adams ist. Aber man muß wenigstens gestehen,
daß unser Herz besser ist, als unser Kopf. In der That,
Freund Kalender, mit aber unsrer angebornen Narrheit,
Hastigkeit und schafmäßigen Einfalt wären wir doch, von
Haus aus, wenn man uns unverhudelt ließe, ganz gute
Leute; und auch so, wie die Sachen jetzt mit uns stehen,
ist Tugend bei weitem so selten nicht als Weisheit."Tugend, guter Danischmend! Tugend? — rief der alte
Ungläubige; beim Himmel, ein schöner Name! und, wie ich
besorge, auch weiter nichts als ein Name für die meisten
Menschen. Einige, schlauer als die übrigen, haben eine
hübsche Maske daraus gemacht, die sie geschwinde vors Gesicht
nehmen, so oft sie Absichten auf die Dienste oder den
Beifall oder den Beutel oder die Weiber und Töchter der
ehrlichen blödsichtigen Kauze haben, welche Gesichter und
Masken nicht zu unterscheiden wissen. — Kein Wunder, daß
diese Leute so viel Eifer für ihre Maske zeigen, immer so
viel Aufhebens und Prahlens davon machen! Es ist auch so
eine schöne gute Maske! Man kann seine unartigen Leidenschaften
und schlechten Streiche so bequem unter ihr
verbergen! —Tugend! — ich verliere alle Geduld, wenn ich
die Menschen mit diesem Worte, wie Kinder mit ihrer
Puppe, spielen sehe! Die Welt müßte ein andres Aussehen
haben, mein guter Danischmend, wenn die Menschen wüßten,
was Tugend ist!"Freund Kalender, rief Danischmend ein wenig hitzig,
Stachelreden sind keine Gründe. Ein Mann, der sich rühmte
so viele Menschen gesehen zu haben, und keine gute Menschen
gesehen hätte, nirgends etwas Besseres als Masken
der Tugend gesehen hätte, — der Mann müßte sich in
einem außerordentlich unglücklichen Zeichen auf den Weg
gemacht haben."Damit wir nicht (sagte der Kalender ganz gelassen) unvermerkt
in den Fall kommen, uns, wie andre Leute, um
Worte zu zanken, und um dir zu zeigen, daß ich den Menschen —
wiewohl ich ein Kalender bin — nicht einen Titel
von dem Bißchen Tugend, worin doch ihre beste Habe besteht,
zu entwenden gedenke, wollen wir ein wenig näher
hintreten, und die Waare, die man uns für etwas so Kostbares
gibt, genauer betrachten."Ich denke, es ist mit der Tugend wie mit dem Golde.
Etwas Legierung von Silber oder Kupfer muß immerhin
dabei geduldet werden. Aber Gold von sechzehn Karat hört
auf Gold zu heißen. Nach dieser Regel möchte wohl
ein großer Theil der menschlichen Tugend für allzu geringhaltig
erfunden werden, als daß wir sie im Handel
und Wandel für echte probhaltige Tugend passiren lassen
könnten."Viele — und gewiß diese Viele machen bei weitem die
Meisten aus — ergeben sich einer gewissen Temperaments-
oder Lieblingstugend auf Unkosten aller übrigen und glauben
dadurch, daß sie in einem Punkte mehr thun, als
sie schuldig sind, ein Recht zu erhalten, in sieben andern
desto weniger zu thun. Ich denke, du hast nichts dagegen,
Danischmend, wenn ich diese Tugenden sogleich als offenbar
unecht ausschließe und bei Seite werfe?"Ein Gleiches werden wir wohl auch mit einer Menge
vermeinter Tugenden vornehmen müssen, die anstatt das
Gepräge der Natur zu führen, vom Aberglauben oder irgend
einem andern falschen Wahn gestempelt sind? Wir werden
also keinem Manne, der sich die Augen ausreißt, um nichts
zu sehen, das ihn zum Bösen reizen könnte, — keinem Menschen,
der sich zu einem unbedingten Gehorsam gegen einen
andern Menschen verpflichtet hat, — keinem Höfling, der
aus Ergebenheit gegen seinen Fürsten sich zu Bubenstücken
brauchen läßt, — keinem Patrioten, der aus Liebe zu seinem
Vaterlande ungerecht gegen andre Völker ist, — seine Enthaltung,
seinen Gehorsam, seine Ergebenheit gegen seinen
Fürsten, seine Liebe zum Vaterlande für Tugend gelten
lassen können?"Das Quantum von Tugend, das uns nach diesem Ausschuß
übrig bleibt, so viel oder wenig es seyn mag, ist das
Eigenthum zweier Arten von Sterblichen, die in sehr wesentlichen
Stücken vollkommne Gegenfüßler von einander sind,
— der Weisen und der Enthusiasten. Beiden, insofern sie
aus innerlicher Neigung, ohne Nebenabsicht, Sold, noch Lohn,
alles Gute zu befördern und alles Böse zu verhindern suchen,
kann man einen gewissen Grad von Tugend nicht absprechen.
Die Frage ist also bloß, um wie viel sich das menschliche
Geschlecht dadurch besser befinde? Laß uns einen Augenblick
sehen!"Die Weisen lieben das Gute und wünschen Gutes zu
thun; aber sie unternehmen nichts, ehe sie sich der Möglichkeit
der Ausführung versichert haben. Wer den Menschen
wirklich Gutes thun wollte, müßte sie erst vernünftig machen
können. Nun wäre dieß (wie wir gefunden haben) ungefähr
so viel, als wenn einer unternehmen wollte, Mohren zu
bleichen oder Schnee an der Sonne zu trocknen. Ein Mann,
der selbst ein wenig vernünftig ist, gibt sich mit keinen solchen
Versuchen ab. Was soll er also thun? —Böses verhindern?
Da hätte er nur das ganze menschliche Geschlecht wider sich.
Dieß ist zu viel für einen Mann. Der tapferste Held kann
keiner Zagheit beschuldigt werden, wenn er keine Lust hat,
sich allein einem ganzen Heer entgegen zu stellen. — Nun
möcht' ich wohl wissen, was seiner Tugend zu thun übrig
bliebe? Er thut nichts Gutes, weil er nicht kann; er hindert
nichts Böses, weil er nicht darf; er thut selbst nichts
Böses, weil er nicht mag: er wird also ein Kalender und
thut gar nichts.Die Welt gewinnt, wie du siehst, nicht viel durch die
Tugend der Weisen. Sollte sie etwa bei der Tugend der
Enthusiasten mehr zu gewinnen haben?Du erinnerst dich doch der Fabel vom Bären, der nicht
leiden wollte, daß sich eine Fliege auf die Nase des schlafenden
Einsiedlers, seines Freundes, setzte, und, um sie zu
verjagen, mit einem großen Steine die Fliege und den Einsiedler
zugleich todt schmiß? — Dieser Bär ist, mit deiner
Erlaubniß, das Bild jener schwärmerischen Menschenfreunde,
die aus tugendhaftem Eifer gegen Irrthum, Unrecht, Unterdrückung
und andere Uebel, womit sie die Menschheit geplagt
sehen, in einem Jahre oft mehr Unheil anrichten, als in
zwanzig Jahren geschehen wäre, wofern sie die Welt hätten
gehen lassen, wie sie ging. Es ist wahr, ihre Beweggründe
und Absichten sind untadelig; ihr Haß gegen das Böse ist so
rein, wie ihre Liebe zum Guten; auch ihre Thätigkeit ist an
sich selbst löblich. Aber unglücklicher Weise verblendet sie
ihr Eifer, ihre Begierde, den kürzesten Weg einzuschlagen,
über die Wahl der Mittel. Sie erregen einen Sturm, um
einen Sperling zu Boden zu werfen, und zünden euch das
Haus überm Kopf an, weil sie gehört haben, daß ihr von
Ratten geplagt werdet. Die leidenschaftliche Liebe zur Tugend
wird unstreitig durch die Schönheit ihres Gegenstandes unendlich
veredelt; aber sie behält doch die Natur einer Leidenschaft
alle Leidenschaften laufen mit der Vernunft davon;
und ein zorniger ober verliebter Mensch kann, solang er
das eine oder das andere ist, eben so wenig weise seyn, als
ein Verrückter. Die Enthusiasten der Tugend sehen nur
eine Seite der Sache, nur die gute oder nur die schlimme;
sehen nicht, daß das Uebel, wovon sie uns befreien wollen,
bloß bie andre Seite eines unendlich wichtigern Guten ist,
oder daß es in Betracht der Umstände ein weit kleineres
Uebel ist, als das Mittel, wodurch man uns davon befreien
könnte; und daß das Gute, das sie uns thun wollen, durch
Folgen, die der Zusammenhang der Dinge unvermeidlich
macht, zum größten Uebel werden würde. Nicht selten treibt
sie der Eifer für die gute Sache so weit, daß sie sogar unmögliche
Dinge durchsetzen wollen; ein Unternehmen, das
natürlicher Weise fehlschlagen muß und zu nichts hilft, als
das Uebel, dem man entgegen arbeitet, zu beschleunigen.
Sie erhalten nichts, weil sie zu viel wollen; versäumen das
Gute, das sie thun könnten, weil sie ein größeres thun
wollen, das nicht in ihrer Macht ist; und am Ende findet
sich gemeiniglich, daß sie selbst Opfer ihres Eifers geworden
sind, ohne die Welt um einen Deut besser zu hinterlassen, als
sie war."Es gibt noch eine Art von Enthusiasten der Tugend,
die nicht so viel oder vielleicht gar nichts Uebels thun, weil
sie weniger thätig sind oder — wie meine Weisen (wiewohl
aus einem andern Grunde) — ganz unthätig bleiben, und
die ich zum Unterschied Virtuosen nennen will. Es sind Leute
von feiner Empfindung und hoher Phantasie, die sich eine so
schöne und erhabene Idee von der Tugend gemacht haben,
daß sie in der That zu nichts als zum Anschauen gut ist.
Eingenommen von diesem Urbilde des Sittlich-Schönen,
fährt ihre Seele vor dem häßlich davon abstechenden Anblicke
des wirklichen Laufs der Welt mit Grauen und Unmuth
zurück. Sie versuchen es vielleicht etliche Mal, ihre Lieblingsideen
außer sich wirklich zu machen; aber der Lehm, in den
sie solche drücken wollen, ist zu spröd und unbildsam, um so
feine Formen anzunehmen. Sie verlieren die Geduld über
dem öfters mißlungenen Versuch, geben endlich Arbeit und
Hoffnung auf und ziehen sich wieder in sich selbst hinein,
um im Anschauen und Anbeten dieser göttlichen Urbilder
einer Wonne zu genießen, die ihnen nichts, was weniger
vollkommen ist, gewähren kann. In diesem Zustande ist
ihnen so wohl, daß sie sich zuletzt gar nicht mehr entschließen
können, einen so seligen Müßiggang mit dem mühevollen
Nichtsthun des beschäftigten Lebens zu vertauschen. Und so
gehen auch diese Virtuosen, mit aller ihrer Liebe zur idealischen
Tugend, für die Welt verloren; und das größte Verdienst,
das man ihnen zuschreiben kann, ist, daß sie znverlässig
nichts schlimmer machen, als sie es angetroffen haben."Man wundert sich oft, wie es komme, daß die vereinigten
Kräfte der Weisen und Tugendhaften die Welt in so
langer Zeit nicht haben besser machen können. Nichts ist
begreiflicher, als wie dieß kommt, sobald man weiß woher
es kommt. Die Weisen ziehen sich aus Klugheit zurück und
bleiben unthätig, weil sie nicht Lust haben, Wasser mit einem
Siebe zu schöpfen oder durch eine Mauer zu gehen, in die
sie sich erst mit ihrer Nase eine Oeffnung bohren müßten.
Die Virtuosen kriechen aus Unmuth in ihre Schale und —
lassen sich was träumen. Die Enthusiasten springen zwar
mit dem ganzen Feuer ihres guten Willens mitten in die
Welt hinein, stürzen Alles zu Boden, was ihnen im Wege
ist, hauen und schwadroniren links und rechts um sich her,
treffen Feinde und Freunde und machen in einem Tag ein
größeres Stück Arbeit, als gelassene Leute vielleicht in hundert
Jahren machen würden: aber man hat noch immer von Glück
zu sagen, wenn das Gute, das sie thun wollten, sich gegen
den Schaden aufhebt, den sie wirklich thun. Wo bleibt nun
der Grund, sich zu wundern, daß selbst die Besten der Welt
so wenig Nutzen schaffen? Nimmt man nun noch dazu, daß
diese Besten — die denn am Ende doch selbst arme Erdenklöße
sind, so gut wie andre — ein so kleines Häuflein machten,
wenn sie alle beisammen wären, daß sie auf einer allgemeinen
Tagsatzung des menschlichen Geschlechts Mit einem Mehr
von fünf hundert Stimmen gegen eine, zur Welt hinaus votirt
würden: so erhält die Sache vollends ihr unwiderstehliches Licht."Es klingt nicht fein, mein lieber Danischmend; aber du
siehst, es kann nicht anders seyn: — die Grimassenmacher,
Quacksalber, Gaukler, Taschenspieler, Kuppler, Beutelschneider
und Klopffechter theilen sich in die Welt; — die Schöpse
recken ihre dummen Köpfe hin und lassen sich scheren; — die
Narren schneiden Capriolen und Burzelbäume dazu, —und
die Klugen gehen davon und werden —Einsiedler oder, wenn
sie nichts Besseres wissen, Kalender."—————
Vierzehntes Capitel.Was Danischmend dazu sagt.Da der Kalender seinen Satz sattsam ausgeführt zu haben
glaubte, so schwieg er nun und erwartete, was Danischmend
dagegen einzuwenden haben würde. Aber Danischmend liebte
das Disputiren nicht halb so viel, als der Kalender.Soll ich dir sagen, was ich von der Sache denke? sprach
er. Fürs Erste sag' ich: Der weise Mann, der vor übergroßer
Weisheit nicht alles Gute thut, wozu er Gelegenheit
hat, ist, nach meinem Wörterbuch, ein kalter, selbstischer,
feigherziger Schurke; und hierin, hoffe ich, sind wir einverstanden."Das denk' ich," sagte der Kalender, ein wenig erröthend.Sodann, was die Enthusiasten betrifft, fuhr Danischmend
fort, so gesteh' ich dir, daß dieß eine Gattung von Sterblichen
ist, die ich vielleicht besser kenne, als irgend eine andere.
Ueberhaupt läßt sich viel Böses von ihnen sagen; es ist ein
ergiebiges Gemeinplätzchen. Aber, da dießmal die Rede bloß
von den Enthusiasten der Tugend, von den Eiferern für die
Rechte und Vortheile der Menschheit war; so hast du, denk'
ich, mehr Böses und weniger Gutes von ihnen gesagt, als
recht ist. Ich berufe mich auf die Geschichte, wie du, wenn
ich behaupte: daß das menschliche Geschlecht dieser Art von
Enthusiasten Alles, was von Vernunft, Tugend und Freiheit
noch auf dem Erdboden übrig ist, zu danken hat. Dieß Alles
ist sehr wenig, wirst du sagen. Aber, so wenig es seyn mag,
für uns ist es unendlich viel; denn dieß Wenige macht, daß
wir Menschen und keine Orang-Utangs oder noch was Aergeres
sind.Aber, sprichst du, sie zerrütten die Welt, indem sie einen
Feind bekämpfen, der nicht auszurotten ist, und sie selbst
werden oft das Opfer ihres schwärmerischen Heldenmuths.
Denn edler und preiswürdiger sind sie, für die Sache der
Menschheit keine Gefahr zu scheuen und großmüthig ihr
Vergnügen, ihre Ruhe, ihr Leben selbst auf ein Spiel zu
setzen, wobei gemeiniglich nur die Andern die Gewinnenden
sind. Und wenn der hitzige Krieg, den sie zu unserm Besten
mit den Feinden der Menschheit führen müssen, nicht immer
ohne gewaltsame Erschütterungen abläuft, ist es ihre Schuld?
Das Böse, wozu sie wider ihren Willen den Vorwand oder
die Veranlassung gegeben, ist das Werk der Bösen; das Gute
hingegen, das sie hervorbringen, ist ihr eigenes Werk: aber
jenes ist vorübergehend; dieses fortdauernd und unermeßlich
durch die wohlthätigen Folgen, die es über das menschliche
Geschlecht verbreitet.Es ist wahr, sie fehlen zuweilen in der Wahl der
Mittel; aber dieß beweiset nur, wie nothwendig es ist,
daß sie mit den Weisen in gutem Vernehmen stehen: diese
sollen untersuchen und entwerfen, jene ausführen. Vereinigt
können sie Alles; getrennt sind sie immer in Gefahr,
das zu seyn, wofür du sie ausgegeben hast, Memmen und
Narren.Auch die Virtuosen — wie du eine der besten Menschenarten
nennest —sind so unnützlich nicht, als du dir einbildest:
und wenn sie der Welt auch keinen andern Dienst erwiesen,
als daß sie gleichsam die Bewahrer jener Jdeale des Schönen
und Guten, jener unvergänglichen Bilder der Vollkommenheit,
sind, die den kostbarsten Schatz der Menschheit ausmachen;
ist dies nicht genug, um sie in den Augen eines
Weisen wenigstens so ehrwürdig zu machen, als es der
Hüter des heiligen Grabes zu Mekka in den Augen der
Muselmänner ist?Aber wie kommt es, Freund Kalender, daß du einer
Classe von guten Menschen vergessen hast, deren Dasein dir
doch unmöglich hat verborgen bleiben können, da sie ganz
gewiß zahlreicher ist, als eine von den dreien, in welche du
die Guten vertheilt hast?"Du meinst doch wohl nicht diese Leute von tugendlichem
Temperament? diese guten Seelen, die es bloß darum sind,
weil sie keine Versuchung oder nicht Muth genug in sich
fühlen, Böses zu thun?"Glückliche Schwäche! rief Danischmend, glückliches Temperament,
das den Menschen, zu seinem und seiner Mitgeschöpfe
Besten, unfähig macht, verkehrt und übelthätig zu
seyn! Nenn' es immer Temperament, oder was du willst;
— genug, es gibt Menschen, die, durch eine angeborne
Richtigkeit, der Natur getreu bleiben, redlich gegen alle andre
Menschen gesinnt sind, das Wahre fühlen, das Gute thun,
ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum es wahr und
gut ist, und ohne jemals die unendlich feinen Schwierigkeiten
gesehen zu haben, die den Metaphysiker martern, wenn
er die Grenzlinien des einen und des andern haarscharf
durch alle die labyrinthischen Krümmungen und Verwicklungen
der Natur, der Nothwendigkeit, des Zufalls und der
menschlichen Anordnungen ziehen will.Diese Art von Menschen ist unter den unverfeinerten
Classen der polizirten Völker und unter den rohen Kindern
der Natur, die wir Barbaren und Wilde nennen, viel zahlreicher,
als man glaubt; und wenn du auf deinen Wanderungen
so unglücklich gewesen seyn solltest, keinem davon in
den Wurf gekommen zu seyn, so mache dich mit dem
Völkchen bekannt, unter dem ich hier lebe. Es wird vielleicht
mehr beitragen, dich mit der menschlichen Natur auszusöhnen,
als Alles, was ich zu ihrer Vertheidigung sagen
könnte."Oder mich wenigstens in den Gedanken bestärken, erwiederte
der Kalender, daß die Menschen desto besser sind, je
mehr sie sich dem Stande nähern, wo der Instinct die Stelle
der Vernunft, der Gesetze und der übrigen künstlichen Maschinerien
vertritt, wodurch man sie verschlimmert hat, indem
man sie verfeinern wollte; kurz, daß sie desto besser sind,
je mehr sie — in ihrer Art versteht sich — den übrigen
Thieren gleichen."Freund Kalender, sagte Danischmend ein wenig unmuthig,
es ist etwas in deinen Begriffen, das alle Augenblicke wider
die meinigen anprallt. — Aber —fuhr er fort, indem er sich
sogleich wieder zusammenraffte — wir können und sollen nicht
alle durch ein und ebendasselbe Schlüsselloch in die Welt
gucken. Vergib mir; ehrlicher Alter! Ich hatte Unrecht, zu
vergessen, daß du schon über dreißig Jahre ein bloßer Zuschauer
und ein Kalender bist.—————
Fünfzehntes Capitel.Ein Familienstück.Während die beiden Philosophen so zusammen schwatzten,
hatte Danischmend seinen Gast durch verschiedene krumme
Fußpfade unvermerkt bis zum Eingang einer ländlichen Wohnung
geführt, die nicht ganz so gut und nicht ganz so
schlecht aussah, daß ihr erster Anblick nicht den Gedanken
hätte erregen können, sie möchte wohl das Obdach glücklicher
Menschen seyn.Es war ein schöner Sommermorgen. Die ganze Familie
war in einer großen Laube versammelt, die von Rosenbüschen
und etlichen in die Runde gepflanzten Bäumen formirt wurde.
Niemand wurde der seitwärts herankommenden Fremden gewahr.
Stellen wir uns hinter diesen Busch, flüsterte Danischmend
dem Kalender zu, und sehen, was es hier gibt.Ein ehrwürdiger alter Mann, eine gute Hausmutter von
vierzig Jahren, ein Mädchen von achtzehn, blühend wie ein
Frühlingsmorgen, ein junger Landmann aus einem benachbarten
Dorfe, der bei dem Alten um sie anhielt, und
etliche jüngere Geschwister des Mädchens machten eine so
schöne Gruppe, als jemals von einem Maler in Athen,
Paris oder Pecking gezeichnet, gemalt oder gesudelt worden
seyn mag.Das Mädchen stand zwischen ihrem Liebhaber und ihrer
sitzenden Mutter, die den linken Arm der Tochter mit ihrem
rechten umfaßt hielt und mütterlich drückte. Der rechte Arm
des Mädchens war mit dem linken des Jünglings verschränkt.
Mit halb geschloßnen Augen schien sie, in süßer Unentschlossenheit
der Natur, zwischen ihrer Mutter und ihrem Liebhaber
zu schweben; und doch verriethen ihre auf der nervigen
Hand des Jünglings spielenden Finger den ihr unbekannten
aber mächtigern Zug des Instincts. Ihr ländlicher Anzug,
leicht und schneeweiß, bedeckte sittsam die schönen Formen
ihrer Gestalt, ohne sie zu verbergen, und erhöhte die Lebhaftigkeit
ihrer schwarzen Augen und Locken. Eine Rose an
ihrem halb offnen Busen machte ihren ganzen Putz aus. Eine
von ihren Schwestern, ein sanftes Mädchen, vom Gedanken
der Trennung ganz verschlungen, lehnte das traurige Gesicht
voll schwesterlicher Liebe auf ihre linke Schulter, indem sie
den rechten Arm fest um ihren Nacken schlang. —Die Mutter
sagte nichts; aber ihre Augen, die mit Thränen erfüllt von
der geliebten Tochter zum Vater und vom Vater zur Tochter
irrten, sagten in der mächtigen Sprache der Natur: O
Vater, wie kann ich mich von diesem Liebling meines Herzens
trennen?Dieß Alles zusammen machte den ersten Anblick aus, der
sich unsern ungesehenen Zuschauern darstellte. Danischmends
Herz war ganz in seinen Augen.Der alte Vater — man wurde sein Freund beim ersten
Blick auf sein ehrliches, altväterliches Gesicht und sein lockig
silbergraues Haar — wandte sich, mit einer Bewegung, wovon
seine grauen Locken ihren Reif um seinen Nacken schüttelten,
an die Mutter. —Der junge Mensch war der Sohn
seines verstorbenen besten Freundes, ein fleißiger, rüstiger, wohlgemachter
Bursche; er liebte das Mädchen so herzlich, und das
Mädchen war ihm schon lange heimlich gut und war ein
Mädchen von achtzehn Jahren, strotzte von Gesundheit und
Jugend — und er, der Vater, war ein alter Mann, der
noch gern die Freude erleben wollte, die Kinder seiner Tochter
um seine Kniee herum spielen zu sehen. — Dieß Alles
stand in seinem Gesichte geschrieben."Gute Mutter, sagte er mit einem warmen Ausdruck im
Gesicht und einem Tone, der so unmittelbar zum Herzen
ging, wie er aus dem seinigen kam, — gute Mutter, sagte
er, indem er beide Arme gegen sie ausbreitete: was wollen
wir machen? Sie lieben einander; es ist ein braver Junge;
sie ein gutes Mädchen; wollten wir sie hindern, glücklich
zu seyn?"Die Mutter lächelte ihre Einwilligung mit weinenden
Augen und drückte des Mädchens Arm mit beiden Händen.
Das Mädchen zitterte wie Espenlaub."Da, mein Sohn, sprach der Vater zum Jüngling, der
mit sprachloser Rührung sich gegen ihn neigte: da, nimm sie,
mein Sohn; sie ist dein! ich gebe dir das Liebste; was ich
habe. Bewahre und liebe sie wie deinen Augapfel. Und du,
Mädchen, sey eine fromme Ehegattin, eine gute Mutter,
wie du immer eine gute, fromme Tochter warst: und so segne
euch der allmächtige Gott!"Danischmenden rollte aus jedem Aug' eine Thräne über
die Backen. Er konnte sich nicht länger ruhig halten. Auch
der Kalender schien nicht ganz unempfindlich zu bleiben.
Aber er hatte nun einmal die traurige Gewohnheit, ein
bloßer Zuschauer zu seyn. —Schleichen wir uns wieder fort,
sagte er leise zu Danischmenden; wir würden die guten Leute
nur stören.Nur stören? —rief Danischmend. Du kennst diese guten
Leute nicht! Sie wissen nichts von der falschen Scham, die
frommen Uebertragungen der Natur und des Herzens vor
fremden Blicken zu verbergen. —"Guten Morgen, redlicher
Alter, deine Hand! Guten Morgen, Nachbarin! Das ist
ein schöner Tag, an dem Aeltern ihre Kinder glücklich
machen! — Nicht wahr, guter alter Vater, du fühlst dich
beim Anblick dieser jungen Leutchen um dreißig Jahre verjüngt? —
Sie werden die Freude eurer alten Tage seyn; ihr
werdet in ihren Kindern wieder aufleben!" — Das Mädchen
erröthete bis an die Ohrläppchen und verbarg sich hinter
ihrem Bräutigam. — "Seht doch die kleine Heuchlerin, die
uns nicht sehen lassen will, wie glücklich sie ist! Aber zu
ihrer Strafe werd' ich bei ihrer Hochzeit seyn, und Perisadeh
soll die Braut in die Kammer führen helfen."Die guten Leute dankten Danischmenden in ihrer ehrlichen,
kunstlosen Herzenssprache: und, nachdem er sich eine Weile
freundlich um alle ihre kleinen Angelegenheiten erkundigt
hatte, schied er von ihnen, von der ganzen Familie bis an
die Gränze ihres Eigenthums begleitet. Die jüngern Kinder
brachten ihm Grasblumen, hingen sich, das eine an seine
Hand, das andre an seinen Rockzipfel. Alte und Junge
liebten ihn, als ob er zu ihnen gehörte.—————
Sechzehntes Capitel.Worin Danischmend seinem Herzen Luft zu machen anfängt.Nun Freund Kalender, was sagst du zu diesem Auftritte?
Fühlst du dich noch aufgelegt, übel von der menschlichen
Natur zu denken?Ich muß gestehen, antwortete der Kalender, was wir da
gesehen haben, macht kein gleichgültiges Gemälde. Eine
feine junge Dirne, bei allen Feen von Dschinnistan! — So
lächerlich es an einem Kerl von vier und fünfzig seyn mag,
ich hatte ein paar Augenblicke, wo ich alle meine Philosophie
und meinen Kalenderrock oben drein darum gegeben hätte,
an des jungen Burschen Platz zu seyn — seine Jugend und
seine Nerven mit einbedungen. versteht sich.Den Dolch von einem Blick hättet ihr sehen sollen, womit
Danischmend bei diesen Worten den alten Kalender
durchbohrte.Indessen (fuhr dieser ganz gelassen fort, ohne sich irre
machen zu lassen) was beweist dieser einzelne Fall und
zwanzig solcher einzelner Fälle gegen meine Theorie, die
durch die ganze Geschichte des Menschengeschlechtes seit
Jahrtausenden bestätiget wird?"Daß du nach dem, was wir gesehen haben, eine solche
Frage thun kannst, Kalender, beweist — Halt! ich bin noch
zu warm —laß uns von etwas Anderem reden! —Findest du
nicht auch, daß ich wohl gethan habe, mir die Thäler von Jemal
zum Aufenthalt zu wählen? Hast du je einen schönern, fruchtbarern,
besser angebauten Winkel auf dem Erdboden gesehen?"Es ist ein wahres Paradies, Danischmend. Mich wundert
nur, daß man euch so ruhig im Besitze desselben läßt —und,
was mich noch mehr wundert, in der ganzen Gegend weder
Fakir noch Bonze!"Was dich hingegen nicht wundern wird, ist, daß wir
bei so bewandten Umständen die glücklichsten Leute unter der
Sonne sind. Nichts von Sultanen, Wesiren, Statthaltern,
Kadi's, Schatzmeistern, Zollpachtern, Fakirn und Bonzen zu
wissen, ist ein Glück, wovon der größte Theil der Menschen
keine Vorstellung hat. Wir haben es bloß unsrer Lage und
der Unscheinbarkeit unsers Wohlstandes zu danken; denn
Ueberfluß am Unentbehrlichen macht unsern ganzen Reichthum
aus. Dieß ist zu wenig, um die Habsucht gegen uns aufzureizen.
Ueberdieß sondern uns hohe Gebirge auf allen
Seiten von der übrigen Welt. Dem ungeachtet bezahlen wir
dem Sultan von Kischmir, um mehrerer Sicherheit willen,
einen festgesetzten Tribut an Erzeugnissen unsers Bodens,
ungefähr wie gewisse rohe Völker den bösen Geistern opfern,
um von ihnen nicht geplagt zu werden."Immer noch glücklich genug, sagte der Kalender, wenn
man durch einen entbehrlichen Theil seines Eigenthums die
Sicherheit des übrigen erkaufen kann.Auch ist diese Sicherheit der große Punkt, versetzte Danischmend.
Glaube mir, Bruder, in allen unsern Declamationen
gegen die Unvollkommenheiten und Gebrechen der
menschlichen Natur ist kein Gran Menschenverstand. Unterdrückung
und ihre Töchter, Ueppigkeit, die mit den Unterdrückern
— Dürftigkeit, die mit den Unterdrückten gepaart ist, sind
die wahren Ursachen des menschlichen Verderbens. Die
Menschen würden besser werden, sobald man ihnen erlaubte,
glücklicher zu seyn, und sie würden glücklich genug seyn, sobald
nicht einige auf Kosten der übrigen glücklicher, als es
Menschen zukommt, seyn wollten. Ich habe dir eine Familie
gezeigt, die in der Einfalt der Natur, bei einer beschäftigten
Lebensart, von Mangel und Ueberfluß gleich weit entfernt,
durch Gesundheit, frohen Muth und gegenseitige Zuneigung
glücklich ist. In allen unsern Hütten triffst du solche Bewohner
an. Niemals hat Kummer, Gram, noch Verzweiflung
die Quellen des Gefühls in ihrem Herzen vergiftet, ihnen
nach erschöpfender Arbeit des Tages den Schlaf geraubt,
um sie mit trostlosen Aussichten in künftiges Elend zu ängstigen.
Mäßige Arbeit, gute Nahrung und ein fröhliches
Herz erhält den Mann und sein Weib gesund, verlängert
ihre Jugend, unterhält ihre Kräfte; sie zeugen gesunde, wohlgestaltete,
fröhliche Kinder. Ungeängstigt von der Sorge, woher
sie Brod für selbige nehmen werden, erschrecken sie nicht,
wenn sich ihre Zahl vermehrt; ihre Kinder sind ihr Reichthum,
ihre Wonne; sie verdoppeln ihre Arbeit mit Lust, weil
sie für ihre Kinder arbeiten. Und wie sollten Aeltern, die
ihr größtes Glück in ihren Kindern finden, nicht von diesen
wieder geliebt werden? Wie sollten Geschwister, welche, gemeinschaftlich
auf dem Schoß der Liebe erzogen, die Zuneigung
der Mutter und des Vaters vom zartesten Alter an zu
theilen gewohnt sind, wie sollten sie einander nicht lieben?
Und wie könnte also eine durch die mächtigen Bande der Natur
und der Liebe in eine schöne Gruppe zusammengeschlungene
und von einem Herzen belebte Familie, in den vorausgesetzten
Umständen, nicht gut, nicht glücklich seyn?Aber, setzen wir eben diese Familie in ein Land der Unterdrückung:
wie plötzlich wird diese ganze Scene von häuslichem
Glücke verschwunden seyn! In ihrer Hütte werden
alle Sinne durch das vollständigste Elend beleidigt. Ueberall
Dürftigkeit, Ungemach und Blöße — die Körper der Aeltern
von übermäßiger Arbeit, kärglicher, ungesunder Nahrung und
Mangel an Ruhe, Erquickung und Vergnügen gedrückt,
abgewelkt, ausgemergelt — die Kinder elende, ungestaltete,
kränkelnde Mißgeschöpfe, Kinder der Verzweiflung vielmehr
als der Liebe, die der Hitze, dem Regen und dem Froste
nichts als Nacktheit oder modernde Lumpen entgegen zu setzen
haben, den Aeltern zur Last und zum Kummer leben und,
von langsamem Hunger verzehrt, einander jeden Bissen in
den Rachen zählen. — Ich kann das abscheuliche Gemälde
nicht vollenden, wiewohl ich besorge, daß die Originale dazu
allenthalben, wo es Sultane und Raja'a gibt, nur zu häufig
anzutreffen sind. Wie Wär' es nun möglich, daß so elende
Geschöpfe gut seyn, gut werden oder gut bleiben könnten?
Welch ein Wunder müßte geschehen, wenn so viel Elend sie
nicht vielmehr mißvergnügt, düster, undankbar, gleichgültig
gegen fremde Noth, neidisch und schadenfroh, niederträchtig,
betrügerisch, diebisch, raubgierig und zu jedem Verbrechen,
wodurch etwas zu gewinnen ist, bereitwillig machen sollte?
Und nun komme mir Sophist, Derwisch oder Kalender und
declamire gegen die menschliche Natur! Gegen die großen
und kleinen Sultane reißt die Mäuler auf, wenn ja
declamirt seyn muß! Diese sind die ersten und letzten Ursachen
alles Uebels in der Welt!—————
Siebenzehntes Capitel.Geschichte der Sultanschaft.Der Mensch, Freund Kalender, der zuerst den Gedanken
hatte und ihn mit Hülfe andrer böser Buben ausführte, den
schändlichen Gedanken, gute harmlose Geschöpfe, seine Brüder,
zu seinen Sklaven zu machen, damit er — während sie für
ihn arbeiteten — die Früchte ihres Schweißes essen und bei
ihren Töchtern liegen könnte, —dieser Mensch war der erste
Sultan.Die bösen Buben, die ihm geholfen hatten, seine Brüder
zu unterjochen, wollten es, wie natürlich, nicht umsonst gethan
haben. Er mußte ihnen ihren Antheil an dem geraubten
Gute geben. Sie bekamen also auch Knechte und Mägde,
Ochsen und Esel, liegende und fahrende Habe und wurden,
so viel ihrer waren, so viele kleine Sultane, die von der Arbeit
ihrer Sklaven lebten und die Töchter derselben beschliefen.Nun, laß uns sehen, was aus diesem ersten Anfang entspringen
mußte.Die kleinen Sultane wünschten — größer zu seyn, und
kamen alle Augenblicke zu dem großen Sultan —verhältnißmäßig
groß genannt, wiewohl er anfangs selbst noch klein war,
um ihm vorzustellen: wie hier, gegen Abend, ein Land läge,
das von Milch und Honig überflösse; dort, gegen Morgen,
ein anderes, wo Getreide, Baumwolle und Seide für die
halbe Welt gebauet würde; gegen Mitternacht ein drittes,
wo man die Zobel und schwarzen Füchse mit den Händen
fange; und gegen Mittag ein viertes, wo man vor Gold und
Silber, Perlen und Edelgesteinen, Elephanten und Schildkröten,
Affen und Pfauen sich kaum regen könne. "Die
Welt gehört dem, der stark genug ist, sie zu ergreifen und
mit ihr davon zu laufen, sagten sie. Es braucht weiter nichts,
als mit gewaffneter Hand in diese Länder einzuziehen und
sie in Besitz zu nehmen."Der erste Sultan ließ sich den Vorschlag gefallen und
machte sich auf, mit Hülfe seiner Vasallen, der kleinern Sultane,
wo möglich den ganzen Erdboden in Besitz zu nehmen.
Widersetzte man sich ihm, so schlug er den Leuten Arm und
Bein entzwei, mordete und raubte, sengte und brennte, bis
sich die armen Tröpfe entweder unterwarfen, oder Niemand
übrig war, der sich widersetzen konnte. Auf diese Weise raubte
er sich nach und nach ein hübsches rundes Reich zusammen,
welches er in größere und kleinere Provinzen abtheilte und
die kleinen Sultane zu Statthaltern darüber setzte.Nun baute sich der große Sultan ein ungeheures Haus,
bevölkerte es mit schönen Weibern und häßlichen Verschnittenen;
ließ einen goldnen oder vergoldeten Thron, zwanzig
Stufen hoch, aufrichten, auf den er sich setzte, wenn ihm die
Lust ankam, sich von seinen Sklaven anbeten zu lassen; legte
schöne Gärten und Gartensäle an, kaufte sich Sänger und
Sängerinnen, Tänzer und Gaukler, Köche und Aerzte, ließ
sich elastische Sopha's polstern, faullenzte, gähnte, schwor,
daß man ihm lange Weile mache; aß, trank, schlief, pflegte
seines Leibes, schäkerte mit seinen Affen, Weibern und Hofnarren;
überließ sich allen seinen Launen, schlug Köpfe ab,
verschenkte Provinzen, verlor die eine, gewann die andre —
und gab, sobald er seinen eignen Wanst angefüllt hatte,
allen seinen glücklichen Unterthanen die Erlaubniß, seinethalben
zu Mittag zu essen — wenn sie was zu essen
hätten.Die kleinen Sultane, seine Vasallen oder Statthalter,
ahmten in Allem diesem seinem Beispiele nach.Der Sohn der Favoritsultanin folgte seinem großen Vater
in der Sultanschaft und in allen seinen Großthaten. Er fing
damit an, daß er, um der Welt einen Vorschmack von der
Glückseligkeit seiner Zeiten zu geben, allen seinen Brüdern
mit schönen seidenen Stricken die Hälse zuschnüren und den
reichsten Omra's und Statthaltern, die er gern beerbt hätte,
unter dem Vorwand, daß er ihr Gesicht nicht leiden könne,
die Köpfe abschneiden ließ. Da er von Jugend an im Serail
unter Weibern und Verschnittenen in der Kunst zu essen,
zu trinken, zu gähnen, lange Weile zu haben, mit Affen
und schönen Mädchen zu spielen, und andern einem Sultan
anständigen Künsten und Wissenschaften wohl erzogen worden
war: so bracht' er es nach dem Antritt seiner Regierung in
wenig Jahren darin so weit, als man es — in Erwägung,
daß ein Sultan am Ende doch kein Elephant, kein Vielfraß,
kein Waldesel, kein Maulwurf, sondern nur eine Art von
Menschen ist — mit Anstrengung aller seiner Kräfte und
mit Hülfe der Köche, Apotheker, Kanthariden und Opiaten
in solchen Dingen nur immer bringen kann.Die kleinern Sultane — indessen daß ihr gebietender
Herr im Innern des Serails so edeln Beschäftigungen oblag —
thaten Alles, was sie wollten, raubten die Provinzen
aus oder fielen ab und machten sich unabhängig. Dieß lief
zwar niemals ohne Raufen und Blutvergießen ab: aber, da
diejenigen, die ihre Haare und ihr Blut dazu hergeben
mußten, nur gemeine Leute waren, so glaubten die Sultane,
daß es nichts zu bedeuten habe. Die Provinzen entvölkerten
sich zwar dadurch: aber, was die Herren an Menschen verloren,
das gewannen sie ja wieder an Land; und überdieß
verließen sie sich auf die Fruchtbarkeit der morgenländischen
Weiber.Nach und nach, und in der That nur gar zu schnell,
breitete sich diese schöne Verfassung über die Hälfte von Asien
aus; Alles war — Sultan oder Sklave: und da die kleinern
Sultane selbst, gern oder ungern, Sklaven der größern
seyn mußten; so nahmen sie ihre Entschädigung dafür an
allen denen, die kleiner als sie selbst waren. Des Sklaven
Sklave hatte dann wieder seine Sklaven, an denen er sich
erholte, so gut er konnte; aber wehe der letzten Classe von
Sklaven, die der Raub aller übrigen war und, weil sie
nichts unter sich sah, sich an Niemand erholen konnte!Hier und da in der Welt erhoben sich zwar kleine Freistaaten,
deren glückliche Bürger die Rechte der Menschheit —
Freiheit und Eigenthum — durch Gesetze und die Gesetze
durch Institute und Sitten befestigten. Da das Genie und
der unternehmende Geist — insofern er nur die öffentliche
Ruhe ungestört ließ — in diesen Staaten mit allen Segeln
fahren konnte: so vervollkommneten sich die Bewohner derselben
zusehens. Alle Fähigkeiten der menschlichen Natur
wurden entwickelt; Künste und Philosophie stiegen von einer
Stufe zur andern, reinigten, verschönerten, veredelten die
Natur und brachten Menschen hervor, die, in Vergleichung mit
den Sklaven oder Wilden des übrigen Erdbodens, Götter
schienen.Aber die Sultane konnten nicht zugeben, daß Freiheit,
Vernunft und Tugend, diese ewig unversöhnlichen Feinde
der Unterdrückung und der Sultanschaft, öffentliche Tempel
und Schutzörter haben sollten. Sobald sie das Daseyn derselben
erfuhren, wandten sie Alles an, solche von der Erde
zu vertilgen; und da sie mit aller ihrer Gewalt nichts gegen
sie ausrichten konnten, versuchten sie es mit besserm Erfolge
durch List. Sie schickten ihnen Gold und Köche und Tänzerinnen,
steckten sie mit dem Geschmack an Pracht und
Ueppigkeit an, entnervten sie durch Wollüste und hatten
nun wenig Mühe, die ausgearteten Söhne jener Väter, die
nichts als ihre Tugend unüberwindlich gemacht hatte, zu
überwältigen und ins Joch zu spannen.Ein einziger dieser Freistaaten sank unter seiner eigenen
Größe ein und wurde zuletzt, wie billig, das Opfer eben
des spartanischen Geistes, womit er etliche Jahrhunderte lang
kleinere Republiken verschlungen und die Hälfte des Erdbodens
beunruhiget hatte.Die Sultane behielten also endlich die Oberhand und
überließen sich nun desto ruhiger der einzigen Art von
Thätigkeit, deren sie fähig waren, allen Ausschweifungen einer
viehischen Sinnlichkeit. Stolz ohne Gefühl für Ehre und
Nachruhm, wollüstig ohne Geschmack, grausam aus Feigheit,
von Niemand geliebt, von Eifersucht und allgemeinem Mißtrauen
verzehrt, waren sie, bei allem Anschein von Größe
und Herrlichkeit, selbst die Elendesten unter Allen, deren
Elend ihr Werk war. So gewiß ist es, daß keine Sicherheit
für den ist, der sie Andern raubt, und daß Niemand glücklich
seyn kann, der für fremdes Glück oder Unglück fühllos ist.Verschwörungen, Aufruhr und ein tragisches Ende waren
das gewöhnlichste Loos dieser Tyrannen, die im Rausch ihres
Uebermuths für Götter gehalten seyn wollten und von
Menschen forderten, was der Gott der Götter selbst, der den
Menschen mit aufgerichteten Angesicht erschaffen hat, nicht
von seinem Geschöpfe fordert, sich vor ihnen, wie Gewürme
im Staube, zu wälzen, — Aber die unglücklichen Völker gewannen
nichts bei diesen gewaltsamen Veränderungen. Der
Nachfolger, ungebessert durch das Beispiel seines Vorfahren,
macht' es gemeiniglich noch ärger und beschleunigte seinen
eignen Untergang durch die Mittel, wodurch er dem Schicksal
desselben zu entgehen suchte. Oft gab man sich, um
von einem Tyrannen befreit zu werden, zehn andre und
befand sich dann gerade zehnmal schlimmer, als bei dem
einzigen. Alle Drangsale und Abscheulichkeiten der Anarchie
stürzten über die preisgegebener Provinzen her, und ihr Zustand
ward endlich so gränzenlos elend, daß sie, um sich in
einen erträglichern zu setzen, kein anderes Mittel sahen, als
freiwillig wieder in die Fesseln zurückzukehren, wovon sie sich
hatten befreien wollen.—————
Achtzehntes Capitel.Schutzrede für die Menschheit.Und nun, mein guter Kalender, nachdem wir diesen abscheulichen
Aufzug der Geschichte der Sultane durchlaufen
haben, können wir uns noch wundern, wie es zugegangen,
daß wir die Menschen — die im Genuß der Freiheit und in
einem Wohlstande, der die Frucht ihrer Arbeit und Begnügsamkeit
ist, gut, liebenswürdig und glücklich sind — durch
Unterdrückung und Elend so übel zugerichtet sehen, daß man
Mühe hat, an dem zerkratzten, verstümmelten, zerdrückten
Rumpfe die Spuren seiner ursprünglichen Form zu erkennen?Du machtest ihnen einen Vorwurf daraus, daß sie so
wenig Vernunft haben. Sieh' und fühle nun die ganze Unbilligkeit
dieses Vorwurfs!Als sie in die Welt kamen, waren sie Kinder. Sie mußten
lange wachsen, viele Erfahrungen sammeln, lange beobachten
und vergleichen, sich alle Augenblicke irren und erst
durch die schädlichen Folgen des Irrthums gewahr werden,
daß sie auf dem unrechten Wege seyen, — bis es möglich
war, Vernunft zu haben; zumal da die Sorge für die nothwendigen
Bedürfnisse ihnen nicht erlaubte, schnelle Schritte
zu machen.Indessen rückten sie doch vorwärts, lernten die Natur
benutzen, erfanden Künste, bauten und pflanzten, verschafften
sich Bequemlichkeiten, lebten in große Familien vertheilt
glücklich und wurden ihres Daseyns froh.Aber was geschah? Der Erste, der den verruchten Gedanken
hatte, lieber ein Herr unter Sklaven, als ein Mensch
unter Menschen zu seyn, zerstörte nicht nur auf einmal das
Werk der Natur, sondern stieß auch so schwere Riegel vor den
Kerker, in den er sie sperrte, daß ihr alle Möglichkeit, sich
loszumachen und ihren bestimmten Lauf fortzusetzen, benommen
war. Was half ihr nun jenes angeborne mechanische Streben
zum Fortschreiten und Emporsteigen, das die menschliche
Gattung so wesentlich von allen thierischen unterscheidet? Ein
Sklave, eben darum, weil er nicht emporstreben darf, hört
endlich auf, Mensch zu seyn, und wird zum bloßen Thier
erniedrigt. Empört sich auch zuweilen die Vernunft in ihm,
so hält der Sultan Stock und Geißel, Strick, Schwert und
Pfahl bereit, ihn dafür zu bestrafen. Denn, wo ein Sultan
den Meister spielt, ist Denken ein Verbrechen. Aber die
Tyrannen haben schon dafür gesorgt, daß die unnatürlichen
Verbrechen unter ihrer Herrschaft weniger selten
sind als dieß. Wie könnt' ein von knechtischer Arbeit zu
Boden gedrückter Sklave, über dessen Rücken stets die
Geißel schwebt, Zeit oder Muth zum Denken gewinnen?
Und könnt' er auch, wozu hälf es ihm, als sein Elend
zu vergrößern, da er seine Gedanken und Anschläge
Niemanden mittheilen darf? Was vermag ein einzelner
Mensch?Es ist wahr, unter so vielen Millionen Sklaven gibt es
Tausende, die, als kleinere Sultane, als Gehülfen der Unterdrückung,
als Günstlinge oder als nothwendige Werkzeuge
der Ueppigkeit, auf die eine oder andere Weise ihr Glück
machen und zu Ansehen, Macht und Reichthümern gelangen.
Aber dieses Glück ist vielleicht nur ein Augenblick: man muß
ihn eilends haschen, genießen, hinunterschlingen; das Gegenwärtige
ist Alles, wo keine Sicherheit für die Zukunft ist.
Die Furcht thut also bei den Großen und Reichen die nämliche
Wirkung, wie bei dem niedrigeres Sklaven. Dieser
kann nicht denken, wenn er auch wollte; jene wollten nicht,
wenn sie auch könnten.Du siehst Freund Kalender, wie unbillig es ist, den
Menschen, unter solchen Umständen, den Mangel an Vernunft
vorzurücken. — Sollt' es mit dem Mangel an Tugend
nicht gleiche Bewandtniß haben? Ich bitte dich, was hat die
Tugend mit Sultanen und Sklaven zu thun? Nenne mir,
außer der Geduld, — die in gewissen Fällen keine Tugend
ist — eine einzige, die in den Augen eines Sultans nicht
Verbrechen wäre, eine einzige, die er dulden könnte, ohne
seine Sultanschaft in Gefahr zu setzen! Aber er kann von
dieser Seite ruhig seyn. Sklaven sind keiner Tugend fähig.
Tugend ist Muth, immer nach den ewigen Gesetzen der Vernunft
zu handeln, und Sklaven haben weder Muth noch
Vernunft.Die Sultane, die Sultane! — Gott verzeihe ihnen
alles Unrecht, das sie der Menschheit angethan haben; ich
kann's nicht!Indessen sind sie weder die einzigen, noch die thätigsten
Urheber der Uebel, die uns zu Boden drücken.—————
Neunzehntes Capitel.Ein Intermezzo von drei Fakirn.Wenn Danischmend einmal ins Feuer kam, so war kein
ander Mittel, als ihn fortbrennen zu lassen, bis die brennbare
Materie völlig aufgezehrt war.Der Kalender, der diesen Zug im Charakter seines neuen
Freundes entdeckt hatte und entschlossen war, sich ihm so
gefällig zu machen, als er nur immer könnte, ließ ihn also,
da er ihn so wohl bei Athem sah, ungestört fortreden und
hörte ihm mit aller Aufmerksamkeit zu, die ein Mann, der
nun einmal im Gang ist, allein zu sprechen, nur immer
verlangen kann.Danischmend war eben im Begriff, sich mit seiner gewöhnlichen
Freimüthigkeit über die letzte Periode seines mit
dem vorgehenden Capitel abgebrochenen Discurses zu erklären;
als sie, beim Eintritt in den Vorhof seiner Wohnung,
drei Fakirn erblickten, die von einem seiner Hausgenossen
Almosen verlangt hatten und ihm dagegen ein kleines Bild
mit fünf gekrönten Köpfen und vier Armen überreichten,
welches ihn, wie sie versicherten, vor Kopf- und Zahnweh,
Gicht, Zipperlein und allen bösen Geistern bewahren würde,
wofern er es jedesmal am siebenten Tage nach dem Neumond
Morgens vor Sonnenaufgang in fließendem Wasser baden
und etliche schwere Wörter, die sie ihm auf einen Zettel
geschrieben hatten, siebenmal dazu hermurmeln würde. Die
Fakirn zogen sich demüthig zurück, sobald sie den vermuthlichen
Herrn des Hauses gewahr wurden.Da haben wir's! —rief Danischmend mit einem schmerzlichen
Seufzer. Nun gute Nacht, Natur, Unschuld und
Glückseligkeit, die ihr seit Jahrhunderten in diesen der Welt
unbekannten Thälern herrschtet! Denn noch hatte weder Fakir,
noch Bonze den Weg zu uns gefunden. — Aber, wie konnt'
ich auch hoffen, daß es immer so seyn würde? Die Herren
haben zu feine Nasen! Sie haben ausgespürt, daß gut bei
uns leben ist, daß wir hübsche Weiber haben, daß wir gute
einfältige Leute, Leute von der besten Hoffnung sind. Nun,
da sie uns einmal aufgetrieben haben, Freund Kalender,
werden sie, verlaß dich darauf, nicht von uns ablassen, bis
sie uns durch und durch so jämmerlich bebonzt und befakirt
haben, daß an Seel' und Leib nichts Gesundes mehr an uns
seyn wird.Man muß ihnen den Weg wieder hinausweisen, sagte
der Kalender."Wie soll das möglich seyn? Kann ich Gewalt brauchen?
und, wenn ich könnte, bin ich dazu berechtigt? Soll ich die
Einwohner unsers Thales zusammen berufen, ihnen eine
Gefahr vorstellen, von der sie keinen Begriff haben, sie in
Alarm setzen, den Mann gegen sein Weib, die Kinder gegen
ihre Aeltern, die Nachbarn gegen ihre Nachbarn aufwiegeln?
Du solltest doch diese Schlauköpfe mit ihrer scheinheiligen Miene
kennen! Sie lassen sich nicht so leicht abtreiben. — Und
gesetzt, es gelänge mir, diese ersten, die vielleicht nur von
ungefähr zu uns verirrt sind, abzutreiben; werden sie sich
nicht an den Brahminen der Sultanin Nurmahal wenden
und mit siebenmal ärgern, als sie sind, wieder kommen, um
Besitz von unserm ganzen Ländchen zu nehmen? Besser, man
läßt sie ihres Weges gehn und erwartet, was daraus werden
mag. Die Kerle scheinen noch jung zu seyn; vielleicht kann
man noch Menschen aus ihnen machen."Daß Danischmend von seiner Ahnung nicht betrogen wurde,
zeigte sich schon am dritten Tage. Es war eine Art von Fest,
an dem die Einwohner von aller Arbeit auszuruhen und auf
verschiedenen dazu bestimmten Plätzen sich mit ländlichen
Tänzen und Spielen zu ergetzen pflegten. Danischmend und
der Kalender bemerkten sogleich, daß unter den Weibern ihres
Dorfes wenige waren, die nicht einen zierlich in Mousselin
eingewickelten Lingam am Halse bammeln hatten und sich
auf diesen neuen Putz viel zu gute zu thun schienen.Siehst du, sagte Danischmend zu seinem Freunde: wirken
die drei Fakirn, die wir gestern in meinem Hofe fanden? —
Meine einzige Hoffnung ist noch, daß der Lingam, ehe drei
oder vier Tage in die Welt gekommen sind, irgend etwas
ausstellen wird, das uns Gelegenheit geben mag, den Betrügern
die Maske abzuziehen.Es währte nicht lange, so fanden sich unsere drei Fakirn
ein, begleitet von einem Einwohner und seiner Frau, einer von
den schönsten in der ganzen Gegend, die (wie leicht zu erachten)
mit einem ansehnlichen Lingam prangte. Die Fakirn,
wie neu auch ihre Bekanntschaft mit diesen jungen Leutchen
war, thaten schon so vertraut mit ihnen, als ob sie von jeher
da gewesen wären. Sie sahen eine Weile den Tänzen der
jungen Mädchen zu, und, um zur allgemeinen Ergetzung das
Ihrige auch beizutragen, meldeten sie der Versammlung, daß
sie einen von den Tänzen tanzen wollten, womit der Gott
Rutren die Weiber der Braminen belustiget habe, als ihm
—nach Vollendung der langen Buße, zu welcher er von den
übrigen Göttern verurtheilt worden, weil er seinem Bruder
Brama einen seiner fünf Köpfe abgezwickt — die Lust angekommen,
mit besagten Braminenweibern, in Gestalt eines
Bettlers, Kurzweil zu treiben.Die Fakirn tanzten also den Tanz Rutrens, an welchem
Danischmend nicht halb so viel Belieben fand, als die guten
Landleute, sonderlich die jungen Weiber, die, mit weit aufgesperrten
nichts besorgenden Augen, an der Geschmeidigkeit
und Stärke der Fremdlinge ihre Freude sahen.Als die Fakirn fertig waren, setzten sie sich unter die Einwohner
ins Gras und erzählten den Weibern tausend schöne
wunderbare Historien von Brama's fünf Köpfen und von
Wistnu's neun Verwandlungen; und was Gestalten die schöne
Paraswadi, Rutrens Gemahlin, da sie sich einstens in Abwesenheit
ihres Mannes in einem schönen Feenbrunnen gebadet,
plötzlich von den Gelüsten überfallen worden, ein Kind
zu haben; und wie sie mit ihrer Hand in ihren Busen gefahren,
und wie aus dem Schweiße, der ihr davon an der
Hand sitzen geblieben, plötzlich ein bildschöner Junge entstanden,
dem sie den Namen Vinayaguen gegeben; und wie
Rutren bei seiner Wiederkunft über diese wundervolle Geburt
Argwohn geschöpft und dem armen Vinayaguen (sonst auch
Puleier genannt) den Kopf abgeschnitten, aber gleich darauf
sich's wieder gereuen lassen und den abgerissenen Kopf wieder
habe ansetzen wollen, weil solcher aber nirgends mehr zu finden
gewesen, eilends einem jungen Elephanten den Kopf
abgeschlagen und den Elephantenkopf so geschickt auf Puleiers
Rumpf gesetzt, daß dieser stracks wieder zu leben angefangen
und von Stund' an bis auf diesen Tag sich des Elephantenkopfs
so gut bediene, als ob es immer sein eigener gewesen;
und wie Rutren ihn darauf für seinen Sohn erkannt und
ihm auferlegt habe, sich nicht zu vermählen, bis er eine Frau
gefunden, die so schön sey, als seine Mutter; und wie Puleier
nun auf allen Landstraßen stehe und mit seinem Elephantenkopf
nach Osten und Westen, Süden und Norden
gucke, um zu sehen, ob nicht endlich ein Mädchen daher
kommen werde, das so schön wie Paraswadi sey. ——Und
die entzückten Weiblein vergaßen Tanzen und Spielen, Essen
und Trinken über den schönen Historien und zweifelten nun
keinen Augenblick, daß die drei Fremdlinge etwas mehr als
gemeine Sterbliche, und der Lingam, den sie austheilten,
der herrlichste aller Talismane sey.Danischmend fand noch nicht rathsam, ihnen seine Meinung
von der Sache zu sagen: aber, da er mit dem Kalender
nach Hause ging, hatte er einen Anfall von seinem kosmopolitischen
Fieber, worin er den Magiern, Druiden, Bramen,
Lamen, Derwischen, Fakirn, Goguis, Marabuts, Talapoins
und Ya-faous, kurz allen Arten und Gattungen von Bonzen,
schwarzen und weißen, blauen und grünen, rothen und
gelben, eine Lobrede hielt, wovon ihnen auf dem ganzen
Erdenrund die Ohren hätten klingen sollen; eine Lobrede,
worin alle ihre Verdienste um das menschliche Geschlecht, —
ihr Eifer, die Welt mit Aberglauben, abgeschmackten Mährlein
und Lingams anzufüllen, ihr tödlicher Haß gegen Vernunft
und Tugend, ihre Heuchelei, ihre Hoffahrt, ihre Unersättlichkeit,
ihre Geschicklichkeit, Erbschaften und Vermächtnisse
zu erschleichen, ihre unbändige Begierde zum Herrschen,
ihr Verfolgungsgeist, ihre Rachsucht, ihre Giftmischerei, ihre
Unwissenheit, Gefräßigkeit, Völlerei und Unzucht, mit einem
Wort, alle ihre Tugenden in einem so blendenden Licht hervorstachen,
daß man Nerven haben mußte, wie der Kalender,
um nicht gänzlich davon zu Boden geschlagen zu werden.Ein zweiter Auszug aus der Geschichte der Menschheit
(rief Danischmend, da er mit seiner Lobrede fertig war), der
uns —beinahe wieder mit den Sultanen aussöhnen könnte!—————
Zwanzigstes Capitel.Warum es bei Allem dem noch ganz leidlich in der Welt hergeht.Ich finde eben nicht, sagte der Kalender, daß du den
Sultanen und den Bonzen mehr zur Last legst, als recht ist.
Alle Geschichtbücher Asiens und vermuthlich die von der
ganzen Welt enthalten die Beweise deiner Anklagen. Die
Sache ist weltkundig. Das Einzige, was einen dabei in
Verwunderung setzt, ist, daß es bei so bewandten Umständen
nicht noch zehnmal schlimmer um uns arme Erdenklöße steht."Ich denke, diese Verwunderung — wie alle Verwunderungen —
hört auf (antwortete Danischmend), sobald man
die Ursachen erwägt, die den Wirkungen der Sultanschaft
und der Bonzenschaft das Gleichgewicht halten."Fürs Erste wird noch ein großer Theil des Erdbodens
von Wilden und Nomaden bewohnt, die zum Theil weder
von Sultanen noch Bonzen wissen und, ungeachtet des noch
kindischen Standes oder der langen Verwilderung, worin sie
leben, starke Züge der ursprünglichen Güte unserer Natur
an sich tragen und im Genuß aller ihrer angebornen Rechte
stehen. Die Einfälle dieser Nomaden in die Länder der Sultane
und die dadurch von Zeit zu Zeit verursachten Weltveränderungen
sind der Menschheit allemal, wenigstens eine
Zeit lang, nützlich gewesen. Die Verwüstungen, welche die
aufs Aeußerste gestiegene Tyrannei und Ueppigkeit bald hier
bald dort auf dem Erdboden angerichtet hatten, sind dadurch
wieder vergütet, frisches Blut und neues Leben in halb erstorbene
Völker gegossen, und durch die Vermischung des
gesunden Menschenverstandes, den die Eroberer mitbrachten
mit dem Unsinn, den sie eingeführt fanden, eine Art von
Gährung verursacht worden, die wenigstens eine gänzliche
Stockung der Vernunft verhütete."Wenn diese Betrachtung auch richtig wäre, sagte der Kalender,
so wirst du doch gestehen, daß das Gute, was diese
großen Weltveränderungen mit sich führten, sich immer gar
bald wieder verloren hat. Die Eroberer wurden Sultane,
die Bonzen gaben ihren Röcken einen andern Schnitt, theilten
sich in neue Secten, erfanden, um ihr altes Ansehen zu
stützen, neue Betrügereien, und die Völker befanden sich bald
wieder eben so übel als zuvor."Leider! versetzte Danischmend. Aber das Gute ist doch
immer etwas Positives, Wirksames, und seiner Natur nach
Fortdauerndes; seine heilsamen Folgen verlieren sich nie ganz,
wiewohl sie eben dadurch, daß sie in unzählige kleine Canäle
ausfließen, sich gleichsam in den Boden verkriechen und dem
Auge nach und nach unmerklich werden."Sodann, mein lieber Kalender, liegt eine andere, und
ohne Zweifel die wirksamste Ursache, warum Sultanschaft
und Bonzenschaft die Menschheit niemals völlig überwältigen,
ihr selten oder vielleicht niemals alles das Böse thun konnten,
noch thun werden, das sie an sich selbst vermöge ihrer
Natur wirken müßten, wenn kein mächtiges Gegengift sie
entkräftete —diese Ursache, sag' ich, liegt in den Künsten —
die wir den alten Aegyptern, Phöniciern und Griechen
— und in der Philosophie, die wir — Gott und der Natur
zu danken haben. Der einzige Zug des großen Alexander
durch Asien ist in dieser Betrachtung, durch seine Folgen,
so wohlthätig gewesen, daß man sich nicht zu wundern hat,
wenn dem Andenken dieses Größten unter den Sterblichen
noch etliche Jahrhunderte nach seinem Tode, sogar in Indien,
öffentliche Ehrendenkmäler gewidmet waren."Die Künste beschäftigen nicht nur eine unzählige Menge
Menschen, die, ohne sie, ein Raub des Elends seyn oder
gar nicht zum Leben kommen würden; sie verhindern auch
die Sultane völlig so roh und unbändig zu werden, als sie
werden müßten, wenn Gähnen und Fliegenfangen, Prassen
und Zechen, Jagen und Morden — der Thiere oder Menschen
ihre einzige Belustigung wäre. Sie lernen durch die
Künste edlere oder wenigstens feinere und sanftere Vergnügungen
kennen; Witz, Erfindsamkeit, Talente werden ihnen
werth; und wie viel gewinnen wir nicht schon durch diesen
einzigen Umstand über die Sultanschaft!"Was die Philosophie betrifft, so wenig man uns von
ihr gelassen hat, so ist doch selbst dieß Wenige kostbar und
wichtig für die Vortheile der Menschheit. Und wenn aus
unsern Schulen zu Balk, zu Samerkand, zu Benares in
fünf und zwanzig Jahren auch nur zwei oder drei echte Weltbürger
mit hellem Kopf und warmen Herzen hervorgehen,
die auf die eine oder andere Art zwischen Sultanen und
Bonzen unzerdrückt durchzukommen wissen: so siehst du leicht,
daß ihrer dann gerade genug sind, um uns von dem Salz
der Erden — welches die Weisen von jeher in ihrer Verwahrung
gehabt haben — ungefähr so viel zukommen zu lassen,
als wir brauchen, um nicht gänzlich zu verfaulen."Nehmen wir nun noch hinzu alles Gute, was das kleine,
aber desto thätigere Häufchen der Enthusiasten der Tugend
thut, und alles Böse, was eine Menge von großen und kleinen
Bonzen, aus Temperament, Trägheit, Furchtsamkeit,
Liebe zum Vergnügen oder natürlicher Gutherzigkeit, nicht
thut."Bedenken wir, daß es selbst unter den Sultanen hier
und da einen gibt, der mit einer so vortrefflichen Anlage
geboren ist, daß weder Erziehung noch Beispiele, weder Serail
noch Divan, weder Höflinge noch Bonzen alle Thätigkeit
seines Geistes zu hemmen, alle Tugenden seines Herzens
ersticken können;"Erwägen wir, daß verschiedene Völker des Erdbodens
muthig oder glücklich genug gewesen sind, ihre wesentlichsten
Rechte gegen willkürliche Gewalt und Unterdrückung mehr
oder weniger sicher zu stellen, und daß bei diesen Völkern
gute Fürsten weniger selten sind, als bei uns Asiaten die
sehr bösen Sultane;"Ferner, daß die Vorsehung ein Belieben darin findet,
von Zeit zu Zeit Privatpersonen von großem Geist und Herzen
auf Throne zu setzen, wozu sie nicht durch Geburt, sondern
durch Tugend und Verdienst berufen werden;"Und daß es, allen Bemühungen der Sultane und ihrer
Werkzeuge zu Trotz, immer noch hier und da einen kleinen
Freistaat gibt, wo Fleiß, Mäßigung und kluge Einrichtung
glückliche Menschen macht, und wo Weisheit und Tugend
Verdienste sind;"Rechnen wir, Freund Kalender, alle diese Umstände zusammen:
so wird es uns kein Räthsel mehr seyn, warum
die menschliche Gattung — die, dem ersten Anschein nach,
durch Sultane und Bonzen längst vom Erdboden vertilgt
seyn sollte — im Durchschnitt genommen, sich noch immer
in einem ganz leidlichen Zustande befindet."Leidlich genug, sagte der Kalender, sonderheitlich wenn
man, wie wir, wohl gegessen und getrunken hat, an nichts
Mangel leidet, von allen Sultanen so fern als möglich ist
und von keinem Bonzen oder Derwischen weder verfolgt, noch
— was oft eben so arg ist — mit seiner Freundschaft beehrt
wird. Wir haben gut reden, mein lieber Danischmend!Der verwünschte Kalender mit seinem sonderheitlich! —
Was war darauf zu antworten?Danischmend seufzte und schwieg.—————
Einundzwanzigstes Capitel.Eine seltsame Begebenheit. Man bittet die Leser ernsthaft zu seyn.Unterdessen daß Danischmend und sein philosophischer Kalender
so harmlos und so vergeblich über Dinge schwatzten,
die sie nicht ändern konnten, waren die Fakirn und ihre
Lingams nicht müßig gewesen; und die Hälfte der Bewohner
dieser glücklichen Thäler befand sich binnen wenig Tagen mit
einem desto gefährlichern Gift angesteckt, weil dessen erste
Wirkungen angenehm, die verderbenden Folgen hingegen
einem so unerfahrenen Völkchen unmerklich waren. Die Männer
ließen sich mit fünfköpfigen Bildern, und die Weiber
mit Lingams begaben, welche sie, um dereinst an Rutrens
Paradiese Theil zu haben, nach der Vorschrift der Bonzen
alle Morgen in reinem Wasser badeten, dieses Wasser sodann
tranken und den Lingam, nachdem sie ihn andächtig geküßt
hatten, in Mousselin sauber eingewickelt, an einer seidnen
Schnur auf ihrem Busen trugen. Eine Närrin machte die
andre; denn, außerdem daß ihnen die Fakirn Wunderdinge
von Rutrens Paradiese erzählten, war so ein — ich weiß
nicht was in dem Lingam, das sich besser empfinden als sagen
ließ. — "Wenigstens (sagten diejenigen, die für klüger als
andre angesehen seyn wollten), wenigstens sehen wir nicht,
was er sollte schaden können."Der Fehler war, daß die guten Evatöchterchen nicht weiter
sahen, als ihre Nase reichte.Aber eines Morgens, als Danischmend und der Kalender,
ihrer Gewohnheit nach, aufs Feld spazieren gingen, wurden
sie von einem gräßlichen Geschrei, das aus einer benachbarten
Wohnung kam, von ihrem Wege abgerufen. Sie eilten
dem Orte zu, drangen hinein und fanden — sollen wir's
sagen? — fanden — — — wie gern wollten wir's verheimlichen,
wenn es, ohne das Folgende durch die Lücke unverständlich
zu machen, geschehen könnte! —fanden — um uns
so kurz als möglich aus der Sache zu ziehen — den Mann
einer schönen jungen Frau schäumend vor Wuth, im Werke,
einem der Fakirn, den er zappelnd und schreiend unter seinen
Knieen hatte, mit einem großen Gartenmesser — seinen
Lingam abzumähen. Die schöne Frau, halb nackend, mit
fliegenden Haaren und vor Angst außer sich, bestrebte sich
umsonst, des Mannes Arm aufzuhalten; der Schnitt war in
demselben Augenblicke, da Danischmend in die Kammer trat,
vollbracht, und der Fakir lag ohnmächtig in seinem Blute.
Kaum hatten Danischmend und der Kalender noch Zeit, den
wüthenden Mann, dessen Grimm sich nun gegen seine Frau
kehrte, mit aller ihrer Stärke von ihr zurück zu reißen. Er
schwor mit brüllender Stimme, daß er gerochen seyn wollte;
aber die arme Frau rief laut weinend Himmel und Erde zu
Zeugen ihrer Unschuld an.Unterdessen hatte der Lärm das ganze Dorf um die Hütte
versammelt. Die Aeltesten drangen herein; man brachte den
wüthenden Ehemann ein wenig zu sich selbst; und der Kalender,
der einige Kenntniß von der Wundarznei hatte, bemühte
sich, das Verbluten des leidenden Fakirs zu stillen,
verband ihn und rief ihn wieder ins Leben zurück.Die Aeltesten führten hierauf den Mann und die schöne
Frau heraus vor die Hütte, unter eine Linde, um die sich
das Volk in einem Kreise herumzog. Rede, sagten sie zu
dem Manne: was bewog dich, diese rasche That zu thun?"Ich war, sprach der Mann, mit Sonnenaufgang hinaus
gegangen, in meinem Garten zu arbeiten; mein Weib schlummerte
noch. Nach einer Stunde komm' ich zurück, um sie
mit einem Kuß aufzuwecken; denn ich liebte sie, wie ihr Alle
wißt. Aber — verflucht sey die Stunde! — da ich —Wuth
und Entsetzen! ich kann nicht forterzählen —"Fasse dich, sagte einer der Aeltesten, schöpfe Athem,
wasche deinen Kopf und deine Arme dort in der frischen
Quelle, dann komm zurück. Der Mann gehorchte.Ich bin unschuldig, sagte die schöne Frau mit Thränen,
die in großen Tropfen über ihre glühenden Wangen rollten,
ich habe nichts verbrochen; der Fakir —ich hielt ihn für einen
Mann, der mit Göttern umging — er hat mich betrogen,
aber — ich bin unschuldig.Der Mann kam zurück. Rede nun, sprachen die Aeltesten."Indessen ich die Thür öffne, seh' ich — den Fakir und
— mein Weib halb nackend auf meinem Lager — ringen,
oder —Gott weiß es! ich weiß es nicht. Mir wurde dunkel
vor den Augen; ich hatte mein Messer in der Hand; der
Fakir fuhr zurück; ich stürzte auf ihn hin, warf ihn zu
Boden, that ihm, wie ihr gesehen habt; — und die Ungetreue —
wie könnte sie unschuldig seyn? — sie wollte mich
zurückhalten!"Menschlichkeit, Schrecken, —rief die Frau: ich glaubte,
daß er ihn erwürgen wollte — wußte vor Angst nicht, was
ich that!Du hast recht gethan, sagten die Aeltesten zu dem Manne.
Recht gethan! recht gethan! schrie das ganze Volk.Man sahe die beiden andern und thue ihnen eben so,
riefen Einige. — Die Weiber alle rissen ihre Lingams vom
Halse und warfen sie mit Unwillen weit von sich. Die
Männer machten's mit ihren Fünfköpfen eben so.Nun rede du, sagten die Aeltesten zu der schönen Frau."Ich bekenne, sagte sie, daß ich mich von diesem Fakir
wie ein albernes Ding einnehmen ließ. Ich hörte ihn gern
Mährchen erzählen von seinen Göttern und von Rutrens
Paradies und von den Verwandlungen des Wistnu: da war
mir's, ich hätt' ihm den ganzen Tag zuhören mögen und
glaubte ihm Alles, was er sagte. Dieß mocht' er wohl gemerkt
haben und sich einbilden, daß er Alles mit mir machen
könnte, was er wollte. Nun hatt' er mir einen Lingam gegeben,
wie vielen Andern auch; den trug ich am Halse wie
Andre, ohne recht zu wissen, was es war; und da erzählt'
er mir, ich weiß nicht was, von Rutrens Buße, und wie ihn
die Beamen bezaubert hätten, und wie er Allen denen das
Paradies geben wollte, die den Lingam ehrten und am Halse
trügen. Und gestern Abend sagt' er mir ins Ohr, er wollte
mich des folgenden Morgens besuchen und mir weit schönere
Dinge erzählen, als bisher, und Dinge, die er Andern nicht
sagen dürfte, weil Rutren mehr Gefallen an mir hätte.
Dieß schmeichelte, ich bekenn' es, meiner thörichten Eigenliebe;
und da erlaubt' ich ihm zu kommen; aber mein Herz
dachte an nichts Arges. Und da kam er, als ich noch schlief,
und weckte mich mit einem Kuß, und weil ich meinte, es
wäre mein Mann — denn mein Herz dachte nicht an den
Fakir — so gab ich ihm den Kuß wieder. Und da wollt' er
verhindern, daß ich die Augen nicht aufschlüge, und wollte
— was ich mich schäme zu sagen; da rafft' ich mich auf und
that einen lauten Schrei, wie ich sah, daß es der Fakir
war. Und da hat er mich mit aufgehobenen Händen,
ruhig zu seyn, und schwor mir, daß er Rutren sey, und
daß ich reizender in seinen Augen sey, als die schöne
Paraswadi, und ich weiß nicht mehr, was er Alles sagte, um
mich zu bethören. Aber ich wickelte mich in meine Decke
und hieß ihn gehen. Da geberdete er sich wie ein Unsinniger
und riß — die Decke weg. Ich wehrte mich mit Händen
und Füßen; aber er war mir zu stark, und ich glaube
wahrhaftig, daß er mich überwältigt hätte, denn ich konnte
nicht schreien: aber, indem wir so rangen, da kam, zu meinem
Glücke, mein Mann, und ihr Alle wißt, was weiter geschah.
Dieß ist die reine Wahrheit, und ihr seht, daß mir
nichts begegnet ist, als was Andern auch begegnen konnte.
Aber mein Mann wird mir nicht glauben, daß ich unschuldig
bin und nichts verschwiegen habe, und Andere werden's auch
nicht glauben, und so bin ich verloren und kann mich nicht
rechtfertigen und kann mich selbst nicht länger ausstehen, nachdem
mich die Augen und die Hände des Betrügers entheiliget
haben. Verflucht sey er und sein Gott Rutren und
alle seine Lingams!" — Mit diesen letzten Worten riß sie
ihrem Manne sein Messer aus der Hand und stieß sich's in
die Brust.Danischmend, der ihr (wiewohl nicht schnell genug, um
die That ganz zu verhindern) den Arm zurückriß, verhinderte
doch, daß die Wunde nicht tödtlich wurde. Aber das Volk,
da es Blut aus ihrem schönen Busen strömen sah, gerieth
in Wuth. Der Mann, auf einmal überzeugt von der Unschuld
seines Weibes, stellte sich an die Spitze der übrigen,
und alle verlangten mit großem Ungestüm, daß die Fakirn
zu den Füßen der sterbenden Unschuldigen abgeschlachtet werden
sollten. Man suchte sie überall; aber die Gesellen des
Verwundeten, da sie den Lärm sahen, hatten die Flucht genommen.
—Die Frau kann noch gerettet werden, rief Danischmend:
man jage den Fliehenden nach, und wir, versäumen
wir keinen Augenblick, die schöne Kezia zu retten!Der Kalender legte nun eine zweite Probe seiner Kunst
ab, mit desto größerm Eifer, da er dieß für eine Gelegenheit
ansah, sich um dieß kleine Völkchen und um Perisadeh,
deren Verwandte die schöne Kezia war, verdient zu machen.Die Wuth des Volks legte sich ein wenig, da man vernahm,
daß die Wunde weder tödtlich noch gefährlich sey.
Aber die Fakirn, die Lingams und die Fünfköpfe hatten
durch diese Begebenheit ihr Ansehen unwiederbringlich verloren."O des großen Dienstes, den uns die Thorheit dieses
Fakirs gethan hat! —sagte Danischmend zum Kalender, da
sie nach Hause gingen. Unsre Philosophie hätte sich Jahr und
Tag mit seinen Lingams herumbalgen können, ohne ihnen
halb so viel Schaden zu thun, als er sich selbst und ihnen
in einem Augenblick gethan hat."Man wird vielleicht unwahrscheinlich finden, daß die
Fakirn gleich in den ersten Tagen ihrer Erscheinung unter
einem unbekannten Volk eine Unvorsichtigkeit von solchen
Folgen begangen haben sollten. Aber erstlich waren sie noch
jung;Zweitens, nicht etwa von ihren Obern mit gemessenen
Verhaltungsbefehlen abgeschickt, sondern von ungefähr in dieß
Land gekommen;Drittens, schien dieß Volk ein so gutes leichtglaubiges
Völkchen, und die schöne Kezia ein so lenksames Schäfchen
zu seyn;Viertens, kann ein Fakir, zumal wenn er noch jung ist,
nicht so lange warten, wie andre Leute;Fünftens, scheint er selbst von der Gelegenheit — dem
gefährlichsten unter allen Teufeln, die den Menschen nachstellen —
überrascht worden zu seyn;Endlich sechstens und letztens, würde wenig Böses geschehen,
wenn die Leute fein bedächten, was sie thäten, und
immer den goldnen Spruch vor Augen hätten: Respice finem.—————
Zweiundzwanzigstes Capitel.Entwicklung und Ende der Tragödie,Inzwischen hatte man die beiden flüchtigen Fakirn im
Gebirge erhascht und zu einem der Aeltesten in Verwahrung
gebracht. Die sämmtlichen Männer in der Gegend, welche
vermuthlich bei genauerer Nachfrage genug entdeckt haben
mochten, um jeder wegen seiner eignen Sicherheit besorgt zu
seyn, bestanden darauf, daß den beiden noch unverletzten
Fakirn eben so gethan werden sollte, wie ihrem Gesellen.Danischmend war in keiner geringen Verlegenheit und
berieth sich mit dem Kalender, was zu thun sey. Die armen
Schelme in den Stand ihres Gottes Rutren zu setzen, schien
noch grausamer, als ihnen das Leben auf einmal zu nehmen.
Ueberdieß, welche Folgen konnt' es für die ganze Republik
haben, wenn einer von ihnen, so grausam beleidigt und zu
gränzenloser Rache gereizt, entwischen, nach Dehly fliehen
und den Braminen der Sultanin auffordern würde, ihre
Sache zur seinigen zu machen!Das Sicherste wäre gewesen, ihnen ohne Umstände die
Hälse zuzuschnüren; aber war dieß menschlich?"Kann es Unrecht seyn, zwei oder drei betrügerische unzüchtige
Buben der Sicherheit eines ganzen Volkes aufzuopfern?"
— sagte der Kalender.Danischmend's Kopf gestand, daß es nicht unrecht sey:
aber in seinem Herzen war etwas, das Nein dazu sagte; und
in solchen Fällen gab er allemal seinem Herzen Recht.Die Aeltesten versammelten sich und beriefen Danischmenden
und den Kalender dazu. Das Volk schwärmte
haufenweise um die Hütte her; Niemand dachte an seine
Arbeit; Alles war in einer Bewegung, einer Verwirrung,
wovon man in dieser kleinen Republik kein Beispiel wußte.Daß ich leben mußte, um ein Zeuge eines solchen Gräuels
zu seyn! —rief der redliche alte Mann mit den Silberhaaren,
mit dem wir im 15. Capitel schon Bekanntschaft gemacht
haben — daß ich, rief er mit einem tiefen Seufzer, diese
Tage der Wuth, der Verwirrung, des Mißtrauens, der
verlornen Unschuld erleben mußte! Seine eigene geliebte
Tochter, die holde jungfräuliche Braut —(das Herz unsrer
Leser kann sie noch nicht vergessen haben)— hatte sich, in
der Einfalt ihres Herzens, einen Lingam aufschwatzen lassen!
— Die arme Seele, sie wußte in der That nicht, was
es war."Verflucht sey die Stunde, da die Fakirn ihren Fuß in
die Thäler von Jemal setzten! rief ein anderer von den
Aeltesten. Wir werden nie wieder die Menschen werden,
die wir waren!""Und was ist nun anzufangen? Wie sollen wir ihrer
ledig werden? Wie den Schaden heilen, den sie uns zugefügt
haben?"In diesem Augenblicke nahm der Tumult vor der Hütte
überhand. Man hatte neue schreckliche Entdeckungen gemacht.
Die beiden Fakirn — zwei Fragen aus einem benachbarten
Dorfe — in der nämlichen Nacht vor dem Morgen, der den
blutigen Auftritt beleuchtete — Das ganze Dorf in Anfuhr.
— "Wo sind sie, wo sind sie, die Schändlichen?" — Alle
drei im Hause des Aeltesten. —Das ganze Volk stürzt dahin.
Man zog sie heraus; in einem Augenblick waren sie in
tausend Stücke zerrissen! — Die Sonne verbarg sich vor dem
abscheulichen Anblicke. — Die schuldigen Frauen (man hatte
sie mitgeschleppt), unvermögend die Last ihrer Schande zu
ertragen, rissen sich wüthend von ihren Hütern los und
stürzten sich in den benachbarten Fluß.Die Aeltesten rauften ihre grauen Haare aus, beschworen
das Volk, geboten Ruhe und wurden von Niemand gehört.Endlich fand Danischmend das rechte Mittel. Man trage
Holz herbei, rief er: man lese die Stücke der zerrißnen Fakirn
mit allen ihren Lingams und Fünfköpfen zusammen, verbrenne
Alles auf einem Haufen und wälze dann eine Spitzsäule
von Steinen darüber, die unsern Enkeln ein Denkmal zum
Schrecken und zur Warnung sey.Plötzlich lief das Volk auseinander, Holz und Feuerbrände
zu holen; die Gliedmaßen der Fakirn mit ihren Kleidern
und Allem, was ihnen zugehört hatte, keinen einzigen Lingam
ausgenommen, wurden auf den Holzstoß geworfen; die Aeltesten
des Volks zündeten ihn an, und alles Volk stand im
Kreise und ergetzte sich an dem schönen Feuer.Wie Alles Asche war, thürmten sie Steine mit Sand und
Erde vermischt darüber her, bis es eine hohe Spitzsäule
ward. Und man nannte sie den Fakirhügel; und das Volk
glaubte, daß die Geister der ermordeten Fakirn und der
beiden Frauen, die sich selbst geopfert hatten, um Mitternacht
sich auf dem Hügel sehen ließen; und wer bei Nacht
dieses Weges ging, entfernte sich von dem Hügel, soweit er
konnte, hüllte seinen Kopf ein und eilte schauernd vorüber.
Und der Name der Fakirn blieb ein Gräuel in den Ohren
des Volkes zu Jemal bis auf diesen Tag.—————
Dreiundzwanzigstes Capitel.Schließliche Nutzanwendung.Die armen Fakirn, bei Allem dem! Ihr Schicksal war
hart! — Aber freilich war auch ihr Verbrechen groß. Die
Unschuld, den Frieden, das häusliche Glück eines so guten
Völkchens zu zerstören! Dieß verdiente das Aergste, und das
Aergste widerfuhr ihnen auch. Nur Schade, daß ihre Strafe,
als Beispiel betrachtet, für die Welt verloren ging! denn die
übrigen Fakirn erfuhren nichts davon — die Sache müßte
ihnen nur durch dieses Buch verrathen werden; wozu allerdings
gute Hoffnung ist, wenn die Uebersetzer in Ostindien
so flink und nothgedrungen sind, wie die unsrigen.—————
Vierundzwanzigstes Capitel.Natürliche Folgen dessen, was vorgegangen war.Es brauchte einige Zeit, bis die Gährung, wovon diese
Begebenheiten theils die Ursache, theils die Folgen waren,
ausgebrauset hatte, und die Gemüther in ihre vorige Lage
zurückschwankten.Sonst waren Eifersucht und Mißtrauen unbekannte Leidenschaften
unter diesen Glücklichen gewesen; Eines hielt sich der
Liebe des Andern gewiß, und gränzenlose Sicherheit machte
die Grundlage ihres Glückes aus. Aber nun, welcher Mann
konnte nach dem, was vorgegangen war, seine geliebte Hälfte
ansehen, ohne daß ein unfreiwilliger Argwohn kalt durch seine
Adern schauerte! Mit wie ganz andern Augen sieht man sein
Weib an, wenn man gewiß ist, oder es zu seyn glaubt, daß
kein fremder Anhauch sie jemals befleckt habe, — oder, wenn
man zweifelt, nur die kleinste Ursache zum Zweifeln hat
oder zu haben glaubt!Glücklich waren nun die Frauen, — und ihre Männer
noch mehr! — die, aus Klugheit oder Sittsamkeit oder Indolenz,
sich mit den Fakirn gar nicht eingelassen und ihren
Busen mit keinem Lingam verunreiniget hatten!Wahr ist's, wenn die Mode; Lingam zu tragen, nun einmal
in einem Lande eingeführt und so allgemein wäre, daß man
sich ohne Lingam nicht mit Anständigkeit sehen lassen dürfte:
so würden sich auch die sittsamsten Frauen in der Nothwendigkeit
befinden, die Mode mitzumachen, weil in allen solchen
Dingen die öffentliche Meinung Gesetz ist. Aber, wer klug
ist, wartet wenigstens — zumal bei den lächerlichen oder
zweideutigen Moden — das Aeußerste ab.Indessen hatten die guten Weiblein, die sich von den
Fakirn mit dem Ordenszeichen des Gottes Rutren hatten
zieren lassen, aller Wahrscheinlichkeit nach keine schlimme
Absicht dabei gehabt; und auch Kezia, die Schuldigste unter
allen — die beiden Unglücklichen, die sich selbst bestraften,
ausgenommen — kam (wie wir gesehen haben) aus bloßer
Einfalt in Gefahr und war, nach ihrer Schutzrede zu urtheilen,
im Grund ein gutes, wohlmeinendes Geschöpf.Die Männer hatten also Unrecht, den armen Weibern
einen Fehler so übel zu nehmen, der, beim Lichte besehen,
eine bloße weibliche oder — um ganz gerecht zu seyn —
menschliche Schwachheit war; einen Fehler, den die meisten
unter den Männern selbst erst durch den Ausgang für das,
was er war, erkannten, und den sie, was noch mehr ist,
durch ihr eigenes Beispiel gerechtfertiget hatten. Aber so
sind die Männer!Sieben ganzer Tage bekam keine Frau, die einen Lingam
getragen hatte, einen guten Blick von ihrem Eifersüchtigen.
Die Herren runzelten die Stirne, trotzten, maulten, fanden
nichts recht, was die Weiber thaten oder nicht thaten,
brummten und grunzten immer vor sich hin oder hängten den
Kopf und sagten gar nichts. — Die Nächte waren noch
frostiger.Etliche Tage gaben sich die Weiber — aus innerem Gefühl
ihrer Schuld — geduldig und demüthig unter die verdiente
Züchtigung: aber, da es die Männer zu lange trieben,
fingen sie an, unruhig zu werden und mit sich selbst und
unter einander zu rathschlagen, wie sie sich in einer so kitzlichen
Lage zu verhalten hätten. Das erste Mittel, womit sie es
versuchten, war, den Murrköpfen freundlich entgegen zu
gehen, um sie herum zu schleichen, sie bei der Hand zu
nehmen, sie mit dem sanftesten Ton der Stimme bald dieß,
bald jenes zu fragen; Alles ungeheißen zu thun, was sie
wußten, daß ihnen angenehm war, des Nachts so nah, als
es, ohne anzustoßen, möglich war, an die Klötze hinanzurücken;
alle Minuten, aber ganz leise, bald einen Arm, bald ein
Knie, bald einen Fuß in eine andere Lage zu setzen; dann
und wann kleine halbgebrochene Seufzerchen abzudrücken,
und zwanzig andere solche Weiblichkeiten mehr, die in gewöhnlichen
Fällen ihre Wirkung selten verfehlen. Aber dießmal
wollte das Alles nicht helfen. Die Männer wurden
zusehens nur unartiger und trotziger davon.Nun war guter Rath theuer. Die armen Geschöpfe waren
am Ende ihrer Kunst und ihres Witzes. Einige wandten
sich an die schöne Perisadeh: aber die hatte sich nie in einem
Falle befunden, wo die eine oder andere von den vorerwähnten
weiblichen Naturkünsten oder etliche davon zusammengenommen
nicht hinlänglich gewesen wären, die Sachen
zwischen ihr und Danischmenden auf den alten Fuß zu setzen;
sie konnte ihnen also keinen Rath geben.Endlich erbarmte sich ihrer eine alte Frau, welche, was
unter diesem Völkchen ungemein selten war, drei oder vier
Männer gehabt und sich dadurch binnen eines halben Jahrhunderts
einen kleinen Schatz von häuslichen Erfahrungen und
Bemerkungen gesammelt hatte, woraus sie ihren jungen Nachbarinnen
gelegentlich das Benöthigte willig zukommen ließ."Meine guten Töchterchen, sagte die Alte, ich sehe wohl,
daß ihr die Männer noch nicht kennt. Ich habe ihrer vier
gehabt, wiewohl einer darunter wenig besser war, als keiner.
Jeder hatte seine besondere Weise; aber in einem Punkte
waren sie alle gleich: wenn ich ihnen zu viel übersah oder
ihnen merken ließ, wie lieb ich sie hatte, so wurden sie übermüthig.
— Merkt euch, meine Kinder, was ich euch sagen
werde! Es ist freilich wahr, daß wir Weiber nicht wohl
ohne sie leben können: aber das müssen wir ihnen nicht
weiß machen. Wenn wir klug sind, so behalten wir doch den
Vortheil über sie! denn sie können immer noch weniger ohne
uns leben, als wir ohne sie."Darauf erzählte ihnen die Alte, wie sie es in ähnlichen
Fällen angefangen, um ihre Männer kirre zu machen. Es
ist ein ganz unschuldiges einfältiges Hausmittelchen, sagte
sie, aber es thut Wunder; ihr werdet's erfahren!Die Weiber folgten dem guten Rathe der Alten, und der
Erfolg bewies, daß sie ihr Arcanum nicht zu viel gerühmt
hatte. Die Männer hielten sich ein paar Tage tapfer; aber,
da der Feind den Krieg in die Länge zog, verloren sie den
Muth. Mit jedem Augenblicke wurden ihre Weiber schöner
und —unschuldiger in ihren Augen; bald konnten die armen
Klöße gar nicht mehr begreifen, wie sie jemals die Tugend
so holder Geschöpfe hätten in Zweifel ziehen können; endlich
kam es so weit mit ihnen, daß sie, wenn die Weiber darauf
bestanden wären, eine ganze Ladung von Lingams verschrieben,
und jeder seiner Frau den ihrigen mit eigner Hand um den
Hals gebunden hätte. Zum Glück waren die Weiber von Jemal die
besten Geschöpfe von der Welt und selbst so froh, das Ende einer
beiden Theilen so beschwerlichen Fehde zu sehen, daß ihnen gar
nicht einfiel, den Frieden auf Bedingungen zu schließen.Und so schob sich denn, zu großer Freude des ehrlichen
Danischmend, binnen vierzehn Tagen Alles wieder in die
vorige Lage zurück, und vierzig Wochen nach der allgemeinen
Versöhnungsnacht, auf einen Tag, fand sich die Republik
um fünf oder sechs Dutzend schöner Jungen reicher, — wofür
man der alten Frau billig ein Ehrendenkmal hätte setzen
lassen sollen.— Was das wohl für ein Hausmittelchen war? — Es
ist so simpel — wie das Arcanum des Christoph Colon, ein
Ei auf die Spitze zu stellen — in der That, so simpel, daß
Sie mich auslachen würden, Madame, wenn ichs Ihnen sagte.—————
Fünfundzwanzigstes Capitel.Eine moralische Betrachtung von wichtigem Belang, weil sie den Schlüssel
zu vielen andern enthält.Das ist wohl gut für den Augenblick, sagte Danischmend
zum alten Kalender, da sie, kurz nachdem der Hausfriede
wieder hergestellt war, über diese Begebenheiten sich mit einander
besprachen: aber was für Sicherheit haben wir für die
Zukunft? Ein einziges zurück gebliebenes Keimchen von dem
Samen, den die Fakirn bei uns ausgestreut haben, ist hinlänglich,
Alles, was an unserm Volke noch gesund ist, anzustecken.
Wie sehr besorg' ich, der alte Mann habe richtig
gesehen, da er ausrief: Wir werden nie wieder die Menschen
werden, die wir waren!Glaubst du, die Lingams, weil wir sie mit großem Pomp
und allgemeinem Beifall verbrannt haben, seyen auch in der
Einbildungskraft unsrer Weiber und Töchter im Rauch aufgegangen?
Sey versichert, sie leben und weben, glänzen und funkeln
dort noch immer und vielleicht mehr als jemals. Und gesetzt
auch, der Abscheu vor dem Unheil, das sie bei uns angerichtet,
und der Eindruck des abscheulichen Schauspiels, wovon
wir Zeugen gewesen sind, wurzelte tief genug, um das Andenken
an die Ursachen desselben auf ewig verhaßt zu machen:
sind wir darum weniger in Gefahr? Kennen wir etwa die
Fakirn und die Bonzen nicht? Gleich ihren Göttern verwandeln
sie sich in alle Gestalten, die zu ihren Absichten
taugen. Andre Fakirn in andern Farben, mit anderm Gaukelwerk,
können den Zugang zu uns finden und werden
vielleicht glücklicher seyn, als diese. Unsere Phantasie wenigstens
wird bald mit ihnen unter der Decke spielen, und die
Folgen werden am Ende die nämlichen seyn. Für eine verdorbene
Phantasie ist Alles Lingam.Ich will, um dir meine Meinung begreiflicher zu machen,
die Sache beim Ei anfangen.Die Einwohner dieser Thäler sind Abkömmlinge eines
Volkes, das ehemals in einer von den großen tartarischen
Wüsten lebte. Ihre Voreltern verehrten den Schöpfer der
Welt ohne Bilder, ohne Tempel, ohne Priester: alle Morgen,
wenn die Sonne aufging, traten sie aus ihren Hütten
hervor und dankten ihm für ihr Daseyn, für das Licht der
Sonne, für das Gute, das von ihm über alle Wesen ausfließt.
Dieß war, ihren Begriffen nach, das einzige Opfer,
das ihm angenehm war. Auch baten sie ihn um nichts, als
daß er sie an Leib und Seele gesund erhalten möchte,
versichert, daß alles Uebrige, was in dieser Bitte nicht enthalten
sey, Dinge wären, die der Zufall hin und her wehe und
meistens nicht der Mühe werth, daß man in die Luft greife,
um nach ihnen zu haschen.Diese Begriffe und Gewohnheiten erhielten sich lange unter
unserm Volke. Aber ihre Einbildungskraft konnte doch
in die Länge nicht müßig bleiben. Sie bevölkerte die Natur
mit Geistern und gab Allem, worin Leben ist, eine Seele.
Dieser Glaube ist — insofern er die Grundlage abgab,
worauf die Bonzen aller Völker, die mit Bonzen geplagt
sind, ihr Gebäude von Aberglauben und Vielgötterei aufgeführt
haben — nichts Gleichgültiges. Aber bei unserm
Völkchen, welches, ohne Sultane und Bonzen, im Schoße
der einfältigste Natur lebte, war es nicht nur unschädlich;
es wurde ihm sogar wohlthätig: denn er nährte dieses Mitgefühl
mit der ganzen Natur, das beste unter allen menschlichen
Gefühlen, das die Mutter der Gutherzigkeit ist, und
dessen Verwahrlosung so viel zur Verdorbenheit der gekünstelten
Menschen beiträgt.Noch jetzt finden sich häufige Ueberbleibsel dieses Glaubens
unter uns. Es ist zum Beispiel ein Verbrechen, einen fruchtbaren
Baum oder einen Baum, der den Menschen lange
Zeit Schatten und Kühlung gegeben hat, umzubauen; und
auch dann, wenn man Holz zum nothwendigen Gebrauch
fällen muß, wird der Geist im Baume mit einer Feierlichkeit
um seine Einwilligung dazu ersucht. Keine unsrer Mädchen
und Weiber wird sich in dem Flusse baden oder nur ihre
Füße in einem Quell waschen, ohne der Nymphe desselben
etliche Blumen als ein Opfer hinein geworfen zu haben, und
dergleichen mehr.Dieser harmlose Aberglaube vereiniget sich mit den übrigen
Umständen unsers Volkes, — die uns immer in jenem
Mittel zwischen zu viel und zu wenig erhalten, worin die
Glückseligkeit eingeschlossen ist, — uns diese milde, lenksame,
wohlwollende Sinnesart zu geben, die du, bis zu der wilden
Scene mit den Fakirn unter den Bewohnern dieser glücklichen
Thäler wahrgenommen haben mußt. Liebe und Eintracht
hielt die einzelnen Haushaltungen und die ganze Gemeinheit
zusammen. Die Jugend ehrte ihre Aeltern, aber lernte zugleich
von Kindesbeinen an, in jedem alten Mann einen
Vater, in jeder alten Frau eine Mutter ehren. Der Mann
liebte sein eignes Weib, das Weib ihren eignen Mann; der
Ehstand wurde als die heiligste, unverletzlichste aller Verbindungen
angesehen; unsre ältesten Greise hatten, ehe diese
Fakirn unsre Weiber zu bethören kamen, keinen ähnlichen
Fall erlebt. Kurz, die Unschuld der Sitten und eine glückliche
Gewohnheit, der unverwilderten, ungekünstelten und
unverdorbenen Natur gemäß zu leben, erhielt unsre kleine
Republik ohne Gesetze, in einem bessern Zustand, als derjenige
ist, welchen die vollkommenste Gesetzgebung einem Volke
verschaffen kann, das schon so verdorben ist, nicht ohne Gesetze
leben zu können.Aber nun, mein lieber Kalender, können wir nach dem,
was in diesen Tagen vorgegangen ist, uns überreden, daß
unser kleiner Staatskörper nicht dadurch in seinen edelsten
Lebenstheilen so stark verletzt worden sey, daß es unweislich
gehandelt wäre, ihn, ohne andre Hülfe, bloß der Natur und
seinem guten Glücke zu überlassen?Diese Fakirn, Freund Kalender, haben den Frieden unserer
Familien, die Reinigkeit unsrer Sitten, die Keuschheit
unsrer Einbildungskraft, die Ruhe unsrer Verfassung vergiftet.
Freilich, unsre Männer haben sich wieder mit ihren Weibern
ausgesöhnt: wie konnten sie anders? Die Nothwendigkeit
stiftete den Frieden. Aber sollte kein verborgnes Ferment
von Zweifel und gegenseitigem Mißtrauen zurück geblieben
seyn? Kannst du glauben, daß die Weiber, die einen Lingam
getragen, nichts dadurch in der Einbildung ihrer Männer
verloren haben? — Und sollte die Einbildung der Männer
wohl mit Recht zu tadeln seyn?Vor dem abscheulichen Morgen, der die Verbrechen dieser
Bonzen an den Tag brachte, war ein Lingam in den Augen
unsrer Weiber ein bloßes Tändelwerk, eine Puppe, womit sie
spielten; ihre Phantasie war noch unbefleckt; ihr Herz (wie
die schöne Kezia sagte) dachte noch an nichts Arges. Aber
seit dem Abenteuer dieser guten Frau, seit der Entehrung
der beiden Unglücklichen hat sich die Sache sehr verändert.
Der Lingam ist dadurch ganz etwas Anderes für sie geworden;
und es sey nun, daß seine Erinnerung mit Verachtung und
Abscheu oder mit Scherz und Lachen in Gesellschaft gehe, so
muß beides, durch die Folgen der Association, der Unschuld
ihrer Geele gleich viel Schaden thun. Unvermerkt wird die
eheliche Liebe diese Würdigkeit verlieren, die zu ihrem Wesen
gehört, und Beispiele der verletzten Treue werden nicht länger
etwas Unerhörtes seyn. Das Mißtrauen der Männer
wird, bei den geringsten Anlässen erwachend, vom bloßen
Schatten einer zweideutigen Aufführung Argwohn schöpfen,
und Eifersucht wird jede. häusliche Freude vergiften. Der
Vater wird seine Kinder nicht mehr mit dem Entzücken, mit
der unnennbare Empfindung an seine Brust drücken, die ihn
so glücklich machte, da jenes volle Zutrauen zu der Unschuld
ihrer Mutter noch in seiner Seele herrschte. — Uebersieh,
Freund Kalender, in ihrem ganzen Umfange die Folgen
dieses einzigen Umstandes!Und was, meinst du, wird aus der Eintracht, der verdachtlosen
Geselligkeit, dem herzlichen Wohlwollen werden,
das bisher unter unserm Volke herrschte? Glaube mir, unsre
Feste, unsre Spiele werden nicht mehr seyn, was sie sonst
waren. Der Lingam hat sie der unbesorgten Fröhlichkeit beraubt,
die ihren größten Reiz ausmachte. Die Furcht vor
Mißdeutung wird Augen und Lippen, Hände und Füße
fesseln; und dennoch, trotz allein Zwang einer studirten Anständigkeit,
werden unsre Zusammenkünfte die ewigen Quellen
von Mißhelligkeit und Zwietracht seyn.Und werden etwa unsre Aeltesten, die einzige Obrigkeit,
die wir bisher kannten, dem Unheil steuern tonnen?Der Talisman ihres Ansehens ist zerbrochen! Was konnten
sie an jenem Tage des Aufruhrs? Was halfen ihre Bitten,
ihre Befehle? Das Volk fühlte seine Stärke und hörte
die zitternden Stimmen nicht.Mit einem Worte, Freund Kalender, wie willst du, daß
ein Volk, das seine Sitten verloren hat, länger durch Sitten
regiert werde?—————
Sechsundzwanzigstes Capitel.Danischmend hatte den Einfall, sich zum Jmam aufzuwerfen.Ich begreife, däucht mich, die ganze Richtigkeit deiner
Folgerungen, sagte der Kalender: aber ich sehe nicht, wie
dem Uebel geholfen werden kann. — Er hätte hinzu setzen
können, daß ihm für seinen Theil nichts in der Welt gleichgültiger
war, als diese Sache, die Danischmenden so sehr
am Herzen lag.Ich habe einen Einfall, versetzte Danischmend: du wirst
über mich lachen; aber es ist mein ganzer Ernst.Wenn die Sitten allein ein Volk nicht mehr vor der
Verderbniß bewahren können, so muß eine Veranstaltung
hinzu kommen, die den Sitten ein neues Leben gibt und
das, was sie an Stärke verloren haben, durch eine neue Kraft
ersetzt. Je einfacher eine solche Veranstaltung ist, je weniger
sie in der Lebensart und Verfassung des Staats ändert, je
besser scheint sie mir. Dieß vorausgesetzt, glaube ich in der
Religion unsers Propheten, wenn sie bei diesem kleinen Volke
eingeführt würde, dieß Institut zu finden, das wir nöthig
haben. Sie ist einfach und erhaben, eine Feindin der Vielgötterei,
eine Freundin der Tugend und Menschlichkeit und
verspricht ihren Anhängern, wenn sie unschuldig gelebt und
Gutes gethan haben, ein Paradies, das wohl so gut ist, als
das Beste, womit die Bonzen die Unschuld unsrer Weiber in
den Schlaf sangen.Der Kalender sah den Philosophen mit großer Aufmerksamkeit
an und sagte — nichts.So eine gute Religion indessen auch der Islam ist, fuhr
Danischmend fort, so wissen wir doch, daß ein Schurke von
einem Fakir eben so gute Mäusefallen daraus machen kann,
als irgend ein Brame oder Bonze aus der seinigen. Damit
ich also gewiß bin, daß keine Schelmerei bei der Sache vorgehen
kann, will ich selbst der Jmam der Muselmanen seyn,
die ich in Kurzem in dieser Gegend zu machen hoffe.Der Kalender sperrte immer größere Augen auf.Das Glücklichste bei der Sache, Freund Kalender, ist,
daß ich die Ehre habe, in gerader Linie von dem jüngsten
Sohne des Ali-Askeri Ibn Giafar, des zehnten Jmams
unter den zwölfen, die Muhameds unmittelbare Nachfolger
waren, abzustammen, und folglich ein Jmam von Haus aus
und ein Emir bin, so gut als irgend einer, die jemals den
grünen Turban getragen haben. Du siehst also, wenn ich
zum Besten dieser armen Schafe eine Moske baue und mich
selbst zum Jmam davon mache, daß ich nichts unternehme,
wozu ich nicht von Geburts wegen vollkommen berechtigt bin.Was mich an der Sache verdrießen könnte, sagte der Kalender
mit großer Ernsthaftigkeit, ist bloß, daß du ein Philosoph
bist und vermuthlich der erste, der jemals auf den
Einfall kam, den Jmam zu machen.Wenn es dir belieben wird, die Sache im rechten Licht
anzusehen (erwiderte Danischmend mit einem kleinen Imams-Tone),
so wirst du finden, daß mein Vorhaben eines Menschenfreundes
würdig ist. Meine Absicht ist lediglich, diesen armen
Leuten Gutes zu thun, ihrer Einbildung wieder einen festen
Ruhepunkt zu geben, ihre Sitten vor einer größern Erschlaffung
zu verwahren, mit einem Worte, das Leben ihrer kleinen
Republik, wo möglich, noch etliche Menschenalter durch in
einem leidlichen Stand hinzuhalten.Ist es (fragte der Kalender), mit allem Respect, den ein
bloßer Kalender einem Abkömmling der Tochter des Propheten
schuldig ist, ist es mir erlaubt, ehe wir an die Ausführung
gehen, eine einzige kleine Frage zu thun? — Hättest du wohl
alle Folgen deiner neuen Imamschaft reiflich in Erwägung
gezogen?Laß immer hören, sagte Danischmend.Natürlicherweise ist der Imam der erste Mann in der
Republik oder wird es doch gar bald werden, wenn er das
Werk einmal in den Gang gebracht hat. Nun wirst du mir
zugeben, Danischmend, daß es je und allezeit eine höchst
gefährliche Sache ist, der erste Mann in der Republik zu
seyn; gefährlich für den Mann selbst, den sehr leicht ein gewisser
Schwindel darüber anwandeln kann, worin man zwanzig
Dinge thut, die man an dem ersten Mann tadeln würde,
wenn man selbst einer von den untersten wäre; noch gefährlicher
für die übrigen, die, im verlierenden Falle, Freiheit
und Eigenthum, Ochsen und Esel, Schafe und Kameele,
Weiber und Kinder zu verlieren haben. Denn — um es
grade heraus zu sagen — der Imam wird über lang oder
kurz damit aufhören, daß er Sultan seyn wird. Die Gelegenheit
ist zu schön, die Versuchung zu groß, der Weg zu
gerad und gebahnt, als daß ein bloß menschlicher Mensch —
auf halbem Wege stehen bleiben sollte. Nicht, als ob ich dir
nicht Philosophie genug zutraute, an der äußersten Gränze
der Imamschaft stehen zu bleiben; — wiewohl Fälle kommen
können, wo dieß schwerer seyn möchte, als du dir jetzt vielleicht
vorstellst: — aber dein Sohn, deines Sohnes Sohn
oder dessen Sohn und Nachfolger, werden sie lauter Danischmende
seyn? Kannst du dir selbst für ihre Art zu denken,
für ihre Leidenschaften, für den Grad ihrer Tugend Bürgschaft
leisten? — Und wolltest du, der von Sultanen so übel
und noch zehnmal ärger von der Sultanschaft selbst denkt,
die Gefahr laufen und einem freien Volke, bloß um es vor
zukünftigen, vielleicht zur Hälfte bloß eingebildeten Uebeln
zu bewahren — Fesseln schmieden und — der Stammvater
von Sultanen werden?Bruder, —sagte Danischmend, nachdem er etliche Augenblicke
scharf in die Ecke des Zimmers gesehen hatte, ich
glaube, du hast Recht! —Tausend Dank für die Erinnerung,
fuhr er fort, indem er von seinem Sitz aufsprang und den
Kalender zwei oder drei Mal ein wenig stärker, als seine
Meinung war, auf die Schultern klopfte. —Bewahre Gott!
Danischmend ein Patriarch von Sultanen! — Nein wahrhaftig!
Eh mögen alle Fakirn, Bremen und Bonzen diesseits
und jenseits des Ganges sich einen allgemeinen
Rendezvous in die Thäler von Kischmir geben und
den Lingam aller Lingams, der ehemals zu Hierapolis in
Syrien im Vorhof eines der berühmtesten Tempel der Welt
zu sehen war, mitten unter uns zum Siegeszeichen aufrichten!
Es werde daraus auch, was es wolle. Ich wasche
meine Hände. Meine Schuld wird es nicht seyn! Denn,
daß ich, um diese Leute — die mir am Ende doch nicht näher
verwandt sind, als alle übrigen Adamskinder — vor Bonzen
und Lingams zu bewahren, Gefahr laufen sollte, der Urvater
einer Reihe von Sultanen zu werden, das kann mir Niemand
zumuthen! — Gut, daß du mir die Gefahr noch in Zeiten
gezeigt hast, ich werde dir diesen Dienst nicht vergessen.—————
Siebenundzwanzigstes Capitel.Beantwortung einer Frage, die dem Leser beigefallen seyn könnte.Ehe wir in dieser Geschichte weiter fortrücken, dürfte es
wohl nicht überflüssig seyn, einen Zweifel zu heben, der in
aufmerksamen Lesern gegen die innere Wahrheit derselben
entstanden seyn könnte.Der Kalender war so wenig, was man im achten Zehend
dieses Jahrhunderts noch einen empfindsamen Mann nannte,
und paßte also (von dieser Seite wenigstens) so übel in die
Danischmendische Familie, daß man sich vielleicht schon lange
verwundert haben wird, wie er eine so geraume Zeit auf
einem leidlichen Fuße mit diesen guten Menschen habe leben
können, unter denen er (sollte man denken) gerade so eine
Figur machte, wie ein Gespenst unter lebendigen Menschen.Allein der Mann hatte auf der andern Seite verschiedene
Eigenschaften, die jenen Mangel an Sympathie vergüteten;
und schon am dritten Abend seit seiner Einführung in dieses
Haus fand er Gelegenheit, sich bei Perisadeh in eine bessere
Meinung zu setzen, da sie ihn unversehens mit ihren Kindern
in einer Gartennische spielend fand. Er hatte das kleinste
auf seinem Schooße, während er von allerlei Blumen, die
ihm die beiden größern in die Wette herbeibrachten, einen
Kranz zusammenband, den die Kinder ihrer Mutter zum
Geschenke bringen sollten. Perisadeh lauschte eine Weile
hinter den Hecken und sah ihre Freude an den frohen Spielen
ihrer Kinder und an der guten Art, wie der alte Kalender
sich ihnen angenehm zu machen wußte. Die Geduld, womit
er sich von dem kleinen Mädchen auf seinem Schooße alle
Augenblicke in der Arbeit stören ließ, gewann ihm auf einmal
ihr Herz. Danischmend hat doch Recht, dachte sie: der Mann
ist nicht so schlimm, als er aussieht; könnt' er meine Kinder
so lieb haben, wenn er kein gutes Herz hätte?Perisadeh — wenn sie nicht Perisadeh gewesen wäre —
hätte eben so wohl denken können: wie liebenswürdig müssen
meine Kinder seyn, weil sogar das Bärenherz dieses alten
Kalenders davon erweicht wird! — Und so wäre alles Verdienstliche
von dieser Handlung des Kalenders auf einmal
weggefallen.Aber Perisadeh hatte keinen Begriff davon, daß man so
denken könne. Jede Handlung eines andern Menschen, welche
gut zu seyn schien, war es in ihren Augen. Nicht, als ob
sie zu einfältig gewesen wäre, den Unterschied zwischen Scheinen
und Seyn in dem sittlichen Betragen anderer Menschen
kennen zu lernen: sondern, weil sie selbst alle Tage ihres
Lebens immer von außen gewesen war, wie von innen, und
nie daran gedacht hatte, länger oder kürzer, weißer oder
röther, klüger oder besser zu scheinen, als sie wirklich war;
und weil sie nie mit andern als eben so ungekünstelten
Menschen, wie sie selbst, gelebt hatte. Mit einem Worte,
der Grund, warum Perisadeh Alles gut auslegte, was einer
guten Auslegung fähig war, war der nämliche, warum unter
uns verkünstelten Aftermenschen die meisten Alles übel auslegen,
was nur irgend einer schlimmen Auslegung fähig ist.Nun ist wahr, Perisadeh betrog sich dieses Mal ein wenig
durch ihre Art zu schließen, so wie auch wir uns dann und
wann betrügen, wenn wir so gar nicht begreifen, noch glauben
können, daß es wirklich edle und gute Menschen gebe. Aber,
da die Gefahr, betrogen zu werden, bei beiderlei Arten zu
schließen gleich ist, so mag doch wohl —unparteiisch von der
Sache zu reden — die Art, wie Perisadeh sich dann und wann
betrog, ihrem Herzen mehr Ehre machen, als die Art, wie
wir uns dann und wann betrügen, unserem Kopfe macht.
Denn es gehört eben kein sehr großer Verstand dazu, um
von sich selbst auf Andere zu schließen; aber ganz gewiß gehört
ein sehr gutes Herz dazu, um von Andern immer das
Beste zu denken.Wenn Sie die Gütigkeit haben wollen, dieß noch einmal
zu lesen, so werden Sie finden, daß es keine Antithese, sondern
eine platte Wahrheit ist und gewiß das Geld zwanzigmal
werth, das es Ihnen kostet, wofern Sie selbige nicht
ungebraucht in Ihrem Hirnkasten verschimmeln lassen wollten.Ausnahmen gebe ich Ihnen übrigens willig zu. Denn,
daß ich von dem Manne, der mir von hinten zu einen Dolch
in den Leib stößt, um desto bequemer an meine Ehre oder
an meinen Beutel zu kommen, das Beste denken sollte, das
möcht' ich, auch in der höchsten Flut meiner Gutherzigkeit,
mir selbst nicht zumuthen, geschweige denn einem
Andern!Ich sagte vorhin, Perisadeh hätte sich hieses Mal ein
wenig betrogen; denn in der That lag die wahre Ursache,
warum der Kalender so freundlich mit ihren Kindern war,
nicht darin, weil er ein besseres Herz hatte, als sie ihm bisher
zugetrauet. Leute von seiner Art, die in der Welt
herumziehen und auf Anderer Unkosten leben, befinden sich
oft in dem Falle, in einem Hause, wo sie ihre Mahlzeit oder
ihr Nachtquartier nehmen, sich dadurch beliebt zu machen,
daß sie den Kindern im Hause liebkosen; und so ziehen sie
sich endlich durch die Länge der Zeit eine mechanische Fertigkeit
zu, mit Kindern zu spielen, ohne daß ihr Herz darum
weder schlimmer noch besser ist als sonst.Außer diesem hatte der Kalender noch einen besondern
Grund, warum er gern mit Kindern spielte. Er dachte
nämlich (wie wir schon wissen) so übel von den Menschen,
als man von ihnen denken kann: er hielt sie — um es gerade
heraus zu sagen — für ein Pack Dummköpfe, Narren,
Schurken und Spitzbuben; und (was das Aergste war) er
glaubte, daß sie dieß nicht etwa durch zufällige Verderbniß,
sondern durch Schuld der Natur seyen; auf die nämliche Art,
wie die Natur ganz allein Schuld daran hat, daß die Wölfe
in Frankreich so gern junge Mädchen fressen. Dieß war nun
einmal sein System; und wer die Menschen kennt, weiß,
daß ein Mann lieber Alles, was er hat, und das Hemd auf
dem Leibe obendrein, fahren läßt und nackend und bloß
mit seinem System davon läuft, eh' er, um die ganze Welt
zu gewinnen, sein System fahren ließe.Aus dieser unaussprechlichen Liebe eines Mannes zu seinem
System folgt nun natürlich, daß ihm nichts angenehmer:
ist, als Alles, was ihm Gelegenheit darbietet, sich immer
mehr und mehr in der Gewißheit desselben zu bestärken und
neue Gründe zu Bestreitung seiner Gegner ausfindig zu
machen. Daher, liebe Perisadeh, das besondere Vergnügen,
das der alte Kalender daran fand, mit deinen Kindern zu
spielen! Du glaubtest, du treuherzige gute Seele du! daß es
aus Menschlichkeit, aus Güte des Herzens geschehe; und der
alte kaltherzige Menschenhasser that es, um sein Schalksauge
an der Blöße der menschlichen Natur zu weiden; in den
schuldlosen Trieben und unverstellten Handlungen der armen
kleinen Geschöpfe die Keime künftiger Untugenden und Laster
aufzusuchen; Allts, was darin zweideutig scheinen konnte,
aufs Schlimmste auszulegen; seine Freude daran zu haben,
wenn er an den Lieblingen deines Herzens etwas fand, das
ihn hoffen ließ, daß sie dereinst so große Narren oder so
häßliche Schurken, als die Menschen alle in seinem System
waren, seyn würden. Hättest du in dem nämlichen Augenblicke,
da deine schönen Blicke mit dankbarer Freude und
herzlichem Wohlwollen auf seine halb kahle Scheitel spielten,
dem alten Schalk in die Seele sehen können, gute Perisadeh!
—In der That, Momus war nicht klug mit seinem Fenster
vors menschliche Herz! Die besten Menschen würden gerade
am schlimmsten dabei gefahren seyn.Perisadeh also — um von allen diesen Abschweifungen
(wiewohl sie im Grunde etwas Besseres sind, als sie scheinen)
zurückzukommen — dachte von diesem nämlichen Abend an,
wo sie den Kalender unter ihren Kindern in einem so angenehmen
Lichte — die Abenddämmerung trug das Ihrige
auch dazu bei — gesehen hatte, Perisadeh, sage ich, dachte
von diesem Augenblick an so vortheilhaft von dem alten
Manne, daß sie, weit entfernt, seinen längern Aufenthalt in
ihrem Hause ungern zu sehen, sich selbst heimliche Vorwürfe
wegen der bösen Meinung machte, die sie anfangs von ihm
gehegt hatte.Danischmend, wiewohl er (aus guten Ursachen) dem Herzen
seines neuen Freundes nicht viel Gutes zutraute, sah es doch
gern, daß Perisadeh günstiger von ihm zu denken anfing;
denn die Unterhaltung, die er in seinem Umgange fand,
wurde für ihn unvermerkt zum Bedürfniß. Er hatte der
Welt nicht so gänzlich entsagt, daß die menschlichen Angelegenheiten,
und was er ehemals davon erfahren oder beobachtet
hatte, nicht noch immer der gewöhnliche Gegenstand
seiner Gedanken gewesen wären. Nun spricht man gerne
von dem, was man denkt; aber natürlicher Weise wünscht
man sich Zuhörer, die uns nicht nur ohne Mühe verstehen,
sondern auch von dem Ihrigen etwas zur Unterredung beizutragen
haben und dem Gespräche Mannigfaltigkeit, Schattirung
und Leben zu geben wissen.Der Kalender war unter allen Menschen, die ihm, seitdem
er in Jemal lebte, vorgekommen waren, der einzige,
der ihm zu diesem Gebrauch dienen konnte. Die Verschiedenheit,
ihrer Art zu denken, war hierzu mehr vortheilhaft als
nachtheilig; denn unter Leuten, die über Alles einerlei
Meinung sind, findet gar kein Dialog Statt; einer spricht
allein, oder sie schweigen alle beide. Das Herz des Kalenders
kam dabei in gar keine Betrachtung; genug, daß er für einen
Kalender ziemlich anständige Sitten hatte, und daß sein
Betragen im Hause unanstößig war. Bei so bewandten
Dingen entstand natürlicher Weise eine Art von Verbindung
zwischen ihnen, die sich weniger auf Sympathie als auf
gegenseitiges Bedürfniß gründete und, ohne die Schwärmerei
der Freundschaft zu haben, ihren vertraulichen Ton und einen
großen Theil ihrer Annehmlichkeiten hatte.Der Kalender wurde also ein Haus- und Tischgenosse
unsers Philosophen und hatte alle Ursache von der Welt,
in dieser neuen Lage (die das Beste, was er seinen Umständen
nach hoffen konnte, so weit übertraf) sich glücklich zu schätzen.
In der That würde er mit einem wärmern Herzen einer der
glücklichsten Sterblichen gewesen seyn. Aber die Natur hatte
ihm die Fähigkeit, in Andern glücklich zu seyn, versagt. Er
war einer von den kaltblütigen Erdensöhnen, die es zwar,
insofern ihnen nichts darunter abgeht, ganz wohl leiden
mögen, wenn andere Leute nach ihrer eigenen Weise glücklich
sind, aber mit Seelenruhe zusehen würden, wenn der Himmel
einfiele und Alles rings um sie her zu Boden schlüge und
zertrümmerte, insofern nur sie selbst Mittel finden, unverletzt
davon zu kommen.—————
Achtundzwanzigstes Capitel.Von zwei Menschen aus einer Planke."Ob diese kalten Leute wohl so glücklich sind, als man
gemeiniglich sich einbildet?"Man erinnert sich vielleicht noch, daß einmal zwischen dem
Kalender und Danischmenden die Rede hiervon war. Aber
der Kalender, der seinen Mann kennen gelernt hatte und
sich zu wohl in seinem Hause befand, um ihn geflissentlich
vor den Kopf zu stoßen, vermied in der Folge diese und alle
ähnliche Fragen nach Möglichkeit.Indessen gibt es doch, bei aller gebührenden Vorsichtigkeit,
Augenblicke, worin man sich vergißt. Eines Tages (ich weiß
nicht aus welcher Veranlassung) geriethen unsere Philosophen
über die Frage: welches die eigentlichen Gränzen zwischen
den Pflichten gegen sich selbst und gegen Andere seyen? in
einen ziemlich lebhaften Streit. Sie disputirten lange
darüber, und der Kalender glaubte zuletzt, der Fehler läge
bloß daran, daß sie einander nicht recht verständen. Ein
Beispiel, dacht' er, würde die Sache so klar machen, daß
Danischmenden gar keine Einwendung übrig bliebe.Setzen wir den Fall eines Schiffes, sagte der Kalender,
das in diesem Augenblicke scheitert. Nicht wahr, in diesem
schrecklichen Augenblicke hören alle bürgerliche und gesellschaftliche
Verbindungen auf? Der Capitain ist um nichts mehr
als der geringste Matrose; Jeder hat nur ein Leben zu verlieren;
Jeder hat nichts Kostbareres als sein Leben; Jeder
sorgt also zuerst für sich selbst. Gesetzt nun, ihrer Zwei haben
sich einer Planke bemächtigt. — Wenn die Planke Beide
tragen kann, gut! dann erfordert nicht nur die Menschlichkeit,
sondern eines Jeden eigener Vortheil, sich für ihre gemeinschaftliche
Rettung zu bemühen. Aber, wenn die Planke
nun für Einen von Beiden groß genug ist, wie dann?Wie dann? rief Danischmend in vollem Feuer. Und wenn
sie vorher die tödtlichsten Feinde gewesen wären, so sollen
sie sich um den Hals fallen und, Arm in Arm, Herz an
Herz, es darauf ankommen lassen, ob die Wellen sie lebendig
oder todt ans Land treiben wollen!Schwärmerei, Schwärmerei! — sagte der Kalender mit
dem kaltblütigen Lächeln, das ihm bei solchen Gelegenheiten
eigen war. — In solchen Augenblicken ist die Natur Meister,
und die hat dann keine Zeit an Verhältnisse zu denken.
Man hat dann weder Feind noch Freund, weder Bruder
noch Vetter; der Mann neben uns ist dann nicht unser
Nebenmensch; er ist ein Ding, dessen Erhaltung unser Untergang
wäre, und welches wir, ohne das mindeste Bedenken,
eben so hurtig über Bord werfen, als man im Nothfall, um
ein Schiff zu retten, die kostbarsten Waaren, womit es beladen
ist, über Bord wirft. Kurz, mein lieber Danischmend,
diese nämliche Planke ist — die Scheidewand zwischen der
Pflicht gegen Andre und gegen uns selbst!Danischmenden war's, als ob sich sein Herz im Leibe umkehrte,
da er den Kalender so reden hörte. Keine Zeit, an
Verhältnisse zu denken! murmelte er zwischen seinen zusammengebißnen
Zähnen, indem er den Kalender mit einem
Blick anstaunte, in welchem Zorn und Verachtung im nämlichen
Nu die Hitze des Aetna und die Kälte eines Gletschers
zusammengossen. —Ich möchte dich zertreten, wenn du nicht
so ein Wurm wärest! — sagte der Blick.Der Kalender merkte nun auf einmal, daß er sich vergessen
hatte, und entfärbte sich ein wenig. Danischmend erholte
sich zwar bald wieder; aber es brauchte einige Tage,
bis er dem alten Egoisten wieder gut seyn konnte.Indessen sind doch, unsers Wissens, die Rechtsgelehrten
auf des Kalenders Seite. Denn, nachdem sie die Sache mit
ihrem gewöhnlichen kalten Blute auf alle Seiten gekehrt und
mit allen rationibus dubitandi et decidendi aufs genaueste
zergliedert, erörtert und erwogen haben; so erklären sie sich:
"Daß, obwohlen zwar es das Ansehen haben möchte, als ob
die Natur dem Menschen ein Ding gegeben habe, welches
gewisse Leute Herz nennen, in Kraft dessen zum Beispiel ein
Mann, der mit einem andern Manne auf einer einzelnen
Planke zwischen Leben und Tod im Meere herumtreibe, dieses
andern Mannes Noth wie seine eigene fühle, dannenhero
auch dessen Erhaltung eben so herzlich wünsche als seine
eigene, nothfolglich nach dem Kanon: "Wer den Zweck will,
will auch die Mittel," unmöglich daran denken könne, besagten
Mann mit Gewalt von besagter Planke herabzustoßen:
gleichwohlen und all diesem ungeachtet, aus beigebrachten
Gründen a, b, c, d, e, f, g u. s. w. rechtsbeständig dargethan
und erhärtet werden könne: wasmaßen in sothanem
Falle beide, sowohl der Mann A, als der Mann B, jeder
an seinem Theile, in Kraft der natürlichen Gleichheit nicht
nur wohl befugt, sondern vermöge des Gesetzes der
Selbsterhaltung sogar schuldig und verbunden seyen, einander in
ein und ebendemselben Augenblicke von mehr besagter Planke
herab zu stoßen und so — als Schurken zu ersaufen, anstatt
daß sie, nach Danischmends Weise, wenigstens den Trost gehabt
hätten, als brave Leute umzukommen."Wahr ist's (sagen die gestrengen Herren ferner), falls die
beiden Personen, die sich auf der nämlichen Planke retten
wollen, ein Mann und eine Weibsperson wären, so scheint
die Frage beim ersten Anblick eine andere Gestalt zu gewinnen.
Allein, wenn man der Sache auf den Grund sieht,
so befindet sich's, daß der Unterschied des Geschlechts hier in
keine Betrachtung kommen kann. Ist die Weibsperson schon
über die Jahre hinaus, worin ihr Geschlecht, nach dem
ordentlichen Laufe der Natur, zum Kinderzeugen fähig ist, so
versteht sich solches ohnehin. Im entgegengesetzten Falle aber
wäre freilich zu wünschen, daß der Mann gewiß wissen könnte,
ob er auf der Insel oder Halbinsel, an die ihn die Wellen
verschlagen werden, Weiber mit der erforderlichen Zeugungsfähigkeit
antreffen wird oder nicht; sintemal es im letztern
Falle den Anschein gewinnt, als ob er lieber sein eigen Leben
wagen, als sich in Gefahr setzen sollte, der obhabenden
Pflicht, die Erde zu bevölkern, aus Mangel einer tauglichen
Gehülfin in seinem ganzen übrigen Leben, vielleicht zu großem
Nachtheile der menschlichen Gattung, keine Folge leisten zu
können. Allermaßen aber, erstens, von Rechts wegen nicht
zu präsumiren ist, daß es in besagter Insel oder Halbinsel
keine zum Kinderzeugen tüchtige Weibspersonen geben werde;
zweitens, und wenn auch solches zu vermuthen wäre, die
Pflicht, die Erde zu bevölkern, nur eine Pflicht gegen das
menschliche Geschlecht ist, mithin den Pflichten eines Jeden
gegen sein theuerstes Selbst, im Fall eines Zusammenstoßes
in allewege billig weichen muß; überdem auch und drittens,
wofern man hierbei auf das Beste der Gattung Rücksicht
nehmen wollte, dem menschlichen Geschlecht an Erhaltung
eines Mannes (als welchen alle Doctores, Kanonisten und
Civilisten — was auch der berüchtigte Cornelius Agrippa
von Nettesheim in seinem verbotenen Buche de Praecellentia
sexus foeminei, dagegen einwenden mag — einstimmig
für das vortrefflichere Wesen erklären) mehr als an Erhaltung
eines Weibes gelegen ist: als ist kein rechtsbegründeter
Zweifel übrig, daß nicht auch im vorbesagten Falle der Mann
zu Rettung seiner selbst wohl befugt und berechtigt seyn sollte,
die Frau —ohne zu einigen anderweiten Rücksichten stricto
jure verbunden zu seyn, und selbst im Falle, wenn sie gravida
und partui proxima wäre, — von dickbesagter Planke herabzustoßen
und der Wuth oder dem Mitleiden der Wellen unbedenklich
zu überlassen; wobei ihm jedoch unbenommen bleibt,
wenn er will und kann, einen andächtigen Seufzer für ihre
Rettung zu den Tritonen, Nereiden oder irgend einem
andern selbstbeliebigen Schutzpatron abzuschicken."Der H** hole die kalten Kerle mit ihren Obwohlen und
Allermaßen, sagte Danischmend. Der Mann, dem in jedem
Umstande seines Lebens sein eignes Herz nicht, ohne erst bei
ihnen anzufragen, auf dem Nu eingibt, was er zu thun
hat, und der nicht bei allen und jeden Gelegenheiten ein
besserer Mann ist, als sie es von ihm fordern, der ist, bei
Gott! — Er mag meinethalben seyn, was er will (setzte er
nach einer kleinen Pause in einem etwas gelaßneren Tone
hinzu), aber Gott bewahre mich davor, daß ich jemals mit
ihm unter einem Obdach schlafen müsse!Danischmend war, wie es scheint, kein Freund von der
gelehrten Distinction zwischen vollkommnen und unvollkommnen
Pflichten, welche doch, wo die Rede von Rechten ist,
ihren unläugbaren Grund und Gebrauch hat. Auch ist freilich
ein mächtiger Unterschied zwischen einem edeln und gefühlvollen
Manne und zwischen einem Manne, der nie mehr
thut, als man nach dem strengsten Rechte von ihm fordern
kann. Um dieß zu empfinden (welches in dergleichen Dingen
immer besser ist, als es durch eine Reihe von Schlüssen
herauszubringen), stellen wir uns zum Beispiel ein kleines braves
Völkchen vor, das im Begriff ist, gegen einen Haufen von
Kriegsvölkern, die es (ob mit oder ohne Grund, gilt uns
hier gleich) für seine Unterdrücker ansieht, auszuziehen. Ein
alter Mann von achtzig Jahren steht im ersten Gliede. Man
hat ihn in der Eile mitgenommen; allein, da der Marsch
angehen soll, tritt er aus, beschwert sich gegen den Officier
über Gewaltthätigkeit und beruft sich als ein achtzigjähriger
Mann auf sein Recht, von Kriegsdiensten frei zu seyn. Der
Mann hat Recht, denken wir Alle; so denkt auch der Officier;
und so geht der alte Mann nach Hause, und Glück auf den
Weg! — Nun stellen wir uns aber — statt dieses alten
Mannes, der sich auf sein Recht: "nichts mehr fürs Vaterland
zu thun," beruft und Recht hat und ohne Jemandes
Widerrede nach Hause gegangen ist — einen andern alten
Mann von achtzig Jahren vor, der nicht mit getrieben worden,
sondern freiwillig mitgegangen ist, freiwillig sich ins
erste Glied gestellt hat. Da steht nun der ehrenvolle achtzigjährige
Greis mitten unter frischen Jünglingen, wie eine
alte vom Blitz versengte Eiche unter halb erwachsenen Fichten
steht. Der Oberste wird ihn gewahr: Du ehrlicher Alter,
spricht er zu ihm, wie kommst du an diesen Platz? Geh
nach Hause zu deinen Urenkeln, guter alter Vater, du hast
keine Kräfte mehr zu solcher Arbeit; es wäre Sünde, wenn
wir deinen guten Willen mißbrauchen wollten. Nein, sagt
der alte Mann, nach Hause geh' ich nicht; laßt mich mitziehen!
Es ist wahr, meine Füße sind schwach, mein Arm
auch; ich werd' auch nicht viel helfen können: aber meine
Gegenwart kann doch zu etwas nütze seyn. Diese jungen
Männer da neben mir werden mich ansehen und auf meiner
Stirne lesen, welche Lust es ist, für Freiheit und Vaterland
zu sterben. Trifft mich eine Kugel, wohl! so hab' ich die
Freude, einen jüngern, bessern Mann, den sie sonst an
meinem Platze getroffen hätte, dem Land erhalten zu
haben. —Nun, liebe Leser, was sagen eure Augen? — Guter
Gott! was für ein Unterschied zwischen einem alten Manne und
einem alten Manne ist! — Jener hatte Recht; aber dieser
hat unsre glühende Bewunderung, unser ihm entgegenklopfendes
Herz: wir sind Alle seine Kinder, fallen ihm zu Füßen,
bitten mit Freudenthränen um seinen Segen und gehen froh
und rüstig in den Tod mit ihm. Gott! was für ein alter
Mann! — Und wer müßten die seyn, die ein Volk
bezwingen wollten das diesen alten Mann an seiner Spitze
hätte?—————
Neunundzwanzigstes Capitel.Ueber gewisse Eigenheiten im Charakter Danischmends, die ihm von der
Welt schlimmer aufgelegt wurden, als er es verdiente.Wir können nicht bergen, Danischmend hatte bei gewissen
Gelegenheiten und zu gewissen Zeiten — meistens, wenn er
zu lange versäumt hatte, Rhabarber zu nehmen —kleine Anfälle
von einer gewissen Unduldsamkeit, die wir ihm —recht
gern übel nehmen und für einen häßlichen Flecken in seinem
Charakter ausgeben wollten, — wenn's nur irgend möglich
wäre. Aber es waren in der That bloß zufällige Anwandlungen
und gingen so schnell vorüber und thaten so wenig
Schaden und entsprangen aus einem so warmen, ehrlichen,
mit der ganzen Menschheit es so wohlmeinenden Herzen, daß
mir's unmöglich ist, ihm deßwegen unhold zu seyn.Das Aergste, wozu ihn diese vorübergehende Unduldsamkeit
trieb, war, daß er in der Hitze des Paroxysmus etliche
ungeduldige oder unzierliche Worte ausstieß; einen Schurken
— einen Schurken nannte; oder auch wohl einen ehrlichen
Mann, dem entweder die Natur vergessen hatte ein Herz
zu geben, oder der von Amts und Berufs wegen keins haben
durfte, in der Unbesonnenheit seines menschenfreundlichen
Eifers — zum Henker wünschte. Nun wäre aber, wenn es
auf Danischmends Willen angekommen wäre, auf dem ganzen
Erdboden kein Galgen, kein Henker und kein hängenswürdiges
Menschenkind gewesen. Es ist also klar, daß es mit
seinem vorbesagten Wunsche nicht so böse gemeint war; und
in der That, seine Feinde —wiewohl es meistens sehr fromme
oder sehr wohl erzogene Leute gewesen seyn sollen — hatten
Unrecht, ihm solche Kleinigkeiten so hoch aufzumutzen.Ein unleugbarer Beweis, daß er es so böse nicht meinte,
wenn er in einem solchen jählingen Anstoß von Unwillen
oder Mißmuth gegen irgend einen seiner Nebenmenschen auffuhr
oder ihn zum Henker oder wohl gar — wiewohl dieß
schon eine außerordentliche Reizung voraussetzte — zum
Dedschial wünschte, liegt (wie mich däucht) darin, daß von
dem Augenblick an, wo sein Unwille zum höchsten Grad der
Hitze gestiegen war, kaum zwei oder drei Stunden verflossen,
da man ihn schon, eifriger als jemals ein Mann an einer
eignen Apologie gearbeitet hat, beschäftigt sah, die besagte
Person gegen sich selbst zu rechtfertigen oder, wenn dieß
gar nicht anging, wenigstens Alles geltend zu machen, was
nur immer zu ihrer Entschuldigung aufzubringen war.Auch über diesen Zug seines Charakters wurde, da er noch
zu Dehly war, sehr verschieden und — wie man leicht denken
kann — nicht zu seinem Vortheile geurtheilt.Indessen wußten doch die Wenigen, die ihn genau kannten
und keine Art von objectiver noch subjectiver Geheimursache
hatten, Caricaturen von ihm zu machen und als
seine Bildnisse in der Welt herum zu bieten — sehr genau,
was an der Sache war. Nämlich, unter allen unbefiederten
Zweifüßlern auf diesem Erdenrunde lebte schwerlich jemals
ein einziger, den die Entdeckung irgend einer beträchtlichen
Unvollkommenheit an seinem Nächsten — sonderlich wenn's
ein Mann von Genie oder eine schöne Frau war —so empfindlich
geschmerzt und oft so seelenkrank gemacht hätte als
Danischmenden. Wenn zum Beispiel ein Mann Dampf und
Rauch von sich gab, statt daß er nach Danischmends Meinung
wie die helle Sonne hätte leuchten können, oder wenn
einer, mit seiner natürlichen Größe nicht zufrieden, auf
Stelzen einherschritt oder sich vor Eigendünkel blähte und
auftrieb, bis er hätte platzen mögen; —oder wenn ein Mensch,
der eignes Verdienst haben konnte, sich viel darauf zu gut
that, der Vorreiter oder Schweifträger eines andern zu
seyn; — in allen diesen und zwanzig ähnlichen Fällen war
ihm, in dem Augenblicke, da sie ihm aufstießen, nicht anders
zu Muthe, als ob ihm ein großer Unfall, der ihn selbst unmittelbar
beträfe, angekündigt würde. Aber, wenn er irgend
einen Menschen, an dem etwas Schätzbares war, und den
er gern hätte lieben mögen, sich einer unedeln verächtlichen
Leidenschaft überlassen oder eine Handlung thun sah, die
eines guten Menschen unwürdig ist; dann war der Schmerz,
den er davon in seinem Busen fühlte, so brennend, daß er
nicht viel heftiger hätte seyn können, wenn er selbst die
schlechte That begangen hätte.In der ersten Ungeduld brach er dann gemeiniglich mit
etlichen rethorischen Figuren los, wie sie ihm der Affect eingab,
ohne an Auswahl der Wörter denken zu können: aber,
sowie dieser Paroxismus vorüber war, strengte er nun alle
seine Seelenkräfte an, um des unerträglichen Schmerzens
los zu werden, den Mann, den er liebte oder zu lieben
wünschte, verachten oder (was der Seele ungleich schmerzlicher
ist) hassen zu müssen.Nun fand er kein anderes Mittel —wenigstens keines,
das immer und in allen Fällen so gänzlich in seiner Gewalt
gewesen wäre — als daß er nicht abließ, bis er der Handlung,
die seinen Unwillen gereizt hatte, eine erträgliche Wendung
gegeben oder irgend einen Grund oder eine Hypothese
aufgetrieben hatte, wodurch er sich von der traurigen Nothwendigkeit
erledigen konnte, einen Menschen hassen oder
verachten zu müssen, dessen Freund er zu seyn wünschte,
weil er ein Freund der Menschheit war.In den Fällen, wenn der Kalender mit seinem Spitzkopfe
oder mit dem Stücke Kieselstein, das er statt des Herzens
im Busen trug, wider ihn stieß, hatte dieß wenig Schwierigkeiten.
Es war eine bloße Fibernsache, wie wenn man den
Ellenbogen an eine Tischecke gestoßen hat. Sowie die erste
Empfindung vorüber gebraust war, stellte sich ihm Alles,
was den Kalender entschuldigte, auf einmal dar. Seine
Geburt, seine Erziehung, sein ehemaliger Derwischenstand,
sein seit so langer Zeit herumschweifendes Leben unter den
rohesten Menschenarten, seine Kalenderschaft und sein halb
grauer Kopf oben drein, Alles zusammen genommen machte
in Danischmends Augen eine so gute Apologie, daß Plato und
Demosthenes und Cicero keine bessere hätten machen können.Indessen konnte es doch wohl nicht anders seyn, als daß
der Kalender bei länger fortgesetztem Umgang ihm unvermerkt
in einem weniger milden Licht erscheinen mußte; und der
Uebergang von der Meinung, daß er gar kein Herz oder
(was auf eben Dasselbe hinausläuft) ein taub gewordenes
Herz habe, zu der noch ungünstigern, daß er ein Mensch
von verdorbnem Herzen sey, war ein so kleiner Schritt, daß
es nur einer einzigen Entdeckung, die das letztere wahrscheinlich
machte, bedurfte, um ihn des Fürsprechers zu berauben,
den er nur zu lange in Danischmends gutem Herzen gefunden
hatte.Danischmend bekam nur zu bald mehr als eine Gelegenheit,
einige Entdeckungen dieser Art zu machen.—————
Dreißigstes Capitel.Worin wir den Kalender immer näher kennen lernen.Der geneigte Leser wird, einer Unterbrechung von drei
Capiteln ungeachtet, sich des plötzlichen Einfalls noch wohl
erinnern, welchen Danischmend im sechsundzwanzigsten Capitel
hatte, sich — aus Sorge für das Seelenheil der armen
Bewohner von Jemal — zu ihrem Jmam aufzuwerfen, und
der eben so großen Hastigkeit, womit er von diesem Vorhaben
wieder absprang, als ihm der Kalender die Folgen vorstellte,
die ein solcher Schritt wahrscheinlich nach sich ziehen
würde.Der Kalender hatte seine Weissagungen aus bloßer Eingebung
des Widersprechungsgeistes, der ihm zur andern
Natur geworden war, angestimmt, und es fiel ihm gar nicht
ein, daß Danischmends Abscheu vor den Sultanen so weit
gehen könnte, daß er eine Gelegenheit, selbst so etwas wie
ein Sultan zu werden, aus den Händen lassen sollte. Er
hatte diesen Abscheu bloß als die Folge einiger empfindlichen
Beleidigungen, welche Danischmenden vermuthlich am Hofe
zu Dehly widerfahren seyn mochten, angesehen; und man
muß gestehen, ein Mann wie er, — das ist ein Mann, der
sich keinen Begriff davon machen konnte, wie man aus bloßer
Menschenliebe den stärksten Versuchungen der Eigenliebe
widerstehen könne, — mußte so denken oder gar nichts.Sein Erstaunen war also nicht klein, als er Danischmenden
auf die erste Vorstellung, die er ihm gegen seinen Einfall
machte, so plötzlich auf die Seite springen und auf
einmal so fest entschlossen sah, die Jemaliter sich selbst und
ihrem Schicksale zu überlassen. Dieß war weder, was er erwartet
hatte, noch was er wünschte; denn im Grunde gefiel
ihm Danischmends Project gleich beim ersten Anblick, und,
wie gesagt, er machte seine Einwendungen lediglich aus der
Ursache, weil es ihm unmöglich war, eine Gelegenheit vorbei
gehen zu lassen, wo er Jemanden, es mochte Freund oder
Feind seyn, verwirren und in Verlegenheit setzen konnte."Aber (wird man vielleicht denken) was für einen Vortheil
konnte der Kalender davon haben, wenn Danischmend
sich zum Imam oder Emir dieses kleinen Volks aufwärfe?
Er hoffte doch nicht sein General-Vicarius zu werden?"Dieß wohl nicht. Der Hang zum Müßiggehen war zu
tief bei ihm eingewurzelt, und Ehrgeiz oder Begierde nach
einem Glücke, dessen Erwerbung ihm viel Mühe gekostet
hätte, waren keine Leidenschaften, die jemals viel Gewalt über
ihn gehabt hatten. Er war am liebsten ein bloßer Zuschauer.
Aber eben darum hatte er seine Freude an Veränderungen
und neuen Auftritten; besonders wenn er vermuthen konnte,
daß sie fruchtbar an unerwarteten Folgen seyn und ihm viel
Stoff darbieten würden, sich über die Thorheiten der Menschenkinder
lustig zu machen. Mit einem Worte, der alte
Bube liebte Unheil und befand sich nie besser, als wenn es
recht bunt und toll in der Welt zuging; ja, er machte sich bei
Gelegenheit nicht das mindeste Bedenken, wo er einige Funken
glimmen sah, zu blasen und zu schüren, bis ein großes
Feuer daraus wurde, und dann sehr eilfertig als zum Retten
herbei zu laufen, einen großen Krug voll Oel hinein zu schütten
und, wenn die Flamme mit verdoppelter Wuth empor
loderte, zu jammern, daß er in der Eile den Oelkrug für
den Wasserkrug ergriffen habe.Danischmend, mit aller seiner Kenntniß der Welt, hatte
gerade eben so wenig Begriff von dieser besondern Art von
Bosheit, als der Kalender von dem Grade der Gutherzigkeit,
der dazu erfordert wurde, einen Entwurf bloß darum unausgeführt
zu lassen, weil er durch entfernte und ungewisse Folgen
das Glück anderer Menschen in Gefahr setzte; — eine
Sache, um die er sich eben so viel bekümmerte, als ob der
Mann im Mond verwichene Nacht wohl oder übel geschlafen
habe.Halte mir meine Freimüthigkeit zu gut (sagte er zu
Danischmenden, da sie wieder auf diese Materie kamen), aber
in Wahrheit, ich begreife nicht, wie ein Mann, der mit so
viel Enthusiasmus, wie du, sich für anderer Menschen Bestes
beeifert, einen Plan, den er für das einzige Mittel ansah,
seine Mitbürger vor größrer Verderbniß ihrer Sitten zu verwahren,
um solcher Bedenklichkeiten willen fahren lassen kann.Ich denke, Freund Kalender, versetzte Danischmend, du
hättest schon lange merken können, daß bei mir die Philosophie
im Herzen, nicht im Kopfe sitzt. Die Gefahr der guten
Leute, unter denen ich lebe, ist so groß noch nicht, daß man
genöthigt wäre, zu verzweifelten Mitteln zu greifen. Meine
Liebe zu ihnen vergrößerte sich die Folgen des Uebels, das ihnen
die drei Fakirn zugefügt haben. Im Grund ist es eine
bloße Verwundung eines Körpers, dessen Säfte gut und balsamisch
sind. Bei unverdorbnen Seelen heilt sich ein so
kleiner Schade von selbst. Die Natur ist der beste Arzt.Ich wünsche, daß es so seyn möge, erwiederte der Kalender
mit einer ungläubigen Miene. Aber ich müßte mich sehr
betrügen, oder die Zeichen, daß die Sitten in diesen Thälern
sich verschlimmert haben, werden täglich sichtbarer. Ich sehe
Weiber, die über ihre Männer klagen, und Männer, die sich
auf Unkosten der Weiber rechtfertigen. Erst noch diesen
Morgen hatte ich viele Mühe, unserm alten Nachbar Kassim
den Argwohn, daß seine Frau mit dem jungen Faruck in einem
geheimen Verständnisse stehe, aus dem Kopfe zu reden.Danischmend schüttelte den seinigen, da er hörte, daß
sich der Kalender so viel in die häuslichen Angelegenheiten
seiner Nachbarn mischte. Sein Genius schien ihm zuzuflüstern,
daß es nicht desto besser sey.Und ich hörte bei dieser Gelegenheit, fuhr der Kalender
fort, daß Feridun, einer von den Männern, deren Weiber
sich neulich im Fluß ersäuft haben, über die Gebirge nach
der Hauptstadt gegangen ist, sich ein paar hübsche Sklavinnen
zu kaufen. Man murmelt stark darüber, und es ist zu besorgen,
daß sein Beispiel Nachfolger haben und den häuslichen
Frieden unsrer guten Landleute mächtig stören dürfte.Danischmend, anstatt dem Kalender zu antworten, lief
eilends davon, um sich in eigner Person zu erkundigen, was
an der Sache sey.Der Kalender hätte ihm diese Müh' ersparen können,
wenn er ihm gesagt hätte, daß — wofern der alte Kassim
einigen Verdacht wider seine Frau gefaßt hatte, und Feridun
nach der Stadt gegangen war, sich eine oder zwei Sklavinnen
zu kaufen, Niemand Anderes daran Ursache war, als —
der Kalender selbst.Dieß bedarf einiger Erklärung.—————
Einunddreißigstes Capitel.Erster Versuch des Kalenders auf die Ruhe der Iemaliter.Der Kalender —wiewohl der Leser schon Ursache gefunden
haben kann, nicht die beste Meinung von ihm zu hegen —
war ein schlimmerer Vogel, als wir denken. Sein Haar und
sein Bart erweckten zwar ein günstiges Vorurtheil für seine
Weisheit; denn sie hätten einem Epiktet Ehre gemacht: aber
er befand sich noch so wohl bei Kräften, und die Diät in Danischmends
Hause schlug ihm so wohl zu, daß ihm dann und
wann wieder von den Zeiten träumte, wo er .den Eseltreiber
und (wenn er anders nicht geprahlt hat) zuweilen den Esel
selbst gespielt hatte.Kassims Frau war ein hübsches stämmiges Weib von
fünfunddreißig Jahren, mit großen schwarzen Augen und
einer Figur, die der Kalender ungemein nach seinem Geschmacke
fand. Er hatte also nach der Maxime des Derwischen,
seines ehemaligen Pflegevaters, angefangen, sich um des alten
Kassims Freundschaft zu bewerben. Zeineb (so hieß die Frau)
hatte sich —nicht darum bekümmert. Der Kalender hätte sieben
Jahre lang alle Tage zweimal in ihr Haus kommen können,
ohne daß sie Acht darauf gegeben hätte, mit was für Augen
er ihr nachsah, wenn sie aus der Stube ging, oder wohin er
seine Blicke schießen ließ, wenn sie sich von ungefähr bückte,
um etwas vom Boden aufzuheben. Diese Art von Unachtsamkeit
lag in ihrer Gemüthsart: überdieß schien sie mit dem
alten Kassim, der ungeachtet seiner Jahre nichts weniger als
ein Tithon war, vollkommen zufrieden zu seyn.Gleichwohl konnte oder wollte der Kalender sich nicht aus
dem Kopfe bringen, daß in der ganzen Gegend keine Frau
sich besser dazu schickte, das gestörte Gleichgewicht in seinem
innern und äußern Menschen wieder herzustellen, als Zeineb.
Kurz, seine Begierden hatten sich auf ihr gelagert, und da
weder in seinem Herzen noch in seinen Grundsätzen etwas
war, das ihn verhinderte, Böses zu thun, wenn ihn dessen
gelüstete; so hatten sich seine Begierden mit seiner Klugheit
beraten, wie er's anzufangen hätte, mit möglichster Sicherheit
und Zeitersparung zu seinem Zwecke zu kommen.Das Resultat dieser Berathschlagung war, er müßte etwas
zwischen dem alten Kassim und seiner Frau anzuzetteln suchen, das
die letztere nöthigen würde, sich um seine Freundschaft und Hülfe
zu bewerben, ohne daß es Kassim übel finden könnte. Den Umständen
nach konnte dieß Etwas nichts Anderes seyn als Eifersucht.Diesen nämlichen Morgen hatte der Kalender angefangen,
die erste Hand ans Werk zu legen.Zeineb war abwesend, als er zu Kassim kam, der unter
seiner Vorhütte saß und einen großen Korb in Arbeit hatte.
Sie sprachen von allerlei Dingen, und unvermerkt lenkte der
Kalender das Gespräch auf die Weiber."Ich begreife nicht, sagte er, wie ein Mann ruhig seyn
kann, der eine Frau hat, zumal wenn es eine junge und
schöne Frau ist. Ihr Männer hier zu Lande seyd glückliche
Leute, daß ihr nichts von den Sorgen wißt, womit sich anderer
Orten die armen Käuze placken müssen, die eine hübsche
Frau für sich allein behalten wollen."Dieß ist von alten Zeiten her immer so bei uns gewesen,
sagte Kassim, indem er mit großer Gelassenheit fortfuhr an
seinem Korbe zu flechten. Jeder hat die Seinige, und jede
den Ihrigen —jedes begnügt sich mit dem Seinigen —und
was braucht es da zu sorgen?"Und doch hätten die drei jungen Fakirn mit ihren Lingams,
wenn's nur ein paar Wochen später zum Ausbruch
gekommen wäre, einen verdammten Spuk unter euch anrichten
können!" — sagte der Kalender.Das mag seyn, erwiederte der alte Kassim: aber die jungen
Kerle brauchten auch Zauberei dazu. Die armen Weiber
waren unschuldig an der Sache; sie wußten gerade so viel
als mein Korb, was der Talisman zu bedeuten hatte, den
sie sich an den Hals hängen ließen."Dafür wollt' ich eben nicht Bürge seyn," sagte der Kalender.Weil ihr uns noch nicht kennt, alter Herr, versetzte Kassim,
dessen Bart noch einen guten Theil schwarzer Haare mehr
aufzuweisen hatte, als des Kalenders seiner."Ja, sprach dieser, wenn alle Weiber in diesem Lande
sind, wie die deinige, dann — dann kann ein Mann schon
ruhig seyn, ohne sich gleich über jede Kleinigkeit zu ängstigen."Es ist mir nie eingefallen, mich der meinigen wegen zu
ängstigen, sagte Kassim. Ich wüßte nicht, daß sie mir in
den neunzehn oder zwanzig Jahren, seit sie mein ist, die
kleinste Ursache dazu gegeben hätte."Dieß ist eben, was ich sage. Wenn man seiner Frau
so gewiß ist, wie du — so mag sie immer —"Hier hielt der Kalender ein, und der alte Kassim erwartete
eine Weile mit seinem gewöhnlichen Phlegma, was folgen
würde.Endlich, da nichts folgen wollte, sagte er, ohne daß in
seinem Tone mehr Neugier war, als wenn die Rede von
einer Frau des großen Lama gewesen wäre:Was mag sie immer?"So mag sie immer mit einem Andern ein wenig freundlich
thun. Eine hübsche Frau hört doch immer gern, wenn
ihr's ein Andrer als ihr Mann sagt, daß sie noch hübsch ist."Mit einem Andern freundlich thun? —wiederholte Kassim,
indem er in der Arbeit einhielt und den Kalender ansah."Ich meine in aller Unschuld. Ich denke nichts Arges
dabei, Kassim, wenn sich eine Frau von einem hübschen jungen
Kerl, wie Faruck, über einen Zaun helfen läßt."Wie Faruck? sagte Kassim —"Und wenn er ihr auch, weil man eine solche Gelegenheit
nicht immer hat, von ungefähr einen Kuß gegeben
hätte —"Einen Kuß gegeben hätte? rief Kassim und ließ den Korb
aus der Hand fallen: der junge Faruck meinem Weibe? —
aber ich bin nicht klug! Wer dir wohl den Bären angebunden
haben mag?"Vielleicht kam er auch nur von ungefähr mit seinem
Mund auf den ihrigen, fuhr der Kalender fort: oder meine
Augen konnten auch wohl bezaubert seyn."Du hast es also selbst gesehen? fragte Kassim."Ich bitte dich, guter Kassim, sey ruhig: ich wollte schwören,
daß deine Frau die ehrlichste Frau in ganz Kischmir ist.
Ich war ein Thor, daß ich dir was davon sagte. Aber wer
konnte sich auch einbilden, daß ein Mann von einer solchen
Kleinigkeit gleich Feuer fangen würde!"Du hast es selbst gesehen? wiederholte der alte Kassim,
indem er den Korb auf die Seite stieß, aufstand und den
Kalender beim Arm faßte: wann, wo, wie hast du's gesehen?"Ich sage dir kein Wort weiter, wenn du nicht wieder
ruhig wirst."Kein Wort weiter? So hast du noch mehr gesehen?"Und wenn sie denn auch mit einander ins Bohnenfeld
gegangen wären? — Aber ich wiederhol' es, Kassim, es fällt
mir gar nicht ein, daß du deswegen Ursache haben könntest,
auf deine Frau ungehalten zu seyn."Das muß ich wissen, was ich seyn soll, sagte Kassim. —
Aber wann sahst du das Alles?"Diesen Morgen, ungefähr eine halbe Stunde, eh' ich zu
dir kam. Ich ging einen meiner gewöhnlichen Spaziergänge
im Walde, der an eure Felder stößt. Da sah ich den jungen
Faruck im Felde arbeiten, und indem ich so fortging, kam
Zeineb vom Dorfe her und wollte über den niedern Zaun
steigen, der am Felde hinab läuft. Sie konnte mich, weil
ich seitwärts hinterm Gesträuche stand, nicht sehen. Und
wie sie nun über den Zaun steigen wollte, blieb sie mit dem
Rocke hangen. Da lief Faruck, was er konnte, und wickelte
sie los und hob sie herüber und gab ihr in dem nämlichen
Augenblick einen Schmatz, den ich hören mußte, wenn ich
auch nichts gesehen hätte, oder ich hätte taub und blind zugleich
seyn müssen; und da —"Und da — was weiter? rief Kassim."Und da ging jedes seinen Weg, denk' ich; sie müßten
denn nur mit einander gegangen seyn, wofür ich nicht gut
stehen kann: denn ich war nicht neugierig, mehr zu sehen. Es
fiel mir nicht ein, daß unter so guten Leuten, wie ihr seyd, was
Uebels darin seyn könnte, wenn ein junger Kerl eine Frau über
einen Zaun hebt und sich einen Kuß für seine Mühe nimmt oder
geben läßt. Und wenn Faruck sie auch ein wenig lieber sähe, als
ihre Großmutter, was wäre sich da viel darüber zu wundern?"Gut, gut, sagte Kassim, indem er sich wieder setzte und
seinen Korb zwischen die Knie nahm und fortarbeitete: wenn
er ihr auch zwei Küsse für einen gegeben hätte, —da ist nicht viel
darüber zu sagen. —Der verzweifelte Korb! da bricht mir ein
Faruck nach dem andern! — Wie du sagtest, da ist gar nichts
darüber zu sagen — ich bin völlig deiner Meinung, alter
Herr! — Ich werde in meinem Leben nicht mit dem Korbe
fertig werden! Ich glaube, ich bin verhext!"Alles, warum ich dich bitte, sagte der Kalender, indem
er wegging, laß dir gegen Zeineb nichts von der einfältigen
Historie merken. Es ist nichts, in der That nichts — Aber,
wie die Weiber sind, wenn sie sehen, daß man über eine
Kleinigkeit viel Wesens macht, so denken sie der Sache nach,
und dann wird sie immer größer und größer, wie ein Nachtgeist,
der sich einem Wanderer auf die Schultern huckt; —
und zuletzt kann aus Spaß Ernst werden. Es ist nichts,
sag' ich dir; Zeineb ist eine ehrliche Frau —Indessen wirst
du nicht übel thun, Freund Kassim, wenn du ein Auge auf
den jungen Faruck hast."Als der Kalender fort war, warf der alte Kassim seinen
Korb in einen Winkel, rieb sich die Stirne und dachte dem
Handel nach."Ich wollte meine Seele verpfänden, daß sie immer ehrlich
gewesen ist, seit ich sie kenne! Es ist kein braveres Weib
im ganzen Dorfe! Und was da begegnet ist, ist tausend
andern begegnet, und sie ist nicht um ein Haar schlechter
darum. — Aber, wenn ihr der junge Kerl in die Augen gestochen
hätte? — wenn ihr dieß nicht von ungefähr so begegnet
wäre? wenn sie einander gar bestellt hätten? — wenn er ins
Bohnenfeld mit ihr gegangen wäre? — Es ist unmöglich! —
Was ist unmöglich? —Es kann seyn! — es kann .nicht seyn!
—Ich wollte, der Kalender hätte mir nichts davon gesagt —
oder hätte mir mehr gesagt! —Aber konnte er mehr sagen,
wenn er nicht mehr wußte? —Das ist's eben, was ich wissen
möchte! —Der vertrackte Faruck! —Sie hat die schönste Wade
von der Welt — wenn er sie gesehen hätte? —Das muß er
wohl, da er ihr den Rock vom Zaun loswickelte! Ich wollte,
daß ihm die Hand verdorret wäre, da er sie anrührte! daß
er auf'm Platze erblindet wäre! daß ihm —Aber, wenn er nun
auch was gesehen hat —desto schlimmer für ihn! Er wird's
so bald nicht wieder aus dem Kopfe kriegen! Es wird ihm
des Nachts im Schlafe vorkommen! er wird danach schnappen
und in die Luft greifen, und wenn er glaubt, er hab' es,
wacht er auf und hat — nichts. Es ist unmöglich! Zeineb
— ich setze mein Leben für deine Ehrlichkeit!"Zeineb hatte keinen Lingam getragen. —Dieser Umstand
kam ihr jetzt bei ihrem Alten sehr zu Statten. Aber unglücklicher
Weise fiel ihm ein, daß sie am nämlichen Morgen,
als der Lärm mit den Fakirn ausbrach, den Wunsch geäußert
hatte, auch einen Lingam zu haben."Alle ihre Nachbarinnen hätten einen; sie allein nicht:
was würden die Leute denken, wenn sie die einzige wäre,
die keinen Lingam hätte?"Der alte Kassim war noch nicht ganz einig mit sich selbst,
was er von der Sache denken, oder wie er sich gegen Zeineb
benehmen sollte, als sie mit einem Korbe voll Bohnen auf
dem Kopf in die Hütte trat. Es däuchte ihm, daß er
sie lange nicht so schön gesehen habe: und es fuhr ihm
kalt den Rücken hinab, indem er dieß dachte. Die Bewegung
und die Sonnenhitze machten die Verschönerung sehr
natürlich.Laß dir was erzählen, Kassim, sagte sie, indem sie ihren
Korb hinsetzte; und da erzählte sie ihm mit der Munterkeit
und Treuherzigkeit eines so kunstlosen und nichts Arges denkenden
Geschöpfes, als sie war, die ganze Geschichte, die ihr,
indem sie über den Zaun ins Feld steigen wollte, mit dem
jungen Faruck begegnet war. Sie verschwieg nicht den kleinsten
Umstand. — "Soll ich ihm nicht eine derbe Ohrfeige
dafür geben? dacht' ich, als er mir den Kuß stahl. Aber
eine Ohrfeige für einen Kuß! — Und dann hatte er mir doch
einen Dienst erwiesen."Zeineb sagte dieß mit einer so wahren Herzenseinfalt,
daß dem boshaftesten Ausspäher und Belaurer des weiblichen
Herzens, wenn er sie gesehen, und den Ton, womit
sie es sagte, gehört hätte, kein Zweifel möglich
gewesen wäre.Zu gutem Glück sah uns Niemand, setzte sie hinzu. Aber
ich sagte ihm, daß ich dir Alles erzählen würde. Da schlich
er sich fort und kratzte sich hinter den Ohren. Und doch bin
ich gewiß, daß er nichts Arges im Sinne hatte. Er ist noch
zu jung! Aber doch will ich's seiner Mutter sagen, damit
sie ihm unverzüglich eine Frau gibt; denn nun möcht's wohl
Zeit seyn! Der arme Junge! Er zitterte wie Aspenlaub,
da er mir den Rock von der Hecke los machte.Der alte Kassim fühlte sich in diesem Augenblick um
vierzig Jahre jünger. Kein Mensch auf dem ganzen Erdenrunde
war halb so glücklich, wie er. Er drückte die schöne
Zeineb in seine Arme und konnte nichts sagen; aber sein
Entzücken und seine Liebkosungen setzten sie in Erstaunen.Des Kalenders wurde gar nicht gedacht.Kassim hatte sich eben wieder an seinen Korb gemacht
und war im Begriff, den Namen Zeineb so zierlich, als ihm
möglich war, darein zu flechten, als Danischmend in seine
Hütte trat. Das gute Vernehmen, worin er das Ehepaar
fand, überraschte ihn so angenehm, daß er ihnen beinahe
seine Verwunderung darüber bezeigt hätte. — Ich muß diesen
Kalender besser beobachten, dacht' er bei sich selbst.Drei Tage nach dieser Begebenheit erfuhr man, daß sich
Faruck ein Mädchen zum Weibe genommen hatte, das mit
Zeineb beinahe von gleicher Gestalt und Größe war. Zeineb
erzählte ihr Abenteuer Perisadeh, und Perisadeh Danischmenden.Dank sey dem Himmel! rief er: unsre Sitten sind noch
so schlimm nicht, als sie der Kalender wünscht.Du thust ihm Unrecht, sagte Perisadeh. Er mag wohl
einen wunderlichen Kopf haben; aber, gewiß, sein Herz kann
nicht so schlimm seyn. Er hat unsre Kinder so lieb! Alle
Tage lehrt er sie was Neues, und die Kinder lieben ihn,
als wenn er ihr Großvater wäre. Auch sagt ihm in der
ganzen Gegend Niemand etwas Böses nach.Gut, versetzte Danischmend. Ich denke nicht gern schlimmer
von einem Menschen, weil er mehr Verstand hat, als
andre, und manchmal mehr zu sehen glaubt, als er sieht.
Aber seine Grundsätze machen mich ein wenig mißtrauisch.
Wenn er gut ist, so ist er der erste gute Mann mit solchen
Grundsätzen, den ich in meinem Leben gesehen habe.—————
Zweiunddreißigstes Capitel.Danischmend lernt Körbe machen.Seit der Begebenheit mit der schönen Zeineb kamen
Danischmend und Perisadeh öfters in des Korbmachers
Haus. Die Weiber setzten sich mit ihrer Arbeit zusammen,
und Danischmend sah dem alten Nachbar zu, wie er Körbe
flocht.Auf einmal fiel dem Philosophen ein, daß er schon über
vierzig Jahr alt sey und noch keine Handarbeit gelernt habe.
Von uralten Zeiten her, sagte er zu dem Korbmacher, ist es
immer in den Morgenländern gebräuchlich gewesen, daß die
Gelehrten nebenher auch ein Handwerk zu treiben verstehen
mußten: ich schäme mich, vielleicht der einzige zu seyn, der
nichts kann als denken und reden; denn das Bißchen Gärtnerei,
womit ich mich zuweilen abgebe, will nichts bedeuten.
Lehre mich deine Kunst, Kassim. Ich gebe dir mein Wort,
daß ich dir keinen Eintrag thun will. Es muß doch eine
wahre Lust seyn, etwas zu machen, wenn's auch nur ein
Korb ist; und denken oder reden läßt sich's ja eben so gut,
während man Binsen oder gespaltenes Rohr ineinander flicht,
als wenn die Finger müßig bleiben. Lehre mich deine Kunst,
Nachbar, und statt des Lehrgeldes sollen alle Körbe, die ich
mache, dein seyn.Kassim ließ sich dazu willig finden, und Danischmend,
der Alles, was er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, mit
großem Eifer trieb, wurde in kurzer Zeit ein größerer Künstler
in der Korbmacherei, als sein Meister selbst. Er verfertigte
allerlei Arten der niedlichsten Körbchen, und es war eine
Lust, zuzusehen, wie behend und geschickt ihm die Arbeit von
der Hand ging.Der Kalender ermangelte nicht, wenn Danischmend und
Kassim so beisammen saßen, den dritten Mann abzugeben
und, während er sich bald dieß bald das dabei zu thun
machte, die kleine Gesellschaft, zumal wenn die beiden Frauen
zugegen waren, mit kurzweiligen Erzählungen zu unterhalten.Danischmend, wiewohl er die Augen bloß auf seiner Arbeit
zu haben schien, bemerkte doch sehr gut, daß der Kalender die
seinigen selten von Zeineb verwandte, sich immer gern so nahe
als möglich an sie machte und durch tausend kleine Dienstleistungen
sich in ihre Gunst einzuschmeicheln beflissen war.
Kassim und Zeineb merkten nichts; und der Kalender, da er
alle seine Mühe verloren sah und auf die Hoffnung, den
Gegenstand seiner Lüsternheit allein zu finden, Verzicht zu
thun anfing, kam nach und nach immer seltner in Kassims
Hütte und blieb, als Feridun aus Kischmir zurückgekommen
war, gänzlich weg.Dieß war es eben, was Danischmend wollte, und wir
zweifeln nicht, daß es mit dem Einfall, das Korbmachen von
dem alten Kassim zu lernen, hauptsächlich darauf abgesehen
war, den kleinen Anschlag zu vereiteln, den der lüsterne alte
Sünder auf die schwarzen Augen und runden Arme der
Korbmacherin angelegt zu haben schien.—————
Dreiunddreißigstes Capitel.Glücklicher oder unglücklicher Erfolg der Reise Feriduns nach der
Stadt Kischmir.Inzwischen war Feridun auf des schadenfrohen Unholds
Anstiften und mit einer Empfehlung an einen seiner alten
Bekannten (denn deren hatte der Kalender in allen Provinzen
von Indostan) in der Hauptstadt von Kischmir angelangt;
und die Menge der schönen Gegenstände und Werkzeuge
des Vergnügens, die er hier zum ersten Male kennen
lernte, setzten seine Sinne in eine Berauschung, gegen welche
der mäßige Antheil von Menschenverstand, den er aus Jemal
mitgebracht hatte, nicht lange aushalten konnte.Gleich beim ersten Feste, dessen lärmenden Feierlichkeiten
er zusah, wurden seine Augen und sein Herz von einer
reizenden Tänzerin so stark verwundet, daß er stehendes Fußes
beschloß, sie mit sich nach Hause zu nehmen, wenn er sie
dazu bereden könnte.Er bahnte sich durch einige Geschenke den Weg zur Gunst
der schönen Bayadere und machte ihr von dem angenehmen
Leben in den Thälern von Jemal eine so warme Beschreibung,
daß sie sich ohne großen Widerstand erbitten ließ, ihm,
als Gebieterin über seine Person und Alles, was er besaß,
dahin zu folgen.Die reizende Devedassy hatte einen Bruder, mit welchem
(wie sie sagte) ein glücklicher Zufall sie nach einer langen
Trennung vor wenig Tagen wieder vereinigt habe, und von
dem sie sich nicht gern von Neuem trennen möchte. Dieser
Bruder hatte wirklich, wiewohl er nur ein Kalender war,
das Ansehen eines ziemlich feinen Menschen, und der ehrliche
Feridun faßte keine geringe Meinung von ihm, da er
hörte, welch ein großes Stück Welt er seit den zwanzig
Jahren, da er das väterliche Haus und seine Schwester Narissa,
damals noch ein Kind, verlassen, durchwandert habe.
Der Kalender betheuerte, daß es ihm unmöglich sey, in die
vorgeschlagene Verbindung seiner geliebten Schwester, wie
angenehm sie ihm auch sonst wäre, einzuwilligen, wofern er
sich wieder von ihr trennen müßte.Diese Schwierigkeit ist leicht zu heben, sagte Feridun:
ziehe mit uns und lebe so lange in meinem Hause, als es
dir bei uns gefällt. Doch damit wird es wohl keine Noth
haben, setzte er hinzu: denn Jemal ist das schönste Land in
der Welt, und ich bin, ohne mich zu rühmen, der reichste
Mann in Jemal.Der Kalender, der den Namen Jemal zum ersten Mal
in seinem Leben hörte und unter Feriduns wenig versprechendem
Aufzuge keinen Krösus vermuthet hatte, lächelte zu dieser
Rede; aber da einem Manne, wie er, jeder Ort in der Welt
so gut als ein anderer war, so machte er keine Schwierigkeit,
die Einladung seines neuen Bruders anzunehmen. Das
Einzige, was ihm die Entfernung aus Kischmir erschwere,
sagte er, sey ein junger Mann seines Ordens, ein Mensch
von vielen Talenten, der auf einigen seiner Wanderungen
sein Reisegefährte gewesen sey, und mit welchem er einen
Freundschaftsbund auf Leben und Tod beschworen habe.So laß auch ihn mit uns gehen, sagte der ungeduldige
Feridun, der, um nur bald zum Besitz seiner holden Devedassi
zu gelangen, sich im Nothfall noch mit einem ganzen
Rudel Kalender und einem halben Duzend Derwischen obendrein
beladen hätte.Sogleich wird dieß wohl nicht angehen, versetzte der
Bruder, denn mein Freund ist hier in gewissen Verhältnissen,
woraus er sich wohl so bald nicht loswickeln kann. — Allenfalls
kann er uns ja besuchen, sagte Narissa, wenn ihn die
Lust zu wandern wieder ankommt.Er soll immer willkommen seyn, sagte Feridun.Unter uns (denn Feridun brauchte das eben nicht zu
wissen), die Verhältnisse, die den Freund des neuen Bruders
an Kischmir fesselte, waren eben nicht die angenehmsten;
denn das Wahre an der Sache war, daß er, wegen einiger
kleinen Abweichungen von den positiven Gesetzen der bürgerlichen
Gesellschaft, wozu er sich kraft seiner Menschenrechte
befugt geglaubt hatte, — im Stockhause saß; und daß sein
geschworner Freund, der Bruder der schönen Tänzerin, das
Mißvergnügen, ihm nicht Gesellschaft zu leisten, bloß —
seiner Schnellfüßigkeit zu danken hatte.Alle Schwierigkeiten waren nun aus dem Wege geräumt,
und der glückliche Feridun kam mit seiner Reisegesellschaft
nach Jemal zurück, ohne selbst recht zu wissen, wie es zugegangen
war; denn seine schöne Tänzerin tanzte und gaukelte
die Hälfte des Weges vor ihm her, und die andere Hälfte
durch vertrieb ihm der Bruder die Zeit mit Mährchen und
kleinen Liedern, deren er eine Menge wußte, und die er
mit einer ziemlich leidlichen Stimme sang. Glücklich in
seinem Wahn und um die Zukunft unbekümmert, freute sich
Feridun seiner wohlgelungenen Unternehmung und dachte
wenig daran, welche Uebel er sich selbst und seinem Volke
zuführe.—————
Vierunddreißigstes Capitel.Danischmend und der Kalender Alhafi entzweien sich.Am dritten Tage nach Feriduns Wiederkunft kam der
Kalender mit lachendem Munde zu Danischmenden und sagte:
Feridun ist wieder da, und wen meinst du wohl, daß er
mitgebracht hat? Eine Tänzerin von Surate, die ich ehemals
bei einer herumstreichenden Bande zu Kandahar kennen lernte,
und — wie wunderlich sich doch Alles fügen muß! — meinen
Cameraden Alfaladdin, den Sänger!So gnade Gott dem armen Völkchen von Jemal! sagte
Danischmend.Wie so? erwiederte der Kalender. Du nimmst die Sache
auch gar zu ernsthaft auf. Was für ein so großer Schade
wird es nun auch seyn, wenn eure rohen Mädchen von einer
Bayadere tanzen und von dem Schwächling Alfaladdin ein
Duzend Liedchen singen lernen?Die Unschuld von Jemal ist auf ewig dahin! rief Danischmend
in einem kläglichen Tone.Das hätte doch immer einmal begegnen müssen, versetzte
der Kalender mit seiner gewöhnlichen Kälte: ob ein paar
Jahre früher oder später, hat wenig zu bedeuten.Deine Art zu denken, Kalender, und die meinige werden
nie zusammenstimmen, sagte Danischmend mit einer Bitterkeit,
die ihm sonst, auch in leidenschaftlichen Aufbrausungen,
nicht gewöhnlich war, indem er mit verschränkten Armen und
großen Schritten im Zimmer auf und nieder ging."Freund Danischmend. du bist heute nicht aufgeräumt,
wie ich sehe; sonst hätte ich gute Lust gehabt, dich mit meinem
ehemaligen Cameraden bekannt zu machen. Es ist ein
drolliger Bursche, der keine Gesellschaft verderbt und uns in
unsern kleinen Cirkeln manchen fröhlichen Abend machen wird."Zwei Kalender und eine landstreichende Bayadere! (brummte
Danischmend vor sich hin) eine feine Gesellschaft! — Ich
bin besserer gewöhnt. — Doch wozu das Alles? Feridun ist
nicht aus unserm Dorfe. Laß ihn die saubere Waare, die
er auf den Straßen zu Kischmir aufgelesen hat, für sich behalten!
Wir verlangen nichts davon. — Komm, gutes
Weib! — und damit nahm er Perisadeh und seinen kleinen
Sohn bei der Hand und schlenderte zu dem alten Korbmacher
hinüber.Der Kalender ließ sich die böse Laune, womit ihn Danischmend
verließ, wenig anfechten. Das wird sich schon geben,
dacht' er: und am Ende, was für ein Recht hat der wunderliche
Kauz, hier in Jemal, wo er so fremd ist, als ich und
Alfaladdin, den Meister spielen zu wollen? Er ist besserer
Gesellschaft gewohnt, sagt' er, und sah auf einmal wer weiß
wie vornehm aus; und doch war es, als ob ihm das Wort
wider Willen entschlüpft sey. Was bedeutet das? Sollte wohl
gar mehr hinter ihm stecken, als er scheinen will? Das müssen
wir ausfindig machen, es koste, was es will!—————
Fünfunddreißigstes Capitel.Eine neue Erscheinung in Jemal, und ein Gespräch darüber zwischen
Zeineb und Perisadeh.Die beiden Dörfer, worin Feridun und Danischmend
wohnten, lagen, wie alle übrigen im Thale Jemal, so nahe
beisammen, daß Alles nur eine einzige lange Kette von Wohnungen,
Gärten und Feldern zu seyn schien, und die Einwohner
machten gleichsam nur eine Familie aus.Feridun hatte also nichts Angelegeneres, als seine guten
Nachbarn an seinem vermeinten Glück Antheil nehmen zu
lassen; und schon am dritten Tage nach seiner Ankunft hatte
er angefangen, mit seiner reizenden Devedassi am Arm und
mit ihrem angeblichen Bruder an der Seite, von einem Hause
zum andern im Triumph herumzuziehen.Danischmend und Perisadeh machten große Augen, als
ihnen, wie sie in die Hütte des alten Kassim traten, dieselbe
nämliche Tänzerin entgegenschimmerte, die in einem blendenden
Aufzug ihren ersten Besuch bei der ehrlichen Zeineb
machte und sich, wie es schien, in wenig Minuten schon
auf einen ganz traulichen Fuß mit ihr gesetzt hatte.Perisadeh betrachtete die Neuangekommene mit einem
Erstaunen, woran sich Danischmend sehr ergetzt haben würde,
wenn er bei besserer Laune gewesen wäre. Sie wußte nicht,
ob sie ihren Augen trauen dürfe: und da sie in ihrem Leben
noch kein Geschöpf dieser Art, so lebhaft, so leicht, so reizend
in allen ihren Bewegungen und in einer so reichen und
üppigen Kleidung, gesehen hatte, so konnte sie sich der Vorstellung
kaum erwehren, daß sie eine der Feen sehe, mit
welchen ihre Phantasie in ihren Kinderjahren durch die arabischen
Mährchen bekannt worden war.Danischmend zuckte die Achseln und setzte sich schweigend
an seine gewöhnliche Arbeit, ohne gewahr zu werden, daß
die schöne Devedassi ihn unter ihren langen Augenwimpern
hervor mit immer steigender Aufmerksamkeit ansah und hierauf
dem jüngern Kalender, ihrem Bruder, etwas ins Ohr
flüsterte, das ihn, wie es schien, zugleich aufmerksam und
unruhig machte.Bald darauf beurlaubten sich die Neuangekommenen wieder,
und Zeineb und Perisadeh setzten sich mit ihrer Arbeit auf
eine Bank vor der Hütte, um den Gefühlen Luft zu machen,
die diese neue Erscheinung in ihnen aufgeregt hatte.Wie glücklich dieser Feridun ist! fing Zeineb an: wie
mag er, der doch nur ein einfältiger Landmann ist, zu einer
so vornehmen und reichen Dame gekommen seyn? Flimmerte
nicht ihr Shawl, als ob er aus lauter Sonnenstrahlen gewirkt
wäre? Und ihr Unterkleid! Spinnen können nichts so Feines
weben! Begreifst du, wie so was von Menschenhänden
gemacht seyn kann?"Ihr Aufzug gefiel dir doch nicht, will ich hoffen?"So recht ehrbar ist er nun wohl nicht, liebe Perisadeh;
aber er ließ ihr doch gar zu schön, das muß ich sagen —"Und du hättest wohl Lust —?"Wenn ich auch Lust hätte, woher wollte mir mein armer
Mann so reiche Sachen schaffen können?"Pfui, Zeineb! schäme dich, so zu reden! In deinem Leben
ist dir noch nicht eingefallen, daß dein Mann arm sey, und
du hast ihm immer gefallen, wie du hier bist. Was sollte
dir oder mir ein Shawl, aus Gold-- und Silberfäden gewebt?
Oder würdest du dich nicht vor dir selber schämen, wenn du
dich in einem so durchsichtigen Gewande vor den Leuten sehen
lassen solltest?"Das ist auch wahr! daran dacht' ich nicht. Aber du wirst
sehen, Perisadeh, eh' ein Monat vergeht, wird die Hälfte
unsrer Weiber so gekleidet seyn, — wenn auch nicht völlig
so reich — wie die Feridun."Gott behüte! Das werden unsere Aeltesten nicht zugeben,
Zeineb, und du und ich und alle ehrliche Weiber im Lande
wollen mit gesammter Hand dagegen seyn! Weißt du auch
wohl, wer die Fremde ist, die du für so was Vornehmes
hältst? Der Kalender sagte es uns diesen Morgen. Eine
herumziehende Tänzerin aus Surate, eine — wie soll ich
sagen? —Man hat, Gott sey Dank! bei uns keinen Begriff
davon und kein Wort dafür, was sie ist.Was du sagst! — Wer hätte so was denken sollen! Ich
würde sie für eine Sultanin angesehen haben, wenn sie mir
auf der Straße begegnet wäre. — Aber der Kalender hat ihr
das wohl nur so nachgesagt. Ich muß dir's nur gestehen,
der Mann gefällt mir nicht — er hat so was Heimtückisches
in den Augen! Ich traue ihm nicht über den Weg —"Da thust du ihm, denk' ich, zu viel, liebe Zeineb! Wenn
du wüßtest, was für ein Kinderfreund er ist, du würdest gewiß
besser von ihm denken."Das mag wohl seyn, sagte Zeineb, indem sie einen abgerißnen
Faden an ihr Gespinnst wieder anknüpfte, und das
Gespräch stockte eine Weile.Danischmend und Kassim, die am offnen Fenster saßen,
hatten von dem traulichen Geplauder der Weiber kein Wort
verloren und mehr als einmal die Köpfe dazu geschüttelt.
Wo wird das hinkommen? sagte Danischmend: sollen wir
uns von einer Landstreicherin das Glück unsers Lebens vernichten
lassen?Aber meinst du nicht auch, Perisadeh, fing Zeineb wieder
an, wenn wir uns rechte Mühe geben wollten, wir sollten
noch wohl eben so feines baumwollen Garn herausbringen
können, als die Feridun zu ihrem Hemde hatte?"Wozu, gute Zeineb, wolltest du dir diese Mühe geben?
Deine Hemden sind für eine ehrliche Frau fein genug. Mit
einer Devedassi, wie diese da, ist es freilich ein Anderes,
Kind!"Nein, beim Himmel! rief Danischmend, indem er seinen
Korb halb vollendet auf die Erde warf — Kassim! das soll
nicht seyn, daß eine solche Dirne mit ihrem flinkernden
Schleier und mit ihrem durchsichtigen Hemde unsern guten
Weibern den Kopf verrücke! Glaube mir, das Herz wird
nicht besser dadurch. Eins von Beiden, so wahr ich Danischmend
heiße, entweder sie muß sich tragen, wie es hier gebräuchlich
ist, oder Feridun mag in Frieden mit ihr von
hinnen ziehen! Die Sache ist keine Kleinigkeit; das Heil unsers
ganzen Volkes und unsrer Nachkommenschaft steht auf
dem Spiele. Wir müssen mit unsern Aeltesten sprechen,
Kassim: dem Uebel muß Einhalt gethan werden, eh' es um
sich frißt!—————
Sechsunddreißigstes Capitel.Die ersten Faden eines Anschlags, der sich gegen Danischmend entspinnt.Du kannst mir's glauben, sagte Narissa zu dem Kalender,
den sie für ihren Bruder ausgab, wiewohl er nur ein Mitglied
ihrer Bande und vielleicht noch etwas mehr bei ihrer
Person gewesen war. —Du kannst mir's glauben, sagte sie,
daß ich ihn zu Dehly bei einem feierlichen Aufzug als Itimadulet
vor dem Sultan herreiten gesehen habe.Wie kam er denn hierher? fragte der Kalender."Das ist's eben, was ich nicht begreife. So viel ist klar,
daß er in Ungnade gefallen seyn muß, und daß er nur hier
ist — um im Verborgnen zu leben."Ob der Kalender Alhafi, mein alter Camerad, etwas Näheres
wissen mag? Vielleicht kann uns der Licht in der Sache geben.Indem sie so mit einander sprachen —(sie waren auf dem
Rückwege nach Feriduns Wohnung) — stießen sie auf den
ältern Kalender, der sie überall gesucht hatte, um ihnen einen
Wink über den bösen Willen zu geben, welchen Danischmend
gegen sie geäußert hatte. Die Devedassi bezahlt ihn dafür
durch Mittheilung Alles dessen, was sie von Danischmend
wußte und gehört hatte.Ah! nun begreif' ich, warum der Mann sich so wichtig
macht und aus einem so hohen Tone spricht, sagte der Kalender.
Aber bist du auch gewiß, schöne Narissa, daß der
Mann, den du bei dem Korbmacher Kassim gesehen hast,
wirklich eben derselbe ist, den du vor fünf Jahren als Itimadulet
zu Dehly gesehen zu haben glaubst?Narissa schwor ihm bei der großen Pagode zu Jagrenat,
sie irre sich nicht, und es sey schon damals, da sie ihn zu
Dehly gesehen habe, laut davon gesprochen worden, es werde
nicht lange mehr mit ihm währen. Er sey, sagte sie, seiner
Grausamkeit wegen allgemein verhaßt gewesen. Unter andern
habe man ihn auch beschuldiget, er gehe damit um, alle
Bonzen und Braminen in Indien auszurotten und eine
Empörung gegen Schach-Gebal dadurch zu veranlassen, um
bei dieser Gelegenheit im Trüben zu fischen und sich des
Thrones und der schönen Nurmahal zu bemächtigen, deren
geheimer Liebhaber er schon lange gewesen sey.Treffliche Nachrichten, sagte der Kalender, wovon sich bei
Gelegenheit guter Gebrauch machen lassen wird! Er ist zwar
hier eben so allgemein geliebt, als er zu Dehly, wie du sagst,
allgemein verhaßt war; denn die Leutchen in Jemal sind
gute, einfältige Schafe, mit denen man macht, was man
will: aber das Blatt wird sich bald wenden, wenn sie merken,
daß es mit seinen Tugenden und weisen Sprüchen nur darauf
angelegt ist, den Herren unter ihnen zu spielen. Ich
werde fortfahren, ihn genau zu beobachten, und euch von
Allem benachrichtigen, was er gegen euch im Schilde führt.Der Kalender (den wir künftig, zum Unterschied von seinem
Ordensbruder Alfaladdin, mit seinem eigenen Namen
Hakim-Alhafi oder Alhafi schlechtweg nennen wollen) war
unter diesen Reden mit der Devedassi und ihrer Gesellschaft
auf ihrem Wege nach Hause schon so weit fortgeschleudert,
daß Feridun ihn einlud, sie vollends in ihr Dorf zu begleiten
und ein Schlafkämmerchen in seiner Wohnung anzunehmen;
eine Einladung, die dem alten Fuchs um so willkommener
war, da er dadurch Gelegenheit bekam, die schöne Narissa
und ihren vorgeblichen Bruder in der Nähe zu beobachten
und sich in der Vermuthung zu bestätigen, daß die bedeutenden
Blicke, die sie einander verstohlner Weise zuwarfen,
und die einem so schalksäugigen Späher nicht unbemerkt
bleiben konnten, ein geheimes Verständniß anzeigten, welchem
ein ganz anderes Verhältniß zum Grunde liege, als Bruder
und Schwester.Es vergingen auch kaum acht Tage, so hatte er seine
Maßregeln so gut genommen, daß er den Sänger Alfaladdin
und seine talentreiche Schwester in einer dicht bewachsnen
Felsenhöhle, wohin sie sich, um ungestört zu seyn, zurückgezogen
hatten, bei einem Duett überraschte, welches ihn, seiner
Meinung nach, berechtigte, den dritten Mann dabei
abzugeben.Weder die schöne Narissa noch ihr Singmeister waren
Leute, die gegen einen solchen Vorschlag zur Güte etwas
Gültiges einzuwenden hatten: und wiewohl der demüthige
Alfaladdin sich entschließen mußte, seinen Platz für dieß Mal
an einen ihm in jeder Betrachtung überlegenen Meister abzutreten;
so diente doch der Vorfall nur, diese drei würdigen
Personen unter einander (soweit es mit eines jeden eigenem
Vortheil bestehen konnte) gegen Alle, die ihren löblichen Absichten
und Unternehmungen im Lichte standen, desto enger
und fester zusammen zu ketten.—————
Siebenunddreißigstes Capitel.Der alte Kalender trennt sich bon Danischmend. Bewegungen, welche die
Erscheinung der Bayadere in Jemal verursachte, nebst den Folgen, die
für Danischmend daraus entstehen, und einer traulichen Unterredung
zwischen ihm und Perisadeh.Wenn uns der Kalender Alhafi in einer immer hassenswürdigern
Gestalt erscheint, so überrascht er doch hoffentlich
keinen unsrer Leser dadurch; denn es ist bloß seine eigene;
und so wie er sich bisher in Worten und Werken dargestellt
hat, kann er schwerlich eine Schelmerei oder einen Schurkenstreich
begehen, die man ihm nicht mit bestem Fug hätte
zutrauen dürfen. Wir müssen gestehen, sein Betragen gegen
Danischmend ist schwarz; aber Dankbarkeit war so wenig
seine Sache, als irgend eine andere Tugend, und auch nur
den bloßen Schein von Gutherzigkeit anzunehmen, erlaubte
er sich nur dann, wenn es ein Mittel zu einem Endzweck
war, wobei Niemand als er selbst in Betrachtung kam.Diese Entdeckung hatte Danischmend seit einiger Zeit an
ihm zu machen angefangen; aber eine so reine Seele, wie
Perisadeh, konnte sich von einem solchen Charakter keine Vorstellung
machen und begriff seine Möglichkeit auch dann noch
nicht, wenn sie an seiner Wirklichkeit nicht länger zweifeln
konnte.Da sie sich seit einiger Zeit gewöhnt hatte, diesen Menschen,
wegen seiner gefälligen Art, sich mit ihren Kindern
abzugeben, in einem viel mildern Licht als anfangs zu betrachten;
so war es ihr beinahe leid, als er (einige Tage
nach seinem kleinen Abenteuer mit der schönen Narissa) zu
Danischmenden kam und unter sehr wortreichen Versicherungen
seiner Dankbarkeit und Ergebenheit gegen ihn um die
Erlaubniß bat, einen Wohlthäter, dem er nur zu lange lästig
gewesen sey, zu erleichtern und zu seinem Freunde Feridun
zu ziehen, der ihn darum gebeten habe, weil er und sein
Camerad Alfaladdin ihm bei einer gewissen Unternehmung,
die er zu großem Vortheil der Jemaler auszuführen entschlossen
sey, nützliche Dienste leisten könnten.Danischmend hatte lange nichts so Angenehmes gehört, als
die Nachricht, daß er so unverhofft, und ohne daß die Veranlassung
von ihm selbst herkam, eines Gastes los werden sollte,
der ihm mit jedem Tage unerträglicher wurde. Nichts von
Dankbarkeit, Freund Kalender, sagte er: ich verlange keine
von dir und habe auf keine gerechnet. Was du mir schuldig
zu seyn glauben könntest, ist schon lange durch das Vergnügen,
das ich an deinem Umgang fand, bezahlt. Wir scheiden
als gute Freunde und bleiben nahe genug beisammen, um
uns so oft zu sehen, als du Lust haben wirst. Du glaubst einem
andern meiner Mitbürger nützlich seyn zu können; desto besser!
Aber darf man fragen, was für eine unserm Volke so vortheilhafte
Unternehmung es ist, welche Feridun mit dem
Beistand zweier Kalender auszuführen gedenkt?Die Sache brauchte gerade kein Geheimniß zu seyn, sagte
der Kalender mit dem ihm eigenen schelmisch lachenden
Blicke: denn im Grunde ist es etwas, das die meisten
Frauen in Jemal und folglich unfehlbar auch die meisten
Männer ungeduldig wünschen. Indessen weiß ich nicht,
warum Feridun gern sähe, daß noch nicht davon gesprochen
würde, und weil ich ihm mein Wort gegeben habe, so —Verlange ich nichts mehr davon von dir zu hören, Kalender,
fiel ihm Danischmend ins Wort: also, da dir deine
Zeit vermuthlich kostbar seyn wird, lebe wohl, und meinen
Gruß an Feridun!Ein Kalender gehört bekanntermaßen zu der Gattung
von Weisen, die alles Ihrige immer mit sich führen. Der
Alte hatte also seinen Bündel in wenig Augenblicken geschnürt
und zog, nachdem er sich von Perisadeh und Danischmenden
die Erlaubniß, sie fleißig zu besuchen, nochmals ausgebeten,
zu großer Freude des letztern in der nämlichen Viertelstunde
ab. —Da geht ein schlimmerer Bube von uns weg, als du
dir vorstellen kannst, Perisadeh, sagte er, indem er dem Kalender
nachsah: hurtig! Liebe, laß das ganze Haus mit neuen
Besen auskehren, damit es, wo möglich, auch nicht durch
ein einziges Stäubchen von seinen Füßen länger verunreiniget
werde.Aber was für eine Unternehmung kann denn das seyn,
wobei Feridun die Kalender gebrauchen will? sagte Perisadeh."Ich denke, ich bin auf der Spur. Hörtest du nicht, wie
der Schalk sagte, es sey etwas, das unsre meisten Frauen
wünschen? Du kommt so wenig aus dem Hause, meine
Liebe, und bekümmerst dich so wenig um Alles, was nicht
im Kreise deiner Pflichten liegt, daß du vermuthlich nicht
weißt, was für einen Aufruhr die schimmernden Brocate und
die feinen Spinnenweben der Bayadere, die sich der alberne
Feridun zu Kischmir geholt hat, in den Köpfchen und Herzchen
unserer armen Weiblein erregt haben. Es ist ein Jammer
zu sehen, mit welchen weit offenen Augen und hoch empor
schlagenden Herzen sie ihr, wenn sie in ihrem Prunk dahin
flattert, so weit sie können, nachschauen, und mit welchem
Mitleiden mit sich selbst sie dann ihren gedemüthigten Blick
auf ihre eigene ländliche kunstlose Kleidung fallen lassen, die
ihnen nun so armselig vorkommt, daß sie sich schämen, in
einem Anzuge, dessen größte Schönheit bloß die Reinlichkeit
ist, neben ihr gesehen zu werden. Am Ende, sagen sie, ist
sie doch nur unsers Gleichen; warum soll sie so viel vor uns
voraus haben? Kurz, meine Liebe, es gibt, wie ich fürchte,
nur eine Perisadeh in den Thalern von Jemal; denn es
soll bereits eine ausgemachte Sache unter deinen bethörten
Mitschwestern seyn, daß man schlechterdings nicht länger so
ärmlich gekleidet seyn könne, wie bisher. Alles, was unsre
Alten dagegen sagen, hilft nichts: die jungen Männer (besonders
die, welche die schönsten Weiber haben) sind alle auf
der Seite der Frauen, und die ältern müssen nachgeben,
wenn sie Ruhe haben und nicht auf alle Freuden des Lebens
Verzicht thun wollen. Die große Frage ist also nur noch,
wie es anzufangen sey, das gerechte Verlangen der schönen
Jemalerinnen auf eine Art zu befriedigen, die mit der Armuth
unsers Ländchens an Gold und Silber bestehen könne. Nun
mußt du wissen, daß Feridun, der bisher immer für den
reichsten Mann in Jemal gehalten wurde, eine sehr große
Begierde, noch reicher zu werden, aus der Hauptstadt mitgebracht
hat und jetzt, wie es scheint, die Thorheit unsrer
Leute dazu benutzen will. Er hat also mit Hülfe unsers
Kalenders, der seit Kurzem ungewöhnlich geschäftig ist, den
Plan gemacht, in Verbindung mit etlichen andern von unsern
vermögendsten Landeigenthümern einen großen Handel mit den
Producten unsers Bodens nach gewissen benachbarten Provinzen
anzufangen und vermuthlich dafür die Waaren einzutauschen,
die nun, seit jener unseligen Reise nach Kischmir,
unentbehrliche Bedürfnisse für Jemal geworden sind. Dieß,
liebe Perisadeh, ist Alles, was ich, ungeachtet Feridun und
sein Anhang so geheim mit ihren Anschlägen thun, bisher
davon habe heraus bringen können, und leider! ist es schon
mehr als zu viel, um mich zu überzeugen, daß unsre Stunde
gekommen ist, und daß wir hohe Zeit haben, auf unsern Abzug
zu denken.Und wohin, lieber Mann? sagte Perisadeh, die über diesen
unvermutheten Schlußsatz nicht wenig erschrak, aber sich mit einer
ihr eigenen Stärke der Seele sogleich wieder zusammen faßte."Wohin? — Wohin, meine Liebe, das ist eine Frage,
die ich mir selbst noch nicht beantworten kann. — Wir bedürfen
nur eines so kleinen Plätzchens auf dem Erdboden,
und gewiß, es wird sich finden! Ich habe immer einen guten
Genius gehabt, und nun hab' ich den deinigen noch dazu."Und diese armen Kleinen haben gewiß auch den ihrigen,
sagte Perisadeh, indem sie mit einer großen Thräne in jedem
ihrer schönen Augen auf ihre Kinder zeigte."Ganz gewiß, meine Beste!" erwiederte er, indem er
eines ums andere aufhob, in seine Arme drückte und küßte.Aber sollt' es denn wirklich so weit gekommen seyn, daß
so gute harmlose Menschen, wie wir sind, nicht länger in
Jemal leben könnten? fing Perisadeh wieder an."Ich habe alle Ursache, es zu fürchten. Diese Suratische
Tänzerin ist zur unglücklichen Stunde für Jemal hierher gekommen;
und der alte Kalender, dessen Herz ich einst thörichter
Weise für besser hielt, als seinen Kopf, ist, wie gesagt,
ein böser, ein sehr böser Bube! — Höre, liebes Weib,
was ich dir nicht länger verbergen kann. Die Unschuld, die
Einfalt, die Eintracht, das stille, unbeneidete und doch so
neidenswerte Glück des Volks, unter dem du geboren bist,
ist auf ewig dahin. Die Folgen der Uebel, welche mit den
Fakirn und Kalendern, mit dem Lingam und der Pagodentänzerin
über uns kamen, sind eben so unheilbar als
unübersehlich. Vielleicht wäre zu helfen gewesen, wenn ich
noch, wie ehemals, die Zuneigung und das Vertrauen
deines Volkes hätte. Aber auch dieß ist verloren und,
wie ich nun gewiß bin, auf immer verloren! Die Tänzerin
weiß um mein Geheimniß; denn sie will mich in den
Tagen meiner eben so schnell verschwundenen als entstandenen
Größe zu Dehly gesehen haben. Sie hat dieß in der
Stille durch die beiden Kalender, die sie sich gänzlich zu eigen
gemacht hat, überall unter das Volk gebracht; aber die
Elende begnügte sich daran nicht; sie hat auch die häßlichsten
Lügen (der Himmel weiß aus welcher giftigen Quelle!) zu
meinem Nachtheil verbreitet; und dieser Kalender, diese
Schlange, die ich in meinem Busen wärmte, gibt sich mit
seinem verächtlichen Ordensbruder seit mehreren Tagen alle mögliche
Mühe, mich unserm einfältigen und leichtgläubigen Völkchen
als einen Ehrgeizigen abzuschildern, der zu Befriedigung
seiner herrschenden Leidenschaft Alles zu thun fähig ist. Sie
haben mich der abscheulichsten Verbrechen bezüchtiget und aus
der Geschichte meiner Erhebung und meines Falls ein schändliches
Mährchen gemacht, woran kein wahres Wort ist, und
welchem sie dennoch Eingang bei den schwachsinnigen Jemalern
zu verschaffen gewußt haben. Ich lese die Folgen dieser
giftigen Verleumdungen in allen Augen. Ich kann nichts
Gutes mehr unter deinem Volke wirken, weil ich sein Zutrauen
verloren habe. Noch gestern, da ich den Aeltesten
die Nothwendigkeit vorstellte, sich den Anschlägen Feriduns
und seiner Anhänger in Zeiten mit Ernst zu widersetzen,
wurde ich mit der auffallendsten Kälte angehört; ich sah nur
zu deutlich, daß die Verlegenheit, wie und was sie mir
antworten sollten, einzig und allein aus dem Argwohn entstehen
konnte, daß ich sie vielleicht aus geheimen Absichten zu falschen
Maßregeln verführen wolle: und da ich mit der größten
Wärme darauf bestand, daß die heillose Narissa unverzüglich
aus Jemal entfernt oder wenigstens nach unsrer
Weise zu leben genöthigt werden müsse; so fanden sie sich
durch meine Hitze beleidigt und sagten mir ins Gesicht, es
käme mir gar nicht zu, mich in die öffentlichen Angelegenheiten
zu mischen, und sie würden sich von mir zu keinen
gewaltsamen Schritten verleiten lassen."Ist's möglich? rief Perisadeh: du, der sonst so allgemein
geliebt und geehrt war, solltest durch so verächtliche Geschöpfe
in so kurzer Zeit alle deine Freunde verloren haben?"Das nicht, Perisadeh; so weit ist es noch nicht gekommen:
aber das Uebel nimmt alle Tage zu. Die meisten sind
irre an mir gemacht, sie wissen nicht, was sie denken sollen,
und gehen unvermerkt, indem sie einander ihre Zweifel mittheilen,
vom Zweifeln zum Glauben über. Ich habe noch
Freunde; aber ihre Zahl nimmt täglich ab. Und warum, da
der Aufenthalt in Jemal nun einmal allen Reiz für mich
verloren hat, da er mir in der Folge ganz unerträglich werden
müßte, warum, liebstes Weib, sollt' ich nicht lieber so
bald als möglich auf meinen Rückzug bedacht seyn? — Aber
ich muß dir noch etwas sagen, Perisadeh. Der Kalender
Alhafi geht aller Wahrscheinlichkeit nach mit irgend einem
Bubenstück um, das noch im Abgrund seines tief verdorbenen
Herzens verborgen liegt. Was es ist, mag der Himmel
wissen! Aber die große Geschäftigkeit, womit er sich in alle
die Dinge, die uns seit Kurzem in Verwirrung gesetzt haben,
einmischt — sein unstätes Herumtreiben — sein vertrauter
Zusammenhang mit der Tänzerin — seine boshafte Bemühung,
die zu meinem Nachtheil ausgedienten Verleumdungen,
selbst indem er sie zu bestreiten scheint, zu verbreiten
und lebendig zu erhalten — Alles dieß versichert mich,
daß etwas noch Schlimmeres, als ich ihm ehemals zutraute,
in seiner schwarzen Seele brütet. Was kümmert's ihn, ob
unsre Weiber in gröberen oder feineren Mousselin, in Seide
oder Wolle gekleidet sind? Es muß etwas Wichtigeres für
ihn selbst seyn, was ihn so schnell aus einem bloßen Zuschauer
in eine so eifrig handelnde Person verwandelt hat. Daß er
sich alle Mühe gibt, das Wasser trübe zu machen, sehe ich
wohl; aber, was er fangen will, ist mir noch ein Räthsel.
Ich habe noch ein paar zuverlässige Freunde, die ihn, ohne
daß er einigen Verdacht in sie setzt, auf allen Tritten und
Schritte beobachten: aber, ach! Perisadeh, schon der bloße
Gedanke, daß ich in diesem stillen, noch vor Kurzem so paradiesischen
Jemal, wo ich meine Tage in seliger Verborgenheit
auszuleben hoffte, meiner Sicherheit wegen zu solchen Mitteln
gebracht seyn soll, vergiftet die Luft, die ich hier athme.
Von jeher ist mir Alles, was einer Intrigue gleich sieht, tödtlich
verhaßt gewesen. Hätte ich die Rolle spielen wollen,
wozu dieser verwünschte Kalender mich hier nöthigen würde,
wenn ich ihm den Sieg streitig machen wollte, so könnte ich
noch immer Itimadulet zu Dehly seyn. Aber, unter Menschen
zu leben, vor denen ich immer auf meiner Hut seyn
muß, die mich verkennen, und die ich nicht zu kennen scheinen
muß, von Mißtrauen, Argwohn, falschen Freunden,
heimlichen Laurern und lächelnden Verräthern umgeben
zu seyn und ein schales Daseyn durch immerwährende Verstellung
erschleichen oder durch ewigen Krieg mit offenbaren
und verborgenen Feinden erkämpfen zu müssen, ein solches
Leben ist für mich die Hölle."Gott bewahre dich und mich vor einem solchen Leben! rief
Perisadeh: lieber will ich meine Kinder, diesen rothbackigen
Jungen auf den einen und diesen kleinen Engel mit seiner
Schwester auf den andern Arm nehmen — (und indem sie
dieß sagte, that sie es auch)—und mit dir so lange in der
weiten Welt herum irren, bis wir einen Winkel finden, wo
man uns ungestört durch uns selber glücklich seyn läßt.Braves Weib! rief Danischmend, indem er seine Arme
um sie und seine Kinder schlang: in diesem Cirkel ist alles
Glück, was ich vom Himmel verlangte, eingeschlossen, und
nun hab' ich nichts mehr zu begehren, als daß er mich's in
Friede genießen lasse! — Gute Perisadeh, diese Entschlossenheit,
diesen Muth traute ich dir zu; ich wußte so gewiß,
als ich meines Daseyns mir bewußt bin, daß ich mich nicht
an dir irren könne; und doch hast du in diesem Augenblick
eine so selige Ruhe, einen so herzstärkenden Balsam in meine
Seele gegossen, als ob es eine Möglichkeit gewesen wäre, daß
ich dir zu viel zutrauen könnte.—————
Achtunddreißigstes Capitel.Worin sich die Absichten und Entwürfe des alten Kalenders völlig
entwickeln.Danischmend hatte alle Umstände, die ihm von den Absichten
und Entwürfen Feriduns und seiner Mitverschwornen
bekannt worden waren, sehr richtig zusammengeknüpft: aber er
that wohl, noch mehr Böses von ihnen zu erwarten, als er
wissen konnte.Im Grunde waren alle diese Menschen, Feridun, Narissa,
Alfaladdin und die ganze Schaar von Gänschen und Gimpeln,
die sie mit der Lockpfeife einer kindischen Eitelkeit um
sich her versammelt hatten, bloße Werkzeuge zu Ausführung
eines geheimen Plans, dessen Fäden der schlaue alte Kalender
in seiner Hand hielt.Dieser egoistische Bube hatte bei aller seiner anscheinenden
Kälte eine Leidenschaft, die ihn so gänzlich beherrschte,
daß sie eben darum den Namen einer Leidenschaft nur uneigentlich
führen kann; denn sie war die Seele alles seines
Thun und Lassens: nämlich einen entschiedenen Hang zum
Müßiggang, zum Wohlleben und zur ungebundensten Befriedigung
jedes thierischen Triebes. Auf allen seinen Wanderungen
hatte er keinen Ort gefunden, wo er diesen Hang
bequemer zu befriedigen hoffen konnte, als das Ländchen
Jemal. Aber zwei Dinge standen hier seinen Wünschen im
Wege; die Unschuld der Einwohner und seine eigene Abhängigkeit
von Danischmend, einem Manne, der, bei der größten
Cultur, das Herz eines Kindes hatte und die Unverdorbenheit
der Sitten in Jemal als den Talisman anzusehen schien, auf
welchem seine ganze Glückseligkeit beruhe.Kaum war er also in dem gastfreien Hause dieses guten
Mannes recht erwärmt, so ging all sein Dichten und Trachten
darauf, wie er diesen Talisman zerbrechen und, indem
er sich von Danischmend unabhängig machte, sich zugleich
in eine Lage setzen wollte, worin er seiner vorbesagten Leidenschaft
ungehemmt den Zügel lassen könnte.Dazu zeigte sich nun anfangs wenig Hoffnung: aber, als
ein Zufall, auf den er nicht hatte rechnen dürfen, ihm die
Fakirn mit ihrem Lingam zu Hülfe schickte, nahm er es als
ein Zeichen von günstiger Vorbedeutung auf und ermangelte
nicht, die Risse, die der Lingam in den Sitten der Jemaler
gemacht hatte, mit desto größerem Eifer zu erweitern, da er
sich nun völlig überzeugt hatte, daß die Unschuld dieser
Menschen bloß in ihrer Unwissenheit bestehe.Als Feridun auf sein Anstiften nach Kischmir ging, um
sich eine neue Frau zu holen, vergaß er nicht, ihm, unter
andern sehenswürdigen Dingen der Hauptstadt, mit der größten
Wärme von den Reizungen der Bayaderen zu sprechen;
nicht zweifelnd, daß die erste beste, die ihm in die Augen
stäche, wenig Kunstgriffe nöthig haben würde, einen so unerfahrenen
Sohn der Natur in ihr Garn zu ziehen. Er hatte
sehr gut berechnet, was eine einzige Pagodentänzerin für
Unheil in Jemal anrichten könnte, und wartete mit Ungeduld
auf den Erfolg, ohne eben genau voraus zu sehen,
um wie viel er seinem letzten Ziele dadurch näher kommen
würde.Die beste Art, Entwürfe zu machen und aufzuführen, ist
immer, auf den Fingerzeig des Zufalls Acht zu geben, nichts
zu übereilen noch zu erzwingen, vieles unbestimmt zu lassen, aber
mit unverwandter Aufmerksamkeit jeden neuen Umstand, der ein
Mittel zu unserm Zwecke werden kann, auf der Stelle zu benutzen.Als Feridun mit Narissa und dem Kalender Alfaladdin
zurück gekommen war, sah Hakim-Alhafi auf den ersten
Blick, wie viel mit solchen Gehülfen auszurichten sey. Narissa
war eitel, wollüstig und habsüchtig; der Sänger Alfaladdin
besaß, außer seinem Talent, welches in Jemal viel werth
war, eine Geschmeidigkeit, die ihn zu einem trefflichen Unterhändler
und Kundschafter machte; Feridun, der zu Kischmir
gelernt hatte, daß er mit allem seinem Jemalischen
Reichthum nur ein armer Wicht sey, war bereit, sein Herz
mit dem Manne zu theilen, der ihm einen bequemen Weg,
reicher zu werden, zeigte; denn er liebte Gemächlichkeit und
Vergnügen wenigstens eben so sehr, als Reichthum, oder
vielmehr, er liebte den letztern nur, weil man ihn ohne große
Mühe in Vergnügen umsetzen kann.Mit solchen Gehülfen war der Kalender, wie gesagt, des
Erfolgs seiner Anschläge gegen die Sitten der Jemaler versichert;
und, was für ihn selbst das Wichtigste dabei war,
durch eben die Mittel, wodurch er diese zerstörte, erwarb er
sich in Feridun einen Freund, der nicht durch bloße Laune,
wie Danischmend, sondern durch das stärkste aller Bande,
den Eigennutz, mit ihm zusammenhing.Zu dieser Ende nun entwarf er nicht nur den Handlungsplan,
dessen Danischmend erwähnte, sondern, um auch den
größern und ärmern Theil des Volkes zufrieden zu stellen,
den Plan einer Manufactur, welche zum Behuf der letztern
in Jemal angelegt werden sollte; ein Unternehmen, das sich
durch einen Schein von Gemeinnützigkeit empfahl und für
die Absichten des Kalenders die fruchtbarsten Folgen versprach.Welch ein Triumph für den gefühllosen Erfinder dieser
so einfachen Werkzeuge, das Glück der Jemaler zu zerstören
oder (wie er die Sache ausdrückte) eine Heerde roher, ungebildeter
Halbthiere durch Cultur der Menschen zu veredeln,
—welch ein Triumph, wenn er sich die schnelle Umwandlung
dieses Ländchens in ihrem ganzen Umfange als sein Werk
vorstellte! Und wie reichlich sah er sich im Geiste für seine
Mühe, diesen Menschen so viele neue Bedürfnisse und Leidenschaften
zu geben, durch den Gedanken belohnt, daß alle
diese Bedürfnisse und Leidenschaften durch seine Veranstaltungen
in Kurzem eben so viele Mittel, die seinigen zu
vergnügen, werden müßten!Aber Allem diesem stand ein einziges Hinderniß im Wege,
welches, wofern seine schönen Entwürfe nicht zu Luftschlössern
werden sollten, schlechterdings weggeschafft werden mußte;
und dieß war —Danischmend, der sich ihnen mit allen seinen
Kräften widersetzte; Danischmend, den sein Ansehen unter
diesem Volke allvermögend machte, der von den jüngsten bis
zu den ältesten wie ein Vater, Bruder und Sohn geliebt
wurde. Wie konnte er hoffen, ein solches Ansehen niederzuwiegen,
eine solche Liebe zu vernichten? Was für einen
langen Weg, was für mühsame und gefährliche Versuche,
den Einfluß dieses Mannes nach und nach zu schwächen,
ersparte ihm nun der Zufall abermal, als ihm Narissa durch
ihre Nachrichten von Danischmends ehemaligem Stande so
unerwartet ein Mittel in die Hand gab, das, was er kaum
in acht Jahren zu bewerkstelligen hoffen konnte, in eben so
viel Tagen zu Stande zu bringen!Nun hat die Verleumdung freien Raum und gewonnen
Spiel; Danischmend verlor mit dem Zutrauen der Jemaler,
mit ihrem Glauben an die Redlichkeit und Güte seines Herzens
alle seine Gewalt über sie, alles Vermögen, sich den
Entwürfen des Kalenders mit Erfolg zu widersetzen, allen
Schutz, den er bei ihnen gegen diejenigen gefunden haben
würde, die man nun zu seinem eigenen Untergang anlegen
konnte.Dieses Letztere war, aus einer ganz schlichten Ursache, das
Lieblingsproject des planvollen Kalenders. Danischmend besaß
nämlich, wie wir wissen, ein ganz artiges Landeigenthum,
auf dessen Ankauf, Verbesserung und Verschönerung er mehr
als die Hälfte der Summe, die ihm Schach-Gebal bei ihrem
Abschied auszahlen ließ, verwendet hatte. Nun begnügte sich
zwar der Kalender seit geraumer Zeit, den Genuß desselben
mit dem edelmüthigen Danischmend zu theilen, und im Nothfall
würde er auch wohl für sein ganzes Leben mit dieser
Theilung zufrieden gewesen seyn: aber, seitdem er eine Möglichkeit
sah, ohne sonderliche Mühe zum Besitz des Ganzen
zu gelangen, konnte er sich eine so große Selbstverläugnung
nicht länger zumuthen.So wie er Danischmenden kannte, zweifelte er nicht, daß
ihm ein längerer Aufenthalt in Jemal bald genug unerträglich
werden müßte. Aber die Auflösung der Frage, wie er
es anfangen müßte, um sich die Besitzungen seines ehemaligen
Freundes auch wider dessen Willen zuzueignen, hatte
noch manche Schwierigkeiten, und er schwankte ungewiß
zwischen den verschiedenen Wegen, die sich ihm dazu anzubieten
schienen, hin und her; als sein Schutzgott, der Zufall,
ihn abermal aus der Verlegenheit zog und ihm zu völliger
Ausbildung eines Einfalls verhalf, der ihn am sichersten zum
Ziele zu führen schien.Der geliebte Freund, welchen der Kalender Alfaladdin bei
seiner Abreise von Kischmir im Stockhause zurück gelassen
hatte, war kein anderer, als Sinan, der Liedermacher, der
dritte von den drei Kalendern, von welchen in dieser Geschichte
schon so oft die Rede war. Die Mausereien, die ihm
diese Demüthigung zugezogen hatten, waren nicht erheblich
genug, um nicht mit fünfzig Streichen auf die Fußsohlen
hinlänglich belohnt zu seyn. Der Kadi war so billig, ihn
nicht lange darauf warten zu lassen, und erließ ihm sogar,
aus Achtung für seine Kalenderschaft, die Hälfte, so daß
der arme Sinan mit fünf und zwanzig Fußprügeln noch
leidlich genug davon kam. Zum Glücke hatte er kurz vor
seiner Verhaftung von seinem Cameraden die Liebesgeschichte
der schönen Narissa mit dem reichen Landmann aus Jemal
erfahren und nicht vergessen, sich nach der Lage dieser Thäler
und dem nächsten Wege, der dahin führte, zu erkundigen.
Kaum hatte er also, mit Hülfe einer mitleidigen alten Frau
(um welche er sich durch Mittheilung des Recepts zu einem
wunderthätigen Schönheitswasser verdient gemacht hatte), den
freien Gebrauch seiner Fußsohlen wieder erhalten: so gürtete
er ohne Aufschub seine Lenden und langte nach einer beschwerlichen
Wanderschaft, zu großer Freude seiner Cameraden,
unvermuthet in Jemal an.Da man von Einem, der aus der Hauptstadt kommt,
immer etwas Neues erwartet, so ermangelte Sinan nicht,
seine alten und neuen Freunde mit Allem, was er Merkwürdiges
wußte, zu reguliren, und so erzählte er denn auch
unter Anderem, daß der Sultan von Kischmir im Begriff
sey, eine Gesandtschaft mit sehr reichen Geschenken an Schach-Gebal
und die Großen des Hofes zu Dehly abzuschicken, in
der Absicht, die Ungnade, welche dieser Kaiser auf Anstiften
einiger Mißvergnügten auf ihn geworfen, und die scharfe
Untersuchung seiner Regimentsverwaltung, womit er bedrohet
worden, dadurch abzuwenden. Denn der König von Kischmir
war einer von den vielen kleinen Fürsten, die dem großen
Monarchen von Indostan zinsbar waren: und die ihm angedrohte
Untersuchung war eines von den gewöhnlichen Mitteln,
diese abhängigen Satrapen auszupressen, wenn sich die Schatzkammer
zu Dehly (wie unter Schach-Gebal öfters der Fall
war) durch die überhäuften Staatsbedürfnisse — des Hofes
in einem Zustande von Erschöpfung befand.Die Stirne des Kalenders Alhafi erheiterte sich zusehens
bei dieser Erzählung seiner redseligen Gesellen; denn Alhafi
war ein Mann von Genie, in dessen Erfindungskraft nur
ein einziger Funken zu fallen brauchte, um sie in volle
Flammen zu setzen. In wenig Augenblicken stand der ganze
Plan, über welchem er schon einige Tage gebrütet hatte,
ausgebildet und vollendet in seinem Kopfe da. Ein in Ungnade
gefallener Itimadulet, der sich verborgen in den abgelegenen
Thälern von Jemal aufhielt, sich dort einen Anhang zu
machen suchte und aus seinem erklärten Haß gegen die Sultane
und Priester kein Geheimniß machte, konnte keine
gleichgültige Person weder für den König von Kischmir, noch
für den Kaiser selbst seyn. Diesem war es vermuthlich angenehm,
einen Mißvergnügten, der durch sein Mitwissen
um die wichtigsten Geheimnisse des Hofes und des Staats
gefährlich werden konnte, wieder in seiner Gewalt zu haben;
jener mußte unter den gegenwärtigen Umständen eine solche
Gelegenheit, seinem Oberherren seine Treue zu beweisen,
mit beiden Händen ergreifen; und der Angeber konnte doch
wohl auf das unbedeutende Bauergütchen, das dem Fiscus
durch die Verhaftung des Besitzers anheim fiel, als eine
noch sehr mäßige Belohnung seines Diensteifers sichere
Rechnung machen?Alhafi wollte die Ausführung dieses schönen Plans keinem
Andern als sich selbst anvertrauen: aber Alfaladdin konnte
ihm dabei behülflich seyn; denn eine Bayadere von seiner
Bekanntschaft war die Geliebte des königlichen Mundkochs,
dessen Schwester die Lieblingssklavin der Favoritin des Sultans
von Kischmir war. Dem Feridun, der das Nähere von
diesem Geheimniß noch nicht zu wissen brauchte, wurde begreiflich
gemacht, daß diese Reise zu Ausführung ihrer Handlungsprojecte
nöthig sey.Alhafi versah sich mit so vielen Zeugnissen gegen Danischmend,
als er zu Beglaubigung seiner Anzeige dienlich fand,
und machte sich mit 1einem Gesellen und einer nachdrücklichen
Empfehlung von der schönen Narissa an die Geliebte des
Mundkochs, ihre Freundin, unverzüglich auf den Weg.—————
Neununddreißigstes Capitel.Wie Danischmend den Plan des alten Kalenders zu Wasser macht.Die Kalender waren kaum abgegangen, so erhielt Danischmend
in der nächsten Nacht von dem jungen Faruck, der
ihm besonders ergeben war und sich in Feriduns Hause angenehm
zu machen gewußt hatte, die Warnung, sich vor
einem Anschlag in Acht zu nehmen, der auf seine Person
gemünzt und wahrscheinlich der Hauptgegenstand der Reise
des Kalenders nach der Hauptstadt sey.Faruck, der die Bösewichter seit einiger Zeit so wenig als
möglich aus den Augen verlor, hatte Gelegenheit gefunden,
eine ihrer geheimen Unterredungen zu behörden, und, wiewohl
er nur einzelne Worte deutlich vernehmen konnte, so
viel herausgebracht, daß die Rede von Anstalten war, um
einen Verhaftsbefehl gegen Danischmend zu Kischmir auszuwirken.Nun ist es Zeit, sagte Danischmend zu Perisadeh; halte
dich bis übermorgen reisefertig. Unser guter Freund, der
Kalender, soll das Nest leer finden: aber, wenn er sich selbst
hinein zu setzen hofft, betrügt er sich gewaltig!Danischmend hatte, sowie er entschlossen war, Jemal zu
verlassen, einen Schenkungsbrief aufgesetzt, worin er seine
Wohnung mit den daran liegenden Gärten und Pflanzungen
dem jungen Faruck zum Eigenthum übergab, mit der Bedingung,
daß sein Nachbar und Lehrmeister Kassim und Frau
Zeineb, Perisadehs Freundin —solange sie den alten Sitten
von Jemal nicht ungetreu würde —lebenslänglich die Nutznießung
derselben haben sollten. In einem andern offenen
Briefe schenkte er alle seine übrigen Grundstücke der Gemeine,
deren Mitglied er zeither gewesen war, und den größten
Theil seiner fahrenden Habe vertheilte er unter einige Andere,
die etwas zu seinem und Perisadehs Andenken zu besitzen
würdig waren.Am folgenden Morgen berief er alle seine Freunde und
Nachbarn zu sich, machte ihnen seine Entschließung, Jemal
wieder zu verlassen, und die Verfügungen, die er wegen seiner
Besitzthümer getroffen habe, öffentlich bekannt, stellte ihnen
nochmals aufs beweglichste die Folgen jeder Abweichung von
ihrer bisherigen Lebensweise vor und warnte sie vor dem
Kalender Alhafi, den er auf seine Unkosten als einen heuchlerischen,
undankbaren, herrschsüchtigen, wollüstigen und für
allen Unterschied zwischen Recht und Unrecht unempfindlichen
Buben kennen gelernt habe, der, wofern sie ihn nicht bei
Zeiten über ihre Gränze schickten, nicht ruhen würde, bis er
die Unschuld, den Frieden und die glückliche Verfassung ihres
kleinen Volkes zerstört hätte.Sein Entschluß überraschte diese guten Leute so sehr, daß
sie eine ziemliche Weile wie angedonnert standen; allmählich
erhob sich eine Stimme nach der andern, die ihn bat, sie
nicht zu verlassen, und ihm Alles versprach, was er nur von
ihnen verlangen könnte. Die Bewegung der Gemüther wurde
immer lauter und allgemeiner und nahm so stark überhand,
daß er nöthig fand, sich wegzubegeben, nachdem er sie nochmals
versichert hatte, daß seine Abreise auf morgen festgesetzt
sey.Die Nachricht von dieser seltsamen Entschließung Danischmends
lief in wenig Stunden durch ganz Jemal. Feridun
und seine Freunde freuten sich, eines Mannes los zu werden,
der ihnen bei Allem, was sie zu unternehmen Lust
hatten, immer im Wege gestanden wäre. Manche sprachen
von ihm als einem launischen und räthselhaften Menschen,
an dem eben nicht viel verloren würde, und der ihnen, wenn
die von ihm herumlaufenden Gerüchte Grund hätten, noch
manchen Verdruß hätte zuziehen können. Nicht Wenige beklagten
seine Entfernung und verwünschten die Kalender
und die Tänzerin, denen sie die Schuld davon beimaßen.
Kurz, der Gesinnungen waren, wie es in solchen Fällen zu
gehen pflegt, mancherlei; aber Niemand ließ sich einfallen,
seine Abreise mit Gewalt hindern zu wollen.Mit dem Anbruch des nächsten Tages war schon Alles
reisefertig. Danischmend und Perisadeh bestiegen jedes seinen
eigenen Dromedar; an demjenigen, den die Mutter ritt,
waren die drei Kinder in besonders dazu eingerichteten Körben
befestigt; ihnen folgten zwei Kameele, mit zwei Mägden und
eben so viel jungen Sklaven beladen, und ein drittes, das
die unentbehrlichsten Geräthe und einen Vorrath von Lebensmitteln
trug. So zog die kleine Karavane aus, von ihren
weinenden Freunden und einer Menge Volks begleitet, die
aus Gutherzigkeit mitging, bis sie aus den engen Schlangenwegen
des Gebirges in die Ebene kamen. Perisadeh sah, so
lange sie konnte, mit großen Thränen im Auge nach den
friedlichen Wohnungen zurück, wo sie, bis auf diese wenigen
letzten Tage, so glücklich gewesen war, und die sie nun auf
immer verließ, ohne den Ort zu kennen, wo sie wieder Ruhe
finden sollte. Aber Danischmend hatte die Art, in dergleichen
kritischen Augenblicken, zumal wenn sie das Werk seiner
eigenen Entschließung waren, eine so fröhliche Laune zu
zeigen, daß es schwer war, nicht von ihr angesteckt zu
werden.Sobald sie also den letzten Abschied von ihren Nachbarn
und Bekannten genommen hatten, klärte sich auch Perisadehs
seelenvolles Gesicht nach und nach wieder auf, und das Bewußtseyn
der reinen Unschuld ihres Herzens, mit dem Gedanken,
daß Danischmend ihr, und sie Danischmenden Alles
ersetzte, machte sie so wohlgemuth, als ob sie nichts verloren
hätten und irgend einem großen Glück entgegenzögen.Nachdem sie sieben Tage so fortgereiset waren, langten sie
am achten in einer sehr anmuthigen Gegend auf der Gränze,
welche die Provinzen Lahor und Dehly scheidet, bei einem
Dorfe an, dessen Name uns gleichgültig seyn kann, aber
dessen Lage eine der freundlichsten und ruhigsten war, die
man sich wünschen konnte.Danischmend las es in Perisadehs angenehm gerührten
Augen, daß sie wieder in Jemal versetzt zu seyn glaubte. Er
ließ also still halten und sagte, indem er ihr von ihrem Laufer
steigen half: Hier, liebe Perisadeh, ist der Ort, den uns das
Schicksal, wie ich hoffe, zum Ruheplatz auf unserer Wanderschaft
bestimmt hat, wo wir uns unter diesen Palmen und
Platanen eine Hütte bauen und im Genuß der Natur,
unserer Liebe und unseres Herzens so glücklich zu seyn fortfahren
wollen, als wir es seit dem ersten Tage unserer Bekanntschaft
waren.In der That hatte er die Entscheidung seines neuen Aufenthaltes
nicht auf den Zufall ankommen lassen. Er kannte
diesen Ort schon lange und hatte seinen Weg absichtlich
dahin genommen. ,Aber er wollte erst gewiß seyn, ob es auch
Perisadeh da gefallen würde.Und so befand sich nun unser braver, biederherziger Freund
(denn einen Freund hat er sich doch hoffentlich in jedem
unserer Leser erworben) bereits in guter Sicherheit, ehe noch
der schelmische Kalender mit seinem erschlichenen Verhaftsbefehl
aus Kischmir zurückkam und zu seinem großen Verdruß
berichtet wurde, daß der Vogel ausgeflogen sey, und das
Nest, worin er sich so warm zu setzen gedachte, schon wieder
einen Herrn habe, den er so leicht nicht zu vertreiben hoffen
konnte.—————
Vierzigstes Capitel.Wie Danischmend sich in seinem neuen Aufenthalt einrichtet, und was für
Gelegenheit er bekommt, sich bei Schach-Gebal wieder in Erinnerung
zu bringen.Danischmend hatte von den zehntausend Bahamd'or, womit
ihn Schach-Gebal bei ihrer Trennung abgefunden, noch ungefähr
viertausend übrig. Er kaufte für einen Theil dieser Summe
ein kleines Bauergütchen, tauschte seine Kameele gegen etliche
Kühe und Ziegen um, grub, säete und pflanzte wieder wie
ehemals, und wenn er nichts Anderes zu thun hatte, flocht
er Körbe oder lehrte seine Kinder im Koran lesen. Perisadeh
die das große Talent besaß, sich leicht in Alles fügen zu
können, führte ihr Wirthschaftswesen hier im Kleinen eben
so gut und so frohen Muthes, wie ehemals im Größern,
und in weniger als drei Jahren wurde von ihrem Aufenthalt
in Jemal so selten und gleichgültig gesprochen, wie von einem
Traume.Die Menschen, unter welchen sie jetzt lebten, waren zwar
um einige Grade weiter in der Cultur, als die Jemaliter,
aber übrigens ein ganz gutartiges Volk. Sie bekannten sich
alle (bis auf einige wenige Feueranbeter oder Parsis, die
hier geduldet wurden) zum Koran; und also war schon der
grüne Turban, welchen Danischmend als ein Sprößling aus
der Familie des Propheten zu tragen berechtigt war, hinlänglich,
ihm Achtung unter ihnen zu verschaffen: aber, auch
ohne dieß, was für Unholde müßten sie gewesen seyn, wenn
sie so harmlose, Niemand überlästige und Jedermann wohlwollende
Wesen, wie Danischmend und seine kleine Familie
war, nicht hätten liebgewinnen sollen? Mit der Zeit fand er
sogar Gelegenheit, sich einige Verdienste um sie zu machen,
wovon wir, beliebter Kürze halber, nur ein paar Beispiele
anführen wollen.Die Gemeine, unter welcher er lebte, war seit mehreren
Jahren von einem Oberpachter der königlichen Einkünfte in
der Provinz über alle Gebühr gedrückt und unter nichtigen
Vorwänden mit verschiedenen neuen Abgaben belegt worden,
die ihnen, selbst bei geringen Bedürfnissen und bei der größten
Freigebigkeit der Natur, das Leben sehr erschwerten. Da
kein anderes Mittel, das sie versuche hatten, helfen wollte,
rieth ihnen Danischmend, sich unmittelbar an den Kaiser selbst
zu wenden, und erbot sich ihnen, die Bittschrift aufzusetzen.Schach-Gebal pflegte die Bittschriften, die ihm ein dazu
bestellter Minister täglich zu einer gesetzten Stunde vorlegen
mußte, selten selbst anzusehen; nur wenn er gerade ungewöhnlich
lange Weile hatte, geschah es auch wohl, daß er
sich hinsetzte und sie, mehr oder minder flüchtig, durchblätterte.
Glücklicher Weise war es an einem der langweiligsten
Morgen seines Lebens, daß ihm die Bittschrift der
besagten Gemeine vor die Augen kam. Die Schönheit der
Handschrift, die er zu kennen meinte, fiel ihm auf; er fing
an zu lesen und glaubte die Regierungsmaximen und die
ganze Vorstellungsart darin zu erkennen, womit ihm Danischmend
ehemals, als er ihm sein langes Mährchen von den
Königen in Scheschian vorerzählte, so manche Kurzweil gemacht
hatte.Sonderbar! murmelte der Sultan, indem er die ganze
Schrift von Anfang bis zu Ende mit einem Interesse durchlas,
das vermuthlich bloß aus dieser Erinnerung entsprang;
und ohne sich einen Augenblick zu bedenken, schrieb er eigenhändig
darunter, daß die Bitte gewährt sey, und befahl dem
Minister, die Ausfertigung auf der Stelle zu besorgen und sich
zugleich zu erkundigen, wer die Bittschrift aufgesetzt habe.Die Gemeine erhielt die königliche Befreiungsurkunde
noch eher, als sie gehofft hatte daß ihr Gesuch zu Dehly
angelangt sey, und betrachtete von diesem Augenblick an
unsern Mann als einen Wunderthäter, der einen besondern
Talisman haben müsse, die Herzen der Könige zu lenken:
aber von seinem Namen und Stande konnten sie keinen
andern Bericht erstatten, als, er sey ein Fremder, der vor
ungefähr vier Jahren mit einem jungen Weibe und drei
Kindern seine Wohnung bei ihnen aufgeschlagen habe, seiner
guten Gemüthsart und Sitten wegen allgemein beliebt sey
und sich Hassan-Beg nenne. Denn diesen Namen hatte
Danischmend seit seiner Entfernung aus Jemal angenommen,
um in einem Lande, wo sein eigener ziemlich allgemein bekannt
war, desto eher unentdeckt zu bleiben.Einige Jahre darauf ereignete sich ein anderer Fall, der
ihn dem Sultan abermals wieder ins Gedächtniß brachte.
Zwei sehr junge Gebern aus seinem Dorfe, Bruder und
Schwester, die nach ihrer Aeltern Tode auf einem kleinen
Gütchen beisammen lebten und ihre Wirthschaft fortsetzten,
so gut sie konnten, hatten einander von Kindheit an innigst
geliebt: die Gewohnheit, immer beisammen zu seyn, einerlei
Interesse und Wünsche zu haben und Freude und Leid mit
einander gleich zu theilen, war ihnen zur andern Natur
geworden, und sie konnten sich ganz und gar keinen Begriff
davon machen, wie sie ohne einander leben könnten.Da nun ihre Religion die Ehe zwischen Bruder und
Schwester nicht nur erlaubt, sondern sogar für besonders
heilig erklärt, so glaubten sie nicht besser thun zu können,
als wenn sie sich von einem ihrer Priester vermählen ließen.
Jedermann im Dorfe war den Kindern gut und hatte sein
Wohlgefallen an ihrer Liebe und an ihrer kleinen Wirthschaft;
denn ihre Sitten waren so rein, wie das heilige Feuer,
worin sie das Symbol der Urquelle des Lebens und der Liebe
verehrten. Der einzige Mollah des Ortes, der zugleich Jmam
und Kadi war, eiferte gräulich gegen diese blutschänderische
Liebe (wie er sie nach der Lehre des Korans zu nennen berechtigt
war) und gegen das schreckliche Aergerniß, das den
Gläubigen dadurch gegeben werde. Er ließ die armen Kinder
alle Arten von Verfolgungen erfahren und bestand darauf,
daß sie sich entweder auf ewig trennen oder aus der ganzen
Provinz verbannt werden müßten, in welchem Falle ihr Erbgut,
zur Strafe ihres frevelhaften Ungehorsams, dem Fiscus
anheim fallen würde. Alle Leute sagten einander ins Ohr,
der Mollah würde es wohl nicht so scharf mit den armen
Gebern nehmen, wenn ihr kleines Gut nicht wäre, das an
seinem großen lag und ihm so wohl anstand, daß er ihnen
schon lange zugesetzt hatte, es ihm um die Hälfte des Werthes
abzutreten. Jedermann hatte Mitleiden mit den unglücklichen
Geschwistern; aber der Mollah war ein reicher und
gewaltthätiger Mann, und Niemand wagte es, sich ihrer
gegen ihn anzunehmen.So will ich's thun, sagte Danischmend zu Perisadeh, da
sie mit einander von diesem Handel sprachen; und stehendes
Fußes ging er zu den Kindern und versprach ihnen, ihre
Sache zu der seinigen zu machen. Die Liebenden fielen ihm
mit Thränen des Dankes zu Füßen und sahen ihn als einen
Engel an, den Ormuzd zu ihrer Rettung gesandt habe; denn
da sie genöthigt waren, zwischen zwei Uebeln zu wählen,
hatten sie sich, in dem nämlichen Augenblicke, da er in ihre
Hütte trat, entschlossen, ihr väterliches Erbgut dem Mollah
preiszugeben und Arm in Arm mit einander ins Elend zu
wandern.Nein, beim großen Gott des Himmels und der Erde!
rief Danischmend, das sollt ihr nicht, oder es müßte keine
Gerechtigkeit noch Menschlichkeit mehr im Lande seyn. Stellt
eure Sache in meine Hände und zieht indessen, bis sie entschieden
ist, zu mir, wo ihr vor Gewalt und Nachstellung
sicher seyd. Er führte sie auch, nachdem er ihnen ihr Gütchen
zum Schein abgekauft hatte, auf der Stelle in seine Wohnung,
wo sie von Perisadeh wie ihre eigenen Kinder aufgenommen
wurden. Hierauf begab er sich zum Mollah, um
ihm zu erklären, daß er die Sache der jungen Gebern führen
würde; und, nachdem er alle seine Beredsamkeit vergebens
verschwendet hatte, den unbiegsamen Mann auf billige Gedanken
zu bringen, betrieb er den Proceß mit größtem Eifer
von einer Jnstanz zur andern, bis er endlich vor den Divan
des Sultans zur letzten Entscheidung kam.Danischmend wandte sich, um des Erfolgs desto gewisser
zu seyn, unter dem Namen Hassan-Beg abermal an den Sultan
selbst. Nachdem er Sr. Hoheit eine rührende Schilderung
von der Unschuld und Liebe der jungen Leute gemacht hatte,
behauptete er, daß es die grausamste Verletzung der Menschheitsrechte
seyn würde, diesen Handel nach einem andern
als nach dem Gesetze der Gebern zu entscheiden, welches
hierin zwar dem Koran, aber nicht dem Gesetze der Natur
widerspreche; denn diese kenne keinen Grund, warum die Ehe
zwischen Geschwistern an sich selbst unzulässig seyn sollte. Er
gestand zwar die Gültigkeit der besondern Ursachen, wodurch
andere Gesetzgeber sich bewogen gefunden hätten, diese Art
von Ehe durch ihre Gesetze zu verbieten; er bewies aber, daß
sie auf die Gebern nicht anwendbar wären. Da nun diese
seit undenklichen Zeiten in den Staaten Sr. Hoheit geduldet
würden und als gute Unterthanen ein Recht an seinen Schutz
hätten, so glaubte er sich an dem Herzen eines Monarchen,
der durch seine Gerechtigkeit dem ganzen Orient noch ehrwürdiger
sey, als durch die Furchtbarkeit seiner Macht, gröblich
zu versündigen, wenn er nicht der gewissen Hoffnung lebte,
daß seine Clienten unter den schirmenden Flügeln dieser
weltbekannten Gerechtigkeit gegen die Bedrückungen eines
unverständigen und nach ihrem kleinen Erbgut lüsternen
Mollahs um so gewisser Sicherheit finden würden, da dieser
ihr Widersacher, wie man zuverlässig wisse, einen Weg gefunden
habe, denjenigen, der diese Sache Sr. Hoheit im
Divan vortragen würde, auf seine Seite zu bringen.Schach-Gebal befand sich, als ihm diese Bittschrift übergeben
wurde, eben bei der Sultanin Nurmahal, in deren
Zimmer er mechanischer Weise gewohnt war einen Theil des
Morgens zuzubringen, ungeachtet sie seit einiger Zeit das
Unglück hatte, Se. Hoheit nie anders als in einer Laune
bei sich zu sehen, die es ihr schlechterdings unmöglich machte,
etwas zu sagen oder zu thun, das ihm Kurzweile gemacht
hätte. Da ihm in einer solchen Stimmung jede andere
Unterhaltung willkommen war, so erbrach er die Bittschrift,
setzte sich der schönen Nurmahal gegenüber und fing an zu
lesen. Aber, rief er aus, da haben wir ja unsern Hassan-Beg
wieder! Laß doch sehen, was er vorzubringen hat! —
In der That, ein seltsamer Fall, sagte der Sultan, da er
mit dem Vorlesen fertig war; und was für ein herzrührendes
Mährchen dieser Hassan-Beg daraus gemacht hat! Finden
Sie es nicht auch, Nurmahal?Es ist sehr passionirt geschrieben, sagte Nurmahal.Passionirt nennen Sie das, Sultanin? Ich wette meine
beste Provinz, in ganz Indostan lebt kein anderer Mensch,
als Danischmend und dieser Hassan-Beg hier, der für ein
paar arme Gebern, die ihn nichts angehen, und um derentwillen
er sich vielleicht den tödtlichen Haß aller Mollahs in
der Welt aufhalset, sich so zu passioniren fähig wäre. Aber
vielleicht sind diese beiden, wenn's zur Nachfrage kommt, nur
eine Person. Ich habe große Lust, den Hassan-Beg auf der
Stelle kommen zu lassen.Vielleicht ist es einer von Danischmends Schülern, sagte
Nurmahal.Ich wollte wetten, er ist es selbst, erwiderte der Sultan:
und ich bin sehr versucht, ihm seine Bitte abzuschlagen,
bloß um ihm die Einbildung zu benehmen, daß er mit
seinen schönen Sentenzen und mit seinen Schmeicheleien
Alles von mir erhalten könne, was er wolle.Eine Ehe zwischen leiblichen Geschwistern ist freilich etwas
sehr Anstößiges, sagte Nurmahal."Sie vergessen, daß es Gebern sind, Sultanin! — Die
armen Kinder dauern mich, und der Mollah ist ein Schurke,
das ist klar!"Mit diesen Worten nahm Schach-Gebal eine Feder und
schrieb unter die Bittschrift: Ich nehme die beiden Gebern
in meinen Schutz; Niemand soll sie hindern, nach dem Gesetz
ihrer Religion zu leben. Der Mollah soll sogleich in eine
andere Provinz versetzt, und an seine Stelle von der Gemeine
mit Hassan-Begs Beistimmung, ein anderes verträglicheres
Subject erwählt werden.Sobald er das letzte Wort geschrieben hatte, ließ er seinen
ersten Wessir herein rufen. Itimadulet, sagte er zu ihm,
nimm dieß! laß es sogleich in der gehörigen Form unter
meinem großen Siegel ausfertigen, schick' es binnen vierundzwanzig
Stunden durch einen Eilboten an Hassan-Beg, dessen
Aufenthalt du aus den Acten ersehen wirst, und vergiß
nicht, daß du mir mit deinem Kopfe für die unverzügliche
Ausführung meines Auftrags stehst!Die armen Seelen! murmelte Schach-Gebal zwischen seinem
Barte, sobald der Wessir sich entfernt hatte: denen
wäre nun geholfen! — Und mir selbst — wiewohl ich sonst
Alles kann — Guten Morgen, Sultanin! — Von einer
solchen Heldenthat muß man ausruhen, setzte er lachend
hinzu und begab sich eilends weg, um den Phantasien, die
ihm durch den Kopf liefen, und an denen sein Herz mehr
Antheil hatte, als seiner Ruhe zuträglich war, in einem einsamen
Spaziergange seiner Gärten nachzuhängen.Diese zwei Begebenheiten, die durch Danischmends Verwendung
einen so unerwartet glücklichen Ausgang nahmen,
trugen nicht wenig bei, das Ansehen, worin er bei den guten
Landleuten, seinen Gemeindsgenossen, stand, zu befestigen.
Sein Aufenthalt unter ihnen wurde ihm immer angenehmer,
seine Familie vermehrte sich, sein Gütchen war nach und
nach durch Verbesserungen und Ankauf neuer Grundstücke
eine ansehnliche Besitzung geworden, und die Zukunft zeigte
ihm nichts als fröhliche Aussichten.Aber sein Schicksal hatte es anders verhängt, und er
mußte durch eine neue Prüfung gehen, von welcher er nichts
geahnet hatte, und die alle vorigen an Härte übertraf.Ziemlich bald nach der guten That, welche Schach-Gebal
zu Gunsten der liebenden Geschwister ausgeübt hatte, verfiel
dieser Monarch in eine Art von Schwermuth, deren Ursache
Niemand errathen konnte, und die seine Gemüthsart nach
und nach so sehr versäuerte, daß kein Auskommen mir ihm
war. Es fiel nur zu deutlich in die Augen, daß er sich selbst
zu unglücklich fühlte, um der geringsten Nachsicht oder Schonung
gegen Andere fähig zu seyn. In dieser gefährlichen
Gemüthsverfassung glaubte er, die Ehre seiner Krone (für
welche er immer, wie wir wissen, ein übermäßig zartes Gefühl
gehabt hatte) erfordere es schlechterdings, eine geringe
Beleidigung, die er von einem gewissen Sultan von Tibet
empfangen zu haben vermeinte, durch einen blutigen Krieg
zu rächen, der sich zwar mit einem einzigen Feldzug endigte,
aber dafür in diesem einen mehr Unheil anrichtete,
als in zehn Jahren des Friedens wieder vergütet werden
konnte. Vorzüglich wurde die Provinz Lahor, an deren
Gränze Danischmend wohnte, von Freund und Feind zugleich
übel mitgenommen und wie in die Wette geplündert und
verwüstet. Der arme Philosoph hielt den ersten Sturm
von Schach-Gebals eigenen Truppen mit aller Geduld und
Gleichmüthigkeit aus, die er, von Perisadehs Muth und
Seelenstärke unterstützt, zusammen zu bringen fähig war:
aber auf die Nachricht von dem barbarischen Verfahren der
Feinde, von welchen einzelne streifende Parteien schon in benachbarte
Orte eingedrungen waren — wie sie Alles mit Feuer
und Schwert verheerten, Weiber und Jungfrauen mißhandelten
und, was sie am Leben ließen, als Sklaven mit sich
schleppten und dergleichen — fand er für besser, sich und die
Seinigen durch eine schleunige Flucht zu retten, als ihr
Schicksal auf die Menschlichkeit solcher Unmenschen ankommen
zu lassen.Und so befand sich denn der gute Danischmend abermal,
so unerwartet als zuvor, in dem traurigen Fall, einen ruhigen
Aufenthalt und ein wohl eingerichtetes Hauswesen mit dem
Rücken anzusehen und mit Allem, was ihm lieber war, als
sein eignes Leben, in der weiten Welt eine neue, vielleicht
eben so unsichere Freistätte zu suchen.—————
Einundvierzigstes Capitel.Danischmend zieht in die Nähe von Dehly und ernährt sich und die
Seinigen mit Korbmachen.Danischmend hatte, als es ihm in seinem neuen Aufenthalt
zu gefallen anfing, und er sein Leben hier zu beschließen
gedachte, nach und nach den größten Theil seines aus
Jemal mitgebrachten Goldes auf Verbesserung und Erweiterung
seines Landgutes verwandt, und was er bei seiner Flucht
noch übrig hatte, machte ihn wenig schwerer, als wenn er
ganz leer abgezogen wäre; auch war die Gefahr so dringend,
daß sie von ihrem Geräthe nur das nothwendigste mitzunehmen
Zeit hatten.Eine so jämmerliche Lage würde beim Anblick eines geliebten
Weibes und eines Häuschens von holden Kindern,
wovon das älteste kaum zwölf Jahre alt war, seinen Muth
vielleicht gebrochen haben, wenn ihn nicht Perisadehs Standhaftigkeit
und ihre sich selbst immer gleiche Seelenruhe mächtig
empor gehalten hätte. Denn, sobald dieses vortreffliche
Weib nur für die Bedürfnisse ihrer Kinder, so gut es in
der Eile möglich war, gesorgt hatte, zeigte sie ihrem Manne,
der seinen Kummer schweigend in sich hinein zu schlingen
suchte, eine so heitere Stirne, ein so liebevolles Auge, eine
so ungezwungene Herzhaftigkeit, daß ihm, wie er diesen Engel
von einem Weibe mit Beschämung und Entzückung an
seinen Busen drückte, nicht anders zu Muthe war, als ob
er von einer unsichtbaren Macht wieder auf die Füße gestellt
würde; und nun fühlte er sich durch ihre vereinte Kraft
stark genug, jedem noch härtern Schicksale, das ihm bevorstehen
könnte, die Stirne zu bieten.Wir sind gesund und frisch, sagte Perisadeh zu ihm, wir
können arbeiten; und unsere zwei ältesten sind schon so weit,
daß sie uns an die Hand gehen können. An dem Wenigen,
was die Natur bedarf, kann es uns nie gebrechen; es wird
uns desto besser gedeihen, wenn es bloß die Frucht unserer
täglichen Arbeit ist; und durch ein fröhliches Herz und unsere
Liebe werden wir reicher seyn, als irgend ein Omra in ganz
Indostan.Weißt du, was mir in den Sinn kommt, Perisadeh? sprach
Danischmend: gewiß war es mein guter Genius, der mir
den Gedanken eingab, das Korbmachen von dem alten Kassim
zu lernen. Ich kann mich, ohne Ruhm zu melden, für
einen Meister in dieser Kunst ausgeben, und wenn wir einen
Aufenthalt wählen, wo es mir nie an Absatz fehlt, so denk'
ich dadurch allein uns Alle reichlich zu ernähren.Was meinst du, wenn wir uns nahe an der Hauptstadt
niederließen? sagte Perisadeh."Ich sehe kein Bedenken dabei, insofern es nicht gar
zu nahe ist. In dreizehn Jahren, seit ich von Dehly weg
bin, hab' ich mich doch wohl genug verändert, um im Costume
eines Korbmachers den Wenigen, die mich nicht täglich
sahen, unkenntlich geworden zu seyn. Auch bin ich gewiß,
daß man mich längst vergessen hat; und wem könnte daran
gelegen seyn, mich noch tiefer herab bringen zu wollen, als
ich schon bin?"Es ist gut für uns, versetzte sie, daß gerade das Einzige,
worin wir unser Glück setzen, weil es nicht in die Augen
fällt, von Niemand beneidet wird."Ja wohl, Perisadeh: auch wollen wir es so geheim halten
als möglich; denn ich stehe dir nicht dafür, daß sie uns
nicht auch um dieses bringen würden, wenn sie es ausfindig
gemacht hätten."Ich mag mir die Menschen nicht so schlimm einbilden,
lieber Danischmend."Du hast Recht und bist immer weiser, als ich. Wir
haben noch immer gutartige Menschen angetroffen, und wer
keine solche antrifft, ist meistens selbst Schuld. daran."Indem Danischmend Perisadehs Vorschlag bei sich überlegte,
erinnerte er sich eines artigen Dörfchens, das ungefähr
eine Stunde von Dehly am Rücken eines Waldes lag,
worin der Sultan zuweilen zu jagen pflegte. Alles zusammen
genommen, däuchte ihm dieser Ort zu seiner neuen Lebensart
am gelegensten, und so steuerte er seinen Lauf gerade
dahin.Sobald sie angelangt waren, kaufte er am Ende des
Dörfchens eine Hütte, die sich eben ohne Bewohner fand,
richtete sie für die Bedürfnisse seiner Familie so bequem ein,
als er konnte, schaffte sich sodann die Materialien an, die
er zu seiner Handarbeit nöthig hatte, und fing nun an, mit
unverdroßnem Fleiß allerlei Arten von großen und kleinen
Körben für allerlei Gebrauch zu verfertigen, die ihrer Zierlichkeit
und Dauerhaftigkeit wegen in Kurzem so guten Abgang
fanden, daß er und seine ältesten Knaben, die ihm
dabei an die Hand gingen, dem Kaufmann, der sie ihnen
im Großen abnahm, nicht genug Waare liefern konnten.
Denn Perisadeh und ihre Töchter hatten mit Spinnen und
Weben und Besorgung der Wirthschaft zu thun.Nach einiger Zeit wurde Danischmend der gröbern Arbeit
überdrüssig und fing an, sich bloß mit Verfertigung einer
zierlichern Art von Körbchen für das Serai des Kaisers und
für die Harems der Großen und Reichen zu Dehly abzugeben.
Er verfertigte deren eine große Menge von so schönen
Formen und so geschmackvoll verziert, wie man in Dehly
noch keine gesehen hatte. In kurzer Zeit wurde Hassan, der
Körbchenmacher, so berühmt, daß die Damen, die das Glück
hatten, im Besitz eines seiner Kunstwerke zu seyn, von denen,
die noch nicht dazu hatten gelangen können, beneidet wurden.Unter andern Besonderheiten, wodurch sich Hassans Körbchen
von andern auszeichneten, war eine Art von Kranz aus
arabischen Buchstaben, womit er jedes derselben in der
Mitte zu umwinden pflegte. Die Damen machten sich viel
zu thun, den geheimen Sinn dieser Buchstaben zu errathen;
aber keine konnte damit zu Stande kommen. Es lag bloß
daran, daß die Auflösung des Räthsels gar zu leicht war:
denn man brauchte nur immer zwischen drei Buchstaben den
mittelsten in Gedanken herunter in schieben, so las man ohne
Schwierigkeit die Namen Danischmend und Perisadeh.Zufälliger Weise begab es sich einst, daß Schach-Gebal
verschiedene dieser Körbchen in Nurmahals Zimmer antraf,
deren Schönheit seine Augen auf sich zog. Er nahm eines
nach dem andern, betrachtete sie von allen Seiten und wurde
neugierig zu wissen, was der Buchstabenkranz bedeute, womit
er sie alle in gleicher Ordnung der Buchstaben umwunden
fand.Vermuthlich ist es ein Spruch aus dem Koran, sagte
Nurmahal: ich habe noch nicht darauf Acht gegeben.Das merke ich, versetzte der Sultan: und da er weder
vor- noch rückwärts einen Sinn heraus bringen konnte, so
kam er endlich auf den Einfall, immer zwischen drei Buchstaben
den mittelsten wegzulassen, und auf einmal hatte er
den Namen Danischmend.Gefunden! rief er und hielt plötzlich wieder ein.Darf man fragen was? sagte die Sultanin.Was ich suchte, und was für Niemand als mich von einigem
Werthe seyn kann, antwortete Schach-Gebal, indem er
sich wegbegab.Und nun fragte er so lange nach, bis er endlich den Namen
und Aufenthalt des Körbchenmachers auskundschaftete,
der, wie man ihm sagte, erst seit einem Jahre mit einer
zahlreichen Familie in dieser Gegend angekommen sey. Der
Kaufmann, der mit dieser Waare handelte, setzte hinzu: es
würde schwer seyn, noch eine solche Korbmacherfamilie in der
Welt aufzufinden, wie diese. Der Mann will, wie es scheint,
nicht bekannt werden lassen, wer er ist; aber, beim Barte des
Propheten, er sieht keinem gemeinen Manne gleich!Toll genug, dachte der Sultan, wenn ich meinen alten
Philosophen, Itimadulet und Einschläferer in Gestalt eines
Körbchenmachers wieder fände!—————
Zweiundvierzigstes Capitel.Schach-Gebal stattet dem Körbchenmacher einen Besuch ab.Schach-Gebal war einer von den Sterblichen, denen nichts
unerträglicher ist, als in irgend einer Sache zwischen Ja und
Nein in der Mitte zu schweben. Ueberdieß hatte er noch
eine besondere Ursache, warum er seinen Vorsatz, selbst zu
untersuchen, was es mit dem Körbchenmacher für eine Bewandtniß
habe, so bald als möglich auszuführen beschloß. Er
schlich sich also am Abend des folgenden Tages, in einen
persischen Kaufmann verkleidet, mit einem einzigen vertrauten
Kämmerling aus seinem Palast und kam eine Stunde
nach Sonnenuntergang, als ein ermüdeter Wanderer, vor
Danischmends bäurischer Wohnung an.Der Körbchenmacher saß mit seinem Weibe auf einer
Bank vor der Hütte, und ihre Kleinen spielten um sie her.
Perisadeh zog ihren Schleier herab, sobald sie den Fremden
näher kommen sah.Darf ein müder Wanderer, sagte der verkappte Kaufmann,
indem er seine Stimme möglichst veränderte, um die
Erlaubniß bitten, bei euch auszuruhen?Von Herzen gern, Bruder, sagte Danischmend, wenn
dich diese Hütte nicht abschreckt, die nicht ärmlicher aussieht,
als sie ist."Ich verlange kein Nachtlager: ein wenig Brod und —
Milch (er war im Begriff, Sorbet zu sagen) und die Erlaubniß,
mich hier neben euch zu setzen, ist Alles, warum ich
bitte."Perisadeh stand auf und kam in wenig Augenblicken mit
dem Verlangten zurück; ein schönes Mädchen von zehn
Jahren, die eine Copie ihrer Mutter nach vergnügtem Maßstabe
schien, brachte einige auserlesene Früchte der Jahreszeit,
mit Blumen untermengt, in einem niedlichen Körbchen.Der Kaufmann betrachtete den Korbmacher mit durchdringenden
Blicken. — Wundre dich nicht, Bruder, sprach
er zu ihm, daß ich dich so scharf ins Auge nehme; denn es
ist wirklich zum Erstaunen, wie sehr du einem Wessir gleich
siehest, den ich vor vierzehn Jahren zu Dehly kannte.Man sieht öfters dergleichen Aehnlichkeiten, die sich meistens
wieder verlieren, wenn man die Personen neben einander
sieht, erwiederte Danischmend, der dem Sultan sein
Compliment sogleich hätte zurückgeben können, wenn er sich
nicht ein Bedenken gemacht hätte, ihm seinen Spaß zu verderben:
denn er hatte ihn in der ersten Minute erkannt.Bei Allem dem, Bruder, sagte der Kaufmann, indem er
eines von den Kindern liebkosend auf seinem Knie wiegte,
wollt' ich schwören, daß du der erste Körbchenmacher in deiner
Art bist, und ich gäbe alles Geld, das ich in Dehly einzutreiben
hoffe, darum, zu wissen, wie ein Mann wie du zu
einer solchen Profession gekommen ist.Dies, ehrwürdiger Fremdling, will ich dir sagen, ohne
daß es dir einen Ray kosten soll. Ich lebte vor einigen Jahren
in einem Thale des Gebirges Jemal, unter einem noch
sehr rohen, aber gutartigen, unverdorbenen Völkchen, und
weil ich damals wenig zu thun und in der That noch nie
etwas zu thun gelernt hatte, schämte ich mich, der einzige
Müßiggänger unter lauter beschäftigten Leuten zu seyn, und
lernte von meinem Nachbar Kassim Körbe machen. Vielleicht
ahnete mir, daß eine Zeit kommen würde, wo mir dieses
einfältige Handwerk nützlicher wäre, als alle brodlose Künste,
die ich wohl ehedem getrieben hatte."Darf man fragen, was für ein Zufall dich in die Thäler
von Jemal verschlug, die kaum dem Namen nach bekannt
sind?"Unter uns gesagt, antwortete Danischmend, indem er dem
angeblichen Kaufmanne mit einem zutraulichen Blick in die
Augen sah: ich diente einst einem sehr großen und reichen
Herrn, der, bei einer Menge löblicher Eigenschaften, den
einzigen Fehler hatte, daß er sich seinen Launen zu viel
überließ und dadurch gewissen Leuten, die er konnte und
verachtete, eine Gewalt über sich gab, von welcher sie nicht
immer den bescheidensten Gebrauch machten. Ich weiß nicht,
was mein Herr in meinem Gesicht fand, das ihm Vertrauen
zu mir einflößte: genug, er machte mich wider meinen Willen
zu seinem Intendanten: und da ich es nun einmal seyn
mußte, so wollt' ich auch meine Schuldigkeit thun und das
Haus von allem dem losen Gesindel reinigen, das den Herrn
bestahl; besonders von einem gewissen Mollah, der sich, ich
weiß nicht wie, bei der Frau im Hause wichtig gemacht hatte
und einen langen Schweif von heuchlerischen Taugenichtsen
und Bettlern nach sich schleppte, die unsern guten Herrn
ohne Scham und Scheu ausplünderten und Leuten, die mehr
werth waren, als sie, das Brod vor dem Munde wegnahmen.
Das gefiel nun anfangs meinem Herrn wohl. Aber es
währte nicht lange, so hatte sich das ganze Haus gegen mich
zusammen verschworen; und weil meine Feinde die Launen
des Herrn abpaßten, so machten sie ihm weiß, ich sey ein
Grillenfänger, der sich mit keinem Menschen vertragen
könne, und er würde, wenn er mich beibehielte, um alle die
getreuen Diener kommen, von denen er sich mit sehenden
Augen betrügen ließ. Um also, wie er sagte Ruhe in seinem
Hause zu haben, schickte er mich fort; aber, weil er ein
guter und großmüthiger Herr war, gab er mir weit 'mehr,
als ich nöthig hatte, um in dem armen Ländchen, wo ich
meinen Wohnsitz aufschlug, angenehm und unabhängig zu
leben."Und wie kam es, Bruder, daß du nicht noch dort
bist?"Diese Geschichte wäre zu weitläufig, erwiederte Danischmend:
aber einem so verständigen Manne, wie du, kann
ich die Sache mit zwei Worten begreiflich machen. Drei
Fakirn und ein Kalender, die ein böser Wind zu uns führte,
richteten binnen Jahr und Tag einen solchen Spuk unter
dem guten einfältigen Völkchen an, daß ich's nicht länger
mit ansehen konnte: ich that mein Möglichstes; aber die Partie
war zu ungleich, und ich mußte meinen Gegnern abermals
das Feld überlassen. Ich schlug also meine Hütte an
einem andern Ort auf, wo ich mehrere Jahre mit den Meinigen
glücklich lebte und vor Fakirn und Kalendern ziemlich
sicher war. Aber unversehens kam Krieg ins Land;
unsere eigenen Soldaten plünderten uns aus, und der Feind
zündete uns die Häuser über dem Kopf an. Um nicht noch
was Aergeres zu erfahren, mußten wir uns mit der Flucht
retten; und so kam ich endlich hierher, wo ich mit meiner
Familie von der Kunst lebe, die ich von dem ehrlichen Kassim
in Jemal lernte. Sie verschafft uns zwar keinen großen
Ueberfluß; indessen zweifle ich doch, ob Schach-Gebal in dem
ganzen Umfange seines unermeßlichen Reichs zufriednere,
froheres und bessere Unterthanen hat, als uns.Während Danischmend dieß sagte, drehte der Sultan den
kleinen Korb, worin ihm das Mädchen die Früchte angeboten
hatte, in der Hand herum und schien der Bedeutung der
Buchstaben nachzusinnen. —"Sonderbar! rief er endlich aus:
da find' ich ja auf einmal einen alten Bekannten! Wie
mag der Name Danischmend auf diesen Korb gekommen seyn?"Du kennst ihn also, Herr?"So hieß der Wessir, dem ich dich so ähnlich fand."Wenn dieß ist, sagte Danischmend, indem er sich dem
Sultan zu Füßen warf, so darf auch ich gestehen, daß diese
Verkleidung mir den Sultan, meinen großmüthigen Herrn,
keinen Augenblick verbergen konnte.Danischmend, sagte der Sultan, indem er ihn aufhob
und umarmte, der Himmel soll uns nicht vergebens so sonderbar
wieder zusammengebracht haben. Laß uns Freunde seyn
und folge mir, ich bitte dich, noch in dieser Nacht nach Dehly.Mein gnädigster Herr, erwiederte Danischmend, Alles,
was Treue und Dankbarkeit einem Unterthanen gegen den
besten Fürsten zur Pflicht macht —Laß dieß, Danischmend! unterbrach ihn der Sultan: oder
wolltest du auch einer von denen seyn, die, um sich an uns
Andern wegen eines Vorrechts, woran wir unschuldig sind,
zu rächen, so unbarmherzig behaupten, daß wir keine Freunde
haben können.Wer dieß behauptet, erwiederte Danischmend, setzt ohne
Zweifel voraus, daß eigentliche Freundschaft nur unter Gleichen
möglich sey. Aber von mir würde es unartig seyn, mit dem
Sultan, meinem gnädigsten Gebieter, um ein Wort zu streiten.
Nur bitte ich Ihre Hoheit, auf Ihrer Seite zu glauben, daß
die unbegränzte Treue, zu welcher ich, wiewohl sie meine
Pflicht ist, mich hiermit auch freiwillig verbindlich mache,
kein leeres Wort ist. Was ich dabei fühle und denke, ist
vielleicht noch mehr, als das Wort Freundschaft, selbst in
seiner engsten Bedeutung, bezeichnet."Alles, was ich dir jetzt sagen kann, lieber Danischmend,
ist mit drei Worten: Ich fühle das Bedürfniß, einen
Freund zu haben, mehr als jemals; aber ich fühle auch, daß,
wer einen Freund verlangt, selbst ein Freund zu seyn wissen
muß. — Du folgst mir also, Danischmend?"Sire, versetzte dieser, indem er sich ihm abermals zu
Füßen warf, fordern Sie Alles von mir, nur dieß Einzige
ausgenommen. Lassen Sie mich, wo ich bin, und erlauben
Sie mir, zu bleiben, was ich bin. Ich tauge an keinen andern
Ort und zu keinem andern Geschäfte. Aber, auch ohne Rücksicht
auf mich selbst, muß ich um die Gewährung dieser einzigen
Ausnahme bitten; denn sie ist die einzige Bedingung,
unter welcher das Verhältniß möglich ist, das Ihre Hoheit
sich mit einem Manne geben wollen, der als ein geborner
Jndostaner Ihr Sklav ist, und von dem Augenblick an, da
Sie ihn für Ihren Freund erklären, so frei seyn muß, als
ob er selbst Sultan von Indien wäre.Schach-Gebal war kein Freund von solchen Subtilitäten,
wie er's nannte, und wobei er sich in der That nichts sehr
Deutliches denken konnte. Aber er fühlte doch, daß er sich
selbst widersprechen würde, wenn er auf seiner Forderung
bestehen wollte. Mein Freund Danischmend muß seine eigene
Weise haben, sagte er lächelnd, indem er ihm die Hand
schüttelte: er ist noch immer der Alte, wie ich sehe. Aber
genug für heute! Ich bin zufrieden, daß ich dich wieder
habe. Lebe wohl, bis wir uns wieder sehen!—————
Dreiundvierzigstes Capitel.Noch ein ehevertrauliches Gespräch zwischen Danischmend und Perisadeh.Als sich der Sultan entfernt hatte, ließ der arme Danischmend
den Kopf auf die Brust sinken und verlor sich in seinen
Gedanken, ohne einen Laut von sich zu geben.Das war also der große Sultan von Indien, dessen Itimadulet
du einst warst? sagte Perisadeh. Er scheint mit Allem
dem ein guter Mann zu seyn."O, gewiß, ein so guter Mann, als ein Sultan seyn kann.
Auch lieb' ich ihn von Herzen; nur, da ich ihm schlechterdings
nicht helfen kann, wünschte ich, daß der Kaukasus und
Imaus zwischen ihm und mir läge!"Das scheint er nicht zu wünschen, versetzte Perisadeh.
Er muß also sehr große Fehler an sich haben, daß du dich
so weit von ihm weg wünschest?Alle Menschen haben ihre Fehler, meine Liebe — dich
allein vielleicht ausgenommen, wiewohl es, wie du weißt,
Augenblicke gibt, wo ich unartig genug bin, meine Fehler
auf dich zu schieben. Wer seinen Freund nicht mit allen
seinen Fehlern lieben kann, ist nicht werth, einen Freund
zu haben. Aber der arme Schach-Gebal hat einen einzigen
unheilbaren Fehler, der alle andere in sich schließt, und mit
welchem ich mich schlechterdings nicht vertragen kann."Und was kann das für einer seyn? fragte Perisadeh halb
erschrocken.Daß er —Sultan ist, liebes Weib! Das ist ein Fehler,
den er durch nichts gut machen, oder vielmehr ein Unglück,
das er nie verwinden kann. Er ist ein guter Mann, wie
du sagst; aber was hilft ihm das? Er ist Sultan! ist zum
Sultan geboren, zum Sultan erzogen; ist nun schon über
dreißig Jahre gewohnt, Sultan zu seyn; sieht, hört, riecht,
schmeckt und fühlt, wie ein Sultan; denkt, urtheilt und macht
Schlüsse, wie ein Sultan; kurz, die Sultanschaft ist ihm zur
andern Natur geworden; und er ist so gewohnt, in Allem
seinen Willen zu haben, daß er sich sogar einbilden kann, es
brauche, damit er und ich Freunde seyen, weiter nichts, als daß
er der meinige seyn wolle und mir befehle, der seinige zu seyn?"Da thust du ihm doch wohl ein wenig Unrecht, Danischmend!
— Er bat dich um deine Freundschaft: was kannst du von
einem so großen Herrn mehr verlangen?"Nichts, meine Liebe, nichts auf der Welt, als —daß
er mich um nichts Unmögliches bitte. Siehst du denn nicht,
gutes Weib, daß die Bitten eines Sultans Befehle sind?"Er selbst meint es doch nicht so."Unschuldige Seele! Wie kämest du dazu, die Sultane
zu kennen. Wie viele Mühe du dir auch geben wolltest, du
kannst es nicht dahin bringen, daß du nicht in Schach-Gebal
immer einen Menschen sehen solltest."Damit kann ich ihm doch wohl kein Unrecht thun? Er
wird mir's gewiß nicht übel nehmen."Uebel nehmen? O, gewiß nicht, Perisadeh. Im Gegentheil,
er wird es sehr gut aufnehmen, wenn du ihm so ein
Compliment machst. Aber, sobald du Ernst daraus machen
wolltest, würdest du dich schlecht dabei befinden. Ein Sultan
ist freilich ein Mensch, aber, so wie versteinertes Holz Holz
ist, ein versteinerter Mensch, an dem du dich häßlich zerstoßen
würdest, wenn du mit ihm wie mit einem Wesen deiner
Art umgehen wolltest."Hast du nicht bemerkt, wie freundlich er mit unserm kleinen
Malek spielte?"Das hätt' er auch gethan, wenn es ein Aeffchen gewesen
wäre."Aber was könnte ihn bewegen, deine Freundschaft zu
suchen, wenn es ihm nicht Ernst damit wäre?"Freilich glaubt er selbst, daß es ihm Ernst damit sey.
Er hat wahrscheinlich irgend ein Anliegen, das ihn drückt;
er bedarf eines Vertrauten, in dessen Busen er sich erleichtern
kann, eines Rathgebers, vielleicht eines Unterhändlers.
Die Sultane, liebe Perisadeh, haben, wie wir andere Menschen,
ihre schwachen Augenblicke, worin sie sich nicht selber helfen
können, und dann scheinen sie so gut, so geschmeidig und
zutraulich, so geneigt, Rath anzunehmen und sich helfen zu
lassen! Aber rathe ihnen nur was Anderes, als sie von dir
zu hören wünschen; gleich hat die Vertraulichkeit ein Ende,
und sie werden dir begegnen, als ob du einen Hochverrath
an ihnen begangen hättest."Das mag wohl mit den meisten Menschen so seyn, lieber
Danischmend."Gewiß! nur daß die Sultanschaft einen großen Unterschied
macht, und daß der plötzliche Uebergang aus der größten
Wärme in die äußerste Kälte, welchem unser einer bei ihnen
ausgesetzt ist, gerade das ist, was ich nicht wohl ertragen
kann. Mit einem Worte, Perisadeh: Schach-Gebal glaubt,
er wünsche sich einen Freund; aber es ist bloße Selbsttäuschung;
er will nur einen Schmeichler. Freilich einen Schmeichler,
der sich die Larve der Freundschaft so geschickt anzupassen
weiß, daß man sie für sein eigenes Gesicht hält; und dazu
taugt nun einmal Niemand weniger, als ich. Denn es ist
mir eben so unmöglich, im Ernst gegen mein Gefühl zu
reden, als an einem Spinnefaden in den Mond zu steigen. —
Was würdest du mir also unter solchen Umständen rathen?"Du kennst den Sultan besser, als ich —"Billig sollt' ich: wenigstens hab' ich ein hübsches Lehrgeld
für dieses Stück meiner Weltkenntniß gegeben! —Aber
ich muß dich etwas fragen, Perisadeh. Kannst du, im Angesicht
eines glänzenden Glückes, wornach ich bloß die Hand
auszustrecken brauchte, zufrieden seyn, lebenslänglich so arm
zu bleiben, als wir jetzt sind? Kannst du, ohne daß du dir
selbst die geringste Gewalt anthun mußt, zufrieden mit mir
seyn, wenn ich, um vielleicht nur auf wenige Tage Schach-Gebals
Freund auf meine eigene Weise zu seyn, alle Gnaden,
die er mir anbieten wird, ausschlage?"Wenn es zu deiner Gemüthsruhe nöthig ist, ja!"Aber deine Ruhe ist mir noch lieber, als die meinige. Sprich
nach deinem innersten Gefühl, Perisadeh! Fühlst du dich in dieser
armen Hütte glücklich genug, um kein größeres Glück zu
wünschen?"Wenn ich einen Wunsch haben könnte, Danischmend, so
wär' es für dich und meine Kinder. Ich gestehe dir, seit
diesem unverhofften Besuch des Sultans mußte mir doch
wohl der Gedanke kommen, daß ein Mann wie du nicht zum
Körbchenmacher geboren sey."Kennst du also ein größeren Gut für einen Mann von
meiner Sinnesart, als Unabhängigkeit, Zufriedenheit mit
sich selbst und reinen Lebensgenuß im Schoße der Seinigen?"Nein, Danischmend, ich kenne für dich und mich keines,
das neben diesen Gütern nur genannt zu werden verdiente,
als — das Vergnügen, mehr als unsere eigene Nothdurft
zu haben, um die Noth anderer Menschen erleichtern zu
können. Aber wozu alle diese Fragen, lieber Mann? Du
solltest doch deine Perisadeh kennen! Hast du mich jemals
nur eine Minute lang über die Veränderung in unsern Umständen
traurig oder kleinmüthig gesehen? Bist du mir nicht
Alles? Hab' ich jemals einen andern Wunsch gehabt, sobald
ich den Wunsch deines Herzens wußte? Mach' es mit dem
Sultan, wie du es am besten findest; folge deinem Herzen,
ohne Rücksicht auf mich zu nehmen, die, in noch weit geringern
Umständen, als die unsrigen sind, sich mit dir für die
glücklichste der Weiber halten würde."Vergib mir, Perisadeh, sagte Danischmend, indem er
ihre Stirne küßte; weiß ich nicht längst, daß du ein Engel
von einem Weibe bist? — Höre also, wie ich's mit dem
Sultan zu halten gedenke. Von allen Pflichten der Freundschaft
ist nur eine einzige: die ich ihm erweisen kann, und
diese ist: ihm über Alles, was er mich fragen wird, die
reine Wahrheit zu sagen. Aber, damit ich das könne, muß
er wissen, daß ich unerschütterlich entschlossen sey, was ich
bin, zu bleiben und sogar meinen nothdürftigen Unterhalt
bloß durch meiner Hände Arbeit zu gewinnen. Dieß allein
stellt eine Art von Gleichheit zwischen uns her und macht
es vielleicht möglich, daß ich ihm selbst und Andern nützlich
seyn kann. Auf diese Art bleibt das Verhältniß zwischen
ihm und mir, wenigstens auf meiner Seite, rein, und ich
gewinne dadurch, daß er immer von zwei Dingen völlig gewiß
seyn wird: daß ich ohne alle Nebenabsichten mit ihm
umgehe, und daß er alle Hoffnung aufgeben muß, mich durch
irgend eine Art von Bestechung zu einer strafbaren Nachsicht
zu verleiten. Kurz, ich will sein Freund seyn, solang' er
will; aber ich bleibe in meiner Bauerhütte und mache Körbe.
Dieß war ein Punkt, der ein für alle Mai zwischen uns beiden
ausgemacht seyn mußte, meine Liebe; und nun wollen
wir uns ruhig schlafen legen und kommen lassen, was kommen
will.—————
Vierundvierzigstes Capitel.Schach-Gebal entdeckt Danischmenden sein geheimes Anliegen.Am folgenden Tage jagte Schach-Gebal in dem Gehölze,
an welchem Danischmends Wohnung lag, und es währte
nicht lange, so ließ er ihn zu sich rufen, und besprach sich
über eine Stunde von allerlei unerheblichen Gegenständen
mit ihm.Danischmend hatte die Art und Weise, wie sich der Sultan
seines neuen Freundes zu versichern suchen würde, richtig
vorher gesehen. Schach-Gebal stellte ihm vor, wie er
unmöglich zugeben könne, daß ein Mann, der sein Itimadulet
gewesen sey, und den er nun als seinen Freund betrachtete,
sich in einer Bauerhütte mit der Korbmacherei
behelfe. Er drang darauf, daß er entweder eine anständige
Wohnung nahe am königlichen Palaste beziehen oder wenigstens
ein nicht weit von der Stadt gelegenes Lustschloß mit
allem Zubehör, als einen Ersatz dessen, was er in dem letzten
Kriege verloren habe, annehmen sollte. Aber Danischmend
bat sich zur ersten und letzten Gnade aus, alle Gnaden dieser
Art ausschlagen zu dürfen. Er habe, sagte er, ein feierliches
Gelübde gethan, sich dem Neide der Menschen nicht
wieder auszusetzen; seine dermalige Lebensart sey mehr die
Sache seiner freien Wahl, als der Nothwendigkeit; er befinde
sich wohl dabei: und eine jede andere würde ihn entweder
elend oder doch weniger glücklich machen, als er sey: kurz, er
bestand so hartnäckig auf seinem Entschluß, daß Schach-Gebal
endlich der Grille seines Freundes (wie er's nannte)
nachgab, doch nicht eher als bis ihm Danischmend versprach, sobald
er seiner jetzigen Lage überdrüssig öder irgend eines
Dinges bedürftig seyn würde, ihm einen Wink davon zu
geben. Und so schieden sie wieder von einander, mit der
Abrede, daß Danischmend sich in der nächsten Nacht .vor einer
Hinterpforte der Gärten des Serai einfinden sollte, wo ein
Hauptmann von der Wache Befehl haben würde, ihn weiter
zu begleiten und durch eine geheime Thür in das Cabinet
Seiner Hoheit zu .bringen.Danischmend fand sich, nicht ohne Verwunderung, was
diese geheimnißvolle Einführung zu bedeuten habe, um die
bestimmte Stunde an Ort und Stelle ein und wurde von
dem Befehlshaber der Wache durch die Gärten bis an eine
geheime Thür des Palasts gebracht, wo eben derselbe Kämmerling,
der den Sultan bei seinem nächtlichen Besuch begleitete,
ihn in Empfang nahm und durch eine verborgene
Treppe in das Cabinet seiner Hoheit führte.Schach-Gebal lag auf dem Sopha, den Kopf auf den
rechten Arm gestützt, und schien Danischmenden eine gute
Weile nicht gewahr zu werden. Endlich trat dieser ein paar
Schritte näher, und der Sultan schaute auf. Aha, Danischmend,
bist du's? rief er: mich freut, dich wieder hier zu
sehen. Laß alles Vergangene auf ewig vergessen seyn und
bilde dir ein, daß du um vierzehn Jahre in meiner Freundschaft
vorgerückt seyest.Sire, antwortete Danischmend, mein Gedächtniß ist von
einer so gefälligen Art, daß es alles Unangenehme durchfallen
läßt und mich nur der unverdienten Huld erinnert,
wovon Ihre Hoheit mir so viele Beweise zu geben geruhet
haben."Keine Complimente, Freund Danischmend! Laß dich
auf diese Polster nieder und höre mich an!"Danischmend gehorchte und erwartete stillschweigend, was
er hören sollte.Danischmend, fing der Sultan nach einer langen Stille
mit einem tiefen Seufzer an, ich bin nicht glücklich!Seine Hoheit sagten zwar mit diesem offenherzigen Bekenntniß
ihrem Freunde nichts Neues; aber der Ursachen,
warum ein Sultan nicht glücklich ist, sind so viele, daß kein
Wunder war, wenn Danischmend mit seinen Gedanken eher
auf jede andere als die wahre Ursache eines so gewöhnlichen
Ereignisses traf.Du wirst dich wundern, fuhr der Sultan fort, wenn ich
dir sage, daß ich über fünfzig Jahre alt geworden bin, ohne
mitten in einem Harem von den auserlesensten Weibern
Europens und Asiens jemals erfahren zu haben, was Liebe ist.Ich würde mich eher über das Gegentheil wundern, dachte
Danischmend: aber, da er sich vorgenommen hatte, seine Zunge
in strenger Zucht zu halten, so glotzte er den Sultan aus
zwei großen Augen an und — schwieg."Aber was wirst du sagen, wenn du hörest, daß mich
dieses Unglück, welchem ich bereits auf immer entgangen
zu seyn glaubte, noch in meinem zweiundfünfzigsten Jahre
treffen mußte?"Ich sage, versetzte Danischmend, es wäre noch immer
nicht zu spät, wenn diese Liebe den Sultan, meinen Herrn,
glücklich machte, wie man billig erwarten sollte, da sie alle
Reize der Neuheit für ihn hat."Scherze nicht, Danischmend! die Sache ist ernsthafter,
als du denkst — denn, wie seltsam es dir auch vorkommen
mag, diese Leidenschaft macht mich zum unglücklichsten aller
Menschen."Unglücklich? rief Danischmend mit einem Erstaunen aus,
welches der Sultan, wenn er Lust hatte, für ein sehr schmeichelhaftes
Compliment aufnehmen konnte."Du bist der Erste, dem ich dieses demüthigende Geständniß
thue und mit Scham und Verachtung gegen mich
selbst thun würde, wenn der Gegenstand meiner Liebe nicht
das schönste, reizvollste und vollkommenste aller irdischen
Wesen wäre."Danischmend erblaßte; denn er konnte sich im ersten
Augenblick nur eine Person denken, welcher diese Beiwörter
zukämen. Das wär' ein verzweifelter Streich, dacht' er.
Doch es ist unmöglich! Er hat sie ja nur beim Mondlicht
und in einen doppelten Schleier eingehüllt gesehen!Wo bist du mit deinen Gedanken? sagte der Sultan, der
seine Zerstreuung merkte, ohne die Ursache zu errathen. Merke
auf! du wirst eine sonderbare Geschichte hören. — Es mögen
ungefähr dritthalb Jahre seyn, als eines Morgens, kurz
zuvor, eh' ich den Divan zu verlassen pflege, aus der Menge
Volks, die um die Schranken gedrängt stand, eine Frau
hervortrat, die beim ersten Anblick meine ganze Aufmerksamkeit
erregte. Sie war sehr einfach, aber edel gekleidet, und
ein dreifacher Schleier verhüllte ihr Gesicht; aber ihre Gestalt
und die anmuthsvolle Würde ihres Gangs und ihrer Bewegungen
schien Allen, die sie sahen, Ehrfurcht einzuflößen.
Ich winkte, daß man ihr Platz machen sollte, und sie schritt
schneller durch die Reihen der versammelten Omra's und
Wessire heran, sank an der untersten Stufe des Thrones auf
die Knie und ließ mich eine Silberstimme hören, deren
Zauberklang einen Sterbenden ins Leben zurückgerufen hätte.
Sie flehte um Gerechtigkeit und Schutz; aber ihre Klage,
sagte sie, sey von einer solchen Beschaffenheit, daß sie nur
mir allein entdeckt werden könne. Ich winkte dem obersten
der Kämmerlinge, sie in mein Cabinet zu führen, und entließ
bald darauf den Divan, voller Ungeduld zu hören, was
die bewundernswürdige Unbekannte für eine Klage zu führen
haben könne, die sie nur mir allein entdecken wolle.Als ich in das Zimmer trat, wollte sie sich abermal vor
mir niederwerfen: aber ich faßte sie auf, ließ sie Platz auf
dem Sopha nehmen und setzte mich ihr in einer ungewohnten
Unruhe und Erwartung gegenüber.Wer bist du? fragt' ich sie in einem Tone, der ihr Muth
machen mußte, und was für ein Anliegen kann eine Person,
wie du zu seyn scheinst, hieher geführt haben?"Monarch der Welt, fing sie mit ihrer Zauberstimme an,
mein Name ist Aruja, und ich bin die Ehefrau des Kaufmanns
Sadik, der noch vor Kurzem, von einem großen Vermögen
auf einem edeln Fuße lebte, aber durch eine Reihe
schnell auf einander folgender Unglücksfälle dahin gebracht
wurde, alle seine Güter zu verkaufen, um seine Gläubiger
befriedigen zu können. Wir fanden uns durch diesen
plötzlichen Umsturz unsers Glückes zu einer Armuth heruntergebracht,
die an Dürftigkeit gränzte und dem guten Sadik,
der mich wie seine Augen liebte, zehnmal unerträglicher war,
weil er auch mich in diesen Abgrund mit sich hineingezogen
hatte. Der Kummer überwältigte die Stärke seines Temperaments
und warf ihn endlich auf's Krankenlager, während
ich alle meine Kräfte anstrengte, ihm Muth einzusprechen
und seinen Zustand zu erleichtern."Das Wenige, was wir aus den Trümmern unsers Wohlstandes
gerettet hatten, war beinahe aufgezehrt, als sich
Sadik erinnerte, daß er vor vielen Jahren einem seiner damaligen
Freunde, der seitdem ein großes Glück gemacht hat,
mit tausend Bahams aus einer dringenden Verlegenheit geholfen
hatte. Beide hatten inzwischen vergessen, dieser aus
Geiz, seine Schuld wieder zu erstatten, jener aus Edelmuth,
sie zurückzufordern. Aber endlich sah sich Sadik durch unsere
Noth, die auf's Aeußerste gestiegen war, zu dem unangenehmen
Schritt gezwungen, den vergeßlichen Massud seiner
Schuldigkeit zu erinnern. Geh', Aruja, sagte er zu mir, so
schwer es mir auch wird, dir einen solchen Gang zuzumuthen,
geh' und schäme dich nicht, dem Undankbaren unsere Umstände
vorzustellen, und versuche, ob du ihn bewegen kannst, wenigstens
aus Mitleid gerecht zu seyn. — Ich gehorchte ohne
Widerrede, aber der Erfolg betrog unsere Hoffnung auf eine
sehr grausame Weise. Der Niederträchtige leugnete die Schuld
mit frecher Stirne; und doch, sagte er, aus Mitleiden mit
dir, schöne Aruja, die unter den Verschwendungen des alten
Sadik so unbillig leiden muß, will ich noch mehr thun, als
er fordert, wenn du gütig genug seyn willst, auch mit mir
Mitleiden zu haben. —Und nun setzte der Unverschämte auf
seine beleidigende Freigebigkeit einen Preis, dessen leiseste
Erwähnung mein Herz empörte und mit Abscheu vor dem
Elenden erfüllte."Es wäre mir unmöglich (fuhr Aruja in ihrer Erzählung
fort), den Schmerz und die Verzweiflung zu beschreiben,
worein der unglückliche Sadik versank, als ich mit leerer
Hand wieder kam und ihm von dem schlechten Erfolg meines
Besuchs bei seinem treulosen Freunde Bericht erstattete. Mit
vieler Mühe glückte mir's endlich, ihn durch den Vorschlag
wieder aufzurichten, daß ich auf der Stelle zum Kadi gehen
und den Schutz der Gesetze gegen den Niederträchtigen anflehen
wollte. Gehe, meine Liebe, sprach er, und der Himmel
gebe seinen Segen zu deinem Vorhaben! Ganz gewiß wird
der Kadi, diese Fackel der Gerechtigkeit, die der Sultan, unser
gebietender Herr, den geraden Weg des Rechts und die
krummen und finstern Pfade des Unrechts zu beleuchten aufgestellt
hat, von der Gerechtigkeit unserer Sache aus deinem
Munde überzeugt werden und uns ohne Verzug zu dem
Unsrigen verhelfen. —Das gebe der Prophet! sagte ich und
eilte noch an demselben Morgen, meine Klage bei dem Kadi
anzubringen. Aber — wie werde ich vor dem König der
Könige Glauben finden, wenn ich ihm sage, daß dieser ungerechte
Richter, nachdem er mir eine Menge kahler Einwendungen
gegen die Gültigkeit meiner Klage gemacht hatte,
zuletzt keinen geringern Preis als Massud von mir forderte,
wenn er meinem Manne zu seinem Recht verhelfen sollte?"Im Uebermaß meines Zornes antwortete ich dem schändlichen
Graubart mit Verwünschungen, die ihn rasend machten:
er erkühnte sich, Hand an mich zu legen; aber ich stieß ihn
zu Boden und kehrte athemlos vor Schmerz und Wuth zu
dem armen Sadik zurück, der, noch eh' ich die Lippen öffnete,
in der Wildheit meiner Blicke die ganze Geschichte las, die
ich ihm zu erzählen hatte."Wir brachten nun den Rest des Tages und eine lange
jammervolle Nacht mit vergeblichen Klagen über unser Unglück
und die Bosheit der Menschen zu; aber mit der Wiederkehr
des Tages sammelte sich auch mein Muth wieder, und
ich sagte zu meinem Manne: Laß uns noch nicht verzweifeln,
Sadik! Dein undankbarer Schuldner und der ungerechte Kadi
haben einen Höhern über sich: ich will, sobald die Audienzstunde
ausgerufen wird, zum Statthalter gehen und ihm
den ganzen Handel entdecken; ich bin gewiß, daß er, von
gerechtem Unwillen durchdrungen, uns gegen diese Lasterhaften
in seinen Schutz nehmen wird. — Sadik lobte meinen Einfall
und schien neues Leben aus dem Muthe, den ich ihn sehen
ließ, zu schöpfen."Ich begab mich also zum Statthalter und trug ihm
unsere Noth, Sadiks gerechte Forderung an Massud, seine
Weigerung und die schändliche Bedingung, welche er und
der Kadi auf die Gewährung meines Gesuchs gesetzt hatten,
vor. Er schien von unsern traurigen Umständen gerührt zu
seyn; aber er stellte sich, als ob er nicht glauben könne, was
ich ihm von Massud und dem Kadi gesagt hatte. Nein, rief
er, es ist unglaublich, daß ein so angesehener Kaufmann, wie
Massud, ein so ehrwürdiger alter Mann, wie der Kadi, solcher
Vergehungen schuldig seyn sollten!"Dieser verstellte Unglaube brachte mich außer mir; ich
betheuerte ihm die Wahrheit meiner Anklage in den stärksten
Ausdrücken, und, indem ich ihn mit gerungenen Händen
beschwor, sich unser anzunehmen, flog mein Schleier zurück.
Jetzt schien der Statthalter plötzlich in eine andere Person
verwandelt zu seyn. Ah! rief er, nun zweifle ich keinen
Augenblick länger an der Wahrheit deiner Erzählung, schönste
Aruja; aber ich höre auch auf, die Unglücklichen, die du anklagst,
so strafbar zu finden. Wir sind nur Menschen; auch
der Gerechteste kann versucht werden und muß unterliegen,
wo die Versuchung so stark ist, wie hier! Und nun ergoß er
sich in übertriebene Lobsprüche meiner Reizungen, die ich
eben so wenig wiederholen kann, als ich mich Alles dessen
erinnern mag, was ich anhören mußte, da er keine Schmeicheleien,
keine Bitten, keine Versprechungen sparte, um mich
von der heftigen Glur zu überzeugen, die meine Augen in
seinem Herzen angezündet haben sollten. Nicht nur tausend,
zehntausend und zweimal zehntausend Bahams, schwor er,
sey er bereit, darum zu geben, wenn ich ihm das Versprechen,
seine Liebe zu mir — nicht zu erwiedern, nur zu dulden,
mit einem einzigen Kusse bestätigen wollte."Hier unterbrach Schach-Gebal die Erzählung, die er
Danischmenden aus dem Munde der schönen Aruja zu machen
angefangen hatte.Du wirst, sagte er, vielleicht schon selber die Bemerkung
gemacht haben, Danischmend, daß ich die Erzählung meiner
reizenden Supplicantin sehr zusammenzieht und eine Menge
kleiner Züge und Pinselstriche weglasse, womit sie ihren Darstellungen
das wärmste Leben zu geben wußte. Ich hätte ihr
Tage lang zuhören können; und da sie dieß ohne Zweifel
gewahr wurde, so schien sie um so weniger auf Abkürzung
ihrer Erzählung bedacht zu seyn, weil ihr Alles daran gelegen
war, den verlangten Eindruck auf mich zu machen. Allein
dieser Zweck fällt bei dir weg, und eine einzige Minute,
worin du sie selbst sehen und hören wirst, wird unendlich
mehr Wirkung thun, als die ausgeführteste Schilderung von
einem so wenig geübten Pinsel, als der meinige. Ich schlüpfe
also über den Rest des Vortrags, den sie mir machte, desto
schneller weg und begnüge mich, dir kurz zu sagen: daß sie,
wie du nicht zweifeln wirst, die Anträge des Statthalters
mit dem entschiedensten Ernst und Unwillen verwarf und
sich so bald als möglich aus seinem Palast entfernte.Ich verschone dich mit der Beschreibung des trostlosen
Zustandes, worin das unglückliche Ehepaar einige Tage
schmachtete, bis der alte Sadik endlich, wie durch Inspiration,
auf den Gedanken kam, daß Aruja noch das letzte
Rettungsmittel versuchen und sich mit ihrem Anliegen unmittelbar
an mich selbst wenden sollte. Hier gestand sie mir mit
der liebenswürdigsten Naivetät, daß sie, durch ihre bisherigen
Erfahrungen verschüchtert, sehr schwer daran gegangen sey,
ein so großes Wagestück zu unternehmen: aber Sadik (sagte
sie) hätte ihr durch die Vorstellung des guten Rufs, worin
der Sultan sowohl im Punkt der Gerechtigkeitspflege, als
seiner Achtung gegen tugendhafte Weiber stehe, Muth
gemacht; und die Geduld (setzte sie hinzu) womit ich sie angehört
hätte, flöße ihr das Vertrauen ein, daß der redliche
Sadik sich in seinem fast religiösen Glauben an die Tugenden
seines Oberherrn nicht getäuscht haben könne.Als Aruja mit diesem Compliment, wodurch sie auf eine
so feine Art meine eigene Ehre zum Sachwalter und Beschützer
der ihrigen gegen mich selbst machte, ihren Vortrag
geendigt hatte, sagte ich nach einer kleinen Pause zu ihr:
Schöne und tugendhafte Aruja, deine Erzählung hat mich
mehr als hinlänglich überzeugt, daß dem guten Sadik Gerechtigkeit
und Mitleiden, dir Bewunderung, und den Männern,
über welche du Klage führst, eine scharfe Züchtigung
gebührt. Du siehst mich hier bereit, jedem von euch das
Seine zu geben. Massud soll deinem Manne bezahlen, was
er ihm schuldig ist, und ich lege doppelt so viel aus meinem
eigenen Schatze hinzu, um die Unbilden, die er vom Glück
gelitten hat, in etwas zu vergüten. Aber, damit dem Kadi
und meinem Statthalter durch die scharfe Züchtigung, welche sie
verdient zu haben scheinen, nicht zu viel geschehe, ist es unumgänglich
nöthig, daß ich wisse, ob und in welchem Maße sie
allenfalls an einige Milderung der Strafe ihres Verbrechens
Anspruch machen können. In dieser Rücksicht, und da sie
sich unfehlbar auf die Größe der Gefahr berufen werden,
muß ich dich bitten, schöne Aruja, mir die Gunst freiwillig
zu erzeigen, die der bloße Zufall meinem unglücklichen
Statthalter zu Theil werden ließ, und diesen
Schleier zurück zu schlagen, der mir deinen Anblick entzieht;
die einzige Belohnung, die ich für das, was ich
für deinen Mann zu thun gesonnen bin, von deiner Gefälligkeit
erwarte.Das tugendhafte Weib schien einige Augenblicke ungewiß,
was sie thun dürfte: aber Dankbarkeit und ein Zutrauen,
wodurch sie mich in der That bei meiner schwachen Seite
nahm, überwogen ihre Bedenklichkeiten. Wo, sagte sie, indem
sie ihren Schleier mit dem sittsamsten Anstande zurück legte,
wo könnte die Unschuld eines jungen Weibes, das nichts
als seiner Pflicht getreu bleiben will, sicherer seyn, als unter
den beschirmenden Augen des großen Monarchen, in welchem
mehr als hundert Völker ihren schützenden Genius verehren?
Möchte er in diesem ungeschminkten Gesicht das tiefe Gefühl
der kindlichen Ehrfurcht und der Dankbarkeit lesen, wovon
meine Seele für den erhabenen Stellvertreter der Gottheit
durchdrungen ist!Schreib' es bloß dem mächtigen Eindruck des schönen
Klangs ihrer Zauberstimme zu, Danischmend, daß ich dir
diese ihre eigensten Worte wiederholen kann! denn das Gefühl,
das mich beim Anschauen ihrer himmlischen Schönheit
durchschauerte, löschte auf einmal jedes andere aus und ließ
mich weder zur Sprache noch zu Athem kommen. Ach, mein
Freund! wollte Gott, ich hätte den unseligen Gedanken nie
gehabt, sie ohne Schleier sehen zu wollen! Wie viel quälende
Schmerzen, welche schwere und fruchtlose Kämpfe, wie viel
Tage ohne Ruhe und Nächte ohne Schlaf hätt' ich mir
dadurch erspart! — Doch wozu dieser vergebliche Wunsch?
—Höre also den Verfolg meiner Geschichte mit der schönen
und tugendhaften Aruja.Das herrliche Weib blieb eine kleine Weile unverschleiert
mit gesenkten Augenliedern sitzen. Aber auf einmal stand
sie auf, dankte mir, mehr durch den ganzen Ausdruck ihres
seelenvollen Gesichtes, als mit Worten, dafür — daß ich
meine Schuldigkeit gethan hatte, und entfernte sich so schleunig,
daß es einige Augenblicke hernach nicht schwer gewesen
wäre, mich zu bereden, sie sey nicht auf ihren Füßen fortgegangen,
sondern, wie es einer solchen Engelserscheinung
zukam, plötzlich aus meinen Augen weggeschwunden.Eine Einbildungskraft, wie die deinige, Danischmend,
bedarf (nach Allem, was du schon gehört hast) keiner umständlichern
Schilderung des Gemüthszustandes, worin die
schöne Aruja mich zurück ließ. Genug, seit diesem Augenblicke
steht ihre Gestalt mit allen ihren Reizen so lebendig
vor mir, daß ich eher mir selbst, als diesem allzu liebenswürdigen
Gespenst entfliehen könnte. Es verfolgte mich
überall in den Divan, in die Moskee, auf die Jagd, in die
einsamsten Lauben meiner Gärten. Ich habe Alles versucht,
es aus meinen Augen und aus meinem Herzen zu verbannen,
Geschäfte, Zerstreuungen, Vergnügungen; Alles
vergebens! Ich habe sogar, wie ich befürchte, den Krieg,
der dich wieder in diese Gegend trieb, bloß aus Bedürfniß,
meinem Ingrimm Luft zu machen, angefangen. Die Zeit,
die sonst so viel über unsre Leidenschaften vermag, kann dieser
allein nichts anhaben: im Gegentheil, mit jedem Morgen
steht Aruja's Bild frischer, wärmer und glänzender vor
meinen Augen — Kurz, mein Freund, ich fühle, daß ich
nicht länger ohne sie leben kann.Das verhüte der Himmel! fuhr Danischmend ein wenig
rascher heraus, als sich geziemte.Höre, Danischmend, sagte der Sultan mit einem Blicke,
der ihn schnell zum gebührenden Gefühl ihres wahren Verhältnisses
zurück rief: ich erwarte Hülfe von deiner Freundschaft.
Wenn du Zauberworte kennest, die eine solche Wunde
heilen können, so laß hören! alle andere verbitte ich! Keine
Philosophien, keine schöne Sprüche, Danischmend, Hülfe
erwart' ich von meinem Freunde.Danischmend seufzte. Darf ich den Sultan, meinen Herrn,
fragen, ob Aruja etwas von der Leidenschaft weiß, die sie
das Unglück gehabt hat ihrem erhabenen Retter einzuflößen?"Wunderlicher Mensch! wie kannst du dir einbilden, daß
ich eine solche Liebe so lange vor ihr hätte verbergen können?"
Und wie benahm sie sich dabei?"So, daß ich sie noch mehr bewundern, noch heftiger
lieben mußte, wiewohl ich nichts dabei gewann, als die Gewißheit,
unglücklich zu bleiben — da es mir unmöglich ist,
mich zu Mitteln zu entschließen, die meiner und ihrer unwürdig
sind."Heil dem großen Monarchen von Indien für diese ewig
preiswürdige Unmöglichkeit!"Singe mir noch kein Triumphlied, Danischmend! Es
gibt Stunden, wo ich mich selbst hasse, mich dafür zermalmen
und vernichten möchte, daß ich so schwach bin, eine
hoffnungslose Leidenschaft nicht bezwingen zu können, und
doch nicht Muth genug habe, sie zu befriedigen, es koste auch,
was es wolle. Wie oft hab' ich mich schon verwünscht, daß
ich durch die allzu hastige Bestrafung des Kadi und des Statthalters
mich selbst in die Unmöglichkeit gesetzt habe, zu versuchen,
ob ich nicht vielleicht glücklicher bei Aruja seyn könnte,
als sie! Der öffentliche Ruf von meiner Gerechtigkeit, der
sonst mein Stolz war, ist mir lästig, weil er mir verhaßte
Schranken setzt, die ich nicht durchbrechen kann, ohne ihn
auf ewig zu verlieren. Und doch — was ist die Meinung
des unverständigen Haufens, die wie ein Rohr von jedem
Lüftchen hin und her bewegt wird? dem Scheinverdienst so
oft die Ehre gibt, die sie dem wahren versagt? heute mit
Füßen tritt, was sie gestern anbetete? Was ist Ruf und
Beifall des Volks und Nachruhm gegen —"— die Stimme Gottes in unserm eigenen Busen, fiel
Danischmend ein, die uns Beifall zuruft, wenn wir gerecht,
edel und groß handeln?"Auch dieß fühl' ich in ruhigern Augenblicken, Danischmend.
—Aber freilich hast du nie erfahren, wie einem, der
gewohnt ist, Alles zu können und Alles zu dürfen, zu Muthe
ist, wenn er einen Wunsch unbefriedigt lassen soll, dessen
Gewährung er mit einem Königreich nicht zu theuer erkauft
zu haben glauben würde. Aber ich bin dieses sinnlosen Kämpfens
mit mir selbst müde. Sage mir nicht, was ich thun soll, Danischmend!
Rathe mir als ein Freund, was kann ich thun?"Dieß war im Grund eine seltsame Zumuthung von Seiner
Hoheit. Aber der gutherzige Danischmend fühlte sich von
dem Zustande des armen Sultans gerührt. Er rechnete ihm den
langen Kampf mit sich selbst zu keinem kleinen Verdienst an
und wünschte, daß sich irgend ein gelindes und unschädliches
Mittel, wie ihm geholfen werden könnte, ausfündig machen
ließe. — Darf ich noch eine Frage thun, Sire? sprach er:
Ihre Hoheit erwähnten vorhin, Aruja wisse —"Sie und der alte Sadik und mein Kämmerling Kerim
sind die Einzigen, die um mein Geheimniß wissen, Danischmend.
Ich merke, was du fragen willst. Höre also an: Nachdem
ich lange Zeit vergebens die Ketten zu zerreißen gesucht hatte,
die mein Leben an dieses herrlichste aller Weiber fesseln,
entschloß ich mich endlich, Kerim heimlich an sie zu schicken,
der ihr das Geheimniß meiner Seele enthüllen und ihr
sagen sollte, daß mein ganzes Glück und das Glück von Indostan
in ihren Händen sey, und daß ich ihr Vollmacht gebe,
mir jede Bedingung vorzuschreiben, die sie zu ihrer eigenen
Beruhigung nöthig finden möchte. Aber ich besorge, daß der
Sklave sich entweder ungeschickt dabei benahm, oder daß er
vielleicht heimlich von Nurmahal bestochen ist, die, wiewohl
sie keine Hoffnung haben kann, mein Herz wieder zu gewinnen,
wenigstens keine Andre im Besitz desselben sehen will.
Genug, er brachte mir die Antwort: daß Aruja alle seine
Anträge ausgeschlagen und sich erklärt habe, lieber jeden Tod
zu leiden, als Wünsche, die ihre Pflicht zuwider wären,
anzuhören, geschweige zu begünstigen."Danischmend sann eine Weile nach. Sagten Ihre Hoheit
nicht, fing er wieder an, daß Sadik ein bejahrter Mann, und
Aruja noch ein sehr junges Weib sey?"Sie kann kaum über zwanzig Jahre haben, erwiederte
der Sultan, und Sadik könnte vielleicht ihren Großvater
vorstellen."So findet wenigstens auf Aruja's Seite keine Leidenschaft
Statt, die wir zu bekämpfen hätten. Bloß das Gefühl ihrer
Pflicht ist uns entgegen, und dieß würde gehoben, wenn
Sadik bewogen werden könnte, ihr einen Scheidebrief zu geben."Laß dich umarmen, Danischmend, mein Freund! — Unbegreiflich,
daß mir ein so simples Mittel nicht längst in den
Sinn kam! Es muß mir schlechterdings unmöglich vorgekommen
seyn, daß ein Mensch einen solchen Schatz besitzen und
sich dessen um irgend einen Preis selbst sollte berauben können."In Sadiks Jahren ist Liebe selten die herrschende Leidenschaft,
sagte Danischmend."Wenigstens müssen wir die Probe mit ihm machen.
Nimm die Sache auf dich, Danischmend! Gib mir diesen
Beweis deiner Freundschaft! Geh so bald als möglich zu dem
Alten, geh' ihm mit deiner ganzen Beredsamkeit zu Leibe,
biet' ihm Alles, was die Augen eines Privatmannes blenden
kann. — Ich gebe dir unbeschränkte Vollmacht — Gold, so
viel er will, eine Statthalterschaft, eine ganze Provinz! was
er nur fordern, und der Sultan von Indien bewilligen
kann! Aruja ist um keinen Preis zu theuer. Und daß sie
nur als erste Sultanin in meinem Harem einziehen soll,
versteht sich von selbst."Danischmend versprach dem Sultan, sein Möglichstes zu
thun, aber das Herz pochte ihm so stark dabei, als ob es
ihm weissage, daß es mit dieser Unterhandlung nicht so ablaufen
werde, wie er dem Monarchen aus bloßer Gutherzigkeit
geschmeichelt hatte.—————
Fünfundvierzigstes Capitel.Wie Danischmend seinen Auftrag an Sadik ausrichtet, und was darauf
erfolgt.Perisadeh war eben aus dem ersten Schlaf erwacht, als
der zurückgekommene Danischmend seinen gewohnten Platz
an ihrer Seite einnahm. Da er kein Geheimniß vor ihr
hatte, weil er nichts ohne ihren Rath unternahm, so entdeckte
er ihr, was bei dieser nächtlichen Zusammenkunft zwischen
ihm und dem Sultan verhandelt worden war, und den Auftrag,
womit er sich von Seiner Hoheit habe beladen lassen.Wenn Aruja gesinnt ist, wie ich, sagte Perisadeh, so wirst
du wenig Freude von deiner Sendung haben, lieber Danischmend.Gerade so viel, antwortete er, als ich haben werde, wenn
Sadik gesinnt ist, wie ich: oder vielmehr, ich würde eine
sehr große Freude haben, wenn dieses Ehepaar, der Ungleichheit
ihrer Jahre zu Trotz, edel und zärtlich genug wäre, die
blendenden Anträge, die ich ihnen zu machen habe, auszuschlagen.
Aber, ob sie das sind, das ist die Frage, und das
wird sich nun zeigen.Ob es auch wohl so ganz recht ist, die guten Leute auf
eine solche Probe zu stellen? sagte Perisadeh mit etwas leiserer
Stimme."Warum nicht? versetzte Danischmend. Das, was auf dem
Spiele liegt, ist ja nicht ihre Tugend, sondern bloß die Frage,
ob sie auf diese oder eine andere Weise glücklich seyn wollen
oder glücklicher zu seyn glauben? Sadik kann der schönen
Aruja mit gutem Gewissen den Scheidebrief geben, da er sie
dadurch zur ersten und glücklichsten Frau von ganz Indostan
machen kann —"Zur ersten, unterbrach ihn Perisadeh; aber auch zur
glücklichsten?"Wenigstens glücklicher, als sie wäre, die Frau eines
Mannes zu seyn, der Gold und Ehrenstellen ihrem Besitz
vorzöge."Aber, wenn sich nun Aruja durch die Größe der Versuchung
blenden ließe?"Dieß wird und kann nicht geschehen, wenn sie eine größere
Befriedigung und einen reinern Selbstgenuß darin
findet, den Mann, der sie über Alles liebt, so glücklich zu
machen, wie sie ihn machen kann, als die erste Dame im
Harem des Sultans von Indien zu seyn. — Würdest du
dich etwa vor einer solchen Probe fürchten, Perisadeh, daß
du für Aruja's Standhaftigkeit so besorgt bist?"Du scherzest, Danischmend; aber du solltest auch im Scherz
nicht fähig seyn, so was zu sagen."Nun, so sey auch Aruja's wegen ruhig, meine Liebe! Ueberdieß
geht mein Antrag nicht an sie. Sadik soll ihr den Scheidebrief
geben, nicht sie ihm. Läßt er sich dazu bereden, so gewinnt sie
augenscheinlich beim Tausche, oder —sie müßte kein Weib seyn."Danischmend, ich bin weder mehr noch weniger, als ein Weib;
aber ich würde sehr unglücklich seyn, wenn du mir einen
Scheidebrief gäbest, solltest du auch Monarch von ganz Asien
dadurch werden können."Da schließest du wieder von dir auf Andere, Perisadeh!
— Ob du, ohne dir selbst Unrecht zu thun, diesen Schluß
machen kannst, daß muß ja die Probe erst entscheiden. Unser
Fall, meine Liebe, gehört unter die Ausnahmen: Du
bist meines Herzens so gewiß, als ich des deinigen: das läßt
sich vielleicht unter tausend Ehen kaum von einer sagen;
warum sollten wir's denn nicht auf eine Probe ankommen
lassen, ob der alte Sadik und seine junge Frau unter die
Ausnahmen oder unter den großen Haufen gehören?"Und doch kommt mir die Frage immer wieder auf die
Zunge: Was für ein Recht hast du, ein glückliches Paar
durch eine so schwere Versuchung auf eine Probe zu stellen,
die ihrer Ruhe vielleicht gefährlich werden kann; da sie hingegen,
wenn sie unversucht geblieben wären, sich nicht einmal
die Möglichkeit, einander untreu zu werden, hätten träumen
lassen?"Liebe Perisadeh, du hättest Recht, so zu fragen, wenn es
aus Muthwillen, oder bloß um ein Experiment aus Neugier
zu machen, geschähe: aber bedenke, daß hier ein ganz besonderer
Fall vorwaltet. Es ist um die Gemütsruhe eines
Monarchen zu thun, dessen gute oder böse Laune das Glück
oder Unglück von Hunderttausenden entscheiden kann, und
den Versuch, den ich machen will, und wobei, im schlimmsten
Falle, Sadik eine Statthalterschaft, und Aruja den Rang einer
Sultanin von Indien zu gewinnen hat, ist das einzige Mittel,
ihm vielleicht dazu zu verhelfen. Da ist doch wohl nichts zu
bedenken, sollt' ich meinen?"Perisadeh ergab sich, ohne überzeugt zu seyn, und schlummerte
unvermerkt in der Hoffnung ein, daß Aruja und ihr
Alter die Probe mit Ehren bestehen würden; indeß Danischmend,
der es mehr wünschte, als hoffte, die Nacht mit Ueberlegungen
zubrachte, wie er seine Unterhandlung mit dem
alten Sadik einleiten wollte, damit er sich selbst, im Fall sie
nicht gelänge, keinen Vorwurf zu machen hätte, das Interesse
seines Herrn — und Freundes nicht mit aller ihm möglichen
Geschicklichkeit und Wärme besorgt zu haben.Die Ungeduld des Sultans erlaubte keinen Aufschub.
Danischmend begab sich also am folgenden Tage zu Sadik
und kündigte sich ihm als einen Mann an, der mit Aufträgen
von Schach-Gebal zu ihm komme. Sadiks Erblassen
bei diesen Worten schien ihm keine gute Vorbedeutung für
seine Unterhandlung zu seyn; aber er ließ sich dadurch nicht
abschrecken, ihm das Ansinnen des Monarchen mit der möglichsten
Schonung und die Beweggründe zum Gehorsam mit
dem möglichsten Feuer vorzutragen.Wiewohl er nicht vergaß, die Vortheile, die dem Gemahl
der schönen Aruja aus der erwarteten Gefälligkeit gegen die
Wünsche seines Gebieters erwachsen würden, in ein verblendendes
Licht zu stellen: so schien er doch den wenigsten Werth
auf sie zu legen und breitete sich desto mehr über das Verdienstliche
einer so großmüthigen Aufopferung aus, indem er
alle seine Wohlredenheit aufbot, sie ihm als eine Pflicht vorzustellen,
die von der guten Art, womit sie ausgeübt würde,
den vollen unbezahlbaren Werth einer freiwilligen schönen
That erhalte.Sadik hörte ihn ruhig an, bis er mit seiner Rede fertig
war, und antwortete alsdann mit einer Gelassenheit, die
dem Unterhändler noch weniger versprach, als der Schrecken,
der bei Nennung des Sultans sein Gesicht mit Todesblässe
überzogen hatte: Du hast Aruja nicht gesehen?Freilich nicht, erwiederte Danischmend.Du sollst sie sehen, fuhr jener fort, und ich bin gewiß,
ihr erster Anblick wird dir allen Muth benehmen, dem
Manne, der schon sieben Jahre im Besitz eines solchen Kleinods
ist, länger zuzumuthen, daß er sich dessen freiwillig begeben
solle. Der Sultan könnte mir die Hälfte seines Reichs
für sie bieten und hätte mir nichts geboten: denn das, was
er mir geben will, würde mir zu nichts helfen, und was er
von mir verlangt, ist mir unentbehrlich. Du sagst, er liebe
sie und könne ohne ihren Besitz nicht glücklich seyn. — Urtheile
daraus, ob es der ohne sie seyn könnte, der sie wirklich
besitzt. Unmöglich kann der Sultan sie lieben, wie ich;
unmöglich kann sie ihm seyn, was sie mir ist: denn es gibt
kein Gut, dessen Verlust sie mir nicht ersetzte, oder das ohne
sie ein Gut für mich wäre. Also kein Wort mehr von Vergütung
eines solchen Schatzes! Aruja ist über allen Preis.
Verschenken könnt' ich sie, wenn sie meine Sklavin wäre;
verkaufen niemals. Gleichwohl, wenn es nur darauf ankäme,
dem Sultan, meinem unbeschränkten Gebieter, mein eigenes
Glück aufzuopfern, wie könnt' ich es dem versagen, der alle
Augenblicke über mein Leben zu gebieten hat?Der Sultan ist gerecht, sagte Danischmend: er verabscheuet
den bloßen Gedanken, dir die schöne Aruja mit Gewalt
zu entwenden. Würde sie noch in deinem Hause seyn,
wenn er anders gesinnt wäre? Er bittet dich als um den
höchsten Beweis, den du ihm von deiner Zuneigung zu ihm
geben kannst, sie ihm freiwillig abzutreten; und eben darum,
weil er den unendlichen Werth eines solchen Geschenkes fühlt,
hält er sich verbunden, dir eine grenzenlose Dankbarkeit dafür
zu beweisen. Betrachte ihn als einen Freund, für den
man Alles thut, weil er hinwieder Alles für uns zu thun
bereit ist.Fordre nicht mehr von mir, Bruder, sagte Sadik, als
ein Mensch von einem Menschen fordern kann. Ein Freund
wird nichts von mir verlangen, das mir theurer als mein
Leben ist. Aber, wie gesagt, weil mein Leben dem Sultan
angehört, wär' es Thorheit von mir, ihm irgend etwas, dem
er nachtrachtet, streitig machen zu wollen. Höre mein letztes
Wort! Aruja hat über sich selbst zu gebieten; ich kann sie
nicht wider ihren Willen verstoßen: denn unter dieser Bedingung
wurde sie mein Weib. Aber ich will dich auf der
Stelle zu ihr führen. Mache ihr deinen Antrag, und sie
selbst soll sich, ohne mein Beiseyn, erklären, ob sie lieber
dem erhabenen Sultan von Indien oder dem armen Sadik
angehören will. Ist sie es zufrieden, dir in den Harem des
Monarchen zu folgen, so gebe ich ihr den Scheidebrief. Nur
laß alsdann den Sultan, meinen Herrn, unbekümmert seyn,
was aus dem geringsten seiner Sklaven werden mag!Mit diesen Worten stand der Alte auf, nahm ihn bei
der Hand und führte ihn in Aruja's Zimmer. — Hier;
Aruja, sprach er zu ihr, ist ein Abgesandter des Sultans,
unsers Gebieters, an mich. Er verlangt, daß ich dir einen
Scheidebrief gebe, damit dich der König der Könige zur ersten
Sultanin in seinem Harem erheben könne. Du kennest mich,
Aruja; aber du bist frei. Ich würde mich der Rechte, die
du mir an dich gegeben hast, freiwillig gegen keine Macht
im Himmel noch auf Erden begeben: aber ich begebe mich
ihrer gegen dich selbst. Du bist frei, Aruja laß dein Herz
entscheiden und denke dabei, wenn du kannst, nicht an das
meinige!Als er dieß gesprochen hatte, begab er sich weg und ließ
Danischmenden mit Aruja allein.Diesem hatte ihr erster Blick auf ihn sogleich das Herz
abgewonnen: aber das Wunder von Schönheit, das er nach
der Beschreibung des Sultans erwartete, konnt' er nicht in
ihr sehen; denn Perisadeh däuchte ihm doch noch schöner;
wiewohl er sich selbst gestehen mußte, daß sie weder so blendend
weiß war, noch zu eben so schönen Gasellen-Augen so
hellbraunes Haar hatte, wie er es in natürlichen Ringeln um
Aruja's Nacken bis unter den Gürtel herab wallen sah. Sie
sind Schwestern, sprach er zu sich selbst, und des Sultans
Schicksal ist entschieden!Höre mich, Herr! sagte Aruja, nachdem sie ihn ersucht
hatte, auf dem Sopha Platz zu nehmen; und wenn du, wie
mir dein Gesicht ankündigt, ein Herz hast, das für Andre
fühlen kann, so lege dem Sultan meine Antwort, ohne ihr
ihre Stärke zu benehmen, mit jeder Milderung vor, die
einen Ausbruch seines Unwillens über Sadik und mich verhüten
kann. —Als mich Sadik wie eine sich eben entfaltende
Blüthenknospe an seinen Busen steckte, schwor ich den heiligsten
Schwur, ihm bis in den Tod getreu zu seyn und,
wenn ich ihn überleben sollte, keines Andern zu werden.
Dieses Gelübde bindet mich: aber auch, wenn es mich nicht
bände, hat er es durch sein ganzes Betragen um mich verdient,
daß ich ihn nicht verlasse. Was ich ihm bin, kann
ich keinem Andern seyn; denn ich weiß, daß ich ihm Alles
bin, und daß er mit mir den einzigen Trost seines Lebens
verlöre. Ihm dieß zu seyn, ist alle Glückseligkeit, deren ich
fähig bin. — Tausend Dinge, worauf andre Personen meines
Geschlechts einen großen Werth legen, haben für mich
keinen Reiz. — Mit einem Wort, Herr, ich will lieber mit
Sadik das Brod der Trübsal essen, lieber die Pflegerin seines
herannahenden Alters, lieber seine Krankenwärterin seyn
und Nächte durch bei ihm wachen, um ihm eine Stunde
ruhigen Schlummers zu verschaffen, — als Sadik verlassen,
um die Königin der Welt zu werden. Sage dieß dem Sultan,
unserm Herrn, und bitte ihn um Gnade für den guten
Sadik, der bereit war, ihm sich selbst aufzuopfern, wenn ich
nicht so fest entschlossen wäre, mein Recht an ihn nur mit
meinem Leben aufzugeben.In diesem Augenblicke trat Sadik, der Alles gehört hatte,
wieder herein und ging mit Thränen des Danks und der
Liebe im Auge und mit ausgebreiteten Armen auf Aruja zu,
die, indem sie den dankbaren Alten schweigend an ihren Busen
drückte, dem in diesem Schauspiel reiner Liebe sich weidenden
Danischmend einen Blick gab, welcher Alles, was sie
ihm gesagt hatte, unwiderruflich bekräftigte.Heil euch! rief er in theilnehmender Entzückung aus,
und möge der Himmel, der an der Liebe der Tugendhaften
Wohlgefallen hat, euch in seinen Schutz nehmen und noch
lange die Früchte dieses wonnevollen Augenblicks genießen
lassen! Nehmt mich als den Dritten in eure Freundschaft
auf. Ich wurde berufen, eure Tugend auf eine schwere Probe
zu stellen, und ihr wißt nicht, wie glücklich ihr mich dadurch
machtet, daß ihr sie so herrlich bestanden habt. Der Sultan
wird sie, wie ich hoffe, ehren, — wiewohl seine Leidenschaft
für die schöne Aruja heftig genug ist, daß ich für eure Ruhe
zittern würde, wenn er weniger gerecht und menschlich wäre,
als ich ihn kenne.Ungeachtet dieser tröstlichen Versicherung konnte sich doch
Danischmend, indem ihn Sadik aus Aruja's Gemach zurückführte,
nicht entbrechen, noch einige Worte über die möglichen
Folgen ihrer Erklärung gegen ihn fallen zu lassen.
Ich kannte einst einen Winkel des Erdbodens, sagte er, wohin
ich euch rathen würde zu fliehen, wenn er noch ein Sitz
der Unschuld wäre, wie er's ehemals war. Und doch kehrte
sie vielleicht mit euch wieder in die einst so glücklichen Thäler
von Jemal.Von Jemal? rief Sadik: die kenne ich! eine meiner
ehemaligen Reisen führte mich durch sie. Dank für diesen
Wink, mein Bruder! —Gehe nun, und der Himmel schütze
dich und uns vor dem Zorne des Sultans!Sey getrost, Sadik, sagte Danischmend. Der erste Sturm
fällt auf mich; ich werde ihn aushalten, und das Ungewitter
wird ohne Schaden vorübergehen.Vorsicht ist die Mutter der Sicherheit, versetzte Sadik,
indem er ihm die Hand drückte: und so schieden sie von einander
als Freunde, deren gegenseitige Zuneigung, wiewohl
sie nur eine Stunde alt war, bereits die Stärke einer zwanzigjährigen
Freundschaft gewonnen hatte.Danischmend war mit dem Ausgang seiner Unterhandlung
so innig vergnügt, daß er, als er dem Sultan seinen Bericht
erstattete, nicht daran denken konnte, die aus seinen
Augen funkelnde Freude hinter einem Nebel von angenommenem
Gram zu verbergen, wie ein besserer Höfling, als
er, zu thun nicht vergessen hätte. Schach-Gebal wurde dadurch
getäuscht.Danischmend, mein Freund, rief er ihm entgegen, bringst
du mir eine gute Botschaft?Der verunglückte Unterhändler wurde durch diese ihm zuvoreilende
Frage auf einmal wieder zur Besonnenheit gebracht.
Er raffte sich, so gut er konnte, zusammen und
antwortete mit einem etwas ernsten, aber treuherzigen
Blicke: Sire, ich bringe Ihrer Hoheit eine Gelegenheit, sich
als den großmüthigsten aller Fürsten und den tapfersten aller
Helden zu zeigen —Reize mich nicht zur Ungeduld, fiel der Sultan ein: du
hast, wie ich höre, meine Sache nicht besser geführt, als
Kerim, und kommst mit strahlendem Angesicht, als ob du
mir zu melden hättest, Aruja erwarte mich auf ihrem Sopha.Sire, versetzte Danischmend, hätte ich diese Aruja und
ihren alten Sadik gestern schon so gekannt, wie ich sie heute
kennen gelernt habe, nie würde mir's in den Sinn gekommen
seyn, einen solchen Versuch mit ihnen zu machen. Aber wer
hätte auch glauben sollen, daß ich gerade da würde abgewiesen
werden, wo es am wenigsten zu vermuthen war? Aus
theilnehmender Treue gegen Ihre Hoheit that ich den Vorschlag,
den alten Sadik — der leider! so alt nicht ist, als
ich mir vorstellte —zu einem Scheidebriefe zu bewegen, und
übernahm die Ausführung, weil es doch unendlich wahrscheinlicher
war, daß er und die schöne Aruja unter die
Ehepaare, deren es zehentausend gegen eins, als unter die,
deren es eins gegen zehentausend gibt, gehöre. Mit Treue
und in der That mit mehr Wärme, als ich vielleicht gegen
mich selbst hätte rechtfertigen können, wenn es mir geglückt
wäre, bot ich allen meinen Mutterwitz auf, dem alten Sadik
meinen Antrag annehmlich zu machen; aber ich fand, daß
ich mit zwei Worten eben so weit gekommen wäre. Denn
er wollte sich auf nichts einlassen und blieb ein für alle Mal
dabei, daß Aruja über allen Preis und ihm zu seinem Leben
so unentbehrlich sey, als Luft und Sonnenschein. Gleichwohl
zeigte er sich bereitwillig, sich selbst dem Glücke seines Herrn
aufzuopfern, wenn Aruja es zufrieden sey. Er führte mich
auf der Stelle zu ihr, ließ mich bei ihr allein und erklärte
sich gegen sie und mich, daß er Alles gänzlich auf ihre freie
Entscheidung ankommen lassen wolle. Das war edel von
ihm gehandelt! —Auch muß ich gestehen, daß er ein Mann
von Gefühl und Ehre zu seyn scheint und für seine Jahre
ein so feiner, stattlicher und wohl erhaltner Mann ist, als
mir jemals einer vor die Augen kam. Indessen konnt' ich
diese Zuversicht nicht anders als für eine schlimme Vorbedeutung
ansehen. Er muß seiner Sache sehr gewiß seyn,
dacht' ich; und so fand sich's auch. Denn, wiewohl Aruja
von Ihrer Hoheit mit der größten Ehrfurcht und Dankbarkeit
sprach und sich viel zu gering fand, daß das Auge eines
so großen Monarchen auch nur im Vorübergehen auf einem
so unbedeutenden Geschöpfe, wie sie, verweilen sollte—Danischmend! das hat sie nicht gesagt, rief Schach-Gebal.Unser Mann war , wie wir längst wissen, zum Lügner
eben so verdorben, wie zum Höfling: er wurde rath, verwirrte
sich und gestand endlich, er wollte zwar nicht behaupten,
daß sie es gerade mit diesen nämlichen Worten gesagt habe;
aber den Sinn der ihrigen versicherte er richtig ausgedruckt
zu haben. Immer ist gewiß, fuhr er fort, daß sie sich auf
meinen Antrag so bescheiden und anspruchlos erklärte, so
tugendhafte Gesinnungen, eine so entschiedene Gleichgültigkeit
gegen Alles , was die Begierden und Wünsche der meisten
jungen Weiber reili, und ein so tiefes Gefühl dew, was
sie für ihre Pflicht gegen Sadik hält, zu Tage legte, daß ich
mich gezwungen fand, sie zu bewundern, und mit der Ueberzeugung
ven ihr wegging , es würde leichter seyn, in dem
ungeheuren Umfang der Staaten Ihrer Hoheit eine noch
schönere Frau und eine , die den Rang, den diese ehrliche
Kaufmannsfrau nicht zu schätzen weiß, in jeder Rücksicht
würdiger behaupten könnte, abzufinden, als den Eigensinn
zu überwinden, womit sie sich an die sonderbare Grille angeklammert
hat, ihr einziges Glas in der Einbildung zu
Studen., daß Niemand als sie den alten Sadik glücklich
machen könne.Die Sunn ! murmelte der Sultan in feinen !art
Und das wäre also Alles , was du mit deinem Mutterwitz
und mit der Beredsamkeit, worauf du dir immer so viel zu
gute thatest, ausgerichtet hast?Danischmend sah in Demuth auf den Fußboden und
schwieg.Der Sultan ging, die geballten Hände auf dem Rücken
verschränkt, mit ziemlich starken Schritten auf und nieder,
setzte sich, rief einen seiner großen Hunde zu sich und unterhielt
sich eine gute Weile mit ihm, als ob gar kein solcher
Mensch in der Welt wäre, wie sein Freund Danischmend.
Endlich fing er wieder an: Allerdings wär' es unbillig,
Jemanden für den Erfolg einer Sache, die nicht von ihm
allein abhängt, verantwortlich zu machen. Aber du mußt
mir verzeihen, Danischmend, setzte er mit einer kleinen
spottenden Verbeugung hinzu, daß ich eine allzu große Meinung
von deinen Talenten und von deiner Freundschaft zu
mir hegte.Was war auf ein solches Compliment zu antworten? —
Danischmend hob die Augen allmählich empor, sah dem
Sultan mit einer ihm eigenen gutmüthige Verlegenheit
ins Gesicht und schwieg noch immer.Du glaubst also, fuhr Schach-Gebal fort, sie werden nicht
auf bessere Gedanken zu bringen seyn?"Ich zweifle sehr, Sire."Du bist ein leidiger Tröster, Freund Danischmend! —
Und was wäre denn also zu thun? Was räthst du mir?"Was in einem solchen Falle Gerechtigkeit, Menschlichkeit
und Großmuth, die drei besten Rathgeber der Fürsten,
ganz gewiß dem edeln Herzen meines erhabenen Herrn
bereits zugeflüstert haben werden — des unscheinbaren häuslichen
Glückes und der tugendhaften Einfalt dieser ehrlichen
Seelen, die für Glanz und Größe keinen Sinn haben, zu
schonen und durch verdoppelte Bemühungen für das Wohl
von Indostan eine Leidenschaft zu zerstreuen, die seiner nicht
länger würdig ist, da sie ihm nur die Ruhe seines Lebens
raubt und ihn, dem die allgemeine Stimme seiner Völker
den schönen Beinamen des Gerechten zuerkannte, in Gefahr
setzt, seinen Ruhm durch eine ungerechte und grausame
Handlung zu verdunkeln."Die Stirne des Sultans verfinsterte sich zusehends während
dieser schönen Rede; er warf sich auf den Sopha, schien
in tiefes, aber grämliches Nachdenken zu verfallen und schwieg
abermal einige Minuten.Endlich wandte er sich wieder mit einer plötzlich angenommenen
Heiterkeit zu seinem unhöfischen Rathgeber. Ich
will dich nicht länger aufhalten, Freund Danischmend, sagte
er zu ihm: ich danke dir für deine Mühe, und wenn ich
deines Rathes wieder bedarf, werde ich dich rufen lassen.Danischmend drückte seinen Turban gegen den Fußboden
und zog sich schweigend zurück, nicht wenig getröstet, daß das
Ungewitter noch so gnädig vorübergegangen war.—————
Sechsundvierzigstes Capitel.Was sur eig Pflaster der getreue Kerim auf die Munde seines Herren legt.
Der Sultan entschließt sich Danischmenden wieder zu entfernen.Indessen Danischmend mit der vollständigsten Ueberzeugung
nach Hause trabte, daß die Natur es mit ihm eher auf alles
Andere als auf den Freund eines Sultans angelegt hade,
strich Schach-Gebal in den einsameren Gängen seiner Gärten
umher und suchte mit sich selbst einig zu werden, was er
wolle oder nicht wolle. Seine Leidenschaft hatte durch den
mißlungenen Versuch seines neuen Unterhändlers eine Wendung
bekommen, die dem häuslichen Glücke des ehrlichen
Sadik nicht viel Gutes versprach. Je gewisser er erwartet
hatte, daß man seine Anträge mit der feurigsten Dankbarkeit
annehmen werde, desto heftiger war jetzt sein Unwille , sie so
geradezu verworfen zu sehen: und von wein? von Sklaven, die
er mit einem Wink vernichten konnte— denen er nur seinen
Willen zuzuherrschen brauchte, um die unbedingteste Unterwerfung
von ihnen zu erwarten, und die er, um freiwillig
von ihnen zu erhalten, was er als unbeschränkter Gebieter
fordern konnte, so großmüthig bis zu sich hatte erheben
wollen. Noch nie hatte er sich in einem so peinlichen Gedränge
zwischen seinen Leidenschaften und dem , was er
seinem Ruhm schuldig war , befunden, noch nie den Gedanken
— "daß er nicht Alles dürfe, was er könne" — drückender
gefühlt, als jetzt. Sein Ingrimm über die schöne Aruja schien
die Leidenschaft mehr anzuschüren als auszulöschen; und
wenn man das, was er noch für sie fühlte, Liebe nennen
könnte, so hätte er durch seine Erfahrung bewiesen, daß Liebe
und Haß zugleich in eben und demselben Busen mit gleicher
Stärke wüthen könnten. Aber, was er fühlte, verdient keinen
so schönen Namen; es war bloße Begierde, die undankbare
Widerspenstige eben dadurch zu bestrafen, daß er sie, auch
wider ihren Willen, zum leidenden Werkzeuge seiner Selbstbefriedigung
machen wollte.Indem er diesen Gedanken nachhing, ward er in einiger
Entfernung seinen Kämmerling Kerim ansichtig, der ihm
nicht ohne Absicht nachgeschlichen war und aus Vergleichung
verschiedener neuerlicher Wahrnehmungen vermuthete, daß
sein Herr seines Dienstes vielleicht vonnöthen haben könnte. —
Kerim hätte seine Zeit nicht besser nehmen können; denn
wirklich war er der Einzige, dem der Sultan die Gedanken,
die jetzt in seinem Herzen kochten, anvertrauen und von
dessen Gewandtheit er sich Rath und Mittel zu ihrer Ausführung
versprechen konnte.Schach-Gebal winkte ihn herbei und entledigte sich seines
wichtigen Geheimnisses in die niedrige Seele eines verächtlichen
Hämmlings, den die Dienste, die er von ihm erwartete,
auf einmal wieder zu der zweideutigen Ehrenstelle eines
Günstlings und Busenfreundes erhoben.Kerim war unstreitig ein besserer Rathgeber, wie ein
Sultan sie nöthig hat, als der unpolitische und unbehülfliche
Danischmend. Er machte sich kein Bedenken, den verschiedenen
Leidenschaften, von welchen er seinen Herren zugleich
bearbeitet sah, jeder nach ihrer eigenen Weise zu schmeicheln
und den Vorsatz, das Feuer, welches Aruja in seinem Busen
entzündet hatte, es koste, was es wolle, an dem ihrigen zu
löschen, für den einzigen zu erkennen, der unter solchen Umständen
seiner würdig sey. Nur schien die Frage, wie dieses
edle Vorhaben am bequemsten und schicklichsten auszuführen
sey, immer schwieriger zu werden, je mehr sie darüber ins
Besondere gingen.Doch für einen Kopf, wie Kerims, gab es in Sachen
dieser Art keine unüberwindliche Schwierigkeiten; und so
wurde denn, nachdem man die verschiedenen Plane, die sich
ihm zugleich darstellten, von allen Seiten erwogen und bald
angenommen, bald wieder verworfen hatte, zuletzt beschlossen,
die schöne Aruja vermittelst eines wohlausgesonnenen Vorwandes
an einen Ort zu locken, wo Kerim sich ihrer, ohne
Aufsehen zu machen, bemächtigen und sie in aller Stille nach
einem der Landhäuser seiner Hoheit bringen sollte.Es war ein ziemlich naher Tag zur Ausführung dieser
schönen Heldenthat angesetzt. Allein, sobald Schach-Gebal
wieder allein war, wurde eine Bedenklichkeit in seinem Gemüthe
rege, die in Kerims Gegenwart nicht hatte aufkommen
können.Dieser Sultan war, wie wir wissen, ein sonderbares Gemisch
von guten und schlimmen Eigenschaften. Er besaß zwar
keine Tugend, welcher nicht durch irgend ein angränzendes
Laster immer Schach geboten worden wäre; hingegen hatte er
auch kein Laster, dem nicht eine entgegenstehende Tugend oder
etwas, das ihr ähnlich sah, immer die Wage gehalten hätte;
so daß er, durch die beständige Wirkung dieser zwei entgegengesetzten
Kräfte, sich in einer Art von Diagonale
bewegte, die ihn (wenige Fälle abgerechnet) weder so gut seyn
ließ, als er zuweilen sich zu seyn schmeichelte, noch so schlimm,
als er zu seyn Lust hatte, so oft irgend eine unartige Leidenschaft,
von schändlichen Rathgebern und Handlangern unterstützt,
die Oberhand über ihn gewann.Eine von den besagten guten Eigenschaften, über welche
er mit aller seiner sultanischen Machtgewalt nie völlig Meister
werden konnte, war die Scham vor guten Menschen, eine
Schwachheit, womit er zwar aus Mangel an Gelegenheit
etwas selten befallen wurde, deren er sich aber, seit seiner
Bekanntschaft mit Danischmenden, nie hatte erwehren können,
so oft er besorgen mußte, diesen in so mancher Rücksicht unbedeutenden
Mann zum Zeugen oder heimlichen Beobachter
einer unlöblichen Handlung zu haben. Alles sein Bestreben,
diesen Mann durch die Uebelnamen: Phantast, Schwärmer,
Träumer, Philosoph und dergleichen, in seinen eigenen und
Anderer Augen herabzuwürdigen, konnte nie bewirken, daß
er ihn nicht im Grunde seine: Herzens für etwas, woran er
nicht gern glaubte, für einen guten Menschen, zu halten
genöthigt war: und wenn gleich diese geheime Macht, welche
Danischmend (vermuthlich ohne es selbst zu wissen) über ihn
ausübte, nicht vermögend war, ihn von einer Uebelthat, zu
welcher er sich durch irgend eine sultanische Leidenschaft stark
versucht fühlte, zurückzuhalten, so konnt' er es doch nicht
über sich gewinnen, sie auszuüben, so lang' er besorgen mußte,
daß Danischmend etwas davon erfahren könnte.Was fange ich mit diesem Menschen an, sprach er zu sich
selbst, den ich auf ewig los geworden zu seyn hoffte, und der
mir so unerwartet in Gestalt eines Körbchenmachers wieder
in den Wurf kommen mußte? — Er muß wieder fort, das
ist ausgemacht! — "Aber wohin?" —Wohin? So weit von
Dehly, als möglich. Das Uebrige ist seine Sache. Wenn
ich dafür sorge, daß er sich nicht übel da befinde, wohin er
ziehen wird, so hat er nicht über mich zu klagen.Bei Allem dem war ihm doch, als ob ihm eine leise
Stimme in seinem Busen sage, Danischmend könnte sich dem
ungeachtet über ihn zu beklagen haben; und er würde vielleicht
nicht so bald über diese Schwierigkeit hinausgekommen
seyn, wofern nicht das Glück oder die wohlthätige Macht,
welche die Schicksale der Menschen lenkt, in eben diesem
Augenblicke dafür gesorgt hätte, ihn und seinen beschwerlichen
Freund unvermutheter Weise aus der Verlegenheit zu ziehen.
Wie dieß zugegangen sey, werden wir in dem nächsten Capitel
erfahren.—————
Siebenundvierzigstes Capitel.Eine unvermuthete Zusammenkunft und Nachrichten aus Jemal.Indem der gute Danischmend, voll von dem, wovon er
an diesem merkwürdigen Tage Zeuge gewesen war, und sehr
vergnügt mit dem Ausgange seines Abenteuers nach Hause
eilte, sah er im Vorübergehen einen schönen rüstigen jungen
Mann vor der Pforte eines Karavanserai stehen, dessen Kleidung
ihn stutzen machte; denn es war die gewöhnliche Tracht
der Landleute in Jemal. Er blieb stehen und betrachtete ihn
mit immer steigendem Interesse; sein Herz schien ihm zu
sagen, du kennest diesen Menschen. Auch der Fremde, der
ihn nicht sogleich bemerkt hatte, stutzte über Danischmends
Aufmerksamkeit auf ihn: aber kaum hatte er ihn recht ins
Auge gefaßt, so lief er mit offenen Armen auf ihn zu. Seh'
ich recht? rief er: ist's möglich? Find' ich hier so unverhofft
meinen alten Freund und Wohlthäter wieder, dessen Verlust
alle gute Menschen in Jemal zu beklagen nie aufgehört haben,
seit dem Unglückstage, da er sich von uns entfernen mußte?
Kennest du den jungen Faruck nicht mehr, den du einst
liebtest, und dem du beim Abschied einen so großmüthigen
Beweis davon gegeben hast?Danischmend brauchte nicht mehr, um sich seiner aufs
lebendigste zu erinnern, wiewohl die seit ihrer Trennung
verflossenen Jahre aus dem damals kaum aufgeblühten Jüngling
einen stattlichen jungen Mann gemacht hatten. Ihre
beiderseitige Freude über dieses unverhoffte Wiederfinden war
unbeschreiblich, und Danischmend hatte daher wenig Mühe,
den ehrlichen Faruck dahin zu bringen, daß er sich sogleich
wieder mit ihm auf den Weg begab, um Perisadeh die Freude,
die ihr sein Wiedersehen machen mußte, keinen Augenblick
länger, als unvermeidlich war, vorzuenthalten.Indem sie nun so zusammen gingen, war natürlicher Weise
Danischmends erste Frage: was für ein Zufall ihn aus Jemal
nach Dehly gebracht habe? Es müssen seltsame Dinge vorgegangen
seyn, sagte er, um diese Zusammenkunft, die ich
kaum meinen Augen glauben kann, möglich zu machen.Ja wohl, seltsame Dinge, versetzte Faruck, und noch viel
leidiger als seltsam, wie du sogleich hören sollst.Und nun fing er an, ihm von Allem, was sich seit Danischmends
Entfernung in Jemal zugetragen, eine Erzählung
zu machen, die sich mehr durch Umständlichkeit als Ordnung
empfahl, aber durch die Lebhaftigkeit der Darstellung, wozu
die Augen und Hände und beinahe alle Gliedmaßen des Erzählers
das Ihrige reichlich beitrugen, zu einem immerwährenden
Gemälde nach dem Leben wurde, und wovon wir,
da uns dieses Mittel, sie interessanter zu machen, fehlt, einen
bloßen Umriß für unsere Leser mehr als hinlänglich halten.Der Kalender Hakim Alhafi war nicht wenig mißmüthig,
als er bei seiner Zurückkunft aus Kischmir seinen schönen
Plan auf Danischmends Freiheit und Eigenthum gescheitert
sah. Aber dieser Unfall verdoppelte nur seinen Eifer, die
übrigen Entwürfe auszuführen, wodurch er sich dem hoffärtigen,
wollüstigen und habsüchtigen Feridun nothwendig zu
machen gewußt hatte. Ein Theil dieser Unternehmungen
kam in kurzer Zeit zu Stande: die thörichten Jemaliter
eilten in die Wette, ihr Entbehrliches gegen zierliche Schleier,
Leibgürtel, Hals- und Armgeschmeide und andere solche Kindereien
auszutauschen, womit Feriduns neu eröffnete Bude
reichlich versehen war. Zu gleicher Zeit theilten die drei
Kalender und die ehemalige Pagodentänzerin Allen, welche
an ihrem Umgang Vergnügen fanden, unvermerkt ihre ausschweifende
Sinnesart und verderbten Sitten mit, und Unschuld,
Fleiß, häuslicher Sinn und häusliche Tugend
nahmen in eben dem Maße ab, wie die Bewohner und
Bewohnerinnen der Jemalischen Thäler unter den Händen
dieses losen Gesindels sich verfeinerten, wie sie es
nannten.Ein großer Theil ihrer Weiber und Töchter opferten dem
eiteln Vergnügen, sich herauszuputzen, und der Begierde, zierlich
tanzen, die Liedchen des Kalenders Alfaladdin singen und
die Instrumente der Bayadere spielen zu lernen, die Pflichten
auf, von deren Erfüllung der Wohlstand ihrer Familien
abhing. Unvermerkt steckte das Beispiel der ersten, die sich
zu dieser neuen Lebensweise hatten verführen lassen, auch
ihre Nachbarn an; die weniger vermögenden suchten es den
wohlhabendern so gleich zu thun, als es nur immer angehen
wollte; und viele, die sich ehemals im vollen Genuß des Nothwendigen
glücklich gefühlt hatten, schränkten sich jetzt im Unentbehrlichsten
ein, um nicht ärmer zu scheinen, als andre,
und sich eingebildete Bedürfnisse anzuschaffen, durch deren
Mangel man sich jetzt beinahe einer größern Verachtung aussetzte,
als womit in den Zeiten der Einfalt und Unschuld
unsittliche Handlungen bestraft worden waren.Die natürlichen Folgen einer so verkehrten und zu den
Umständen der Jemaliter so übel passenden Verfeinerung
konnten nicht ausbleiben. In wenig Jahren fand sich mehr
als die Hälfte dieses kleinen Volkes auf einen Grad von
Dürftigkeit heruntergebracht, daß ihnen kein anderes Mittel
übrig blieb, als sich denjenigen, welche nach und nach ihr
Vermögen an sich gezogen hatten und nun die Reichen hießen,
zu einer Art von Sklaven zu verdingen, um durch übermäßige
Arbeit kärglich zu verdienen, was ihnen vordem ein
mäßiger Fleiß in Benutzung ihrer kleinen Erbgüter viel
reichlicher verschafft hatte. Der Anblick des üppigen und schwelgerischen
Wohlstandes der Reichen machte die Unglücklichen,
die noch vor Kurzem ihres Gleichen gewesen waren, um so
viel elender, da die Gewinnsucht dieser Gefühllosen ihre Dürftigkeit
selbst zu einem Zwangsmittel, ihnen einen immer geringern
Lohn ihrer Arbeit abzudringen, zu machen wußte
und ihnen also alle Möglichkeit abschnitt, sich jemals aus
ihrem Elend herauszuarbeiten, — Und so wurde denn das in
seiner Unwissenheit einst so glückliche Jemal in wenig Jahren
ein unseliger Schauplatz aller Laster, die der Luxus unter
einem kleinen Volke ausbrütet, das sich ehemals für reich
hielt, weil es sich nie arm gefühlt hatte; und bösartige,
menschenfeindliche Leidenschaften, die Kinder einer ungerechten
und grausamen Ungleichheit, verwirrten und zerrütteten
eben diese nicht mehr friedsamen Thäler, worin vordem ein
allgemeiner Brudersinn aus mehr als fünf tausend Familien
nur eine einzige machte.Alle die Uebel, rief Danischmend, sagte ich ihnen voraus;
sagte ihnen wenigstens so viel davon, als sie, wie ich
glaubte, verstehen könnten. Aber sie verstanden mich so
wenig, als Kinder, die man durch Androhung einer Krankheit,
von welcher sie noch keinen Begriff haben, von schädlicher
Nascherei abschrecken will. Eine traurige Erfahrung
mußte ihnen meine Wahrsagungen verständlich machen und
sie den Werth der Güter schätzen lehren, die sie so leichtsinnig
um die nichtswürdigen Werkzeuge ihres eigenen Verderbens
hingaben.Zu dieser Erkenntniß ist nun der größte Theil meiner
verführten Brüder gekommen, sagte Faruck; aber, was ich
zu deiner Beruhigung nicht länger verschweigen darf, eine
nicht unbeträchtliche Anzahl, an deren Spitze deine ehemaligen
Nachbarn und Freunde stehen, haben sich von den ausländischen
Sitten und Lastern und von der Ansteckung, die
sich aus Feriduns Hause über unser ganzes Ländchen verbreitete,
immer rein erhalten. Dein Geist, weiser und guter
Danischmend, ist nie ganz von uns gewichen; dein Bild,
das Andenken deines unter uns geführten Lebens, deiner
Reden, deiner Handlungen, alles des Guten, das du uns
gethan hast, war immer auf den Lippen deiner Freunde; deine
Grundsätze haben uns stark gemacht, uns mit vereinigten
Kräften dem Strom entgegen zu dämmen, haben uns Muth
eingeflößt, unser zerrüttetes Vaterland zu retten; und hätten
meine Brüder hoffen können, daß ich dich in Dehly wieder
finden würde, so bin ich gewiß, sie würden sich zu Wiederherstellung
der Ordnung und Ruhe in Jemal keinen
Andern als dich von dem großen Beherrscher des ganzen Indostan
ausgebeten haben.Dieß ist also das Geschäft, das dich nach Dehly geführet
hat? — sagte Danischmend. Schach-Gebal, der kaum weiß,
daß ihr in der Welt seyd, und sich um euer kleines Ländchen
gerade so viel bekümmert als um einen Maulwurfshaufen,
der soll euch wieder zusammenflicken? Welch ein Einfall!Wie? Der große Sultan von Indien, der uns mit
einem Worte helfen kann, sollt' es nicht wollen? rief der
bestürzte Faruck. Ich hätte diese weite Reise vergeblich
gemacht und müßte wie ein Thor zu meinen Brüdern zurückkehren?
Unmöglich! Du bist, wie ich mich noch ganz wohl
erinnere, immer kein Freund der Sultane gewesen —Schach-Gebal, den einzigen, den ich persönlich kenne, ausgenommen,
sagte Danischmend lächelnd: denn der ist, für
einen Sultan, wirklich kein schlimmer Mann. Aber wer
hat euch auf diesen guten Einfall geholfen, Faruck?Ich muß gestehen, erwiederte Faruck, daß ich selbst derjenige
bin, der ihn gehabt hat, wie es nun auch ausfallen
mag."Und was veranlaßte dich zunächst dazu, wenn ich fragen
darf?"Das ist's, was ich dir noch von unsern Geschichten zu
erzählen habe, bester Danischmend. Schon vor Jahr und
Tag ging die Rede aus einem Ohr ins andre, Feridun
brüte über dem Anschlag, die mancherlei Händel und Unordnungen,
von welchen man in den Dörfern, wo seine meisten
Anhänger und Dienstleute wohnten, fast alle Tage hörte,
zum Vorwande zu nehmen, um sich vom Könige von Kischmir
(dem wir bisher für unsere Unabhängigkeit einen kleinen
jährlichen Tribut bezahlten, wie du weißt) zum Befehlshaber
über Jemal erklären zu lassen, wovon, Dank seinen Fabriken,
seinem Alleinhandel und der Thorheit meiner Landsleute!
bereits der dritte Theil als Eigenthum in seinen Händen
war. Dieß hätte uns noch gefehlt, um unsre Ausartung
und Herabwürdigung zu vollenden. Du kannst dir leicht vorstellen,
daß die Kalender sich nicht träge finden ließen, diese
Maßregel unserm Volke als das einzige Mittel, unser Glück
wieder herzustellen und fest zu gründen, anzupreisen; so wie
der ehrliche Kassim, ich und die übrigen Freunde der guten
alten Sitte, alle unsre Kräfte aufboten, ihnen entgegen zu
arbeiten. Unvermerkt hatten wir zwei Parteien im Lande,
die, wie es zu gehen pflegt, bei ihren gelegenheitlichen
Debatten über diesen Punkt, nicht immer in den Gränzen
der Mäßigung blieben. Feridun sparte indessen, auf Anrathen
des alten Kalenders, nichts, um seinen Anhang überwiegend
zu machen und sich der Gunst des ärmern Theils
derjenigen, die noch nicht gänzlich von ihm abhingen, zu
versichern. Er gab von Zeit zu Zeit öffentliche Volksfeste,
theilte Spenden aus und bemühte sich vorzüglich, die Weiber
durch kleine Geschenke aus seinen Waarenkammern auf seine
Seite zu bekommen. Es ging sogar die Rede, seine würdige
Gemahlin, die Tänzerin, hätte, mit seinem Vorwissen, die
Stimmen einiger Reichen, welche sich bisher zu unserer Partei
gehalten hatten, durch Gefälligkeit erkauft, die, was auch
sonst ihr Werth seyn mochte, wenigstens ihrer Tugend nichts
kosteten. Nachdem er sich auf diese Art einer großen Mehrheit
versichert zu haben glaubte, sollte nun unverzüglich zur
Ausführung seines Plans geschritten werden: und schon war
der Tag zu einer allgemeinen Volksversammlung angesetzt,
in welcher die Absendung einiger Deputirten beschlossen werden
sollte, um Feriduns ehrsüchtiges Gesuch im Namen des
sämmtlichen Volks von Jemal am Hofe zu Kischmir zu
unterstützen; als eben derjenige, der die Seele aller dieser
schändlichen Anschläge war, durch seine Thorheit die Ursache
ihres Mißlingens werden mußte.Die Begebenheit, in deren Erzählung der redselige Faruck
sich jetzt einließ, lag ihm mit allen ihren Umständen noch
so frisch im Sinne und war, ihrer Folgen wegen, in seinen
Augen von solcher Wichtigkeit, daß wir ihn hier abermals
unterbrechen müssen, um seine für unsern Zweck allzu weitläufige
Darstellung in die möglichste Kürze zusammen zu
ziehen.Der Kalender Hakim, dessen Grundsätze, seiner anscheinenden
Harmlosigkeit und wenigen Ansprüche ungeachtet, uns
gleich anfangs nicht viel Löbliches von ihm erwarten ließen,
wofern es ihm bei Gelegenheit einfallen würde, die Rolle
eines bloßen Zuschauers mit einer thätigen zu vertauschen,
— dieser schlaue Heuchler hatte sich, von dem Augenblick an,
da er in Feridun ein taugliches Werkzeug zu seinen Absichten
erkannte, einen kleinen Plan ausgedacht, ohne große Mühe,
und ohne etwas dabei zu wagen, sich in den Besitz aller der
Vortheile zu setzen, um derentwillen ein Mensch seines Gelichters
hätte wünschen mögen, unumschränkter Sultan von
Jemal zu seyn. Am Namen und äußerlichen Prunk war
ihm nichts gelegen: im Gegentheil fand er es vermuthlich
viel bequemer und lustiger, unter der Maske eines Kalenders
Sultan, als, wie so mancher Herrscher in Asien, unter
dem Namen und äußerlichen Ansehen eines Sultans die
Drahtpuppe irgend eines Kämmerlings, einer Favoritin oder
eines Kalenders zu seyn. Das kleine Project, sich Danischmends
Besitzthümer zuzueignen, paßte zu gut in diesen seinen
Hauptplan, als daß er die Gelegenheit, die sich dazu
anbot, hätte versäumen sollen: als er aber unverhoffter
Weise verunglückte, fand er sich um so leichter in diesen
kleinen Unfall, da er an Feridun, seinen beiden jüngern
Ordensbrüdern und der schönen Narissa so geschmeidige, so
ganz zu seinen Absichten passende Gehülfen besaß, daß es
nur ein Spiel für ihn war, sie, indem sie bloß ihre eigenen
Zwecke zu verfolgen glaubten, zu blinden Werkzeugen der
seinigen zu machen.In kurzer Zeit hatte er es so weit gebracht, daß er Alles,
was Feridun besaß, als sein Eigenthum betrachten durfte,
daß er, mit Hülfe seiner Partei, Alles machte, was er wollte,
und daß er auf die Hälfte der Weiber in Jemal eben so
sicher rechnen konnte, als ob er sie in einem einzigen Harem
unter seinem Schlüssel gehabt hätte.Durch was für einen mächtigen Talisman der alte Sünder
sich eine so große Gewalt über die schönen Jemaliterinnen
zu verschaffen wußte, konnte Faruck seinem Freunde nicht
recht deutlich machen; genug, die Sache selbst war mehr als
zu gewiß; und (was nicht weniger wunderbar scheinen könnte)
Hakim besaß auch ein Mittel, die Wachsamkeit der Männer
einzuschläfern und sich seiner sultanischen Vorrechte so geschickt
zu bedienen, daß, indem immer einer sich über die
treuherzige Blindheit des andern lustig machte, doch mehrere
Jahre lang keiner auf den Argwohn gerieth, daß es ihm
selbst nicht besser gehe, wie den übrigen.Allzu großes Glück bei einem gefahrvollen Handwerk macht
endlich sicher, und Sicherheit unvorsichtig. Der alte Kalender
gewöhnte sich unvermerkt so sehr daran, bei jedem seiner
Freunde und Bekannten zu Hause zu seyn, daß der eine
und andere endlich Verdacht zu schöpfen anfing. Unter diesen
befand sich auch ein gewisser Badur, dessen du dich vielleicht
als eines angesehenen Mannes erinnerst, und dessen
Gemahlin nach der reizenden Narissa für die schönste Frau
in Jemal gehalten wurde. Sinan, der Leiermann und Liedermacher,
glaubte sich schon ziemlich hoch in ihrer Gunst
geschwungen zu haben, als er sich plötzlich genöthigt fand,
seine Ansprüche aufzugeben und zuzusehen, wie der unaufhaltbare
Hakim sich eines Herzens bemächtigte, welches er
durch den Zauber seiner Lieder beinahe schon gewonnen hatte.Sinan, der sich schon mehrmals in ähnlichen Fällen wie
ein kluger Mensch betrug, unterlag dieser neuen Probe seiner
Geduld. Von wüthender Rachgier aller Besonnenheit
beraubt, entdeckte er dem eifersüchtigen Badur das geheime
Einverständniß zwischen Hakim und der schönen Zemrud
und gab ihm Anweisung, wie er sich mit eigenen Augen
von der Treulosigkeit seines Weibes und seines vermeinten
Freundes überzeugen könnte. Badur überfiel die Unglücklichen
in einem Augenblicke, da sie am sichersten zu seyn glaubten,
und beide wurden ohne Schonung seiner Rache aufgeopfert.Der Tumult, den dieser tragische Auftritt in Badurs
Hause erregte, theilte sich bald der ganzen Nachbarschaft mit,
und in wenig Stunden lief die darüber entstandene Bewegung
durch alle Gemeinen von Jemal. Feridun und seine
Getreuen eilten wüthend herbei, den Tod ihres Freundes
zu rächen; aber Badur, von allen seinen Verwandten umgeben
und durch einen Theil der Gegenpartei Feriduns verstärkt,
setzte ihnen einen Widerstand entgegen, der sie, nach
einem hartnäckigen und blutigen Gefechte, die Flucht zu
ergreifen nöthigte.Das stumme Entsetzen, das die Jemaliter beim Anblick
ihrer erschlagenen und verwundeten Brüder überfiel, verwandelte
sich in wenigen Augenblicken wieder in die heftigste Wuth.Die Luft ertönte von Verwünschungen Aller derer, die
man mit Recht als die Urheber dieser Gräuel betrachtete;
der größte Theil der Familien, die es mit Feridun gehalten
hatten, schlug sich jetzt zu seinen Gegnern; tausend Klagen
und Beschwerden, die aus Furcht vor einem so reichen und
viel vermögenden Manne bisher verstummen mußten, wurden
laut; die Gährung unter dem von allen Seiten zusammenlaufenden
Volke nahm überhand, und die Stimme der
Wenigen, die es zu beruhigen suchten, wurde vom wilden
Geschrei nach Rache verschlungen. Flutenweise strömte die
tobende Menge unter gräßlichen Drohungen auf die Wohnung
des verhaßten Feridun zu, der kaum noch Zeit gewann,
sich nebst den schuldigsten von seinen Anhängern, während
ihre Häuser und Magazine ausgeplündert wurden, durch
eine schleunige Flucht in die Gebirge zu retten.Sobald der erste Sturm sich gelegt hatte, traten die
Aeltesten des Volks mit den Angesehensten unter der bisherigen
Gegenpartei zusammen, um sich über die Mittel zu
berathschlagen, wie die alte Verfassung ihres Vaterlandes
wieder hergestellt werden könnte: und da sich, zu ihrer großen
Bestürzung, ein Gerücht verbreitete, Feridun habe sich
an den Hof zu Kischmir gewandt und werde in Kurzem mit
bewaffneter Macht zurück kommen, um im Namen des
Königs Besitz von Jemal zu nehmen; so trug Faruck darauf
an, daß sie unverzüglich einen wackern Mann aus ihrem
Mittel an den Kaiser zu Dehly absenden sollten, um sich
und ihr Land unter seinen unmittelbaren Schutz zu legen
und sich einen weisen Mann von ihm zu erbitten, der ihre
zerrütteten Angelegenheiten wieder in Ordnung brächte und,
unter des Kaisers höchster Autorität, so viel möglich auf
den ehmaligen Fuß zurück setzte.Dieser Vorschlag wurde vom Volke genehmiget, und die
Ausführung dem Faruck selbst aufgetragen. Und nun (setzte
dieser hinzu) wirst du begreifen, lieber Danischmend, warum
ich sagte, meine Brüder, die sich jetzt deiner Warnungen und
Vorhersagungen lebhafter als jemals erinnerten, würden sich
gewiß keinen Andern von dem großen Sultan erbeten haben
als dich, wenn sie gehofft hätten, daß ich dich zu Dehly finden
würde. Auch bin ich gesonnen, es nun eigenmächtig zu
thun, da ich versichert seyn kann, mir dadurch allgemeinen
Dank von ihnen zu verdienen.Diesen Gedanken gib auf, Bruder, sagte Danischmend,
wenn es dir wirklich Ernst ist, daß ich mit dir nach Jemal
zurück gehen soll. Ich kenne den Sultan besser; denn wiewohl
ich dermalen nur ein armer Korbmacher bin —Du, ein Korbmacher? unterbrach ihn Faruck mit Bestürzung."Ein Korbmacher, Dank sey dem ehrlichen alten Kassim!
der sich hoffentlich noch wohl befindet, wenn anders die gute
Zeineb nicht unter der Hälfte der Jemalischen Weiber ist,
aus denen, wie du sagtest, der alte Kalender sich einen
Harem, wie noch kein Sultan gehabt hat, zusammen setzte?"Sey ruhig, sagte Faruck lachend: so weit ist es nicht mit
ihr gekommen! —Aber was für Unfälle, lieber Danischmend,
haben dich dahin gebracht —"Du sollst Alles erfahren, guter Faruck! Jetzt wollt' ich
dir nur sagen, daß ich, ungeachtet meiner Korbmacherei, mit
dem Sultan in einem gewissen Verhältnisse stehe, wodurch
ich dir vielleicht in deiner Angelegenheit förderlich seyn kann."Desto besser! erwiederte Faruck. Man hat mir hier gesagt,
wenn ich ein Geschäft beim Kaiser hätte, so wäre der kürzeste
Weg, mich an den Jmam der Sultanin zu wenden.Diese Mühe kannst du dir ersparen, Bruder, sagte Danischmend.
Ehemals mag dieß wohl der nächste Weg gewesen
seyn; aber jetzt gibt es einen noch kürzern. Wende dich
morgen eine Stunde vor dem Divan gerade an Schach-Gebal
selbst; und damit du nicht in den Vorhöfen und Vorkammern
abgewiesen wirst, so laß den Kämmerling Kerim rufen und
sag' ihm: Danischmend, ein alter Bekannter von dir, habe
dich zu ihm geschickt und lasse ihn bitten, dir so bald als
möglich einen Augenblick Gehör bei Seiner Hoheit zu verschaffen.
Du wirst sehen, daß er dich nicht lange warten
lassen wird.Unter diesen Gesprächen langten sie vor Danischmends
Hütte an und wurden von Perisadeh empfangen, wie man
sich's ohne unser Zuthun vorstellen kann. Denn Scenen dieser
Art werden, wenn man die Personen einmal kennt, am
füglichsten dem Leser selbst überlassen.—————
Achtundvierzigstes Capitel.Glücklicher Erfolg der Audienz, welche Faruck bei dem Sultan erhielt.Nachdem Faruck den Rest dieses glücklichen Tages zwischen
Danischmend und Perisadeh mit Wiederholung seiner Geschichte
und mit Anhörung der ihrigen zugebracht hatte,
begab er sich am folgenden Morgen nach dem Palast des
Sultans, that, wie ihn Danischmend angewiesen hatte, und
wurde ohne Verzug von Kerim zum Sultan geführt.Schach-Gebal, der sich beim Namen Jemal sogleich erinnerte,
die Thäler von Jemal von Danischmend nennen gehört
zu haben, erkundigte sich unter Anderm, ob sich nicht vor
mehreren Jahren ein Fremder Namens Danischmend unter
ihnen aufgehalten hätte? und Faruck ergriff diese Gelegenheit,
um dem Fremden viel Gutes nachzusagen und im Namen
aller seiner Landsleute zu beklagen, daß sie schon über acht
Jahre nichts mehr von ihm gehört hätten.Geh' in deine Herberge zurück, mein Sohn, sagte der
Sultan, und sey ruhig; du sollst nicht lange auf meine Entschließung
warten.Zu gelegenerer Zeit hätte mir dieser ehrliche Schlag nicht
kommen können, dachte Schach-Gebal. So kann ich meines
Moralisten auf einmal mit der besten Art von der Welt
los werden und mache noch, fünf- oder sechshundert Parasangen
weit von hier, etliche tausend arme Schelme glücklich,
ohne daß es mir mehr als mein Namenszeichen kostet.Noch an diesem Abend ließ der Sultan Danischmend zu
sich rufen. Freund Danischmend, rief er ihm, sobald er ihn
erblickte, zu, wie nanntest du das kleine Ländchen, zwischen
Kischmir und den Gebirgen von Tibet, denke ich, wohin du
zogst, als wir uns vor vierzehn Jahren trennen mußten?"Die Thäler von Jemal, gnädigster Herr."Recht! Jemal! — und solltest du wohl gedacht haben,
daß diesen Augenblick ein Abgeordneter aus diesem nämlichen
Jemal bei mir gewesen ist, durch den die Einwohner um
meinen Schutz und um einen weisen Mann bitten lassen,
den ich ihnen schicken soll, um ihre Sachen in Ordnung zu
bringen?"Da haben sie einen klugen Einfall gehabt, Sire!"Meintest du nicht auch, ich sollte mich der guten Leute
annehmen? sagte der Sultan."Sie gehören Ihnen an, Sire: ungeachtet der weiten
Entfernung sind sie unstreitige Unterthanen des großen indostanischen
Reichs —"Ich höre, der kleine König von Kischmir will das arme
Volk unterdrücken, aber dem wollen wir die Lust dazu bald
vergehen machen."Dazu braucht es nur einen Wink des Königs der Könige —"Aber, Danischmend, die Leute verlangen auch einen weisen
Mann von mir. Wo find' ich einen weisen Mann in
Indostan?"Es wird schwer halten, gnädigster Herr."Beinahe hätte ich Lust, dich zu schicken, Danischmend."Mich, Sire? —Ich danke demüthigst für den gnädigen
Scherz. Ich bin nur ein Körbchenmacher —"Das muß ich wissen, was du bist, sagte der Sultan
lachend. Aber, Scherz bei Seite, Danischmend; ich möchte
den armen Jemalitern gern Gutes thun. —Ich verliere dich
ungern wieder, zumal da ich dich kaum gefunden habe. Aber
ein Fürst muß sich, wie du weißt, seinen Völkern aufopfern.
Also nichts weiter: Geh nach Hause, packe deine Familie
und deine Sachen zusammen —"Das wird wenig Zeit erfordern, Sire."Mein Schatzmeister hat Befehl, dir noch diesen Abend
zehntausend Bahams auszuzahlen, mein Canzler wird dir
deine Bestallung zu meinem Statthalter in Jemal in eben
derselben Zeit zuschicken; an den König von Kischmir gehen
meine Befehle noch heute ab. Morgen früh werden vier
Kameele, sieben zuverlässige Sklaven und zwei von meinen
Reisigen, um dich bis nach Jemal zu begleiten, vor deiner
Thür seyn. Du weißt, ich pflege nichts halb zu thun. Und
nun, weiser Danischmend, geleite dich der Himmel! Lebe
wohl, bis wir uns wieder sehen! — Und damit begab sich
Schach-Gebal, ohne den Dank des erstaunten Danischmend
abzuwarten, in die Zimmer der Sultanin Nurmahal.Schach-Gebal ist der expediteste aller Sultanen in der
Welt, sagte Danischmend, als er nach Hause kam, zu Faruck
und Perisadeh. Was hinter dieser erstaunlichen Eilfertigkeit
stecken mag, weiß der Himmel! Genug, liebe Perisadeh,
morgen früh reisen wir mit unserm Freunde Faruck nach
Jemal. Der Sultan hat Alles schon veranstaltet; das Reisegeld,
die Bestallung, die Kameele, die Sklaven, die Begleitung,
Alles ist bereit.So schnell hätte ich nicht gehofft daß es gehen würde,
sagte Faruck. Aber desto besser! — Ein vortrefflicher Herr!
Gott erhalt' ihn!Amen, rief Danischmend, wenn seine Absicht so gut ist,
als die That! Denn ich gestehe, der Gedanke, mit unserm
guten Faruck in das schöne Jemal zurückzuziehen, den alten
Kassim, meinen Lehrmeister, wieder zu sehen und euch wieder
gut machen zu helfen, was die verwünschten Fakirn und
Kalender verdorben haben, macht mich glücklicher, als ich sagen
kann. — Aber, Perisadeh, was fangen wir nun mit den
Körbchen an, die ich noch fertig liegen habe?Schenke sie der schönen Aruja zum Andenken, sagte Perisadeh.Danischmend packte sogleich ein halbes Dutzend zusammen,
schickte sie durch eine kleine Sklavin an Sadik und Aruja
und ließ ihnen wissen, daß er morgen früh auf Befehl des
Sultans Dehly verlasse. Aber die Sklavin kam mit der
Nachricht zurück, Sadik und Aruja seyen in verwichner
Nacht abgereist, um einen ihrer Verwandten auf dem Lande
zu besuchen, und man wisse nicht, wie bald sie zurück kommen
würden.Danischmend schüttelte den Kopf. Wolle der Himmel,
sagte er zu Perisadeh, daß diese Reise aufs Land keinen Bezug
auf meine so eilfertige Versendung nach Jemal habe!
—Das wackere Paar müßte ihm denn nur, von einem guten
Engel gewarnt, zuvorgekommen seyn.Wir wollen das Beste hoffen, sagte Perisadeh.Indem sie noch über den unerwarteten Vorfall zusammen
schwatzten, schickte der Reichskanzler die Bestallung, und der
Schatzmeister zehn reich gestickte Beutel, jeden mit tausend
goldnen Bahams angefüllt.Faruck war vor Freuden über den glücklichen Erfolg seiner
Sendung halb wahnsinnig. Perisadeh und Danischmend brachten
die Nacht mit den nöthigen Zurüstungen hin; Faruck
holte sein Gepäck und seine Reisegefährten ab; die Kameele,
die Sklaven und die zwei Reisigen standen um Sonnenaufgang
vor Danischmends Hütte, und die kleine Karavane,
von den guten Wünschen der Nachbarn begleitet, trat zur
glücklichen Stunde ihren Zug nach Jemal an.Neunundvierzigstes Capitel.Einige Aufschlüsse, nebst einem unfehlbaren Mittel, wie man die
Sultane von phantastischen Leidenschaften curirt.Sadik und Aruja waren aus Dehly verschwunden, und
der Argwohn, dessen sich Danischmend, als er Nachricht davon
erhielt, nicht erwehren konnte, war nach Allem, was er
von Schach-Gebals Leidenschaften und Charakter wußte, weder
unwahrscheinlich noch unbillig; sie müßten denn nur (sagte
er, ohne etwas sehr Bestimmtes dabei zu denken) von einem
guten Engel gewarnt worden seyn.Gewarnt waren sie wirklich worden; und wie schwarz auch
das Wesen, das ihnen diese Wohlthat erwies, gewesen seyn
möchte, gewiß ist, daß es für das tugendhafte Ehepaar ein
guter Engel war. Um jedoch den bösen Schein zu meiden, als
gedächten wir den Glauben an Geisternähe und überphysische
Einwirkungen durch diese Behauptung zu begünstigen, halten
wir es für Pflicht, ein kleines Capitel zur Enträthselung
dieser dunkeln Begebenheit anzuwenden.Der Verdacht, welchen Schach-Gebal gegen Danischmenden
äußerte, daß der Kämmerling Kerim vielleicht von der Sultanin
Nurmahal bestochen gewesen sey, als der Erfolg seines
Auftrags an die schöne Aruja so wenig zum Vergnügen seines
Herrn ausfiel, war nicht ganz ungegründet. Kerim war in
der That von der Sultanin erkauft und hatte also nicht ermangelt,
ihr Alles, was er von Aruja's geheimer Audienz im
Cabinet des Sultans wußte, unverzüglich zu hinterbringen.
Die Leidenschaft dieses Fürsten konnte einer so scharfsichtigen
Kennerin, wie Nurmahal, nicht lange verborgen bleiben, wie
sehr er auch ihr und aller Welt ein Geheimniß daraus zu
machen glaubte. In der Meinung, daß es nur eine von den
Phantasien seyn werde, deren ihm schon manche eben so leicht
vergangen als gekommen waren, gebrauchte sie anfangs bloß
die gewöhnlichen Hausmittel, ohne sich das Geringste von
ihrem Mitwissen um das Geheimniß seines Herzens merken
zu lassen. Als aber das Uebel überhand zu nehmen schien,
und Kerim ihr nun auch den geheimen Antrag, womit er an
Aruja abgeschickt, und die entschlossene Antwort, womit er
wieder zurück geschickt worden war, vertraute, merkte sie, daß
die Sache ernsthafter werden könnte, als sie sich vorgestellt
hatte, und daß sie kräftigere Maßregeln ergreifen müsse, um
sich im Besitz des Ansehens und Einflusses zu erhalten, den
sie schon so viele Jahre im Serai behauptete.Mit einer Nebenbuhlerin, wie Aruja, sich in einen Wettstreit
einzulassen, konnte ihr, deren Macht über die animalischen
Triebe Seiner Hoheit schon lange vorüber war, gar
nicht in den Sinn kommen; auch war es nichts weniger,
als diese Macht, worüber sie eifersüchtig war. Aber eine
Person, wie Aruja, konnte auch der Gewalt nachtheilig
werden, die ihr die Gewandtheit ihres Geistes, ihre Kenntniß
des menschlichen Herzens und eine lange Bekanntschaft mit
Schach-Gebals schwachen Seiten über den Geist, das Gemüth
und die Leidenschaft des Sultans erworben hatten;
und Aruja mußte also aus dem Wege geschafft werden, was
es auch kosten möchte. Indessen, da Nurmahal im Grunde
kein bösartiges Wesen war und zu gewaltsamen Mitteln
nur im äußersten Nothfall, z. B. wenn Aruja den Anträgen
des Sultans Gehör gegeben hätte, zu schreiten sich hätte
entschließen können: so begnügte sie sich eine Zeit lang damit,
sowohl Schach-Gebal als den Gegenstand seiner Leidenschaft
aufs schärfste beobachten zu lassen, in der Absicht, sobald sie
Gefahr merken würde, die schöne Aruja zu warnen und ihr
selbst zur Flucht behülflich zu seyn.Damit diese Maßnehmung ihre ganze Wirkung thun
könnte, war noch eine andere nöthig, auf deren Erfolg Alles
ankam. Sie mußte nämlich dem Bilde der schönen Aruja,
welches allen diesen Unfug in der Phantasie Sr. Hoheit anrichtete
(denn sie selbst hatte er, seit ihrer Erscheinung in
seinem Cabinete, nur zwei oder drei Mal, ohne ihr Wissen,
verstohlener Weise gesehen), eine andere Schönheit entgegen
stellen, die durch den gegenwärtigen Eindruck, den sie
unversehens auf den Sultan machen würde, das Bild der abwesenden
Geliebten zu verdunkeln fähig wäre.Da ihr in ganz Dehly, so wie im Serai, Alles zu Gebote
stand; so hatte sie wirklich bei einem der reichsten Sklavenhändler
eine junge Sklavin aus Georgien aufgetrieben, welche
in wenig Tagen nach dem Harem eines indischen Fürsten,
dem diese Art von Waare um keinen Preis zu theuer war,
abgeführt werden sollte. Nurmahal verschaffte sich den Anblick
dieser Sklavin und fand sie in allen Stücken so vollkommen,
wie sie es zu ihrer Absicht wünschte, daß sie des
Handels mit den Eigenthümern sogleich einig wurde und
sie auf der Stelle in ihren Harem bringen ließ. Diesem
Mädchen fehlte gerade Alles, was sie der Sultanin hätte
gefährlich machen können; aber dafür besaß sie Reizungen
und Talente, welche die erschlafften Sinne des abgelebtesten
aller Sultane wieder zu verjüngen fähig gewesen wären.
Ihre Gestalt, ihre Gesichtsbildung, ihre Augen, ihr Lächeln,
der Ton ihrer Stimme, ihr Gesang, ihr Tanz, wovon jedes
für sich allein bezaubernd war, mußten, wenn sie zusammen
spielten, um so gewisser eine unwiderstehliche Wirkung thun,
da sie durch den Glanz der frischesten Jugendblüthe und der
vollkommensten Gesundheit verstärkt wurde.Nurmahal hielt sich von dem Augenblick an, da sie dieses
reizende Geschöpf in ihrer Gewalt hatte, ihres Sieges
über die schwärmerische Leidenschaft des Sultans gewiß. Sie
wurde nie müde, so oft er auf der Jagd oder im Divan
war, die verschiedenen Talente der kleinen Zoraide in
Uebung zu setzen: überdieß hatte auch die vertrauteste ihrer
Anwärterinnen Befehl, sie in den feinsten Geheimnissen einer
gewissen Art von Coquetterie zu unterweisen, die man nur in
den Harems der asiatischen Großen kennt, und die nur in
diesen zur Vollkommenheit gebracht werden.Nurmahal schloß aus der immer zunehmenden bösen Laune
des Sultans sehr richtig, daß es nun bald auf die eine oder
andere Weise zur Entscheidung kommen müsse; und sie verdoppelte
daher ihre Aufmerksamkeit, besonders seitdem die
kleine Begebenheit mit den Körbchen ihr auf die Entdeckung
geholfen hatte, daß Danischmend in der Nähe sey. Sie
erfuhr nun theils von Kerim, theils durch ihre übrigen Kundschafter
Alles, was zwischen Schach-Gebal und seinem ehemaliger
Itimadulet vorgegangen: den Besuch, den der letztere
dem alten Sadik gemacht; wie ungehalten der Sultan über
den schlechten Erfolg desselben gewesen; und wie er sich entschlossen
habe, seiner langwierigen Selbstpeinigung durch eine geheim
veranstaltete Entführung der spröden Aruja ein Ende zu machen.Jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren. Sie schickte sogleich
ihre Vertraute an Aruja ab, um ihr den Anschlag, der gegen
sie im Werke sey, zu entdecken und sie zu bedeuten, daß sie
noch in dieser Nacht aus Dehly entfliehen müsse, wenn sie
nicht Gefahr laufen wolle, dem Sultan unwiederbringlich in
die Hände zu fallen. Die Achtung, welche Aruja's standhafte
Tugend ihr eingeflößt habe, diente ihr zum Bewegungsgrund
des Antheils, den sie an ihrem Schicksal nehme, und beides
bestätigte ein Geschenk von einigen Diamanten von Werth
und einem Beutel voll Gold, welche die Sultanin ihr zum
Behuf ihrer schleunigen Abreise zustellen ließ.Dieser Warnung zufolge machten sich Sadik und Aruja
in aller Stille fertig, verließen unter dem Vorwand einer
kleinen Reise aufs Land die Hauptstadt noch in derselben
Nacht, bestiegen am nächsten Orte zwei Dromedare, richteten
ihren Lauf nach der Gegend, wo Sadik seinen künftigen
Wohnsitz zu nehmen entschlossen war, und langten beinahe
zu gleicher Zeit mit Danischmend in Lahor an.Sobald Schach-Gebal von der Abreise seines Freundes
Danischmend benachrichtigt worden war, ermangelte der getreue
Kerim nicht, Seine Hoheit mit den Maßregeln zu
unterhalten, die er zu glücklicher Ausführung des Anschlags
auf die schöne Aruja getroffen habe. Sie ist, sagte er, mit
ihrem Alten auf ein paar Tage zu einem Verwandten aufs
Land gegangen, und meine Anstalten sind so gut gemacht,
daß sie mir auf dem Rückwege unfehlbar in die Hände fallen
müssen.Der Sultan wurde durch diese Versicherung und durch
den Gedanken, seines beschwerlichen Freundes mit so guter
Art los geworden zu seyn, in eine so behägliche Laune gesetzt,
daß Nurmahal keine Mühe hatte, ihn zur Annahme einer
kleinen Lustpartie zu bewegen, welche sie diesen Abend in
ihrem Garten anzustellen gesonnen war.So ergetzbar hatte sie den König der Könige in langer
Zeit nicht gesehen. Alles, was sie zu seinem Vergnügen
angeordnet hatte, erhielt seinen Beifall: aber vorzüglich schien
er an einer Musik Gefallen zu finden, die ihn aus einem
Gebüsche, nahe an dem Kiosk, wo er Platz genommen hatte, zu
begrüßen anfing. Nach einer Weile verlor sich die Symphonie
in ein leises harmonisches Getön, aus welchem sich eine
menschliche Nachtigallstimme erhob, die, von einer sehr
fertig gespielten Laute begleitet, seine ganze Aufmerksamkeit
erregte. Sobald sie aufgehört hatte zu singen, fragte er
die Sultanin, wer diese Sängerin sey, die er noch nie gehört
zu haben glaube? — Sie wurde mir, war ihre Antwort,
vor Kurzem von einem Sklavenhändler aus Georgien angeboten,
und ich kaufte sie, weil sie in der That eine feine
Stimme hat und sich selbst nicht übel auf der Laute dazu
begleitet.Der Sultan, von der übel verhehlten Eifersucht, die er
in dem Tone und in dem Gesichte der Sultanin zu entdecken
glaubte, nur desto mehr gereizt, die junge Sängerin bewundernswürdig
zu finden, wollte sie noch einmal hören und
schien von der Reinheit, Biegsamkeit und Fülle ihrer Töne
immer mehr bezaubert: als ein großes Ballet von den
schönsten Tänzerinnen des Harems, das auf ihren Gesang
folgte, ihm beinahe wider Willen einen flüchtigen Blick abnöthigte.
Nicht lange, so öffneten sich die durch einander
geschlungenen Gruppen, um einer jungen Tänzerin Raum zu
machen, die, so schön wie Amor, so leicht wie Zephyr und
lieblicher, als eine aufschwellende Rose in der Morgensonne,
mit reizend verbreiteten Armen heran geschwebt kam und
mit ihren zierlichen Fußspitzen kaum den Boden zu berühren
schien.Der Sultan, noch betroffener als zuvor, verwandte kein
Auge von dem Wollust athmenden Geschöpfe, dessen mimischer
Tanz den süßen Kampf der jungfräulichen Schüchternheit mit
der Liebe bis zum Siege der allmächtigen Natur und zum
schmachtenden Hinsinken in die Arme eines unsichtbaren Liebhabers,
mit unbeschreiblicher Anmuth und täuschender Wahrheit
schilderte.Als sie sich wieder im Gedränge ihrer Gespielen verlor,
fragte Schach-Gebal die Sultanin abermals, wie sie zu dieser
Tänzerin gekommen sey? — Es ist, sagte sie ganz kalt, eben
dieselbe junge Sklavin, deren Gesang vorhin Ihrer Hoheit
Vergnügen zu machen schien.Beim Haupte des Propheten, rief Schach-Gebal, es ist
eine Nymphe des Paradieses, die sich von dem Georgischen
Sklavenhändler verkaufen ließ, um ihren Scherz mit uns zu
treiben. Ehe wir's uns versehen, wird sie wieder davon geflogen
seyn.So rathe ich Ihrer Hoheit, sie in Zeiten fest zu halten,
sagte die Sultanin lachend, indem sie ihre Freude über den
glücklichen Erfolg ihres Anschlags unter die kaltblütigste Unbefangenheit
verbarg.Von diesem Augenblick an war der Zauber aufgelöst, der
den Sultan an Aruja's Bild gefesselt hatte. Es schien ihm
selbst unbegreiflich, wie es habe zugehen können, daß er sich
von der grillenhaften Leidenschaft zu einer spröden Närrin,
die ihm einen alten verdorbenen Kaufmann vorzuziehen fähig
war, so lange bethören und alles Vergnügen des Lebens habe
rauben lassen. Er überließ sich nun den wohlbehäglichen Eindrücken,
welche die mannigfaltigen Reizungen der jungen
Zoraide auf seine ausgeruhten Sinne machten, ohne alle Zurückhaltung;
ihm war, als ob eine Kraft von ihr ausginge,
die ihm seine ganze Jugend wieder gäbe; und als er eine
Schale Sorbet, die sie ihm darreichte, ausgetrunken hatte,
däuchte ihm, er habe alle ihre Reize und alle Liebe, die in
der Brust eines Sterblichen Raum hat, mit hinab geschlürft.
Wenn deine junge Sklavin irgend einen Preis hat, sagte er
zu Nurmahal, so fordere, was ich dir für sie geben soll.Sire, antwortete die Sultanin, sie gehörte Ihnen schon
von dem Augenblicke zu, da sie Ihnen gefallen hat.Schach-Gebal dankte ihr auf eine Art, die ihr den einzigen
Preis, um welchen ihr die Sklavin feil war, auf immer zusicherte,
und zog sich bald darauf mit einem Blicke auf
Zoraiden und Nurmahal, welchen beide zu verstehen schienen,
in seine Zimmer zurück.Als er in sein Schlafgemach trat, fand er Zoraiden, ihre
Laute im Arm, auf dem Sopha sitzen, die ihn mit einem
liebeathmenden Liebe des Dichters Feleki bewillkommte.Zwei oder drei Tage darauf kam der getreue Kerim, Seiner
Hoheit mit einem trostlosen Gesicht anzukündigen, daß
Aruja mit ihrem Alten verschwunden sey, ohne daß man
entdecken könne, wo sie hingekommen.Aruja? —sagte der Sultan, in einem Ton, als ob er
sich eines halbvergessenen Traumes erinnerte. —Desto besser,
Kerim! Friede sey mit der ehrlichen Frau und ihrem alten
Sadik! Man lasse sie ungehindert ziehen! hörst du, Kerim?
Es sind gute Leute, und sie stehen überall unter meinem
Schutze.Von diesem Augenblick an war die Rede nicht mehr von
der schönen Aruja. Schach-Gebal ergetzte sich an der kleinen
Zoraide so lang' — als es billiger Weise zu erwarten war,
und Nurmahal machte inzwischen im Serai und im ganzen
Reiche, was sie wollte.Und so sind und waren von jeher die Könige und die
Könige der Könige ein Spielzeug ihrer eigenen Leidenschaften
und der Ränke eines Jeden, der ihnen nahe genug ist, um
ihre schwache Seite auszufinden, und schlau und schlechtdenkend
genug, sie zu mißbrauchen.—————
Fünfzigstes Capitel.Ankunft in Jemal und Beschluß dieser Geschichte.Als Danischmend mit seinen Reisegefährten zu Lahor ankam,
trafen sie in dem Karavanserai, wo sie abstiegen, ein
paar Derwische an, in welchen sie bei näherer Beaugenscheinigung,
zu ihrer aller großen Freude, Sadik und Aruja
erkannten.Perisadeh glaubte in der letztern eine jüngere, so wie
Aruja in Perisadeh eine ältere Schwester zu sehen, und die
Zuneigung, die sie beim ersten Anblicke für einander fühlten,
endigte nicht eher als mit ihrem Leben. Was ihnen das
entflohene Ehepaar von den Umständen seiner Entweichung
entdeckte, klärte Danischmenden das Geheimniß seiner eigenen
Entfernung von Dehly auf; und, um von aller Furcht vor
Nachsetzung entbunden zu werden, fehlte ihnen nichts, als
zu wissen, was für gute Anstalten die Sultanin für ihre
Ruhe getroffen hatte.Sie setzten nun die Reise nach den Thälern von Jemal
mit einander fort; nur Faruck eilte voraus, um einige Tage
früher anzukommen, damit er seinen Brüdern von dem Erfolge
seiner Absendung Bericht erstatten und Alles zu Danischmends
Empfang vorbereiten könnte.Feridun und die wenigen Anhänger, die ihm geblieben
waren, hatten inzwischen alles Mögliche versucht, um sich
vom Hofe zu Kischmir Unterstützung zu verschaffen: als aber
eine öffentliche Erklärung der Einwohner von Jemal erschien,
daß sie sich unter den unmittelbaren Schutz des großen Sultans
von Indostan begeben hätten, fand man bedenklich,
jenen länger Gehör zu geben; und der bald darauf angelangte
kaiserliche Firman, der die Einwohner von Jemal von aller
Abhängigkeit von dem Könige in Kischmir frei erklärte und
dem letztern untersagte, sich in ihre innern Angelegenheiten
zu mischen, bewog diesen Fürsten, den Flüchtlingen andeuten
zu lassen, daß er ihnen keinen längern Aufenthalt in seinem
Lande gestatten könne. Was hierauf aus Feridun und seiner
Bayadere und den beiden Kalendern, die sich in ihren Besitz
mit ihm theilten, geworden sey, weiß man nicht: die Uebrigen
aber suchten sich mit ihren Landsleuten auszusöhnen und
kehrten unter der Bedingung, deren wir sogleich erwähnen
werden, in ihr Vaterland zurück.Danischmend wurde von dem ganzen Volke von Jemal
eingeholt und mit hohem Jubel in seine alte Wohnung eingeführt.
Kassim und Zeineb waren vor Freude außer sich,
ihm Alles, was sie von seiner Freigebigkeit empfangen hatten,
wieder zurückzugeben, und konnten, eben so wie der brave
Faruck, nur mit vieler Mühe bewogen werden, eine reichliche Vergütung
dessen, was sie dadurch verloren, von ihm anzunehmen.Er erklärte hierauf dem Volke in einer allgemeinen Versammlung:
daß er nicht als Statthalter des Königs der
Könige, sondern als ein Bruder zu seinen Brüdern, zu ihnen
zurückkomme und von seiner Vollmacht keinen andern Gebrauch
zu machen gedenke oder machen zu müssen hoffe, als
ihre alte glückliche Verfassung und Lebensweise, die ihnen,
wie er nicht zweifle, durch alles Vorgegangene nur desto lieber
geworden seyn müsse, wieder herzustellen und dann unter
ihnen, als unter seines Gleichen, zu leben, ohne ein anderes
Ansehen geltend machen zu wollen, als was ihr eigenes Vertrauen
in seine Redlichkeit und Liebe zu ihnen Allen ihm
freiwillig zugestehen werde.Das erste Geschäft, welchem er sich nun, mit Beiziehung
der Aeltesten aller Gemeinen und derjenigen, die sich in allen
Zeiten der Bethörung durch ihre Anhänglichkeit an die alten
Sitten ausgezeichnet hatten, unterzog, war, alle Spuren
jenes unglücklichen Zeitraums in Jemal, soviel nur immer
möglich war, auszulöschen. Eine allgemeine Verzeihung und
Vergessenheit des Geschehenen sollte hierzu den Grund legen;
nur Feridun und die mit ihm verbundenen Ausgewanderten
wurden davon ausgenommen; es wäre denn, daß sie sich
gefallen lassen wollten, auf alle an sich gezogene Grundbesitzungen
Verzicht zu thun und sich an ihren angestammten
Gütern zu begnügen. Alles Uebrige, was sie auf Kosten
ihrer Brüder erworben hatten, wurde für Eigenthum der
Nation erklärt und mit allgemeiner Genehmhaltung dergestalt
vertheilt, daß der vierte Theil davon gemeines Gut verbleiben
und unter öffentlicher Verwaltung gemeinnützig verwendet,
das Uebrige aber unter die ärmsten Jemaliter,
nach Proportion der Stärke ihrer Familien, vertheilt werden
sollte.Alle noch übrig gebliebene Gegenstände, Werkzeuge und
Werkstätten der Hoffahrt und Ueppigkeit wurden theils vernichtet,
theils außer Landes zum Vortheil der ganzen Gemeinheit
verkauft. Zwar ließ sich Danischmend von Perisadeh
und Aruja erbitten, eine Manufactur beizubehalten, welche
Frau Zeineb mit großer Emsigkeit errichtet hatte, um sich
selbst und ihren guten Freundinnen Calessons und Hemden
von feinerem Gespinnst und Gewebe, als ehemals in Jemal
üblich war, zu verschaffen: aber diese Ausnahme wurde nur
unter der Einschränkung zugestanden, daß diese Manufactur
ein Eigenthum der ganzen Gemeinheit seyn, und der reine
Ertrag, den sie bei einem festgesetzten, sehr mäßigen Preis
abwerfen könnte, zum Nutzen der darin arbeitenden Kinder
und zu anderer Arbeit untüchtigen Personen verwendet werden
sollte. Die gute Zeineb glaubte das Vergnügen, Vorsteherin
dieser Anstalt, an welcher ihr ganzes Herz hing, zu bleiben,
auf diese Bedingung nicht zu theuer zu erkaufen: und da
doch manche Hände, die sonst müßig geblieben wären, dadurch
beschäftigt wurden; so glaubte Danischmend in diesem einzigen
Stücke der Weiblichkeit der Jemalischen Frauen, zu deren
Gebrauch die Producte dieser Manufactur ausschließlich bestimmt
waren, nachgeben zu können, ohne den Vorwurf einer
allzu weit getriebenen Gelindigkeit zu verdienen.Sobald die Gleichheit unter den Bewohnern von Jemal,
soweit als es ohne Jemanden Unrecht zu thun anging, wieder
hergestellt, und die Verfassung der Gemeinen sowohl, als des
ganzen Volkes, wieder auf den ehemaligen Fuß gesetzt war,
glaubte Danischmend, alles Uebrige werde sich unvermerkt
von selbst wieder in das vorige Geleis zurückschieben. Anstatt
die Zahl der Gesetze zu häufen, die er unter einem kleinen
Volke für ein sehr unzulängliches Surrogat des Mangels
guter Sitten hielt, begnügte er sich, durch sein eigenes und
Perisadehs Beispiel, welches zugleich die Regel aller ihrer
Freunde war, die gute alte Sitte, die Einfalt der Lebensweise
und alle die häuslichen und geselligen Tugenden, welche
die Grundlage der menschlichen Glückseligkeit sind, sichtbar
darzustellen und nach und nach wieder allgemein zu machen:
und da die Bethörung dieses gutartigen Volkes nicht lange
genug gedauert hatte, daß das Gift der Verderbniß bis in
den Grund des Herzens hätte eindringen können, hatte er
die Freude, den Geist der Mäßigung, des Fleißes, der Eintracht
und der Zufriedenheit eher wieder in Jemal herrschen
zu sehen, als er selbst gehofft hatte.Wir zweifeln sehr, ob im ganzen ungeheuren Reiche des
großen, gerechten und vielgeliebten Schach-Gebal noch ein so
glücklicher Mann lebte, als Danischmend. Er konnte ohne
Unbescheidenheit das wieder hergestellte Glück der Jemaliter
als sein Werk betrachten; aber dieß war ein Gedanke, der
ihm nur selten in den Sinn kam: sie wieder glücklich zu
sehen, weil sie wieder gut waren, und am Anschauen des
äußerlichen und sittlichen Wohlstandes, der dieses kleine Volk
auszeichnete, sein Herz zu laben, dieß war es, was dem
Genuß seines eigenen Glückes einen so großen Zuwachs gab.
Denn auch für sein Privatglück ließ ihm das Schicksal nichts
zu wünschen übrig. Er erlebte die Zeit, da alle seine Kinder
in diesem Boden, den er zu ihrem Vaterland erwählt hatte,
gleichsam eingewurzelt und auf eben dieselbe Art glücklich
waren, die er selbst als die einzig wünschenswürdige erfahren
hatte. Er hatte die Freude, sich selbst in seinen Söhnen,
Perisadeh in seinen Töchtern wieder aufblühen zu sehen; er
lebte lange genug, um die Kinder seiner Enkel auf seinen
Knieen zu wiegen, und ihm wurde endlich das beneidenswerthe
Glück zu Theil, an eben demselben Tage mit Perisadeh
in ein besseres Leben hinüber zu schlummern.Sadik und Aruja fanden sich durch den gerechten Spruch
des Sultans Gebal und die eigennützige Freigebigkeit der
Sultanin Nurmahal in den Stand gesetzt, in Jemal auf
einem Fuße zu leben, der ihnen das Glück gewährte, auch
zur Beförderung des allgemeinen Wohlstandes ihrer neuen
Mitbürger mitzuwirken. Sie schlossen mit der Danischmendschen
Familie einen Freundschaftsbund, der bis auf ihre späte
Nachkommenschaft fortdauerte. Eine Tochter, mit welcher
Aruja ihren in Jemal sich wieder verjüngenden Alten beglückte,
wurde in der Folge mit einem von Danischmends
Söhnen, so wie zwei würdige Söhne des wackern Faruck mit
seinen beiden Töchtern vermählt; und diese Verbindungen, wodurch
die drei liebenswürdigsten Familien von Jemal in eine
einzige zusammengeschlungen wurden, konnten nicht anders,
als das gemeinschaftliche Glück ihrer Aller vollkommen machen.Anmerkungen.Capitel 1.Seite 2. Zeile 8. Und ruft: Gnade! —Dieß mag bei Schach-Gebaln
so gewesen seyn; aber vermuthlich war er hierin nur eine Ausnahme. Die
Nerven der Sultane verlieren gewöhnlich diese sympathetische Eigenschaft.
Sie fühlen nicht, daß sie auch Fußsohlen, auch einen H..rn haben, bis sie
Podagra und F. w. n. daran erinnern. Anonym.S. 4. Z. 4. Die gute Mutter Natur —spielen will — Dieß
ist einer sehr argen Ausdeutung fähig, Herr Danischmend! Didius.
Wer sind die Leute, die bel allen Dingen immer Arges denken? Bonhomme.
Schurken. Diogenes.S. 4. Z. 20. Serendib —Serend, Zarend, Residenzstadt eines Khans
der Afghanen (Ostpersien). G.S. 4. Z. 21. Dairi oder Dairo — Nennt man gewöhnlich den Kaiser
von Japan. Eigentlich ist es die Benennung seines Hofes. G.S. 5. Z. 14. Ganz Indostan zu Grunde gerichtet — Dieß
sagte der Sultan vermuthlich bloß aus seiner Einbildung und anticipando,
weil er dem guten Danischmend nicht Besseres zutraute: denn in der That
hatte dieser in der kurzen Zeit seiner Amtsführung nicht Zeit genug gehabt,
das kleinste Dorf in Indostan zu Grunde zu richten. W.S. 6. Z. 20. Die Gärten Schedads —Schedad Ben Ad, ein alter
arabischer König aus der fabelhaften Epoche dieser Nation, war ein mächtiger
aber gottloser Fürst (sagt die arabische Tradition), welcher Ansprüche
an den Götterstand machte und (außer der in den Gedichten und Mährchen
der Araber berühmten, unsichtbar gewordenen Stadt Schedads) ein Paradies,
Iram genannt, anlegte, worin diejenigen unter seinen Getreuen, die er
dieser Belohnung würdig hielt, von Allem, was den Sinnen schmeicheln
und entzücken kann, trunken wurden. Ungeachtet dieses Schedads im Koran
nie anders als mit Abscheu gedacht wird, pflegen doch viele Muhamedaner
dieses sinnliche Paradies Iram mit demjenigen zu vermengen, welches ihnen
im Koran verheißen ist. Herbelot.Cap. 2.S. 8. Z. 5. Lahor — Ehemalige Residenz des Großmoguls. G.S. 8. Z. 24. Ungefähr so groß, wie Plinius meint — "Müßiggänger
wie Tranquillus haben völlig genug an so viel Boden, daß sie den
Kopf wieder aufrichten, die Augen erfrischen, durch den Zaun schlüpfen und
den einzigen Weg betreten können, wo sie jede Rebe wissen und die Sträucher
zählen können." Plin. ep. I. 24. G.S. 9. Z. 6. Suetonius —Welcher den Beinamen Tranquillus führte,
der bekannte Biograph der ersten zwölf römischen Kaiser, ist derselbe, von
welchem Plinus sprach. G.S. 11. Z. 20. Ich weiß nicht welchem alten Weisen — Als
ob man so was vergessen könnte? Plato oder wenigstens Aristophanes beim
Plato war's. Siehe dessen Symposion, Tom. opp. III. sqq. M. Pantaleon
Onocephalus.Cap. 3.S. 13. Z. 17. Seinen Genius so gut als Sokrates — De
Genio Socratis vid. Plutarch. Tom. Opp. III. p. m. 482. Apulejus, nec non
Gottfr. Olearius de Gen. Socrat. Minut. Felix in Octay. c. 26. Tertull. de
Anima, c. 28 Lactant. Divin. Instit. L. Il. c. 15. Augustin. de Civit.
Dei, VIII. 14. Jamblich. de Myster. Aegypt. I, Marsil. Ficin. ad. Plot.
Enn. IV, p. 278. Gabr. Nand. Apolog. du G. H. au de Magie, c. 13.
Charpent. Vie de Socrate, La Motte le Vayer Opp. Tom. III. p. 274. Souver.
Platon devoilé, P. II. p. 56. Andr. Dacier préface de l'apolog. de
Socr. Jac. Bruck. Hist. Crit. Phil. T. Ii, p. 545. Saver, Hist. des Anc.
Philos. T. II. p. 145. et alii passim — Ah===h! wie mir die Finger vom
Ausschreiben weh thun! Theophil. Murrzufflus.S. 15. Z. 12. Amandus und Amanda u. s. w. — Titel von
französischen und deutschen Romanen aus dem 17. Jahrhundert, in denen
allen die Liebes-Angelegenheiten eben so weitläufig als pedantisch galant verhandelt
wurden. G.Cap. 4.S. 19. Z. 10. Eine persische Tänzerin —Die Tänzerinnen und
Sängerinnen in Profession in Persien (wer Lust hat, kann in Chardin oder
in den Lettres Chinoises, Tom. I. lettre 22. oder im Journal de lecture,
Tom. I. p. 1. mehr von ihnen lesen) werden nach der Taxe, wie sie ihre
Nächte verkaufen, benannt. Sie nennen sich nicht Fatime oder Kanzade
oder Zelika, sondern die Zehn Toman, die Zwanzig Toman, die Dreißig
Toman. (Ein Toman ist eine goldne Münze, ungefähr vier Ducaten unsers
Geldes.) Marg. d'Argens.Die sind theuer! Ονχ ωνονμαι μνςιων δςαΖμων μεταμελειαν
(So theuer kaufe ich die Reue nicht), sagte Demosthenes. Philodemus.S. 21. Z. 22. Wofern dieß anders jemals der Fall seyn
kann —Ich leugne schlechterdings, daß es jemals einen solchen Fall geben
könne. Epiktetus.S. 22. Z. 8. Daß der keusche Mond — schiene —Unsre meisten
Casuisten befehlen gerade das Gegentheil. Futatorius.Auch verstehen sie einen Q.... von der Kallipädie! Calvidius Lätus.Cap. 5.S. 22. Z. 17. Brantome —Pierre de Bourdeille, Abt und Herr von
Brantome, hatte unter Karl IX. und Heinrich III. an dem Hofe zu Paris
gelebt, dem damals sittenlosesten in Europa. In seinen Mémoires, les
Dames illustres und les Dames galantes, schildert er Personen und Sitten
jener Zeit mit cynischer Naivetät. G.Cap. 6.S. 24. Z. 9. Abu-Bekr u. s. w. — Ich habe diesen Doctor im Leo
von Grenada, Golius, Hottinger, Herbelot und vielen Andern, die von
arabischen, persischen, türkischen und indostanischen Gelehrten handeln, vergebens
gesucht. Wer er wohl seyn mag? P. Onocephalus.S. 24. Z. 22. Oder sich zum Haupt einer Secte aufgeworfen —
Dieß mochte vielleicht Ausnahmen zu leiden scheinen; aber ich
zweifle, ob sie bei schärferer Prüfung als solche bestehen würden. Luther,
den man zum Beispiele anziehen könnte, kam (wie bekannt) ohne seine
Schuld zu der Ehre, ein Anführer zu werden; und überdieß war er noch nicht
vermählt, dachte auch nicht daran, es jemals zu werden, als er sich (mit
Erasmus von Rotterdam zu reden) beigeben ließ, dem Papst an seine dreifache
Krone und den Mönchen an ihre dicken Bäuche zu greifen. Sleidanus.S. 27. Z. 6. Nach Seel' und Leib zu Müttern erschuf —In
diesen fünf oder sechs Worten liegt ein tiefer Sinn und, so zu sagen, der
ganze Embryo der wahren Gynäkologie oder Theorie der Natur und Bestimmung
des Weibes. Ich gedenke, zum Besten der Einfältigen, einen
Commentarius über diese Worte, zwei bis dritthalb Alphabet stark, in Octav,
aus sein holländisch Parier, mit Kupfern und Vignetten von besonderem
Geschmack herauszugeben, wenn sich anders unter den zwei oder drei Millionen
deutscher Mädchen oder Weiber, welche Gedrucktes lesen können, ein paar
tausend finden, die ihren Fingerhut darauf unterzeichnen wollen. Es versteht
sich, daß er wenigstens von Silber seyn muß. Mart. Scriblerus jun.Cap. 7.S. 18. Z. 18. Warum wird es denn jetzt dunkel? —Wenn Herr
Danischmend diese Frage seines kleinen Buben für eine von den spitzfindigen
hält, so muß ihn die väterliche Liebe gewaltig verblenden. Es ist, mit
seiner Erlaubniß, eine sehr dumme Frage. Denn, hätte der Junge Acht
gegeben, warum es bei Tage hell ist, nämlich, daß es hell wird, sobald die
Sonne aufgeht, und so lange hell bleibt, als die Sonne am Himmel ist, so
hätte er sogleich schließen können, daß es dunkel werden muß, wenn die
Sonne weg ist. Der Bube sollte mein gewesen seyn; ich wollt' ihn gelehrt
haben Schlüsse machen! Magister Duns.Wenn Herr Duns sich bemühen wollte, meinen siebenten Versuch mit
Bedacht zu lesen, so würde er finden, daß der Junge, ohne die Logik gelernt
zu haben, mehr Logik in seinem Hirnkasten hatte, als er meint. David Hume.Und wenn ein Kind von vier Jahren mit einem hoch illuminirten Doctor
von vierzig über solche Dinge in Wortwechsel kommt, so ist immer eine
Schellenkappe gegen einen Doctorhut zu wetten, daß das Kind Recht hat.
Tristram Shandy.Cap. 9.S. 40. Z. 1. Bonzenfett — Jemand suchte dem Cäsar, einige Zeit
vor dessen Ermordung, Argwohn gegen den Antonius und den Dolabella
beizubringen, in die er ein besonderes Vertrauen setzte. O, sagte Cäsar, ich
besorge nichts von diesen fetten und zierlich frisirten Burschen! die blassen
und hagern (er meinte den Cassius und Brutus) sind mehr zu fürchten.
(Plutarch im Leben Cäsars.) Vermuthlich zielt unser Autor auf diese Stelle
und will so viel sagen: fette Bonzen wären weniger gefährlich, als magere.
Diese Maxime ist nun freilich nicht ohne Ausnahme; aber gleichwohl mag
sie a potiori ihre Richtigkeit haben, wenn es auch bloß daher käme, weil
fette Bonzen ordentlicher Weise zu träge sind, viel Böses zu thun. Und in
so fern ließe sich dann wohl mit einigem Grunde behaupten, daß auch Bonzenfett
seinen Nutzen habe; insofern es nämlich nämlich einen physischen Grund enthält enthält,
warum ein feister Bonze weniger übelthätig und giftig ist, als andere
M. Scriblerus.S. 41. Z. 10. Die Geschichte der drei Kalender sey zu nichts
nütze — Der Autor ist hier zu bescheiden. Ich habe in meinem Leben viel
Historien gelesen; aber ich kenne ihrer wenig, die in vier bis fünf Blättern
so viel nützliche Moral und nur halb so viel Weltkenntniß enthielten. Man
lernt daraus Sultane und Fakirn, Emirn und Emirsweiber, Poeten und
Sänger, Schlauköpfe und Schafköpfe, Hofleute und gemeine Leute kennen.
Wer tiefer in das Wesen der Dinge zu sehen gewohnt ist, wird sogar die
vier großen Triebräder, die das ganze Maschinenwerk dieser Unterwelt gehen
machen, ohne Mühe darin entdecken. Mit einem Worte, man sage mir
nicht viel, oder ich bin im Stand und schreibe ein dickes Buch Betrachtungen
über die Geschichte der drei Kalender, worin Mich Alles entwickle. —M. Scriblerus.Bewahre! Wenn Herr Scriblerus entwickelt, das ist gerade, als wenn
Herr Theophilus Murrzufflus citirt; dann wird des Entwickelns und Citirens
kein Ende. Lieber ergeben wir uns auf Gnade und Ungnade und nehmen
unentwickelt und uncitirt alles für gut an, was uns die Herren dafür geben
wollen. Der geneigte Leser.Cap. 11.S. 50. Z. 16. Eine kleine Egoistin — Der Egoismus, wovon
hier die Rede ist, ist nicht der moralische, vermöge dessen ein Mensch nichts
liebt, als sich selbst, sondern die natürliche Nothwendigkeit; worin eine
Person, der es an allgemeinen Begriffen fehlt, sich befindet, immer sich selbst
zum Modell oder Maßstab zu nehmen, wenn sie von anderer Menschen Werth
oder Unwerth urtheilt; wovon ich in meiner Abhandlung vom Egoismus
ausführlich zu handeln und Alles mit kurzweiligen Beispielen zu erläutern
gesonnen bin. M. Scriblerus.S. 51. Z. 9. So hurtig davon laufe, als er kann — Besser
wäre es, dergleichen Gelegenheiten gänzlich zu vermeiden. Sämmtliche
Meister des Moralistenhandwerks.Sicherer wär' es allerdings; aber es ist nicht allemal möglich. Ueberdieß
ist nicht, unglücklicher Weise, die ganze Welt voller Gelegenheiten? Karamuel?
S. J.Cap. 12.S. 51. Z. 20. Wenige — — vielleicht ausgenommen — Der
Kalender hat wohlgethan, vielleicht zu sagen. Denn, wenn man genau
nachsieht, wird sich allemal finden, daß auch die außerordentlichen Genien
ohne gewisse bewundere Umstände, die ihnen gerade diese und keine andere
Bildung, Spannung und Richtung gaben, das, was sie waren, nicht geworden
waren. Helvetius.Hieran ist etwas wahr. Hindernde oder begünstigende Umstände müssen
freilich immer mitwirken, wenn aus einem Menschensohn ein Alexander
oder Annibal, ein Homer oder Lykurg, ein Sokrates oder Phidias, ein Hippokrates
oder Archimedes werden soll. Aber es ist auch wahr — und alle Inductionen
und Sophismen, welche Helvetius dagegen aufhäuft, vermögen
nichts gegen ein durch die allgemeine Erfahrung so sehr bestätigtes Factum
—daß man zum Alexander, Annibal, Homer, Lykurg, Sokrates, Phidias,
Hippokrates und Archimedes geboren wird, und daß die Geister von dieser
Classe ihren eigenen Weg auch durch den dicksten Wald von Hindernissen
hindurch zu brechen wissen. Sie gleichen einem Eichensprößling, der mittelst
Erde, Wasser, Lust und Feuer zur Eiche heranwächst, aber auch nicht
weniger ein Eichbaum wird, wenn sich gleich Mehlthau und Baumwanzen,
Ratten und Maulwürfe, Ziegen und Rinder mit allen vorbesagten Elementen
gegen ihn verschworen. Die gewöhnlichen Menschen hingegen sind wie ein
Stück Holz, Thon oder Marmor in der Hand der Kunst, woraus, jenachdem
man es schneidet, hobelt, drückt und behaut, ein Schemel oder ein
Priap, eine Schüssel oder ein Nachttopf, ein Apollo oder ein Silenus wird.
Kurz, der Mann von Genie ist ein Werk der Natur, das seine Form und
wirkenden Kräfte in sich selbst hat. Die Uebrigen sind Alles, was Zeit und
Umstände, Gewohnheit und Bedürfniß, Spitzbuben und Narren, Tyrannen
und Bonzen aus ihnen machen wollen. Dubos.Ich halte gar nichts von allen diesen Philosophen und von diesem Unterschied
zwischen Genien und gewöhnlichen Menschen. Es steht kein Wort
davon in meinem Quenstädt. Wir sind alle arme Sünder, und wenn wir
nicht umkehren und werden wie die Kindlein, so kommt am Ende Meister
Hämmerling und holt die Genien so gut, wie die gemeinen Leute. Der
Pfarrer zu ****.Hierin hat der Herr Pfarrer Recht. J. C. H.S. 53. Z. 18. Da ich nicht das geringste Genie dazu verrieth —
Der Autor gebraucht hier das Wort Genie vermuthlich ironice.
Denn zur Schuhflickerei braucht es doch wohl kein sonderliches Jngenium.
Der Schulmeister von Abdera.S. 55. Z. 4. Den Esel selbst — Man kann sich nicht erwehren, hierbei
an eine gewisse Anekdote in Lucians Lucius oder Esel schlechtweg (welche
Apulejus auch seinem goldenen Esel einverleibet hat) zu denken. Die Historie
ist keine von den erbärmlichsten; aber was muß unser einer nicht lesen?
M. Onocephalus.Cap. 13.S. 57. Z. 24. Leichten, gesunden Stuhlgang — Nach der
Meinung des Hippokrates, Avicenna, Rasis und aller andern Aerzte ist
dieses eine unentbehrliche Bedingung zum frei und heiter denken: ein constipirter
Mensch kann weder was Gescheidtes denken, noch was Angenehmes
träumen. D. Akakia.S. 60. Z. 10. Factum — eine bloße Hypothese — Conf. alle
die beredten, scharfsinnigen und wohlmeinenden Herren, welche Versuche
über die Geschichte der Menschheit geschrieben haben, von Iselin bis Home
inclusive nebst allen Nachfolgern. X.S. 63. Z. 28. Der Zuruf eines einzigen Verwegnen, der
sich an die Spitze stellt — Siehe die Geschichte aller großen Revolutionen,
Empörungen, Religions- und Bürgerkriege von Anbeginn der
bürgerlichen Gesellschaft bis auf diesen Tag. X.S. 70. Z. 1. Das Gute — durch die Folgen — zum größten
Uebel — Der Kalender , wie alle kalte Köpfe, sieht öfters richtig und sagt
manchmal große Wahrheiten. Wenn unsere Leser über diejenige, die er hier
sagt, das Beste, was vielleicht jemals darüber gesagt worden ist, lesen
wollen, so empfehlen wir ihnen den achten Dialog der Dialogues sur le
Commerce des bleds Abbé Galiani, und, wenn sie eines der besten, lehrreichsten
und zugleich witzigsten und unterhaltendsten Bücher, das seit hundert
Jahren zum Vorschein gekommen ist, lesen wollen, das ganze Buch, —
welches, im Vorbeigehen gesagt, nicht so viel Eindruck in der Welt gemacht
hat, als ein so außerordentlich gutes Buch hätte machen sollen, und dieß
ohne allen Zweifel bloß deßwegen, weil sehr wenige Leute Verstand und
Witz genug haben, es zu verstehen. X.S. 71. Z. 3. Im Anschauen und Anbeten dieser göttlichen
Urbilder — Wo ein Mann, wie dieser Kalender, dieß Alles wohl hernahm?
F.Kennen wir nicht einen Mann, der ein gelehrtes Buch vom Licht und
von den Farben schrieb und blind gewesen war von seiner Geburt an bis
an seinen Tod? A.S. 72. Z. 17. Die Klugen werden — — Kalender — Welches
Alles (wie der geneigte Leser ohnehin gemerkt haben wird) figürlicher Weise
und allegorice gesagt ist und freilich cum grano salis gedeutet werden muß.
Bucephalus.Ich gedenke einen Commentar darüber zu schreiben. M. Scriblerus.Cap. 15.S. 78. Z 3. Ihre auf der nervigen Hand des Jünglings
spielenden Finger — Ich wollte gleich Alles wetten, daß der Autor
dieß Gemälde dem Grenze abgestohlen hat. Ein Kupferstichsammler.S. 78. Z. 13. Indem sie — — Nacken schlang — Der leibhafte
Grenze! — Aber warum hat man die andere Schwester weggelassen, die
hinter des alten Vaters Stuhl hervorguckt und den Bräutigam und ihre
glückliche Schwester mit so neidischen Augen anklotzt, daß man ihr gleich
ein paar Ohrfeigen geben möchte? —Vermuthlich hoffte man durch solche
Weglassungen den Diebstahl desto eher zu verbergen? Ein Kenner.Der Kenner beweist sich als einen wahren Kunstrichter. Unter zwei
möglichen Erklärungen muß man allemal die wählen, die dem Autor die
nachtheiligste ist. Pantilius Cimex.Cap. 17.S. 89. Z. 27. Die Sultane behielten die Oberhand — Die
altrömischen und byzantischen Kaiser, wie man sieht, mit dazu gerechnet
Gibbon.Cap. 18.S. 93. Z. 16. Was hat die Tugend mit Sultanen und
Sklaven zu thun? — Danischmend muß wohl nichts vom Epiktet gehört
haben, dem weisen und tugendhaften Epiktet, der ein Sklave war, noch
von dem weisen und tugendhaften Kaiser Marcus Aurelius der — Onocephalus.— kein Sultan war, Herr Onocephalus! Ein Zusammenfluß besonderer
Umstände, welche sehr selten zusammentreffen, macht zuweilen eine Ausnahme;
aber die Ausnahmen selbst bestätigen den allgemeinen Satz, von
welchem sie Ausnahmen sind oder scheinen. J. E. H.S. 93. Z. 18. Tugend in den Augen eines Sultans — —
Verbrechen — In den Augen des Sultans Domitian zu Rom war es
ein großes Verbrechen, daß Epiktet nicht nur selbst tugendhaft war, sondern
auch andere Leute dazu machen wollte. Er ließ also den gefährlichen Mann
des Landes verweisen; und wenn man die Sache recht bedenkt, so findet man
noch Ursache, die Gelindigkeit des Sultans zu bewundern. Algernon Sidney.Cap. 19.S. 96. Z. 17. Lingam — Der Lingam oder Lingum, wovon hier die
Rede ist, ist eine Art von Amulet, welchem eine gewisse Secte der Hindus
abgöttische Ehre erweiset. Sie tragen es am Halse oder Arm und sind
stark beglaubt, vermittelst desselben unfehlbar in den Kailassam, d. i. in
das Paradies des Gottes Rutren oder Schiwen (welcher der eigentliche
Stifter des Lingams ist) einzugehen. Was für eine Figur dieser Lingam
habe, mögen sich diejenigen, die es noch nicht wissen oder nicht errathen,
lieber von La Groze oder den malabarischen Missionarien oder sonst einem
Schriftsteller, dem nichts übel genommen wird, sagen lassen. (Man kann
jedoch auch eine Schilderung nachweisen, die Niemand übel nehmen wird
bei Sonnerat, Reise nach Ostindien, I. S. 151. fgg.)S. 97. Z 6. Rutren — Rudder, Ruddra ist einer der vielen Namen
des Gottes Schiwa (Scheba, Siwa), welcher die dritte Person der indischen
Dreieinigkeit ausmacht, deren zwei übrige Personen Brama und
Wischmi (Wistnu) sind, dessen neun Verwandlungen eben so viele neue Geburten
(Verkörperungen, Jncarnationen) des Gottes sind. Unter Brama
ist die Erde, unter Wischnu das Wasser, unter Schiwa das Feuer versinnbildet;
des letzten Dienst ist Feuer- und Sonnendienst, und sein Symbol
der Lingam, Zeichen der allbefruchtenden Naturkraft. Daß Alles, was
Wieland hier in seiner Verdorbenheit schildert, einen reinern Ursprung hatte,
versteht sich von selbst; es ist aber hier der Ort nicht, dieß weiter auszuführen.
G.S. 97. Z. 7. Weiber der Braminen belustigt — S. Essay
historique sur l'Inde, p. 191, wo diese und die hernach folgende Geschichte
vom Ursprung des Elephantenkopfs, womit die Banians den Puleier (Pollear,
Schutzgott der Ehen) oder Vinayagnen vorstellen, nebst mehrern andern
gleich erbaulichen Fragmenten der ostindischen Mythologie zu lesen sind.Ich könnte noch eine ganze Seite voll Reisebeschreibungen, Compilationen
und andre historische Werke citiren, wo alle diese Herrlichkeiten auch zu
lesen sind. Murrzufflus.S. 98. Z. 26. Magier —Priester der alten Perser, Druiden der Celten
(Galen, Gallier), Bramen der Jndier, Lamen der Tibetaner, Goguis
(Joguis), Einsiedler, Büßende bei den Indiern, Marabuts, muhamedanische
Beschwörer. Der übrigen ist im goldnen Spiegel gedacht. G.Cap. 20.S. 101. Z. 20. Alexanders Zug — — so wohlthätig — Ich
hatte von der Schule an immer gehört, daß dieser Alexander Magnus ein
abscheulicher Tyrann, ein Menschenfresser, ein Würgengel, eine Zuchtruthe
in der Hand Gottes und eine verheerende Pest des menschlichen Geschlechts
gewesen sey. Beinahe sollte einen diese Betrachtung des Danischmend auf
andere Gedanken bringen. Ob sie aber auch wahr ist? Peter Ganshaupt.Die Geschichte gelesen, Herr Ganshaupt! mit dem Restchen Mutterwitz,
das Ihr aus Euren Schulen davon gebracht habt, gelesen und auf den Zusammenhang
und die Folgen der Dinge Acht gegeben; so werdet Ihr bald
sehen, ob Alexander oder Eurer Schulmeister Recht hat! St. Evremond.S. 101. Z. 24. In Indien öffentliche Denkmäler — S. Philostrats
Leben des Appollonius, B. 11. Cap. 20, 24,S. 102. Z. 12. Balk —In der großen Tatarei, Samarkand in der
Bucharei, berühmte Sitze muhamedanischer Gelehrsamkeit, Benares ein
Institut der Braminen. G.Cap. 21.S. 107. Z. 27. Wie die Bramen Rutren bezaubert — Die
Braminen kamen unglücklicher Weise dazu, als Rutren ihnen die Ehre that,
mit ihren Weibern zu kurzweilen, und waren unhöflich genug, die furchtbare
magische Ceremonie, Jekiam genannt, gegen ihn vorzunehmen, welche
die Macht hat, demjenigen, gegen den sie gerichtet wird, welches Glied
man will vom Leibe fallen zu machen. Rutren wurde über den Verlust,
den er durch diese Bezauberung erlitt, so wüthend, daß er, wie Ariosts rasender
Roland, alles verwüstete und zerstörte, was ihm in den Wurf kam;
und er besänftigte sich nicht eher, bis ihm der Einfall kam, den Lingam zu
einem Gegenstand religiöser Verehrung zu machen. Essay Histor. sur l'Inde,
p. 191. 192.S. 108. Z. 22. Ich konnte nicht schreien — Madame Anne de
France, zweite Tochter König Ludwigs XI. — fine femme, et deliée s'il en
fut oncques, et vraye image en tout du feu Roy son Pere, sagt Brantome
in der Einfalt seiner Hofschranzenschaft von ihr, indem er sie sehr dadurch
zu loben meint — konnte nicht leiden, wenn sich ein Frauenzimmer in dergleichen
Umständen über Gewalt beklagte, und bediente sich, um die Nichtigkeit
eines solchen Vorgebens begreiflich zu machen, eines Gleichnisses,
welches, wiewohl es vor dritthalb hundert Jahren aus dem Mund einer
Fille de France ging — in unsern Tagen vor einer so guten Gesellschaft,
als das Publikum ist, sich nicht wohl nachsagen läßt, und also, wenn man
einen Beruf dazu hat, im Brantome (Memoir. T. VIII, p. 285) gelesen
werden kann. Wir begnügen uns, so viel davon zu sagen, daß Madame
Anne de France eine Kennerin war und unstreitig Recht hat, die Juristen
mögen einwenden, was sie wollen. Beccaria.Cap. 25.S. 122. Z. 20. Der unverdorbenen Natur gemäß leben —
Diese Distinction verdient in Erwägung gezogen zu werden. Der Natur
gemäß leben, ist ein sehr unbestimmter Ausdruck, wobei Jeder etwas Andres
denkt, und womit viel Irrung vorgeht. Das wahre Naturleben ist von
Wildheit, Verkünstelung und Verdorbenheit gleich weit entfernt. Ich wünschte
dieß einmal von einem unbefangenen Kosmopoliten besser aus einander gesetzt
zu sehen, als bisher noch geschehen ist. J. C. H.S. 122. Z. 23. Nicht ohne Gesetze leben zu können — Eben so
wie ein Mensch, der seine Gesundheit der Natur und seiner Mäßigkeit zu
danken hat, sich besser befindet, als ein andrer, der sich bloß durch eine vorgeschriebene
Lebensordnung und die Kunst des Arztes beim Leben erhält.Hippokrates.Cap. 26.S. 126. Z. 1. Islam — Religion Muhameds. G.S. 126. Z. 11. Zwölf Imams — S. Anm. zu dem goldnen Spiegel.
G.S. 127. Z. 5. Tochter des Propheten — Nämlich der Fatima,
der Gemahlin des Ali, von welcher alle die Abkömmlinge Muhameds, die
den Namen Emir oder Scherifs führen, ihre Genealogie ableiten. Herbelot.S. 128. Z. 23. Tempel zu Hierapolis — Dieser Tempel der syrischen
Göttin Atergatis oder Astarte oder Rhea oder Juno, oder wie sie
sonst hieß, war noch zu Lucians Zeiten in außerordentlichem Ansehen, und
man wallfahrtete aus Phönicien und Kappadocien, Assyrien, Babylonien
und Arabien häufig dahin. Das, was diesem Götzentempel ein so außerordentliches
Ansehen verschaffte, war der Glaube, daß sich die Götter hier unmittelbarer
offenbaren, als anderswo. Denn es gab hier wunderthätige
Bilder, die zu gewissen Zeiten schwitzten, mit dem Kopfe nickten, Orakel
von sich gaben und dergleichen. Lucian, der Alles selbst in Augenschein
genommen, kann die Pracht, Herrlichkeit und Reichthümer dieses Tempels
nicht genug beschreiben. Die letztern waren unermeßlich, da so viele reiche
Nationen seit vielen Jahrhunderten in die Wette geeifert hatten, ihn durch
ihre Opfer und Geschenke zu bereichern. Lucian zählte über dreihundert Priester,
die mit den Opfern beschäftiget waren. Sie gingen alle ganz weiß,
den Kopf mit einer Art von Hut bedeckt; nur der Oberpriester war in Purpur
gekleidet und trug eine Tiare von Goldstoff. Der übrigen Personen,
die zum Dienst des Tempels gehörten, der Sänger und Pfeifer und Castraten
und hirnwüthigen Weiber (γυναiΖες ψρενοβλαβεες) war keine Zahl.
Nun betrachte ein Mensch, wie viel allen diesen Leuten daran gelegen war,
daß die Assyrer und Babylonier, Araber, Phönicier und Kappadocier an
ihre Astarte und an ihre schwimmenden und nickenden und redenden Bilder
glaubten; und was aus dem Philosophen Lucian geworden wäre, wenn er
sich hätte erfrechen wollen, der unendlichen Menge Volkes, die er in den
Vorhöfen dieses Tempels mit Gaben in der Hand versammelt sah, die Augen
zu öffnen! — Was übrigens den Lingam aller Lingams betrifft, von
welchem Danischmend spricht, so berichtet uns Lucian, daß in einem der
Vorhofe dieses Tempels zwei ψαλλοι (oder Lingams, welche Bacchus, laut
einer alten Aufschrift, seiner Stiefmutter Juno zu Ehren gesetzt haben soll)
gestanden, jeder dreihundert Fuß hoch; auf deren einen ein Priester jährlich
zweymal hinauf stieg und sieben Tage aus der Spitze des Fallus verweilte.
Das gemeine Volk glaubte, daß er während dieser Zeit mit den Göttern in
unmittelbarer Gemeinschaft stände und dem ganzen Syrien Glück und Heil
erbäte — Wie Alles dieß und viel andere Merkwürdigkeiten dieses Tempels
umständlich zu lesen sind beim Lucian de Dea Syria Tom. opp. Il. p. 451.
seq. M. Scriblerus.Cap. 27.S. 132. Z. 2. Mir selbst nicht zumuthen, geschweige denn
einem Andern — Dieß muß wohl ein sogenanntes Hysteron proteron
seyn. Denn wo hat jemals ein Mensch sich ein Bedenken daraus gemacht,
andern Leuten mehr zuzumuthen als sich selbst? Didius.S. 132. Z. 24. Die Wölfe in Frankreich gern junge Mädchen
fressen — In der That ist dieß nicht halb so wunderbar, als daß
die Franzosen mit allem ihrem Witz nicht schon längst auf ein Mittel gekommen
sind, die Wölfe in ihrem Lande auszurotten. Es ist in der That
unbegreiflich, wie eine so geistreiche Nation sich nicht schämt, vor den Augen
der ganzen ehrbaren Welt ihre armen Bauerkinder von Wölfen fressen
zu lassen. Sie mögen freilich ihre politischen Ursachen dazu haben: aber
wenigstens sollten sie bei Galeerenstrafe verbieten, daß solche Begebenheiten
nicht außer Landes geschrieben oder wohl gar in den Mercure de France
gesetzt würden. Sie thäten's gewiß, wenn sie wüßten, wie man sich in ganz
Europa über sie moquirt. * Mart. Scriblerus. S. 133. Z. 26. Momus Fenster — Es gibt zwei Gattungen Leser,
um derentwillen ein Satz wie dieser eine Entwickelung vonnöthen hat. Die
einen sind die Armen am Geiste oder (wie man sie gewöhnlich zu nennen
pflegt) die Einfältigen, die mit aller Bedächtlichkeit, Zeit und Weile, womit
sie ein Buch von einer gewissen Art lesen, doch selten so glücklich sind,
zu verstehen, was sie lesen. Die andern haben an Lebhaftigkeit zu viel, was
die ersten an Verstand zu wenig haben. Sie können sich unmöglich die Zeit
nehmen, einer Stelle, deren Sinn ihnen nicht beim ersten Anblick in die
Augen springt, ein wenig nachzudenken und einige Aufmerksamkeit auf
Beantwortung der so natürlichen Frage, was liesest du? zu wenden. Diesen
beiden Gattungen — die sich gegen die ganze Summe der Leser ungefähr
wie neunundzwanzig zu dreißig verhalten mögen und also von Seiten eines
Commentators alle gebührende Achtung verdienen —zum besten kann ich
nicht umhin, diesen Ausspruch von seiner anscheinenden Paradoxie zu befreien.
Der Autor will vermuthlich damit so viel sagen: Die schlimmen
Menschen denken ohnehin Arges in ihrem Herzen von allen andern; denn
keiner von ihnen hält andere Leute für besser als sich selbst; und da keine
Krähe der andern die Augen aushackt, so wagen die Bösen nichts dabei
wenn sie einander über der That ertappen; denn sie haben ein augenscheinliches
Interesse, säuberlich mit einander zu verfahren. Die besten Menschen
hingegen denken, so lang es nur immer möglich ist, von Jedermann Gutes;
und hierin besteht ein so großer Theil ihrer Glückseligkeit, daß sie nothwendig
sehr unglücklich werden müßten, wenn ein Fenster vor der Brust der
Leute sie auf einmal aus dem angenehmen Irrthum in die traurige Gewißheit
versetzte, von so viel falschen und bösen Geschöpfen umgeben zu seyn.
Es ist also klar, daß die Besten am meisten dabei verloren hätten, wenn
Momus mit seinem vorbesagten Vorschlage, den Menschen ein Fenster vor
die Brust zu setzen, durchgedrungen wäre. M. Scriblerus.Cap. 28.S. 137. Z. 2. Dann erfordert nicht nur die Menschlichkeit —
Der Kalender hätte eigentlich an diesem letztern Beweggrunde genug haben
können; denn des erstern erwähnt er doch nur pro forma, und ohne daß er
das Geringste dabei dachte oder damit sagen wollte. J. C. H.Cap. 29.S. 146. Z. 12. Verachten — hassen — Haß ist eine schmerzlichere
Empfindung als Verachtung. Dieß scheint eine unleugbare Erfahrung zu
seyn; wiewohl Verachtung einen ungleich tiefern Grad von wirklicher oder
eingebildeter Unvollkommenheit voraussetzt als Haß. Man kann einen Gegenstand
zugleich hassen und hochschätzen; aber den Gegenstand unserer Verachtung
würdigen wir unsres Hasses nicht. Man sollte aber denken, daß
die Verachtung, weil sie aus dem Anschauen eines tiefern Grades von Unvollkommenheit
entsteht, der schmerzhaftere Affect seyn müßte; und dennoch
lehrt die Erfahrung das Gegentheil.Ich glaube, die Ursache davon ist diese: Mit dem Gefühl der Verachtung
eines Andern ist allezeit unmittelbar ein lebhaftes Gefühl unsrer eignen
Vorzüglichkeit verbunden; daraus entsteht eine Mixtur, die in manchen
Fällen mehr angenehm als widerlich ist. Aber der Haß ist reiner, unvermischter
Schmerz; und selbst die Vorzüglichkeiten, die wir an dem Gegenstand unseres
Hasses gewahr werden und ihm (ungern genug) zugestehen müssen,
scharfen das Gefühl dieses Schmerzes, anstatt es zu mildern oder zu versüßen.
Es ist also ganz natürlich, daß man, im Nothfall und wenn man sich nicht
anders zu helfen weiß, um einer so bittern Seelenpein los zu werden, den
Haß in Verachtung zu verwandeln sucht und zu diesem Ende den Gegenstand
von Allem, was er Schätzbares und Vorzügliches hat, in der Einbildung
rein abstreift, und bis auf die Haut auszieht; ein Phänomen, dessen uns
die Erfahrung täglich belehrt, und welches sich auf diese Weise vollkommen
erklären läßt. M. Scriblerus.Cap. 31.S. 157. Z. 5. Ein Faruck nach dem andern — Er wollte sagen,
ein Rohr nach dem andern; denn vermuthlich flocht er den Korb aus gespaltenem
Bambusrohr. Murrzufflus.Cap. 33.S. 165. Z. 3. Devedassi — So heißen diese Pagoden-Tänzerinnen
zu Surate. E. Yvos.Cap. 36.S. 173. Z. 16. Pagode zu Jagrenat — Soll die älteste in Indien
seyn und nach der Berechnung der Braminen an 5000 Jahre stehen. Der
Ort Schenaganaden auf der Küste Orixa, wo sie steht, ist bei den Indiern
einer der heiligsten, denn die Indier glauben nicht selig zu werden, wenn
sie in ihrem Leben nicht wenigstens einmal dahin gewallfahrtet sind. Deßhalb
kommt jedes Jahr am Feste der Tempelweihe eine ungeheure Menge
Volkes dort zusammen. G.Cap. 40.S. 200. Z. 17. Gebern —Guebern, nennt man die noch jetzt hie und
da in Persien vorhandenen Feueranbeter. G.S. 205. Z. 4. Schach-Gebal nahm eine Feder — Eine Feder?
— Das ist ein gewaltiger Verstoß des Erzählers, wer er auch sey. Ich bin
gewiß, daß es ein Griffel, wofern er auf Palmblätter, oder wenn er auf
sinesisches Papier schrieb, ein Pinsel war. Murrzufflus.Cap. 42.S. 214. Z. 19. Ray — Eine ostindische Münze, deren ungefähr fünfundzwanzig
auf einen guten Groschen gehen. E. Yvos.Cap. 49.S. 283. Z. 27. Kiosk — Lusthaus bei den Morgenländern. G.
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