C. M. Wieland's Werke.
Achter Band.Leipzig.G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.1854.
Buchdruckerei der J. G. Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart.Der goldne Spiegel
oder
die Könige von Scheschian.
Eine wahre Geschichte
aus dem Scheschianischen übersetzt.
| — Inspicere tanquam
In speculum jubeo — |
1.
Herr Danischmend, ein paar Worte, ehe wir weiter gehen,
sagte der Sultan. Wenn es, ohne der historischen Wahrheit
Gewalt anzuthun, geschehen könnte, daß du uns auf
diesen Azor, der (unter uns!) die Erlaubniß schwach zu seyn
ein wenig zu sehr mißbraucht, diesen Abend einen guten König
gäbest, so würdest du mir keinen kleinen Gefallen erweisen.
Ich weiß wohl, die Geschichte soll den Fürsten nicht
schmeicheln; und dieß aus einem gedoppelten Grunde: erstens,
weil es genug ist, daß uns in unserm Leben geschmeichelt
wird; und dann, weil die Wahrheit, die man nach unserm
Tode von uns sagt, uns nicht mehr schaden, der Welt hingegen
nützen kann. Aber ich möchte doch auch nicht, daß
es so herauskäme, als ob ich mir alle Abende in meinem
Schlafzimmer eine Satyre auf die Sultanen von Scheschian
machen ließe. Ich erinnere mich irgendwo gelesen zu haben,
ein Mensch sollte nichts, was einen Menschen angeht, für
fremd ansehen, und ich sehe nicht ab, warum wir Sultanen
uns nicht in dem nämlichen Falle befinden sollten. Mit Einem
Worte, ich interessire mich für die Sache, und dieß ist, denke
ich, genug.Ihre Hoheit befehlen also daß ich den Sultan Jsfandiar
überhüpfe? fragte Danischmend —Eine weise Frage! antwortete Schach-Gebal. Ich muß
doch wohl zuvor wissen, wer Sultan Jsfandiar war, eh' ich
sie beantworten kann?"Er war Azors unmittelbarer Nachfolger, sein einziger
Sohn von der schönen Alabanda, und einer von den Scheschianischen
Sultanen, deren Regierung einer förmlichen Satyre
auf böse Fürsten ähnlich sieht."Er war also noch schlimmer als Azor?Um Vergebung, Sire! Azor war in der That kein böser
Fürst; er war nur schwach. Jsfandiar hingegen — —Gut, gut, fiel ihm der Sultan ins Wort: wir wollen
immerhin Bekanntschaft mit ihm machen, wenn es auch nur
wäre, weil er ein Sohn der schönen Alabanda war, die ich,
bei allem Bösen was du uns von ihr sagtest, dennoch sehr
liebenswürdig finde. Und aus eben diesem Grunde ersuch' ich
dich, den armen Jsfandiar so leicht davon kommen zu lassen
als du immer kannst.Wofern (sagte Danischmend) unter dem Worte Satyre
eine Rede oder Schrift verstanden wird, worin man zur Absicht
hat jemanden lächerlich oder verhaßt zu machen: so verhüte
der Himmel, daß mir jemals der Gedanke einfalle, eine
Satyre auf Fürsten zu machen, und wenn es auch nur über
den König Tonos Konkoleros, oder einen der alten Pharaonen
in Aegypten wäre. Aber unglücklicherweise hat es unter den
Großen zu allen Zeiten einige gegeben, deren Leben eine
Satyre auf sich selbst war; ich will sagen, die sich durch ihre
Thorheiten verächtlich und durch den Mißbrauch ihrer Gewalt
verhaßt gemacht haben, ohne daß der Biograph, der den Auftrag
erhielt ihre Geschichte zu erzählen, die mindeste Schuld
an der Sache hatte. Ich besorge, der Sultan Jsfandiar
war in diesem Falle, und daher — —Immerhin! rief der Sultan, das Böse, das du von ihm
sagen wirst, bleibt unter uns. Erinnere dich nur, daß ich
unnöthige Vorreden hasse.Sire (fing Danischmend an), Jsfandiar war, wie gesagt,
Azors und Alabandens einziger Sohn, und der jüngste von
verschiedenen, welche seine Sultaninnen ihm geboren hatten.
Er wurde, ungeachtet der Entfernung seiner Mutter von dem
Herzen des Königes, bei Hof erzogen — wie die Scheschianischen
Prinzen damals erzogen zu werden pflegten.Dieß ist gerade, was wir wissen wollen, sagte Schach-Gebal.Er hatte die geschicktesten Lehrmeister in allen den Wissenschaften
und Künsten, welche sich (wie man zu sagen pflegt)
für einen Prinzen schicken. Er lernte von der Mathematik so
viel, daß er ein Dreieck kunstmäßig von einem Viereck unterscheiden
konnte. Er wußte, zum Beweise seiner geographischen
Kenntnisse, die Namen aller Flüsse, Seen, Berge, Provinzen
und Städte von Scheschian herzusagen; und, um eine
Probe seiner Stärke in der Philosophie zu geben, vertheidigte
er in seinem dreizehnten Jahre öffentlich einen sehr tiefsinnigen
Beweis, daß ein Ding — ein Ding ist, und so lang'
und so fern als es ist was es ist, nicht zugleich etwas andres
seyn kann als es ist. Sein Lehrer in der Staatswissenschaft
hatte nichts Angelegner's als ihm die ausgebreitetste Kenntniß
von dem Umfang und den Rechten der höchsten Gewalt,
und von den unzählbaren Mitteln und Wegen, wie man sich
mit guter Art des Eigenthums seiner Unterthanen bemächtigen
kann, beizubringen. Hingegen nahm sich sein Lehrer in
der Moral sehr in Acht, die Zärtlichkeit seines Ohres nicht
durch Erwähnung des unangenehmen Wortes Pflichten zu
beleidigen. Er bildete sich ein, es vortrefflich gemacht zu
haben, wenn er dem Prinzen, in zierlich gedrehten Perioden
oder durch rührend ausgemalte Beispiele, Gerechtigkeit und
Wohlthätigkeit als die höchsten Tugenden eines Fürsten vorschilderte.
Aber der Ton, worin er von diesen Tugenden
schwatzte, das unbesonnene und übertriebene Lob, womit er
einige Fürsten wegen ziemlich zweideutiger Handlungen dieser
Art unter die Götter versetzte, mußte natürlicherweise eine
verkehrte Wirkung bei seinem Untergebenen thun. Der junge
Jsfandiar machte sich von Gerechtigkeit und Wohlthätigkeit
einen Begriff, der für das Glück seiner künftigen Unterthanen
gänzlich verloren ging. Er glaubte, die Ausübung dieser Tugenden
hange bloß von seiner Willkür ab; und er muthmaßte
auch nicht von ferne, daß sie allein durch ihre unzertrennliche
Verbindung zu Tugenden werden, und daß die unermüdete
Bestrebung, beide in dem ganzen Umfang des Regentenamtes
auszuüben, eine so wesentliche Fürstenpflicht sey, daß derjenige,
welcher sie fünfzig Jahre lang in der höchsten Vollkommenheit
ausgeübt hätte, beim Schlusse seines Lebens kein andres Lob
verdient hätte, als das Zeugniß seine Schuldigkeit gethan zu
haben. Kurz, der höfische Mentor hatte keinen Begriff davon,
daß man einem jungen Fürsten die Ausübung aller Tugenden,
von welchen das Wohl seiner Untergebenen und die
möglichste Vollkommenheit seines Staates abhängt, unter der
Gestalt von Verbindlichkeiten vorstellen müsse, deren Forderungen
eben so dringend als unverletzlich sind; es sey nun daß
man sie von den Gesetzen des höchsten Wesens, als des Königs
über die Könige, oder von einem gesellschaftlichen Vertrag ableite,
vermöge dessen derjenige, der die meisten Rechte zu
haben scheint, gerade der ist, der die meisten Pflichten hat.Ohne Unterbrechung, Herr Doctor, sagte der Sultan:
ich sollte doch denken, der Sittenlehrer des jungen Prinzen
Jsfandiar habe nicht so ganz Unrecht gehabt, ihm das, was
ihr die Pflichten der Fürsten nennt, unter einer gefälligen Gestalt
zu zeigen. Das Wort Pflicht ist ein hartes Wort: es
hat für die Unterthanen selbst einen widrigen Ton; wie sollten
wir andere unsre Ohren daran gewöhnen können? Wir werden
die Tugend immer liebenswürdiger finden, wenn unsre Neigung
zu ihr freiwillig ist, als wenn sie uns mit Gewalt aufgebürdet
wird.Um Vergebung, gnädigster Herr, erwiederte der freimüthige
und unhöfliche Danischmend. Es gibt ein weniger gefährliches
Mittel uns unsere Pflichten angenehm zu machen. Anstatt
uns zur Tugend durch Lobeserhebungen anzuspornen,
welche die Ausübung unserer Schuldigkeit zu einem Gegenstande
der Ruhmsucht und Eitelkeit machen, würde besser gethan
seyn, uns zu überzeugen, daß die Vollziehung unsrer
Pflichten mit den unmittelbarsten und wichtigsten Vortheilen
und mit dem reinsten Vergnügen verbunden ist. Immerhin
mag auch des Ruhmes, als des natürlichen Begleiters guter
Thaten, erwähnt werden. Aber zu bedauern ist der Fürst,
dessen Herz nicht empfindsam genug ist, das Vertrauen und
die Liebe seines Volkes allen Lobgedichten, Ehrendenkmälern,
Bildsäulen, Schaumünzen und Inschriften vorzuziehen, womit
Dankbarkeit oder Schmeichelei seine Thaten verewigen können.
Wie wenig wahre Befriedigung können ihm diese geben! denn
wie oft sind sie nicht an Tyrannen und namenlose Könige verschwendet
worden!Danischmend hat nicht ganz Unrecht, sagte der Sultan,
der diesen Abend in der Laune war, seinen Philosophen schwatzen
zu hören: der Moralist des Prinzen Jsfandiar war, wie es
scheint, ein zu guter Höfling, um ein guter Sittenlehrer zu
seyn.Gleichwohl (fuhr Danischmend fort) war sein Lehrer in
der Geschichte noch schlimmer, wiewohl unstreitig der gelehrteste
Mann in seiner Art, den man im ganzen Reiche hatte
finden können. Die Geschichte war das Lieblingsstudium des
Prinzen, und wirklich erwarb er sich eine Fertigkeit darin,
womit er bei tausend Gelegenheiten sich und seinem Lehrer
Ehre machte. Dieser erhielt zur Belohnung die Stelle eines
königlichen Geschichtschreibers mit einer großen Pension.
Konnte der gute Sultan Azor sich einfallen lassen, daß der
Mann, den er so edel belohnte, die Oberstelle auf einer
Ruderbank verdient habe? und doch war nichts gewisser.Das Amt eines Lehrers der Geschichte bei einem jungen
Fürsten erfordert einen Mann, der mit der wärmsten Rechtschaffenheit
einen tiefsehenden und viel umfassenden Blick, und
das reinste sittliche Gefühl mit der scharfsinnigsten Unterscheidungskraft
vereinigt. Keine geringern Eigenschaften setzt die
vollkommene Gerechtigkeit voraus, welche er in Zeichnung der
Charakter und in Beurtheilung der Handlungen, sowohl aus
dem sittlichen als politischen Gesichtspunkt, auszuüben hat.
Er muß (wenn es mir erlaubt ist, mich durch ein Beispiel
verständlicher zu machen) in Alexandern einen dieser außerordentlichen
Sterblichen erkennen, welche die Natur zu Ausführung
ungewöhnlich großer Dinge gebildet hat; welche, wie
die Götter Homers, eine Mittelclasse zwischen Menschen und
höhern Wesen ausmachen, und daher in ihren Lastern wie in
ihren Tugenden mehr als gewöhnliche Menschen sind. Er
muß jedem seiner Vorzüge, jeder seiner Tugenden ihr Recht
widerfahren lassen, ohne seiner Laster um jener willen zu
schonen, oder die Schönheit von jenen um dieser willen zu
mißkennen. Er muß fähig seyn, in dem großen Entwurfe
dieses wohlthätigen Eroberers einen ganz andern Geist zu
entdecken, als derjenige war, der die Attilas antrieb den Erdboden
zu verheeren. Er muß einem Manne, der zum Beherrscher
der Welt geboren war, aus der erhabenen Leidenschaft,
große Thaten zu thun, kein Verbrechen machen; einer Leidenschaft,
welche an einem kleinern Geist Ehrgeiz gewesen wäre,
aber bei jenem der angeborne Enthusiasmus einer Heldenseele
war. Aber weh ihm, wenn er nicht empfindet, daß der Sieg
bei Arbela nicht mehr war, als was zwanzig andre Griechische
Feldherrn eben so gut hätten bewerkstelligen können als Alexander;
und daß hingegen eine fast übermenschliche Größe der
Seele dazu erfordert wurde, den Arzneibechcr aus der Hand
seines Leibarztes zu nehmen und mit ruhig heiterm Lächeln
auszutrinken, während er demselben mit der andern Hand den
Brief hinreichte, worin ihm entdeckt wurde, daß dieser Arzt
durch Versprechungen, welche einen Heiligen verführen könnten,
bestochen sey ihm Gift zu geben! Weh ihm, wenn er nicht
empfindet, daß Alexander, da er lieber brennenden Durst leiden,
als etliche seiner Soldaten des Wassers, welches sie ihren
schmachtenden Kindern in ihren Helmen zutrugen, berauben
wollte, ein größerer Mann war, als da er, von Feldherren
und Königen umgeben, zum erstenmal vom Thronhimmel der
Persischen Sultanen auf das besiegte Asien herabsah; oder
wenn er nicht empfindet, daß der überwundene Darius in
dem Augenblicke, da er, gerührt von dem edlen Betragen seines
Siegers gegen seine Gemahlin und Kinder, niemand als
Alexandern für würdig erklärte den Thron des Cyrus zu besteigen,
— größer als Alexander war; —Alexander hingegen
in dem Augenblicke, da er, berauscht von der wollüstigen Pracht
der Persischen Könige, beim Eintritt in das innere Gezelt des
Darius ausrief: dieß nenn' ich König seyn! von der Hoheit
eines Halbgottes zum gemeinen Erdensohn heruntersank.Weit entfernt von dieser Feinheit und Wärme des sittlichen
Gefühls, urtheilte der gelehrte Mann, der den jungen
Jsfandiar durch die Geschichte zu einem Könige bilden sollte,
von den Großen und ihren Handlungen nach keiner bessern
Regel, als nach dem Schein den sie von sich warfen, und (in
allen Fällen, wo er keine besondere Ursache hatte zu loben,
was er nach seinen Grundsätzen hätte tadeln müssen) nach den
Vorurtheilen der übel zusammenhängenden, schwärmerischen,
in einigen Stücken überspannten, in andern allzu schlaffen
Sittenlehre, an welche er in den Schulen der Bonzen auf
eine mechanische Weise angewöhnt worden war. Jeder Eroberer
hieß ihm ein Held, jeder freigebige Fürst großmüthig,
jeder schwache Fürst gut. Vornehmlich machte er sich zur
Pflicht, dem Prinzen von den Fürsten seines Stammes immer
die vortheilhaftesten Begriffe zu geben, wiewohl es größtentheils
auf Unkosten der Wahrheit geschehen mußte. Er malte
alles ins Schöne; er vergrößerte ihre guten oder erträglichen
Eigenschaften, stellte ihre Laster in den tiefsten Schatten, und
entschuldigte durch sophistische Spitzfindigkeiten was sich nicht
verbergen ließ. Kurz, er behandelte ihre Geschichte nicht anders,
als ob die Begriffe vom Guten und Bösen, sobald sie
auf einen Großen angewendet werden, willkürlich würden, oder
als ob der königliche Mantel durch eine talismanische Kraft
jedes Laster, das er bedeckt, in eine schöne Eigenschaft verwandeln
könnte. — "Man muß gestehen (pflegte er von einem
offenbaren Tyrannen, oder von einem in Ueppigkeit versunkenen
Wollüstling zu sagen), daß dieser große Sultan in einigen
Handlungen seines Lebens die Strenge, welche durch die Umstände
seiner Zeiten nothwendig gemacht wurde, etwas weiter
getrieben hat als zu wünschen war" — oder: "es ist nicht zu
läugnen, daß seine Neigung zu den Ergötzungen nicht immer
in den Schranken der weisesten Mäßigung blieb; aber diese
Schwachheiten (setzte er hinzu) wurden durch so viele große
Eigenschaften vergütet, daß es eben so unbillig als unehrerbietig
wäre, sich dabei aufzuhalten."Der junge Prinz hätte nicht so schlau seyn müssen als
er war, wenn er sich nicht einige kleine Grundsätze hieraus
gezogen hätte, welche das wenige Gute, das der Unterricht
seines Sittenlehrers in seinem Gemüthe übrig gelassen hatte,
vollends vernichteten; zum Beispiel: "daß die Laster eines
Fürsten ein Gegenstand seyen, von welchem man mit Ehrerbietung
reden müsse; daß ein Fürst um so weniger vonnöthen
habe seinen schlimmen Neigungen Gewalt anzuthun, weil es
immer in seiner Macht stehe, das Böse, das er thut, wieder
zu vergüten; daß man es einem Sultan desto höher anrechnen
müsse, wenn es ihm gefällt einige gute Eigenschaften zu haben,
weil es bloß an ihm lag, ungestraft so schlimm zu seyn als
er nur gewollt hätte, u. dgl. m. Der junge Jsfandiar ermangelte
nicht, aus diesen und ähnlichen Sätzen, welche aus
der verkehrten Weise, wie ihm die Geschichte beigebracht
wurde, zu folgen schienen, sich eine geheime Sittenlehre zu
seinem eigenen Gebrauch zu bilden, welche desto gefährlicher
war, da sein von Natur wenig empsindsames Herz keine Neigungen
hatte, welche seinen Launen und Leidenschaften das
Gegengewicht hätten halten können.Ich habe mich, nicht ohne Gefahr dem Sultan meinem
Herrn lange Weile zu machen, bei der Erziehung des Prinzen
Jsfandiar verweilt, weil ich überzeugt bin, daß sie großentheils
an den Thorheiten und Lastern Schuld ist, welche die
Regierung dieses unglücklichen Fürsten auszeichnen.Aber, wenn dieß wäre, sagte Schach-Gebal, wie viele
Königssöhne in der Welt müßten eben so schlimm seyn als
dein Jsfandiar! Denn ich bin gewiß, daß unter zehen kaum
Einer ist, der sich einer bessern Erziehung rühmen kann.Sire (antwortete Danischmend), dieses letzte als eine
Erfahrungssache vorausgesetzt, ließe sich schließen, die meisten
Fürsten würden, durch eine besondere Vorsehung, welche für
das Beste der Menschheit wacht, mit einer so vortrefflichen
Anlage in die Welt geschickt, daß sie, alles dessen was die
Erziehung an ihnen verderbt ungeachtet, immer noch gut
genug blieben, um uns zu zeigen wie vortrefflich sie hätten
werden können, wenn der Keim der Verkommenheit in ihnen
entwickelt und zur Reife gebracht worden wäre.Wofern dieß nicht etwan Ironie ist, sagte Schach-Gebal
lächelnd, so bedanke ich mich bei dir im Namen aller, die
bei dieser sehr verbindlichen Hypothese etwas zu gewinnen
haben.Ich empfinde meine Pflicht zu stark (erwiederte Danischmend),
um von einer so ernsthaften Sache anders als in
vollem Ernste zu reden. Und ich denke, nichts kann dem hohen
Begriff, den wir uns von der Güte des unsichtbaren Regierers
der Welt zu machen schuldig sind, gemäßer seyn, als der Gedanke,
daß er (ordentlicher Weise wenigstens) nur die schönsten
Seelen zu seinen Unterkönigen in den verschiedenen Theilen
des Erdkreises ernenne.Wenn mir erlaubt ist meine Meinung über eine Sache
von dieser Wichtigkeit zu sagen, sprach die schöne Nurmahal,
so denke ich, Danischmend habe niemals etwas Wahrscheinlicheres
gesagt. Wäre es nicht so wie er behauptet, so dünkte
mich unerklärbar, woher es komme, daß unter zwanzig großen
Herren kaum Einer so schlimm ist, als sie alle zwanzig seyn
sollten, wenn man bedenkt, was die Lebensart, worin sie
aufwachsen, die verkehrten Begriffe, welche sie unvermerkt
einsaugen, die Mühe, die man sich gibt, durch Schmeichelei,
niederträchtige Gefälligkeit und schlaue Verführungskünste
ihren Kopf und ihr Herz zu verderben, bei gewöhnlichen
Menschen für eine Wirkung thun müßten.Ich zweifle nicht, meine guten Freunde, sagte der Sultan,
daß alles dieß eine abgeredete Schmeichelei ist, die ihr mir
sagen wollt. Indessen ist doch wenigstens die Wendung, die
ihr dazu genommen habt, zu loben. Aber ich sehe nicht,
Danischmend, was der Taugenichts Jsfandiar dabei gewinnen
kann.In der That, versetzte Danischmend, es mangelte ihm,
wie ich bereits erwähnte, an dem Kostbarsten, was die Natur
einem Sterblichen, sie mag ihn zum Pflug oder zu einer Krone
bestimmt haben, geben kann, an einer empfindsamen Seele.
Diesen Mangel kann auch die vollkommenste Erziehung nicht
ganz ersetzen; aber, da sie doch wenigstens etwas thun kann
(denn warum sollte sich die Natur nicht eben sowohl verbessern
als verschlimmern lassen?), so sind in einem solchen Falle
die Leute, deren Amt dieß ist, desto größere Verbrecher, wenn
sie darin saumselig sind.Vermuthlich fehlten sie mehr aus Ungeschicklichkeit als
aus Bosheit, sagte die Sultanin.Ich würde selbst nicht strenger von ihnen geurtheilt haben,
erwiederte Danischmend, wenn es weniger gewiß wäre, daß
diese Herren (wiewohl sie ihre wahre Absicht unter der gewöhnlichen
Phraseologie von Menschenliebe, Patriotismus
und Uneigennützigkeit verbargen) insgesammt kein höheres
Augenmerk hatten, als ihr Glück zu machen; ein Zweck, den
sie am gewissesten zu erhalten glaubten, wenn sie keine Gelegenheit
versäumten, sich durch eine wenig bedenkliche Gefälligkeit
in das Herz des künftigen Thronerben einzustehlen.So fehlerhaft indessen die Erziehung dieses Prinzen
war, so würde doch der Schade, der sie ihm zufügte, nicht
unheilbar gewesen seyn, wenn er nicht das Unglück gehabt
hätte, einem gewissen Kamfalu in die Hände zu fallen, der
ein Bösewicht aus Grundsätzen, aber der angenehmste Bösewicht
war, den man jemals gesehen hatte. Ich werde, um
dem Charakter dieses Menschen sein gehöriges Licht zu geben,
genöthiget seyn, eine kleine Digression in die Gelehrtengeschichte
der damaligen Zeit zu machen.Es lebte damals ein Schriftsteller, Namens Kador, der
sich von dem großen Haufen der moralischen Schreiber seiner
Zeit durch eine Art von Antipathie gegen alles Aufgedunsene
und Gezierte in Empfindungen, Begriffen und Sitten, und
überhaupt durch eine merkliche Entfernung von der Kunstsprache
sowohl als von den Maximen jenes großen Haufens
unterschieden hatte. Es ist natürlich, daß die besagten
Schreiber mit diesem Unterschied um so weniger zufrieden
waren, weil das Publikum zwischen ihren Schriften und den
seinigen noch einen andern Unterschied machte, der ihrer
Eitelkeit nicht gleichgültig seyn konnte. Man las nämlich
seine Werke mit einem Vergnügen, welches immer die Begierde
zurück ließ, sie wieder zu lesen; da hingegen die ihrigen
ordentlicher Weise nur zum Einpacken der seinigen gebraucht
wurden. Sie hätten mehr oder weniger als gewöhnliche
Menschen seyn müssen, wenn sie dieses nicht sehr übel hätten
finden sollen. Sie suchten den Grund davon nicht in der
schlechten Betroffenheit der übel zubereiteten und unverdaulichen
Nahrung, welche sie dem Geist ihrer Zeitgenossen
vorsetzten, sondern (wie natürlich war) in der Verdorbenheit
des menschlichen Herzens, welchem Kador, ihrem Vorgeben
nach, auf die unerlaubteste Weise schmeichelte. Denn der
scherzende Ton, worin er zuweilen sehr ernsthafte Wahrheiten
sagte, und die launige Freimüthigkeit, womit er der Heuchelei
die Maske abnahm und der Verblendung die Augen öffnete,
waren in den ihrigen untrügliche Zeichen seines bösen Willens
gegen die Tugend. In der That dachte Kador von den Tugenden
der Sterblichen nicht ganz so günstig, als diejenigen,
welche selbst für Muster angesehen werden wollen, zu wünschen
Ursache haben. Er leitete die meisten praktischen Urtheile
und Handlungen der Menschen aus den mechanischen
Wirkungen physischer Ursachen, ober aus den geheimen Täuschungen
der Einbildung und des Herzens her; und je erhabener
die Beweggründe waren, aus welchen jemand zu
handeln vorgab, desto größer war das Mißtrauen, welches
er entweder in die Redlichkeit dieses Jemands oder in die
Gesundheit seines Gehirnes setzte. Wiewohl er überhaupt
eine sehr gute Meinung von der menschlichen Natur hegte,
so behauptete er doch, daß sie, binnen etlichen tausend Jahren,
durch die unaufhörliche Bemühung an ihr zu künsteln, zu
bessern und zu putzen, so übel zugerichtet worden sey, daß
es leichter wäre an einem verstümmelten Götterbilde die
Majestät des Gottes, den es vorgestellt, als in den
menschlichen Carricaturen, die sich vor unsern Augen herumbewegen,
die ursprünglich schöne Form der Menschheit zu erkennen.
Indessen gab es doch, seiner Meinung nach, immer
eine Anzahl schöner Seelen, welche (durch glückliche Zufälle,
oder, wie er geneigter war zu glauben, durch die geheimen
Veranstaltungen einer wohlthätigen Gottheit), wo nicht ganz
unverstümmelt, doch wenigstens nur mit leichten Beschädigungen,
noch ganz leidlich davon gekommen wären. Er erklärte
sich für den wärmsten Liebhaber dieser schönen Seelen:
von ihnen allein dacht' er gut; ihnen allein traute er jede
edle Gesinnung, und die Fähigkeit, der Tugend große Opfer
zu bringen, zu. Die übrigen machten noch so künstlich angestrichen,
noch so Gothisch herausgeputzt, in noch so weite
und lang schleppende Mäntel eingehüllt seyn, kurz, sich noch
so viele Mühe geben, durch entlehnte Zierrathen und äußerliche
Formen von Weisheit und Tugend Hochachtung zu erwecken:
an ihm verloren sie ihre Mühe. Es sind Pagoden,
pflegte er lächelnd zu sagen, welche sehr wohl thun, sich,
wie die Sinesischen, in weite Mäntel zu hüllen; durchsichtiges
Gewand würde ihre Ungestalt zu sichtbar machen. Kador
mochte wohl so unrecht nicht haben, als die Pagoden,
seine Gegner, die Welt gern überredet hätten. Gewiß ist,
daß der bessere Theil der Welt sich nicht überreden lassen
wollte, und daß er gerade so viele gesunde Köpfe und schöne
Seelen, als man ihrer damals in Scheschian zählte, auf
seiner Seite hatte. Selbst diejenigen, welche nicht in allen
Stücken seiner Meinung waren, billigten sowohl seine Absichten
als die Mittel wodurch er sie ausführte, und
erkannten in ihm den aufrichtigen Liebhaber des Wahren und
den wohlmeinenden Freund der Menschheit. Aber zufälliger
Weise hatte er das Mißvergnügen, daß einige seiner Grundsätze
von einer Art von Leuten gemißbraucht wurden, denen
es gleich stark an feinerem Gefühle des Herzens und an
Richtigkeit der Beurtheilung mangelte. Das Wahre gränzt
immer so nahe an den Irrthum, daß man keinen Sprung
vonnöthen hat, aus dem sanft sich empor windenden Pfade
des einen in die reizenden Irrgärten des andern sich zu verirren.
Diese Leute gaben sich das Ansehen, dem besagten
Schriftsteller in allem beizustimmen, einen einzigen Punkt
ausgenommen. "Er hat Recht," sagten sie, "so lang' er in
seinem wahren Charakter bleibt, so lang' er das Eitle der
menschlichen Begriffe und Leidenschaften schildert, und das
Lächerliche ihrer Forderungen an Weisheit und Tugend aufdeckt.
Aber er schwärmt selbst, sobald er von schönen Seelen,
von der Zauberei der Empfindung, von Sympathie mit der
Natur und von der Göttlichkeit der Tugend fabelt. Es
gibt keine schönen Seelen, und nur ein Thor glaubt an die
Tugend. Was die Menschen Tugend nennen, besteht, wie
die Münze in gewissen Ländern, in einer Anzahl abgeredeter
Zeichen, welche man unter einem gewissen Stempel für einen
gewissen Preis in Handel und Wandel gelten zu lassen übereingekommen
ist. Der innere Werth kommt dabei gar nicht
in Betrachtung. Dem Korn nach ist eben so wenig Unterschied
zwischen dem Schelm, der gehangen wird, dem Nachrichter,
der ihn hängt, und dem Richter, der ihn hängen läßt, als
zwischen dem geschmeidigen Europäer, dem aufgeblasenen
Perser, dem andächtigen Armenier, dem höflichen Sinesen
und dem rohen Kamtschadalen. Das Gepräge macht den
ganzen Unterschied."Die Leute, welche so dachten, fanden bald Anhänger
genug, um eine zahlreiche Secte auszumachen. Sie nannten
sich die Philosophen, und wer nicht von ihrer Brüderschaft
war, hatte die Freiheit von den Titeln Betrüger oder Schwärmer,
welchen er wollte, auszuwählen. Denn nach ihren
Grundsätzen mußte er nothwendig eines von beiden seyn.
Der ehrliche Kador erfuhr die Kränkung, von der kurzsichtigen
Menge mit diesen anmaßlichen Philosophen in Eine Linie gestellt
zu werden, weil sie zuweilen seine Sprache redeten, und
in gewissen Stücken eben das zu thun schienen, was er gethan
hatte. Man konnte oder wollte nicht gewahr werden,
daß nichts verschiedener seyn konnte, als der Geist, welcher
ihn, und der, welcher diese Philosophen beseelte, und
als der Endzweck, den er und sie sich vorgesetzt hatten.
Wenn er des Schwärmers spottete, und den Afterweisen, den
Betrüger, oder den Selbstbetrogenen ihrer Ansprüche an
Weisheit und Tugend entsetzte: so geschah es auf eine Weise,
welche in Personen von gesundem Urtheile keinen Zweifel
veranlassen konnte, daß er es nicht redlich mit Wahrheit und
Tugend meine. Wenn sie hingegen eben dieß zu thun schienen,
fiel es in die Augen, daß ihre Absicht sey, die Tugend
selbst lächerlich zu machen, und den ewigen Unterschied zwischen
Wahr und Falsch, Recht und Unrecht aufzuheben. Der
Schmerz, sich mit einer Classe von Menschen, die er verachtete,
vermengt zu sehen, und die Gefahr, durch den
Muthwillen der einen und den Unverstand der andern wider
seinen Willen Böses zu thun, brachte ihn, ohne daß er sich
einen Augenblick bedachte, zu der einzigen Entschließung,
welche in solchen Umständen eines ehrlichen Mannes würdig
war. Er erklärte sich öffentlich, und mit Verachtung des
Tadels und der Vorwürfe, welche er von beiden Gattungen
zu erwarten hatte, für die Sache der Tugend. Aber da er,
seiner Ueberzeugung treu, fortfuhr, keine Tugend gelten zu
lassen, welche nicht, zum untrüglichen Zeichen ihres innern
Werthes, mit dem Stempel der schönen Natur bezeichnet
war: so erfolgte was er vorher gesehen hatte. "Die besagten
Philosophen und der Pöbel der Moralisten waren in gleichem
Grade unzufrieden mit ihm." Beide fanden in seinen Schriften
so viel Vorwand als sie nur wünschen konnten, seine Grundsätze
und seine Absichten in ein falsches Licht zu stellen; und
am Ende zeigte sich, daß er mit allen seinen Bemühungen
nichts gewonnen hatte, als die kleine Zahl der Vernünftigen
in der Ueberzeugung zu stärken: "daß Blödigkeit des Geistes
und Verkehrtheit des Herzens gleich unheilbare Uebel sind;
daß es zwar nicht unmöglich ist, durch mechanische Mittel
den großen Haufen der Menschen zu einer ganz leidlichen Art
von — Thieren zu machen; aber, daß Weisheit und Güte
ewig ein freiwilliges Geschenk bleiben werden, welches der
Himmel nur den schönen Seelen macht."Was du uns hier erzähltest, Danischmend, möchte sich an
einem andern Orte ganz gut haben hören lassen, sagte der
Sultan, aber du scheinst darüber vergessen zu haben, daß die
Rede nicht von deinem Freunde Kador, sondern von dem
Prinzen Jsfandiar, und von einem gewissen schelmischen Kamfalu
war, den du uns als einen Verführer dieses jungen Menschen
bekannt machen wolltest.Sire (war Danischmends Antwort), Ihre Hoheit ziehen
mich in diesem Augenblicke aus keiner geringen Verlegenheit.
Ich fing eben an gewahr zu werden, daß ich mich verirret hätte;
und wer weiß was für Wendungen ich hätte nehmen müssen,
um mich wieder auf den Punkt zu finden, den ich unvermerkt
aus dem Gesichte verlor! Der Kamfalu also, zu welchem Sie
mich zurückzubringen die Gnade haben, war eines von diesen
verzärtelten Kindern der Natur, welche sie in einem Anstoß
von verschwenderischer Laune mit allen ihren Gaben überhäuft,
aber vor lauter Eilfertigkeit die einzige vergessen hat, ohne
welche alle übrigen mehr gefährliche als vortheilhafte Geschenke
sind. Er war von schöner Bildung, und der Bau seines Körpers
schien Unsterblichkeit anzukündigen. Er besaß in einem hohen
Grade alles was einen jungen Mann zu einem Günstling des
schönen Geschlechtes zu machen pflegt, und alles was ihn im
Besitz ihrer Gunst erhalten kann. Er war lebhaft, feurig,
unternehmend, und niemand hatte die Kunstsprache der Zärtlichkeit,
und alle die schlauen Verführungskünste, wodurch sich
die Schönen wissend oder unwissend hintergehen zu lassen
gewohnt sind, mehr in seiner Gewalt als er. Das Einnehmende
seiner Person, ein unerschöpflicher, mit der größten
Leichtigkeit in tausend Gestalten sich verwandelnder Witz, und
eine natürliche Beredsamkeit, bei welcher ihm, in gewissen Fällen,
seine Begierden die Dienste der höchsten Begeisterung thaten,
machten ihn zum angenehmsten und gefährlichsten Gesellschafter
von der Welt. Nichts konnte leichtfertiger seyn als seine
Grundsätze in Beziehung auf die Gebieterinnen unsers Herzens;
aber unglücklicher Weise für das arme Scheschian waren diese
Grundsätze ein Theil des allgemeinen Systems seiner sittlichen
Begriffe. Eblis (so nannte sich der Kamfalu), dessen Herz keine
Vermuthung hatte, daß es eine höhere Art von Wollust gebe,
als die Befriedigung der Sinne und das eigennützige Vergnügen
des gegenwärtigen Augenblicks — Eblis hatte sich ein
System gemacht, aus welchem Wahrheit, Tugend, Zärtlichkeit,
Freundschaft, kurz, jedes schönere Gefühl und jede edlere Neigung,
verbannt waren. "Alles ist wahr, sagte er, je nachdem wir
es ansehen; von unserer innerlichen Stimmung und von dem
Gesichtspunkte, woraus wir sehen, hängt es lediglich ab, ob
uns ein Gegenstand schön oder häßlich, gut oder böse scheinen
soll. Tugend ist eine Uebereinkunft der feinern Köpfe, durch
einen angenommenen Schein von Gerechtigkeit, Uneigennützigkeit
und Großmuth dem großen Haufen Zutrauen und Ehrfurcht
einzuflößen. Sie bedient sich dazu einer gewissen hochtönenden
Sprache, gewisser edler Formen und schlauer Wendungen,
welche sie unsern Neigungen und Handlungen gibt,
um das Ziel unsrer Leidenschaften desto sicherer zu erhalten,
je behutsamer wir es den Augen der Welt zu entziehen wissen.
Müßige oder bezahlte Pedanten haben diese Sprache, diese Formen
in einen wissenschaftlichen Zusammenhang räsonnirt. Blöde Köpfe
sind einfältig genug gewesen, diese Zeichen für Sachen anzusehen,
und unter diesen leeren Formen gleichsam einen Körper
zu suchen. Narren haben sich zu allen Zeiten vergebens
oder auf Unkosten ihrer Vernunft bemüht, uns die Tugend,
von welcher jene schwatzen, in ihrem Leben zu zeigen. Aber
ein dreifacher Thor müßte der seyn, der einen Freund auf
Unkosten seiner selbst glücklich machen — der den Augenblick,
das einzige was in seiner Gewalt ist, einem Traume von Zukunft
aufopfern — oder für andre leben wollte, wenn er sie
nöthigen kann für ihn da zu seyn!" Diese abscheuliche Moral —Ich besorge, Danischmend, es ist die Moral von zwei
Fünfteln meiner Rajas, Omras und Mollas, sagte der Sultan.Das verhüte der Himmel, versetzte Danischmend. Aber
dessin bin ich versichert, daß es, wenn unser Herz uns nicht,
wider Willen unsrer Köpfe, zu bessern Leute machte, die Moral
aller Erdenbewohner wäre.Mir däucht, sprach die schöne Nurmahal, nichts beweiset
besser, wie wahr es ist, daß nur die schönen Seelen der Tugend
fähig sind, als der Ton, in welchem Eblis von dieser ihm unbekannten
Gottheit spricht. "Ein dreifacher Thor müßte der
seyn, der seinen Freund auf Unkosten seiner selbst glücklich
machen wollte." Ja wohl, Eblis! Ein dreihundertfacher Thor
müßt' er seyn. Aber dieß weiß Eblis nicht —denn woher sollt'
er es wissen können? —daß der Fall, den er setzt, gar nicht
möglich ist. Ein Freund kann für seinen Freund nichts auf
Unkosten seiner selbst thun — denn dieser Freund ist er selbst.
Welchen größern Gewinn könnt' er machen als die Glückseligkeit
seines Freundes? Er könnte sein Leben für ihn geben, und
würde in dem letzten Augenblicke, der vor diesem süßen Opfer
vorherginge, mehr leben als in zwanzig Jahren, die er bloß
sich selbst gelebt hätte.Schwärmerin! — komm und gib mir einen Kuß, rief der
Sultan. Zweiundzwanzig Jahre, seit ich Sultan bin, verhindern
mich nicht, zu fühlen, daß etwas in dieser Schwärmerei ist, das
meine ganze Sultanschaft aufwiegt.Die Grundsätze des verführerischen Eblis fanden in dem
Herzen des Prinzen Jsfandiar so wenig Widerstand, daß sie
sich ohne große Mühe seines Kopfes bemeistern konnten. Eblis
hatte das Anstößige, welches sie für eine jede noch nicht ganz
verdorbene Seele haben müssen, so geschickt zu verbergen gewußt,
daß der Prinz sich mit vollkommner Sicherheit dem Vergnügen
überließ, seinen Geist, wie er wähnte, von Vorurtheilen
zu entfesseln, deren Joch nur diejenigen tragen müßten, welche
zum Gehorchen geboren wären. Da er ohnehin eine starke
Neigung in sich fühlte, seine Laune zur einzigen Regel seiner
Urtheile und Handlungen zu machen: so konnt' es nicht wohl
anders seyn, als daß er ein System sehr überzeugend finden
mußte, welches ihm, von dem Augenblick an, da er alles können
würde, was er wollte, die Vollmacht ertheilte, alles zu wollen,
was er könnte.Die Ungeduld, so viel Jahre als der König sein Vater
noch zu leben hätte, zwischen sich und dem Ziele seiner feurigsten
Wünsche zu sehen, nahm mit jedem Jahre so stark zu, daß sie
bei einem Prinzen, der so wenig gewohnt war seinen Leidenschaften
zu gebieten, sich endlich zu deutlich verrathen mußte,
um dem alten Azor verborgen zu bleiben. Alle Mühe, die
sein Liebling anwandte, ihn zu einem klügern Betragen zu
bereden, war vergeblich. Jsfandiar tadelte alle Maßregeln
des Hofes, sprach mit sehr wenig Zurückhaltung von den Schwachheiten
seines Vaters, und begegnete der schönen Gulnaze so,
als ob er sich vorgesetzt hätte, sie alle Augenblicke zu erinnern,
daß sie eine Persische Tänzerin gewesen sey.Azor ertrug diesen Uebermuth mit einer Nachsicht, welche
zu sehr die Miene einer Schwachheit hatte, um den Prinzen
zum Gefühl seiner Pflicht zurückzubringen; und in der That
würde ein strengeres Verfahren zu nichts gedient haben, als
ihn die Abnahme seines Ansehens und die Ohnmacht einer zum
Ende sich neigenden Regierung desto kränkender fühlen zu lassen.
Die seinige war so verhaßt, daß sein Thronfolger schon dadurch
allein, weil er sie öffentlich mißbilligte, der Abgott des Volkes
wurde. Der Hof des letztern vergrößerte sich zusehends; und
man sprach endlich so laut von der Nothwendigkeit, den alten
König einer Bürde, welche jüngere Schultern erfordre, zu
entladen, daß Jsfandiar vermuthlich nicht länger gezögert
haben würde, diese Gesinnungen der Nation zum Vortheil
seiner Wünsche anzuwenden, wenn ihn nicht der Tod des
Königs wenigstens dieser letzten Stufe seines Verbrechens
überhoben hätte.Niemals sind die Erwartungen eines Volkes stärker betrogen
worden, als an dem Tage, da Jsfandiar den Thron
von Scheschian bestieg. Aber was für Ursache hatten auch die
Scheschianer mehr von ihm zu erwarten als von seinem Vater?
Wie viele Könige, welche sich durch die heiligsten Gelübde verbinden
müssen nur für die Glückseligkeit ihrer Völker zu leben,
erinnern sich dieser Gelübde noch, nachdem sie den ersten
Zug aus dem Zauberkelch der willkürlichen Gewalt gethan
haben? In Scheschian mußten sich die Könige zu nichts verbinden.
Das Volk schwor ihnen gränzenlosen Gehorsam, und
sie —erlaubten, am Tag ihrer Krönung, dem geringsten ihrer
Unterthanen — den Saum ihres Mantels zu küssen. Was
für Erwartungen kann ein Volk auf eine solche Gnade gründen?Azor hatte vor seiner Thronbesteigung alle Herzen durch
Leutseligkeit und Güte gewonnen; man erwartete goldne Zeiten
von ihm, und fand sich betrogen.Jsfandiar hatte sich nie die geringste Gewalt angethan,
die ungestüme Hitze, die Unempfindlichkeit und das Wetterwendische
seiner Gemüthsart zu verbergen. Niemand wußte
einen Zug von ihm anzuführen, der eine große Seele oder ein
wohlthätiges Herz bezeichnet hätte. Allein man war der
langen Regierung seines verhaßten Vaters überdrüssig; Jsfandiar
hatte sich öffentlich an die Spitze der Mißvergnügten gestellt;
man hoffte, daß derjenige besser regieren würde, der von
den Gebrechen der alten Regierung so lebhaft gerührt schien,
und so viele Gelegenheit gehabt hatte durch fremde Fehler
weise zu werden. Aber man betrog sich sehr. Jsfandiar
würde sich eben so mißvergnügt bezeigt haben, wenn Azor der
beste der Könige gewesen wäre.Die erste Probe, welche der neue Sultan von seinem Vorhaben
ohne Grundsätze zu regieren gab, war die Veränderung,
die er bei Hofe und in der Staatsverwaltung vornahm.In den letzten Jahren Azors hatte man sich durch die
äußerste Noth gedrungen gesehen, den übermäßigen Aufwand
der Hofhaltung einzuschränken, und einige Männer von bewährter
Redlichkeit und Einsicht zu den wichtigsten Staatsbedienungen
zu berufen. Es war zu spät für die Glückseligkeit
von Scheschian; aber noch immer früh genug, um noch
größere Uebel zu verhüten. Durch die Weisheit und unverdrossene
Arbeit dieser ehrwürdigen Alten war die Staatswirthschaft
in bessere Ordnung gebracht, und dem Volk, ohne
Nachtheil der Krone, beträchtliche Erleichterung verschafft
worden. Jsfandiar zählte vermuthlich beides unter die Mißbräuche;
denn er setzte seinen Hofstaat auf einen prächtigern
Fuß, als er in den glänzendsten Zeiten Azors gewesen war;
und die einzigen unter den Staatsbedienten seines Vaters,
welche er um jeden Preis hätte kaufen sollen, wurden abgedankt.
Sie mußten einem Schlaukopfe Platz machen, der sich
durch ein Project, die Scheschianer, mittelst eines neu erfundenen
Kunstwortes, die Luft, welche sie einathmeten, versteuern
zu lassen, das Vertrauen Seiner Hoheit erworben
hatte.Jsfandiar hatte kaum einige Monate das Vergnügen geschmeckt
alles zu thun was ihm beliebte, als er anfing sich
seinen Launen mit einer Sorglosigkeit zu überlassen, welche,
ungeachtet des jovialischen Geistes, womit er sie würzte, in
den Augen der Vernunft eine desto anstößigere Art von Tyrannei
war, weil sie bewies, daß er fähig sey mit kaltem
Blute und bei völligem Gebrauch seiner Sinne die unsinnigsten
Dinge zu thun.Er schien sich sehr viel damit zu wissen, daß er keine erklärte
Favoritin hatte, wie sein Vater. Aber dafür hielt er
eine ungeheure Menge von Hunden, Jagdpferden und Falken;
gab unermeßliche Summen für Gemälde aus, ohne den geringsten
Geschmack von der Kunst zu haben, und belohnte mit
unmäßiger Verschwendung alle Abenteurer und Landstreicher,
die, mit dem Titel witziger Köpfe, Virtuosen und Besitzer
seltsamer Kunststücke an seinen Hof kamen, weil, wie sie sagten,
nur der größte der Könige würdig sey, der Besitzer ihrer
Talente und Raritäten zu seyn.Ohne irgend eine herrschende Leidenschaft zu haben, hatte
er nach und nach alle, und jede mit desto größerer Wuth,
weil er vorhersah, sie würde bald von einer andern verdrängt
werden. Das arme Scheschian gewann also wenig bei seiner
Mäßigung in einem einzigen Punkte; einer Mäßigung, wovon
da Grund vielmehr in seiner Unfähigkeit zu lieben, als in
seiner Weisheit lag, und welche ihn nicht verhinderte, wenn
es ihm einfiel, die Einkünfte einer ganzen Provinz an die
erste Sinesische Gauklerin, die ihn eine Viertelstunde belustigte,
wegzuschenken.Eben dieselbe wunderliche Laune, welche die Regel seines
Geschmacks war, regierte ihn bei Besetzung der wichtigsten oder
ansehnlichsten Hofämter und Staatsbedienungen. Er machte
in einem solchen Anstoß seinen Pastetenbäcker zum ersten Minister,
ein andermal seinen Barbier zum Hauptmann über
die Leibwache. Der Reichskanzler wurde abgesetzt, weil er
ein schlechter Tänzer war, und ein gewisser Quacksalber schwang
sich durch die Erfindung einer Pomade in die Stelle des Oberschatzmeisters,
der die Verwegenheit gehabt hatte, Seiner
Hoheit vorzustellen, daß zehntausend Unzen Silbers eine zu
große Belohnung für die Erfindung einer neuen Pomade sey.
Keiner von seinen Dienern konnte eine Stunde lang auf seine
Gnade zählen; und das Schlimmste war, daß man sie durch
Wohlverhalten eben so leicht als durch Uebelthaten verscherzen
konnte. Der einzige Eblis besaß das Geheimniß, sich ihm
unentbehrlich zu machen, und, ohne einen andern als den
Titel seines Günstlings, den Hof und den Staat eben so willkürlich
zu regieren als der Sultan selbst. Ich hatte vielleicht
Unrecht, das Mittel, dessen er sich dazu bediente, ein Geheimniß
zu nennen; denn im Grunde kann nichts einfacher seyn.
Es bestand in der Kunst, sich in alle Launen seines Herrn zu
schicken, ihn alles thun zu lassen, was er wollte, und für alle
seine Unternehmungen, so ausschweifend sie seyn mochten,
Mittel zu schaffen.Das letzte ist eben so leicht nicht, als du dir einbildest,
sagte der Sultan.Sire, versetzte Danischmend, nach des Günstlings Grundsätzen
und Art zu verfahren konnte nichts leichter seyn. Nach
ihm hatte der Sultan das Recht zu nehmen, so lange seine
Unterthanen etwas hatten, das ihnen genommen werden
konnte."Und wenn sie nichts mehr hatten?"Dieser Fall war, seiner Meinung nach, so bald noch nicht
zu besorgen. Der Hunger, und die Begierde nach einem Zustande,
worin sie müßig gehen können, wird sie schon arbeiten
lehren, pflegte er zu sagen, und so lange sie arbeiten, können
sie geben."Dieser Eblis fürchtete sich also nicht vor den Folgen der
Muthlosigkeit?"Das Uebel war, daß er dem Sultan eine Philosophie beigebracht
hatte, welche die menschliche Natur in seinen Augen
verächtlich machte. Er sah die Menschen für nichts Besseres
als eine Gattung von Thieren an, von welcher sich mehr
Vortheile ziehen lassen, als von irgend einer andern; und in
der Kunst, sie für ihren Gebieter zu gleicher Zeit so nützlich
und so unschädlich als möglich zu machen, bestand, nach ihm,
das große Geheimniß der Regierungskunst. Man hätte ihm
diesen Grundsatz gelten lassen können, wenn er vorausgesetzt
hätte, daß der Vortheil des Gebieters und des Staats allezeit
einerlei sey. Aber dieß war es nicht, was er damit
wollte.Der Mensch, sagte Eblis, ist aus zwei entgegen gesetzten
Grundneigungen zusammengesetzt, deren vereinigte Wirkung
ihn zu dem macht, was er ist: Hang zum Müßiggang
und Hang zum Vergnügen. Ohne den letztern würde ihn
jener ewig in einer unüberwindlichen Unthätigkeit erhalten;
aber so groß sein Abscheu vor Abhänglichkeit und Arbeit ist,
so ist doch sein Hang zum Vergnügen noch stärker. Um beide
zu vereinigen, ist ein Zustand von Unabhänglichkeit, worin er
alles mögliche Vergnügen ohne einige Bemühung genösse,
das letzte Ziel seiner Wünsche. Er kennt keine Seligkeit über
dieser. Daher dieser unauslöschliche Hang zum Despotismus,
der dem armseligsten Erdensohn eben so angeboren ist, als
dem Erben des größten Monarchen. In dem ganzen Scheschian
ist kein einziger, welcher nicht wünschte, daß alle übrigen
nur für sein Vergnügen beschäftigt seyn müßten. Allein die
Natur der Sache bringt es mit sich, daß nur ein einziger
dieser Glückliche seyn kann: alle übrigen sind durch die Nothwendigkeit
selbst dazu verurtheilt, sich, so lange sie leben, mehr
oder weniger zu diesem letzten Wunsche des Sterblichen empor
zu arbeiten; und selbst das Glück, ihm nahe zu kommen, kann
nur Wenigen zu Theile werden. Was soll nun der Einzige
hierbei thun, der, mit dem vergötterten Diadem um die
Stirne, oben auf der Spitze des Berges sitzt, und nichts
Höheres zu ersteigen sieht? Soll er sich etwan in dem Genuß
seiner Wonne durch albernes Mitleiden mit der wimmelnden
Menge stören lassen, welche voll klopfender Begierde sich aus
der Tiefe empor zu heben versucht, und, neidische Blicke auf
die versagte Glückseligkeit heftend, bei jedem Tritt auf der
schlüpfrigen Bahn in Gefahr schwebt, durch das Gedränge ihrer
Mitwerber oder ihre eigene Hastigkeit tiefer, als sie empor
gestiegen ist, wieder herunter zu glitschen? Soll er vielleicht
so höflich seyn, einem unter ihnen Platz zu machen? —Wahrhaftig!
Sie mögen sehen, wie sie hinauf kommen; dieß ist ihre
Sache. Die seinige ist, indem sie von Stufe zu Stufe zu ihm
emporklettern, sich ihrer Hände zu bedienen, um alle Güter
und Freuden der Welt zu den Füßen seines Thrones aufhäufen
zu lassen; und wenn ihm der Genuß alles dessen, was die
übrigen wünschen, noch eine Sorge verstatten kann, so ist es,
zu verhindern, daß von der wetteifernden Menge keiner hoch
genug steige, ihn von seinem Gipfel herab zu drängen. Nichts
würde dem Einzigen gefährlicher seyn, als wenn die Menge
alle Hoffnung in einen bessern Zustand zu kommen verlöre.
Diese Hoffnung ist die wahre Seele eines Staats; mit ihr
versiegt die Quelle des politischen Lebens; eine allgemeine Unthätigkeit
verkündigt, gleich der Todesstille vor einem Sturme,
die schrecklichen Wirkungen der Verzweiflung, unter welchen
schon so manche Thronen Asiens eingestürzt sind. Aber nichts
ist leichter als diesem Uebel zuvorzukommen. Es gibt zwischen
dem Tagelöhner und dem Sultan so viele Stufen; und jede
der höhern Stufen ist für den, der einige Grade tiefer steht,
so beneidenswürdig, daß etliche Beispiele, welche von Zeit zu
Zeit die Hoffnung zu steigen in den letztern wieder anfrischen,
hinreichend sind, den Staat in dieser Geschäftigkeit zu unterhalten,
wodurch alle Glieder desselben, indem sie bloß ihren
eigenen Vortheil zu befördern glauben, dem glücklichen Einzigen
dienstbar werden."Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß nichts seichter
seyn kann, als diese Trugschlüsse des sinnreichen Eblis. Die
Grundfeste eines Staats besteht in der Zufriedenheit der untersten
Classen mit dem Stande worin sie sich befinden, und sein
Untergang ist von dem Augenblick an gewiß, da der Landmann
Ursache hat, den müßig gehenden Sklaven eines Großen zu
beneiden.Die Grundsätze des sinnreichen Eblis hatten drei große
Fehler. Sie hingen eben so wenig unter sich zusammen, als
sie mit der Erfahrung übereinstimmten; und man konnte sie
alle Augenblicke übertreten, ohne an Gründen Mangel zu
haben, welche die Ausnahmen rechtfertigten. Aber sie schmeichelten
den Leidenschaften eines Fürsten, der keine andre Regel
kannte noch kennen wollte, als seine Laune. Jsfandiar
fand nichts bündiger als die Schlüsse seines Lieblings.Man konnte schwerlich weniger Anlage zu einer mitleidigen
Sinnesart haben als dieser Sultan. Das kleinste Ungemach,
das ihn selbst betraf, setzte ihn in die heftigste Ungeduld;
aber das Leiden andrer fand keinen Zugang zu seinem
Herzen. Wie überstieg war die Bemühung, einen solchen
Fürsten noch durch Grundsätze gefühllos zu machen! Und
gleichwohl hatte Eblis nichts Angelegner's, als ihm seine
Unterthanen bei jeder Gelegenheit in dem verhaßtesten Lichte
zu zeigen.Das Volk, sagte Eblis zum Sultan seinem Herrn, ist
ein vielköpfiges Thier, welches nur durch Hunger und Streiche
gebändiget werden kann. Es wäre Unsinn, seine Liebe durch
Wohlthaten gewinnen zu wollen. Tausend Beispiele von schwachen
Fürsten, welche die Opfer einer allzu milden Gemüthsart
geworden sind, beweisen diese Wahrheit. Das Volk sieht alles
Gute, was man ihm erweist, für Schuldigkeit an, erwartet
immer noch mehr als man zu seinem Besten thut, und hält
sich von aller Pflicht der Dankbarkeit losgezählt, sobald es
sich in seinen ausschweifenden Erwartungen betrogen sieht.
Mit Widerwillen trägt es die Fesseln der Abhänglichkeit; unbeständig
in seinen Neigungen, willkürlich in seinen Urtheilen,
und immer mit dem Gegenwärtigen unzufrieden, dürstet es
nach Neuerungen; Unfälle, welche seinen Gebietern zustoßen,
sind ihm fröhliche Begebenheiten, und wiewohl es selbst unter
allgemeiner Noth am meisten leidet, sehnt es sich dennoch
nach öffentlichem Unglück, um Gelegenheit zu haben zu murren,
und seine Vorsteher mit Vorwürfen zu überhäufen. Wenn
eine Gottheit vom Himmel stiege, die Menschen zu beherrschen,
sie würde nicht frei von ihrem Tadel bleiben. Der schlechteste
unter ihnen hält sich für gut genug die Welt zu regieren,
und eben darum weil der Pöbel nichts weiß, glaubt er alles
besser zu wissen als seine Obern. Vergebens würd' es seyn,
für die Glückseligkeit dieser Unersättlichen zu arbeiten: man
müßte einen jeden von ihnen zu einem Sultan machen können,
um ihn zufrieden zu stellen; sie bleiben mißvergnügt, so
lange noch etwas zu wünschen übrig ist. Nichts ist gefährlicher
als sie mit dem Ueberfluß und den Wollüsten bekannt
zu machen; es würde weniger Gefahr seyn, einen schlafenden
Löwen, als die Begierlichkeit dieser Leute aufzuwecken. Sie
mit seidenen Banden oder Blumenketten binden zu wollen,
wäre eben so viel als eine Hyäne mit Spinneweben zu fesseln.
Nichts als die eiserne Nothwendigkeit, und die Verzweiflung
ihre Ketten jemals zerreißen zu können, ist vermögend sie in
ihren Schranken zu halten; und, gleich andern wilden Thieren,
müssen sie ausgemergelt werden, und den Stock immer
über ihrem Rücken schweben sehen, um einen Gebieter dulden
zu lernen.Danischmend, sagte der Sultan, ich gestehe, die Abschilderung,
die uns Eblis von dem Volke macht, ist nicht geschmeichelt;
aber es ist Wahrheit darin. Ich denke ungern
an die Folgen, welche sich daraus ziehen lassen: und gleichwohl
würd' es, wie Eblis sagt, gefährlich seyn, sich selbst in
einer so wichtigen Sache täuschen zu wollen.Gnädigster Herr, versetzte der Philosoph, ich weiß nicht,
ob mich meine Gutherzigkeit verhindert hat, den Menschen,
den ich seit mehr als fünfundzwanzig Jahren studire, so zu
sehen wie er ist. Es mag wohl zu viel Rosenfarbe in meiner
Phantasie herrschen. Aber, wie dem auch seyn mag, ich kann
mich unmöglich überwinden, die Menschen für so bösartig anzusehen,
als sie in der Theorie dieses Eblis sind. Wenn die
Erfahrung für ihn zu reden scheint, so spricht sie nicht weniger
für mich. Kennen wir nicht kleine Völker, welche im Schoße
der Freiheit und der einfältigen Mäßigung glücklich sind? Vergleichen
wir einmal diese Völker mit denjenigen, welche unter
den Bedrückungen der willkürlichen Gewalt einer harten Regierung
schmachten! der erste Anblick wird uns sogleich einen
starken Unterschied bemerken lassen. Jene zeigen uns ein gefundes,
vergnügtes, fröhliches Ansehen. Ihre Wohnungen
sind weder weitläuftig noch prächtig; aber auch die ärmste ihrer
Hütten sieht einer Wohnung von Menschen, nicht einem Schlupfwinkel
wilder Thiere gleich. Sie sind schlecht gekleidet; aber
sie sind doch vor Frost und Nässe beschützt. Ihre Nahrung ist
eben so einfältig; aber man sieht ihnen wenigstens des Abends
an, daß sie zu Mittage gegessen haben. Diese schleichen, als
lebende Bilder des Elends, mit gesenkten Häuptern umher,
und heften aus hohlen Augen gramvolle Blicke auf die Erde,
welche sie —nicht für sich und ihre Kinder —bauen müssen.
Ueberall begegnen unserm beleidigten Auge blutlose, ausgehungerte
und sieche Körper —schwermüthige, düstre, von Sorgen
abgezehrte Gesichter; — alte Leute, welche sich mit Mühe
von der Stelle schleppen, und zur Belohnung einer fünfzigjährigen
schweren Dienstbarkeit das wenige Brod, das ihr vom
Mangel eingeschrumpfter Magen noch ertragen kann, dem
Mitleiden der Vorübergehenden durch Betteln abnöthigen; —
verwahrlos'te, nackende, krüppelhafte Kinder, oder wimmernde
Säuglinge, welche sich anstrengen, einer hungernden Mutter
noch die letzten Blutstropfen aus der ausgemergelten Brust
zu ziehen. Halb vermoderte Lumpen, die von den dürren
Lenden dieser Elenden herabhangen, zeigen wenigstens, daß
sie den Willen haben ihre Blöße zu decken; aber was wird sie
vor der sengenden Sonne, vor Wind und Regen und Kälte
decken? Ihre armseligen aus Koth und Stroh zusammengeplackten
Hütten stehen jedem Anfall der Elemente offen. Hieher
kriechen sie, wenn die untergehende Sonne sie von der täglichen
Arbeit für gefühllose Gebieter ausgespannt hat, ermüdet
zusammen, und schätzen sich noch glücklich, wenn sie so viel Vorrath
von einem Brode, welches ihre Herren für ihre Hunde
zu schlecht halten würden, übrig finden, als sie vonnöthen
haben, um nicht hungrig auf einem Lager von faulendem Stroh
den letzten Trost des Elenden vergebens herbeizuseufzen.Wie du malst, Danischmend! —rief der Sultan mit einer
auffahrenden Bewegung aus, indem er sich zu verbergen bemühte,
wie gerührt er war. Ich schwöre beim Haupte des
Propheten, daß ich, ehe der Mond wieder voll seyn wird,
wissen will, ob innerhalb der Gränzen meines Gebiets solche
Unglückliche leben; und wehe dem Sklaven, dem ich die Sorge
für meine Unterthanen anvertraut habe, in dessen Bezirk ein
Urbild deiner verfluchten Malerei gefunden würde! Es ist
mein ganzer Ernst, und zum Beweise davon trag' ich das
Amt dieser Untersuchung dir selbst auf. Danischmend! Morgen,
nach dem ersten Gebete, erwart' ich dich in meinem Zimmer,
damit wir weiter von der Sache sprechen.Was der gutherzige Danischmend dem Sultan gesagt
haben mag, um ihm im Namen aller, welche bei dieser Aufwallung
seines königlichen Herzens interessirt waren, den
demüthigen Dank zu erstatten, wollen wir, um uns nicht zu
weit von unserm Wege zu entfernen, der Einbildung des Lesers
überlassen.Gut, sagte Schach Gebal, dessen Hitze sich während der
Danksagungsrede des Philosophen wieder merklich abgekühlt
hatte, du weißt meinen Willen! Morgen eine Stunde nach
Sonnenaufgang, Danischmend! —Itzt will ich noch die Ausführung
deiner Einwendungen. gegen die Theorie des Günstlings
Eblis hören. Laß sehen, wie du dich aus der Sache
ziehen wirst.Ich behauptete (fuhr Danischmend in seinem Vortrage
fort), daß die Erfahrung, auf welche sich Eblis bezieht, um
seine häßlichen Gemälde von der Bösartigkeit des Volkes zu
rechtfertigen, wenigstens eben so stark für meine als für seine
Meinung rede; und ich stellte zu diesem Ende eine Vergleichung
an, zwischen dem einen Volke, welches unter einer freien,
oder wenigstens unter einer milden Regierung glücklich ist,
und einem Volke, dem ein Tyrann wie Jsfandiar, mit Hülfe
eines Günstlings wie Eblis, so mitspielt, wie man es von
der Vereinigung harter Grundsätze mit einer unempfindlichen
Sinnesart erwarten kann. Wenn der Contrast zwischen dem
Wohlstande des einen und dem Elende des andern beim
ersten Anblick in die Augen fällt, so wird uns eine fortgesetzte
Aufmerksamkeit keinen geringern Abstand zwischen ihrem sittlichen
Charakter entdecken lassen. Das glückliche Volk ist zufrieden
mit seinem Zustande; es gewöhnet sich mit Vergnügen
an ihn, und ist geneigt zu glauben, daß es keinen bessern
gebe. Es segnet den guten Fürsten, unter dessen Gesetzen
es in ungekränkter Sicherheit der Früchte seines Fleißes
und seiner Mäßigung genießt. Weit entfernt Veränderungen
zu wünschen, ist es im Gegentheil bereit, Gut und Leben
alle Augenblicke für die gegenwärtige Verfassung, für ein
Vaterland, worin es glücklich ist, für einen Fürsten, in welchem
es seinen allgemeinen Vater erblickt, aufzuopfern. Das
unterdrückte Volk, ich gestehe es, sieht dem Bilde sehr ähnlich,
welches Eblis unbilliger Weise von dem Volke überhaupt
machte. Aber wie sollt' es anders seyn können? Sollte sich
nicht die Menschheit in Geschöpfen, welche ihre natürliche
Gleichheit mit ihren Unterdrückern fühlen, gegen solche Kränkungen
empören, deren bloßer Anblick alle Gesetze der Natur,
der Religion und des gesellschaftlichen Lebens zur Rache aufruft?
Ist es zu verwundern, wenn die Vergleichung ihres
Elends mit dem wollüstigen und unbarmherzigen Uebermuth
ihrer Herren sie endlich wüthend macht? Oder was kann man
anders erwarten, als daß anhaltende Tyrannei, Sorglosigkeit
für den Staat, Kaltsinn beim Anblicke der allgemeinen Noth,
und öffentliche Verspottung derselben durch die übertriebenste
Ueppigkeit, ein Volk, dessen Geduld erschöpft ist, endlich zur
Verzweiflung treiben werde?"Das Volk, sagt Eblis, ist launisch in seinen Leidenschaften,
undankbar für das Gute, das man ihm erweis't, ungestüm
und unersättlich in seinen Forderungen; es ist neidisch
über die Vorzüge seiner Obern, geneigt alle ihre Maßregeln
zu tadeln, ungerecht gegen ihre Tugenden, unbillig gegen ihre
Fehler; es sieht sie als seine ärgsten Feinde an, und ergötzt
sich an allem, was sie kränken und demüthigen kann, als an
dem angenehmsten Schauspiele." — Aber sollte wohl jemand
die Verwegenheit haben können, zu behaupten, die Menschen
seyen von Natur so bösartige Geschöpfe? Wer macht sie dazu?
Was für Gewalt muß der Menschheit angethan worden
seyn, welche grausame und langwierige Mißhandlungen muß
sie erlitten haben, bis sie so werden konnte, wie Eblis sie
schildert! Ist es nicht der Gipfel der Ungerechtigkeit, die Menschen
dafür zu bestrafen, daß sie die verkehrten Geschöpfe sind,
wozu man sie selbst gemacht hat? Mir däucht, die Unterdrücker
der Menschheit haben wohl keine Ursache sich zu beschweren.
Die unbegreifliche Geduld, womit die meisten Völker
des Erdbodens sich zu allen Zeiten von einer kleinen Anzahl
von Jsfandiarn und Eblissen haben mißbrauchen lassen, ist der
stärkste Beweis der ursprünglichen Mildigkeit der menschlichen
Natur. Wenn wir von Empörungen, Bürgerkriegen und
gewaltsamen Staatsveränderungen hören, so können wir allemal
mit der größten Wahrscheinlichkeit vermuthen, daß unleidliche
Beleidigungen den Anlaß dazu gegeben haben.Nicht allemal, mein guter Danischmend, sagte der Sultan:
dein Eifer für die Sache des Volks macht dich vergessen, wie
viele Beispiele die Geschichte des Erdbodens uns zeigt, daß
auch gute Fürsten, Fürsten, welche wenigstens einige geringe
Fehler mit großen Tugenden vergüteten, Schlachtopfer der
unbändigen Herrschsucht eines stolzen Priesters, oder der übermüthigen
Anmaßungen aufrührischer Emirn geworden sind.Gleichwohl, erwiederte Danischmend, würde sich vielleicht
in jedem besondern Falle zeigen lassen, daß die Fürsten, auf
welche Ihre Hoheit zu zielen scheinen, durch sehr wesentliche
Fehler in der Regierung, durch allzugroße Nachsicht gegen die
Laster ihrer Günstlinge, durch häufigen Mißbrauch einer willkürlichen
Gewalt, durch offenbare Ungerechtigkeiten und ein
tyrannisches Verfahren sowohl mit dem Volk als mit den
Großen ihres Reiches, sich die unglückliche Ehre zugezogen
haben, der Nachwelt zu Trauerspielen Stoff zu geben. Ein
König gewinne nur die Zuneigung seiner Unterthanen, er
verdiene sich den glorreichsten und süßesten aller Titel, den
Namen eines Vaters des Volks: so wird er gewiß seyn
können, in ihrer Liebe zu seiner Regierung und zu seiner
Person unerschöpfliche Mittel gegen alle Anschläge und Unternehmungen
seiner Feinde zu finden. Ich möchte den Priester
oder die Emirn sehen, welche die Verwegenheit hätten, sich
an einen Fürsten zu wagen, dem die Herzen aller seiner
Unterthanen zur Brustwehr dienen!Schach-Gebal hatte vermuthlich einige geheime Ursachen,
warum er nicht von sich erhalten konnte, die Gründe seines
Philosophen überzeugend zu finden. Indessen schien er doch
zu fühlen, daß er den Streit nicht würde fortsetzen können,
ohne seinem Gegner Blößen zu geben, die den Sieg nicht
lange unentschieden lassen dürften. Er spielte also das
Sicherste, und entließ die Gesellschaft für dießmal, indem er
zu der schönen Nurmahal sagte: in der That, es fehlt unserm
Freunde Danischmend nichts als etwas mehr Kenntniß der
Welt, um (für einen Philosophen) ganz leidlich zu räsonniren.
Er hat den Fehler aller dieser Herren, gern von Dingen zu
reden, die er nicht versteht; aber er spricht doch gut, und
dieß ist, zum Zeitvertreib, alles, was ich von ihm fordre.Die Achseln des weisen Danischmend waren im Begriff
die Antwort auf dieses unerwartete Lob zu geben, als er sich
noch zu rechter Zeit erinnerte, daß es nicht erlaubt sey, über
irgend etwas, das ein Sultan sagen kann, die Achseln zu
zucken. Er begnügte sich also, wie gewöhnlich, seinen ungelehrigen
Kopf gegen den Fußboden zu stoßen, und schlich
davon.—————
2.Unsere Leser erwarten ohne Zweifel, daß Danischmend,
mit einem Auftrage beladen, der für die Ruhe Schach-Gebals
und für das Beste der armen Jndostaner von der größten
Wichtigkeit war, das Amt, den alten Sultan einzuschläfern,
der schönen Nurmahal wieder überlassen werde. In der That
hatte Schach-Gebal mit so vielem Ernst von der Sache gesprochen,
daß der ehrliche Philosoph selbst, so gut er sonst die
Launen seines Gebieters kannte, dießmal von der Hoffnung,
ein Werkzeug der Glückseligkeit seines Vaterlandees zu werden,
sich hintergehen ließ. Diese Hoffnung ließ die ganze Nacht
durch keinen Schlaf in seine Augen kommen; aber sie entschädigte
ihn dafür durch die angenehmsten Träume, die jemals
die Seele eines Menschenfreundes gewieget haben. Mit der
unumschränkten Gewalt des Sultans bekleidet, zweifelte er
keinen Augenblick an dem Erfolge seiner Bemühungen. Denn
es war eine von den Maximen, die er immer im Munde zu
führen pflegte: die Großen könnten alles, was sie ernstlich
wollten. Welche Wonne! rief er aus: in kurzem soll der
Mann, der im ganzen Indostan am wenigsten glücklich ist,
der Sultan selber seyn!Sobald die ersten Sonnenstrahlen den Horizont rötheten,
stand Danischmend im Vorzimmer, so munter als ob niemand
besser geschlafen hätte als er. Aber es vergingen drei oder
vier Stunden, bis Schach-Gebal, wiewohl er in der That
nichts Wichtiger's zu thun hatte, Zeit finden konnte, sich seiner
zu erinnern. Ist Danischmend da? fragte er endlich, nachdem
er wohl dreimal war berichtet worden, daß Danischmend
da sey. Laßt ihn hereinkommen! — Der arme Philosoph,
der inzwischen Zeit genug gehabt hatte, aus seinen schönen
Träumen zu erwachen (denn zu den Träumen eines Menschenfreundes
kann wohl kein unbequemerer Ort seyn, als ein
Vorgemach), schlich mit gesenkten Ohren herbei. Ha, mein
guter Danischmend, rief ihm der Sultan mit einer jovialischen
Stimme zu, ich hatte dich ganz vergessen. Was bringst du
uns Neues, Danischmend? Diese Anrede hätte einem feinern
Höfling, als unser Philosoph war, die undankbare Mühe erspart,
Seine Hoheit an einen unangenehmen Gegenstand zu
erinnern, dessen Andenken Sie, wie es schien, glücklich verschlafen
hatten. Aber Danischmend hätte so lange an dem
Hofe zu Dehli leben können als Nestor, ohne jemals ein
Hofmann zu werden. Er erinnerte also den Sultan an seinen
gestrigen Schwur. Schach-Gebal hörte alles, was ihm der
gute Mann zu sagen hatte, mit vieler Gefälligkeit an. Aber
bedenkst du auch, sagte Gebal, daß du in drei Jahren nicht
fertig werden könntest, wenn du alle meine Provinzen durchreisen,
und von Haus zu Haus dich erkundigen wolltest, wie
sich die Leute befinden? Ich kann mich unmöglich entschließen,
dich so lange zu entbehren. Weißt du was, Danischmend?
das erstemal, wenn ich auf die Jagd reite, sollst du mich begleiten.
Wir werden da leicht Gelegenheit finden, uns von
meinen übrigen Leten zu entfernen, und dann wollen wir,
ohne uns zu erkennen zu geben, die Nacht in irgend einem
abgelegenen Dorfe zubringen. Finden wir dort eine lebendige
Seele, welche Böses von mir spricht, so soll mir der Emir,
in dessen Bezirk der Ort gehört, dafür Rechenschaft geben.
Ich will ihn zu einem Beispiel für die übrigen machen, und
verlass' dich darauf, daß es nicht ohne Wirkung seyn soll.
Indessen können wir mit Muße an die Ausführung deiner
Entwürfe denken. Aber sage mir, Danischmend, hast du ausfindig
gemacht, wer die drei Kalender waren, welche gestern,
jenseits des Flusses, den Gärten meines Serails gegenüber,
unter der großen Cypresse saßen? —Danischmend hustete noch zu rechter Zeit einen Seufzer
weg, der ihm entgehen wollte, und von diesem Augenblick an
war die Rede — von den drei Kalendern.—————
3.In der folgenden Nacht wurde, bis der Sultan einschlief,
von — den drei Kalendern gesprochen. Nurmahal und der
junge Mirza hatten sehr viel von ihnen zu sagen.Die Nachrichten, welche man über diesen wichtigen Gegenstand
einzog, waren so mannichfaltig, hingen so wenig
zusammen, und schienen so viel Geheimnißvolles zu verrathen,
daß man etliche Nächte hinter einander von nichts anderm
reden konnte, als von den drei Kalendern. Inzwischen lief
doch am Ende alles darauf hinaus, daß man nichts Sonderliches
von ihnen wüßte, und daß es sich in der That der Mühe
nicht verlohnte, mehr von ihnen wissen zu wollen.Endlich wurde Schach-Gebal dieses Zwischenspiels überdrüssig.
Ihr seyd mir feine Leute, sagte Schach-Gebal. Ich
will die Geschichte des Königs von Scheschian wissen, und
man spricht mir seit sieben Tagen von nichts als von Kalendern.
Bin ich etwa ein Schach-Riar?Es versteht sich von selbst, daß es nur auf Seine Hoheit
angekommen war, diese sieben Tage durch mit andern Gegenständen
unterhalten zu werden. Aber, wie jedermann weiß,
würd' es sehr unhöflich gewesen seyn, den Sultan etwas von
dieser Reaction merken zu lassen.Danischmend setzte demnach seine Erzählung von Jsfandiar
und seinem Günstling folgendermaßen fort.Den Grundsätzen des sinnreichen Eblis zufolge war nichts
unweiser, als ein so gefährliches Thier, wie er das Volk
abmalte, reich werden zu lassen. Aber zum Unglück für die
Scheschianer blieb die Bedeutung des Wortes reich so unbestimmt,
daß Eblis die armen Leute, so lange sie noch etwas
hatten, was sich, wenn das Wort Bedürfniß im engsten
Sinne genommen wird, entbehren läßt, immer noch zu reich
fand.Der Adel von Scheschian war von Alters her ein Mittelstand
zwischen dem Fürsten und dem Volke gewesen. Die
Könige hatten die Edeln als ihre gebornen Räthe und Gehülfen
in der Verwaltung der besondern Theile des königlichen
Amtes betrachtet; und wiewohl das Ansehen des Adels, unter
dem Tatarischen Stamme, von Stufe zu Stufe nach eben
dem Verhältnisse, wie das königliche stieg, gesunken war, so
besaß er doch wenigstens noch sehr schöne Ueberbleibsel seiner
ehmaligen Vorzüge.In allen Staaten, wo sich ein solcher Mittelstand zwischen
dem Fürsten und dem Volke befindet, hat man zu allen Zeiten
wahrgenommen, daß sich der Adel auf Unkosten des Volkes,
und das Volk sich auf Unkosten des Adels zu vergrößern sucht.
Jener, da er wenig Hoffnung hat seine Rechte auf der Seite
des Thrones zu erweitern, sucht sich für seine Ergebenheit
gegen denselben durch Anmaßungen über die Rechte des Volkes
zu entschädigen. Dieses, da es sich von allen Seiten gedrängt
sieht, und leicht begreift, daß es dem Uebergewicht des Thrones
am wenigsten widerstehen kann, wendet alles an, sich
wenigstens die kleinen Tyrannen vom Halse zu schaffen, deren
Joch desto verhaßter ist, je weniger sie ihre Bedrückungen
durch den Vorwand des allgemeinen Besten erträglicher machen
können. Man gibt dem Fürsten williger, weil man weiß,
daß die Sorgen für den ganzen Staat auf seinen Schultern
liegen, und weil wenigstens die Vermuthung vorwaltet, daß
ein Theil der öffentlichen Abgaben zu Bestreitung der öffentlichen
Bedürfnisse angewandt werde. Aber alles, was man
denjenigen geben muß, welche, dem Könige gegenüber, eben
so demuthsvolle Unterthanen als die übrigen, in dem Bezirke
hingegen, wo sie zu befehlen haben, kleine Monarchen vorstellen,
sieht man als unbillige Erpressungen an, welche man seinen
eigenen Bedürfnissen abbrechen muß, um den Stolz und die
Ueppigkeit einer Menschenclasse zu nähren, die man für sehr
entbehrlich hält, weil der Vortheil, den sie dem Ganzen
verschaffen, nicht sogleich in die Sinne fällt.Die Könige haben von jeher sich dieser gegenseitigen Gesinnung
des Adels und des Volkes zur Ausdehnung ihrer eigenen
Gewalt gar meisterlich zu bedienen gewußt. Sie haben das
Volk gebraucht, den Adel niederzudrücken; und sobald dieser
Zweck erreicht war, dem Adel, dessen Beistand sie gegen den
besorglichen Uebermuth des Volkes vonnöthen zu haben glaubten,
die Werkzeuge seiner Unterdrückung Preis gegeben.Da es zu spät war, wurde Volk und Adel gewahr, daß
sie sich zu einer sehr albernen Rolle hatten gebrauchen lassen:
"daß in einem Staate, wo das Volk im Besitze großer Vorrechte
ist, die Vorzüge des Adels dem Volk eben so heilig
seyn sollen, als seine eigenen; und daß jeder von diesen
beiden Ständen nicht nur seine eigene, sondern die allgemeine
Sicherheit und den öffentlichen Wohlstand untergräbt, wenn
er die Rechte des andern zu schwächen oder seinen besondern
Nutzen auf Kosten des andern zu vergrößern sucht."Die Scheschianer waren in diesem Stücke nicht vorsichtiger
gewesen, als viele andre Völker. Der Hof hatte sich ihre Thorheit
zu nutze gemacht, weil das Interesse der Höflinge ist, die
Autorität eines Herrn, der durch ihre Einflüsse regiert wird,
und in dessen Gewalt sie sich theilen, so unumschränkt zu
machen, als sie können. Sie überredeten die Könige — und
nichts kostet weniger Mühe, als diese Ueberredung —daß ein
Fürst an Ansehen und Macht gewinne, was sein Adel und sein
Volk an Freiheit und Reichthum verliere; und die guten
Könige dachten gewiß an nichts weniger, als an die unfehlbaren
Folgen der politischen Operation, wozu sie sich so leicht
bereden ließen. Die Erfahrung mußte sie belehren, "daß ein
Despot, dessen Adel aus Höflingen und dessen Volk aus Bettlern
besteht, — ein Despot, dessen Städte ohne Einwohner
sind, und dessen Ländereien brach liegen und verwildern; ein
Despot, der anstatt über zwanzig Millionen glücklicher Menschen,
über halb so viele träge, mißvergnügte und muthlose
Sklaven zu gebieten hat, —daß dieser Despot ein viel kleinerer
Herr sey, als ein eingeschränkter Fürst, der nicht spitzfindig
genug ist, einen Unterschied zwischen seinem Nutzen und dem
Nutzen seiner Unterthanen zu machen, sondern einfältiglich
der Stimme seines Menschenverstandes glaubt, die ihn versichert,
daß es besser sey, der geliebte Vater von den Bewohnern
eines kleinen Landes, als der gefürchtete Tyrann einer
ungeheuern Einöde zu seyn, in welcher hie und da noch hervorragende
Trümmer das Zeugniß ablegen, daß einst Menschen
da gewohnt haben, welche bessere Zeiten sahen, als die seinigen."Die Erfahrung mußte die Könige von Scheschian von dieser
großen Wahrheit, dem Grundpfeiler aller wahren Staatskunst,
unterrichten; aber, wie Jsfandiar vielleicht anfing, sie gewahr
zu werden — war es zu spät.Unter der Regierung des schwachen Azors war der größte
Theil des Adels durch den übermäßigen Aufwand, wozu er
von dem Beispiele des Hofes verleitet und gewissermaßen genöthiget
wurde, in sehr kurzer Zeit dahin gebracht worden, in
den niedrigsten Hofkünsten die Mittel zu suchen, diesen Aufwand
auf andrer Leute Unkosten fortzusetzen. Unter Jsfandiarn
wurde das Werk der vorhergehenden Regierung, und der eigenen
Thorheit der Edeln vollendet. Uebermäßige Ungleichheit
ist die verderbliche Pest eines Staats, sagte Eblis. Und so
mußte eine sehr wichtige, aber in den Händen eines verächtlichen
Werkzeuges der Tyrannei sehr übel versorgte Wahrheit
zum Vorwande dienen, den Adel zum Volk und beide zu Sklaven
herabzuwürdigen. Vor dem blendenden Glanze des Thrones
verschwand aller Unterschied. Jsfandiar sah den edelsten
Emir des Reichs und den niedrigsten Tagelöhner gleich weit
unter sich, und es war ein Spiel für ihn, aus einem Reitknechte,
wenn es ihm einfiel, einen Fürsten zu machen. Dieß
war das unfehlbare Mittel, jeden Ueberrest von Tugend und
Ehre, der noch in den ausgearteten Söhnen besserer Väter
glimmte, zu ersticken. Die Edeln sanken, so wie sie sich an
eine solche Behandlung gewöhnen lernten, zu wirklichem Pöbel
herab; und wenn sie sich noch durch etwas von ihm unterschieden,
so war es durch einen höhern Grad von Unwissenheit
und Ungezogenheit, durch schlechtere Sitten, und einen vollständigern
Verlust alles moralischen Gefühls, aller Scheu vor
sich selbst, vor dem Urtheil ihrer Zeitgenossen, und vor dem
furchtbaren und unbestechlichen Gerichte der Nachwelt. Unfähig
sich zu dem großen Gedanken ihrer wahren Bestimmung zu erheben,
unfähig sich in dem schönen Lichte geborner Fürsprecher
des Volkes und Mittler zwischen ihm und dem Thron anzusehen,
setzten sie ihre Ehre in eine unbedingte Unterwürfigkeit
unter die gesetzlose Willkür des Sultans; sie wetteiferten um
den Vorzug die Werkzeuge seiner schändlichsten Leidenschaften,
seiner ungerechtesten Befehle zu seyn. Wer am niederträchtigsten
schmeicheln, am wurmähnlichsten kriechen, am geschicktesten
betrügen konnte, wer den Muth hatte einer Schandthat mit
der unerschrockensten Miene unter die Augen zu gehen, kurz
wer sich aller dieser Schwachheiten der menschlichen Natur, die
man Scham, Mitleiden und Gewissen nennt, am vollkommensten
entlediget, und in der Fertigkeit des Lasters, in der Kunst,
es mit dem edelsten Anstande, mit der leichtesten Grazie auszuüben,
den höchsten Gipfel erreicht hatte, — "war der beneidete
Mann, den die geringern Bösewichter mit Ehrfurcht ansahen:
der Mann, der gewiß war sein Glück zu machen, und
nach welchem jedermann sich zu bilden beflissen war." Zu einem
so gräßlichen Zustande von Verderbniß hatte das Gift der
Grundsätze des sinnreichen Eblis die Scheschianer gebracht; und
so gewiß ist es, daß die Menschen, eben so leicht als ein weiser
und guter Fürst sie zu guten Geschöpfen bilden kann, sich
von einem Jsfandiar zu Ungeheuern umgestalten lassen.Dieser hassenswürdige Tyrann begnügte sich nicht, durch
alle Arten von Räuberei und Unterdrückung seine Unterthanen
so elend zu machen, als es, ohne sie gänzlich und auf einmal
aufzureiben, möglich war: er wollte sie auch dahin bringen,
daß sie unfähig wären die Tiefe ihres Elendes einzusehen.
Wenn er dabei die Absicht gehabt hätte, ihnen das Gefühl desselben
zu benehmen, indem er machte daß sie es für ihren natürlichen
Zustand hielten, so hätte man es ihm noch für einen
Ueberrest von Menschlichkeit gelten lassen können. Aber Jsfandiar
würde sehr beschämt gewesen seyn, zu dem Verdachte, daß
er einer solchen Schwachheit fähig wäre, Anlaß zu geben. Er
hatte keine andere Absicht dabei, als es ihnen unmöglich zu
machen, auch nur den bloßen Gedanken zu fassen, "daß Menschen
nicht dazu erschaffen seyn könnten, sich von einem Menschen
so sehr mißhandeln zu lassen." Zu diesem Ende wurde
Sorge getragen alles von ihnen zu entfernen, was ihnen einen
gesunden Begriff von der Bestimmung und den Rechten der
Menschheit, von dem Zwecke des gesellschaftlichen Vereins,
und von dem unverbrüchlichen Vertrage, der dabei zum Grunde
liegt, hätte geben können. Jede andre als die Philosophie des
Eblis wurde aus Scheschian verbannt. Niemand durfte sich zu
einem Schriftsteller aufwerfen, ohne vom Hofe dazu bevollmächtiget
zu seyn, und seine Schrift der Beurtheilung desselben
unterworfen zu haben; und ein paar ehrliche Enthusiasten,
welche der Anblick ihres Vaterlandes dahin gebracht
hatte, in einem Anstoß von Verzweiflung Wahrheiten zu sagen,
welche man nur unter guten Fürsten sagen darf, wurden so
grausam wegen dieser aufrührischen Vermessenheit gezüchtiget,
daß einem jeden, dem seine Ohren und seine Nase lieber waren
als sein Vaterland, die Lust vergehen mußte ihrem Beispiele
nachzufolgen.Inzwischen herrschte am Hofe Jsfandiars und unter den
verschiednen Classen und Ordnungen der Werkzeuge seiner
Tyrannei eine alle Einbildung übersteigende Ueppigkeit. Alle
Künste, welche der Wollust dienstbar sind, wurden nach dem
Maße ihrer Unnützlichkeit in eben dem Verhältnisse hochgeschätzt
und aufgemuntert, wie die nützlichern Künste nach dem Grad
ihrer Nützlichkeit verachtet, gehemmt und abgeschreckt wurden.
Und weil die Bestrebung, dem verzärtelten Geschmack und den
stumpfen Sinnen der Großen neue Bequemlichkeiten, neue
Ersparungen des kleinsten Aufwands ihrer ausgenutzten Kräfte,
neue Mittel ihre schlaffen Nerven reizbar zu machen, anzubieten,
beinahe der einzige Weg war, der dem Volke zu Verbesserung
seines Zustandes noch offen stand: so wurden täglich
neue Künste, oder wenigstens neue Werkzeuge der üppigen
Weichlichkeit erfunden; und während daß der Ackerbau im kläglichsten
Verfalle lag, stiegen jene zu einem Grade von Vollkommenheit,
wovon man in den Zeiten der schönen Lili noch keinen
Begriff hatte. Eblis triumphirte bei jeder Gelegenheit über
diese herrliche Wirkung seiner Grundsätze. Was für Wunderwerke,
pflegte er zu sagen, kann Hunger und Gewinnsucht
thun! Ich biete allen Zauberern und Feen Trotz, mit allen
ihren Stäben und Talismanen auszurichten, was ich ganz
allein durch diese zwei mächtigen Triebräder der menschlichen
Natur bewerkstelligen will.In der That gewannen die meisten, welche Tag und Nacht
für die Ueppigkeit des Scheschianischen Hofes arbeiten mußten,
wenig mehr dabei als den nothdürftigsten Unterhalt. Aber
auch hier vergaß Eblis seine Grundsätze nicht. Von Zeit zu
Zeit erhielt ein Mann von Talenten (wie man diese Leute
nannte) eine Belohnung, welche die Begierde der Uebrigen so
heftig anfachte, daß sich Tausende in der Hoffnung eines ähnlichen
Glückes zu Tode arbeiteten. Indessen hütete man sich
doch sorgfältig, kein Talent zu belohnen, bei welchem es nur
im mindesten zweideutig seyn konnte, daß es nicht etwan
wegen eines Vorzugs in demjenigen, was die eigentliche Vollkommenheit
desselben ausmacht, sondern bloß als ein Werkzeug
der Ueppigkeit Jsfandiars und seiner Günstlinge belohnt werde.
Der beliebteste Maler, der Mann dessen Arbeit mit Entzücken
angepriesen und mit Golde aufgewogen wurde, war nicht der
größte Meister in der Kunst; sondern derjenige, welcher leichtfertige
Gegenstände auf die wollustigste Weise zu behandeln
wußte: und eine Sängerin, welche (in der Sprache dieses Hofes
zu reden) albern genug war, nur durch die Vollkommenheiten
einer schönen Stimme und den Gebrauch derselben zum Ausdruck
hoher Empfindungen und tugendhafter Leidenschaften
gefallen zu wollen, hatte die Freiheit im Besitz einer frostigen
Bewunderung unbedauert zu verhungern; während eine andere,
durch die anziehende Kraft ihrer Augen, und durch ein gewisses
wollüstiges Girren und hinsterbende Töne, wodurch sie üppige
Bilder in der Phantasie ihrer Zuhörer rege zu machen wußte,
mit einem unendlich kleinern Talent, der Abgott der Leute
von Geschmack war, und den Aufwand einer Prinzessin machen
konnte.Die Weissagungen der verdrießlichen Alten, welche dem
Scheschianischen Reiche von der goldnen Zeit der Königin Lili
Unglück und Verderben angedrohet hatten, waren nun in ihre
vollständigste Erfüllung gegangen. Der kleinste Theil der
Nation führte das Eigenthum und den Erwerb des größern,
gleich einem dem Feind abgesagten Raub, durch die ungeheuerste
Verschwendung im Triumph auf. Ein größerer
Theil suchte, durch seine Bereitwilligkeit im Dienste der Großen
jedes Laster zu begehen, sich ein Recht an das beneidete
Glück, den Raub mit ihnen zu theilen, zu erwerben. Aber
der größte Theil schmachtete in einem Zustande, den nur die
lange Gewohnheit alles zu leiden, und die sklavische Muthlosigkeit
eines stufenweise zum Vieh herabgewürdigten Volkes
dem Tode vorziehen konnte. Die Verderbniß der Sitten war
so groß, daß selbst den Wenigen, welche noch einen Ueberrest
von Rechtschaffenheit, wie aus einem allgemeinen Schiffbruche,
gerettet hatten, alle Hoffnung verging, dem Strom entgegen
zu schwimmen. Alle Stände hatten ihre wahre Bestimmung
vergessen, oder waren unfähig gemacht worden sie zu erfüllen.
Die niedrigste Classe hörte auf zu arbeiten; das Land und
die Suchte wimmelten von ungestümen Bettlern, welche ihren
Müßiggang, zur Schande der Regierung, mit dem Mangel
der Arbeit entschuldigten. Gleichwohl wurden die fruchtbarsten
Provinzen des Reichs aus Mangel an Anbauung nach
und nach zu Wildnissen. Die Gewerbe nahmen zusehends ab,
der Kreislauf der Lebenssäfte des Staats ivar allenthalben
gehemmt, und die Hauptstadt selbst, die schon so lange der
Schlund gewesen war, in welchen alle Reichthümer desselben
sich unwiederbringlich verloren hatten, stellte den empörenden
Contrast der äußersten Ueppigkeit und des äußersten Elendes
in einem Grade, der die Menschheit beleidigte, dar. Eine
halbe Million hungernder Menschen schrie den Sultan um
Brod an, wenn er sich in einem schimmernden Palankin zu
einem seiner Großen tragen ließ, um den Ertrag etlicher Provinzen
in einem einzigen abscheulichen Gastmahle verschlingen
zu helfen — und der Lärm der Trompeten und Pauken, der
dem unglücklichen Volke die grausame Fröhlichkeit seiner Tyrannen
ankündigte, machte ihr Murren, ihre Verwünschungen
unhörbar. Die Großen, die Günstlinge, Jsfandiar selbst,
konnten bei aller Bemühung, einander vorsetzlich zu verblenden,
sich selbst die schreckliche Wahrheit nicht verbergen, daß
sich das Reich seinem Untergang nähere. Auch mangelte es
nicht an Vorschlägen und Entwürfen, den schädlichsten Mißbräuchen
abzuhelfen, das Finanzwesen zu verbessern, den Unterthanen
ihre Last zu erleichtern, den Fleiß wieder aufzumuntern,
u. s. f. Aber die einzigen von diesen Entwürfen, die
der Ausführung werth waren, wurden entweder als patriotische
Träume verworfen, oder unter allerlei Vorwänden dem
Privatvortheile gewisser Leute aufgeopfert. Einige angebliche
Verbesserungen wurden zwar ins Werk gesetzt; aber sie bestanden
in bloßen Palliativen, welche die Ausbrüche des
Uebels eine Zeit lang verbargen, ohne die Wurzel desselben
auszurotten. Die mißverstandene Maxime, "daß man dem
allzu tief eingedrungenen Luxus nicht Einhalt thun könne,
ohne die ganze Maschine des Staats in die gefährlichste
Stockung zu setzen," war immer die Antwort, womit sich diejenigen
abfertigen lassen mußten, welche augenscheinlich bewiesen,
daß es lächerlich sey, eine Krankheit, die man vorsetzlich
ernährt, durch schmerzlindernde Mittel heilen zu wollen.
Doch gesetzt auch, Jsfandiar, da ihn endlich die ersten Erschütterungen
des Thrones, dessen Grundfeste untergraben
war, geneigt machten, zu allen Rettungsmitteln die Hand zu
bieten, gesetzt er hätte einen großen, durchdachten, das Ganze
umfassenden Entwurf einer allgemeinen Verbesserung unternehmen
wollen: so mangelte es ihm an geschickten und redlichen
Männern, denen er die Ausführung anvertrauen
konnte. Wo hätte er solche Männer suchen sollen? In welcher
Schule, durch welche Beispiele hätten sie sollen gebildet
werden? Es war schon lange, seit der Geist der Tugend die
Scheschianer verlassen hatte. Niemand bekümmerte sich um
das gemeine Beste; der Name Vaterland setzte das Herz in
keine Wallung; ein jeder sah in seinem Mitbürger, in seinem
Bruder selbst, nichts als einen heimlichen Feind, einen Nebenbuhler,
einen Menschen dessen Antheil den seinigen kleiner
machte. Jeder dachte nur auf seinen eigenen Vortheil, und
(wenige Unbekannte, welche das Verderben ihres Volkes im
Verborgenen beweinten, ausgenommen) war niemand, der
nicht alle Augenblicke bereit gewesen wäre, einen beträchtlichen
Privatvortheil mit dem Untergang der halben Nation zu erkaufen.
Der Luxus hatte die ganze Masse dieses unglücklichen
Reiches mit einem so wirksamen Gift angesteckt, daß der
Kopf und das Herz, der Geschmack und die Sitten, die Leiber
und die Seelen seiner Einwohner, gleich ungesund, und
(da das Uebel seiner Natur nach langwierig ist) durch die
Länge der Zeit so daran gewöhnt waren, daß dieser abscheuliche
Zustand ihnen zur andern Natur geworden war. Die
Gefühllosigkeit für das Elend ihrer Mitbürger herrschte nicht
nur in den verhärteten Herzen der Großen; sie hatte sich
aller Stände bemeistert. Jedermann dachte nur darauf, wie
er die allgemeine Noth zu seinem eigenen Vortheil benutzen
wolle, und das Uebel nahm täglich zu, so wie sich diejenigen
vermehrten, die bei dem Untergange des Staats zu gewinnen
hofften. Alle Rechtschaffenen hatten sich so weit als möglich
von einem Hof entfernt, wo die Weisheit lächerlich und
die Tugend ein Verbrechen war; und der unglückliche Jsfandiar
sah sich zu einer Zeit, da die Weisesten und Besten kaum
hinreichend gewesen wären den Staat zu retten, von einer
Bande von Witzlingen, Lustigmachern, Gauklern, Kupplern
und Schelmen umgeben, welche, je näher der Augenblick des
allgemeinen Untergangs herannahte, in diesem Gedanken selbst
eine neue Aufmunterung zu jedem fröhlichen Bubenstücke zu
finden, und entschlossen zu seyn schienen, dem Verderben in
einem Rausch von sinnloser Betäubung entgegen zu taumeln.Unter den unzugänglichen Mitteln, mit welchen Eblis die
Ausbrüche der tödtlichen Krankheit des Staats zu verstopfen
suchte, war eines, welches durch seine unvermeidlichen Folgen
das Uebel, dem es abhelfen sollte, unendlich verschlimmerte.
In allen großen Staaten, die man jemals auf der Fläche
des Erdbodens entstehen und verschwinden gesehen hat, zog
der äußerst Luxus übermäßige Ueppigkeit unter den Großen
und Reichen, und übermäßiges Elend unter den Armen, nach
sich. Beides bringt in Absicht auf die Sitten einerlei Wirkung
hervor. Die Reichen stürzen sich durch Verschwendung
und Müßiggang in die Gefahr arm zu werden; der Anblick
dieser Gefahr ist ihnen unerträglich, und um ihr zu entgehen,
ist kein Verbrechen, keine Schandthat, keine Unmenschlichkeit,
welche sie nicht zu begehen bereit seyn sollten. Und
warum sollten sie nicht? da der Witz (der bei ihnen die Stelle
der Vernunft vertritt) dem Laster schon lange den Weg gebahnt,
und mit Hülfe eines verzärtelten Geschmackes gearbeitet
hat, den Unterschied zwischen Recht und Unrecht aufzuheben,
und das angenehme oder nützliche Verbrechen mit
tausend Reizungen, ja selbst mit dem Schein der Tugend auszuschmücken?
Die Armen bringt die Verzweiflung, einen andern
Ausweg aus ihrem gegenwärtigen Elend zu finden, zu
dem unglücklichen Entschluß, es durch lasterhafte Mittel zu
versuchen. Ein Elender, der nichts zu verlieren hat, läßt
sich, um seinen Zustand zu verbessern, zu allem gebrauchen;
er wird ein Betrüger, ein falscher Zeuge, ein Giftmischer,
ein Meuchelmörder, sobald etwas dabei zu gewinnen ist.
Andre, welche die Unterdrückung muthlos und die Muthlosigkeit
faul gemacht hat, stürzen sich auf dem abhängigen
Wege des Müßiggangs bis in die schändlichsten Laster hinab.
Sie werden aus Bettlern Diebe, aus Dieben Straßenräuber
und Mordbrenner. Andere finden in dem schimmernden Zustande,
worein sie Leute, die eben so wenig Ansprüche an
Glück zu machen hatten als sie selbst, durch Aufopferung der
Tugend versetzt sehen, einen Reiz, den die Vergleichung desselben
mit ihrem gegenwärtigen Elend unwiderstehlich macht.
Ist es Wunder, wenn der Anblick einer mit Diamanten behangenen
Lais, die in einem vergoldeten Triumphwagen den
Gewinn ihrer Unzucht zur Schau trägt, tausend junge Dirnen
zu Priesterinnen der Venus, oder wenn der Anblick eines
zu den höchsten Würden im Staat emporgestiegenen Kupplers
tausend Kuppler macht? Es ging also sehr natürlich zu, wenn
zu Jsfandiars Zeiten alle Arten von Lastern in Scheschian im
Schwange gingen; nichts als ein unaufhörliches Wunderwerk
hätte die natürlichen Wirkungen täglich anwachsender Ursachen
hemmen können. Der Uebergang von einer Stufe des
Lasters zur andern ist unmerklich; es kostet unendlich mehr
Mühe sich zu der kleinsten vorsetzlichen Uebelthat, wenn es
die erste ist, zu entschließen, als das Aergste zu begehen,
wenn man einmal die unglückliche Leichtigkeit, Böses zu thun,
erlangt hat. Kommt dann noch die Ansteckung verdorbener
Sitten bei einem ganzen Volke, und das häufige Schauspiel
der unterdrückten Tugend und des siegprangenden Lasters
hinzu; sehen wir den Fürsten und die Großen selbst die Verachtung
der Gesetze und der Tugend durch ihr Beispiel aufmuntern:
dann ist wahrhaftig der Fall da, wo es eben so
barbarisch ist Verbrechen zu bestrafen, als es ungerecht wäre,
einem Menschen, den man hinterlistiger Weise trunken gemacht,
die Ausschweifungen zur Last zu legen, die er in der
Abwesenheit seiner Vernunft begangen hätte.Eblis machte diese Betrachtung nicht. Er sah nur das
Uebel; die Quelle wollt' er nicht sehen. Aber das Uebel erheischte
schleunige Mittel. Die geringeren Verbrechen hatten
für die Scheschianer nichts Abschreckendes mehr, denn die ungeheuersten
fingen an alltäglich zu werden. Giftmischerei und
Vatermord wurden so gewöhnlich, daß sich niemand mehr getraute
mit seinen Erben unter Einem Dache zu wohnen. Alle
Bande der Gesellschaft waren los; und wie hätten die bürgerlichen
Gesetze einem Volke, welches die Natur selbst zu mißhandeln
fähig war, Ehrfurcht einprägen sollen? Keine öffentliche
Sicherheit, keine Scheu vor der Schande mehr! Es war
leichter unter der Classe, welche sich Leute von Ehre nennen,
einen falschen Zeugen oder einen Meuchelmörder, als unter
dem Pöbel einen Tagelöhner zu miethen. Die allgemeine Verderbniß
hatte auch die schönere Hälfte der Nation alles dessen
beraubt, was die Schönheit veredelt und sogar den Mangel
derselben vergüten kann. Schamhaftigkeit und Unschuld, die
lieblichsten Grazien dieses Geschlechts, waren den Scheschianerinnen
fremde — noch mehr, sie waren ihnen lächerlich
geworden. Es war unmöglich, eine ehrliche Frau von einer
Metze an etwas anderm zu unterscheiden, als an der seltsamen
Affectation, womit diese sich bemühten wie ehrliche Frauen,
und jene wie Metzen auszusehen. Mit einem Buhler davonzulaufen,
oder einem Manne, der nicht so viel Gefälligkeit
hatte als ein Mann von Lebensart haben sollte, Rattenpulver
einzugeben, waren Verbrechen, denen sich ein jeder, der das
Unglück hatte vermählt zu seyn, täglich ausgesetzt sah. Die
Justiz hatte ihr Möglichstes gethan, den unleidlichen Ausbrüchen
dieses sittlichen Verderbens Einhalt zu thun. Alle
Gefängnisse und alle Galgen in Scheschian waren angefüllt;
aber man verspürte keine Abnahme des Uebels. Die Hauptstadt
selbst, ungeachtet der künstlichen und scharfen Polizei,
welche Eblis darin eingeführt hatte, sah mehr einem ungeheuern
Haufen von schändlichen Häusern und Mördergruben als dem
Mittelpunkt eines großen Reichs ähnlich. Verzweifelte Uebel
erheischen verzweifelte Heilungsmittel, sagten die politischen
Quacksalber an Jsfandiars Hofe. Man schärfte also die Strafgesetze,
man vermehrte sie ins Unendliche, man erfand neue
Todesarten, man ermunterte die Angeber geheimer Verbrechen
durch ansehnliche Belohnungen, man bemächtigte sich der Personen
auf den leichtesten Argwohn — und man war ungemein
betroffen, oder stellte sich doch wenigstens so, da man gewahr
wurde, daß eine so vortreffliche Justiz — die Scheschianer
nicht besser machte. Im Gegentheil zeigte sich bald, daß die
Cur ärger als die Krankheit selbst war. Man wollte die öffentliche
Sicherheit wieder herstellen, und die allgemeine Gefahr
vermehrte sich. Man wollte dem Verbrechen Einhalt thun,
und man öffnete ihm tausend neue Pforten. Zuvor hatten
die Scheschianer nur vor Räubern und Mördern gezittert:
itzt zitterte man auch noch vor den Angebern. Zuvor kannte
der Unmensch, der durch eines andern Tod gewinnen wollte,
kein anderes Mittel zu seinem Zwecke zu gelangen als Gift
und Dolch: : nun gab es ein gesetzmäßiges Mittel, wobei wenig
Gefahr und viel zu gewinnen war; man machte sich zum
Angeber, und ging mit seinem Antheile an dem Raube der
Justiz im Triumphe davon. Die Scheschianer merkten bald,
daß die Profession der Angeber einträglicher war als irgend
eine andre. Sie gab häufige Gelegenheiten sich um die Großen
verdient zu machen, und verschiedene Beispiele eines
schleunigen und blendenden Glückes, welches auf diesem
Wege war gefunden worden, reizten die allgemeine Begierlichkeit.
Jedermann wurde zum Angeber. Das Laster verlor
in der That die Sicherheit, die es so lange genossen,
aber zum Unglück hatte die Unschuld hierin keinen Vortheil
vor ihm. Die Scheschianer fanden also, alles gegen einander
abgewogen, mehr Vortheil dabei, wenn sie fortführen lasterhaft
zu seyn; und so zeigte sich am Ende, daß man durch
diese übelbedachten Veranstaltungen die Verbrechen nicht abgeschreckt,
aber wohl den kleinen Ueberrest von Unschuld und
Tugend, der den verdorbenen Staat noch vor der Fäulniß
und gänzlichen Auflösung bewahrte, völlig vernichtet hatte.Aerger konnte wohl eine Staatsoperation von solcher
Wichtigkeit nicht mißlingen. Aber der schlaue Eblis hatte
doch etwas dabei gewonnen, wodurch er überflüssig entschädigt
zu seyn glaubte. Die unendliche Vermehrung der Strafgesetze
hatte ihm, unter dem Schein einer preiswürdigen Fürsorge
für die Sitten, einen Weg gezeigt, die Sünden der Scheschianer
zu einer reichen Quelle von Einkünften zu machen. Die
Ergiebigkeit derselben hatte etwas so Anreizendes, daß man
täglich auf die Vervollkommnung dieses edlen Zweiges der
Finanzen bedacht war. Insonderheit schien das Verbrechen
der beleidigten Majestät ein herrliches Mittel, sich der Güter
der Großen und Reichen mit guter Art zu bemächtigen. Die
Rechtsgelehrten von Scheschian (Leute welche für einen leidlichen
Preis alles was der Hof gern sah zu Recht erkannten)
erschöpften daher alle ihre Scharfsinnigkeit, die Theorie eines
so einträglichen Verbrechens aufs feinste auszuarbeiten; sie
setzten alle seine Aeste und Zweige bis auf die allerkleinsten
Fäserchen sehr künstlich auseinander, und bewiesen zum Schreien
der armen Scheschianer, daß man zu gewissen Zeiten
kaum ein Glied rühren, kaum Athem holen könnte, ohne
sich dieses furchtbaren Lasters schuldig zu machen. Es konnte
mit einem bloßen Worte, mit einer Miene, in Gedanken, ja
sogar im Traume — es konnte an dem elendesten Gemälde
das den Kronig vorstellte, an einem Bedienten der königlichen
Küche, an einem königlichen Hunde, an dem Napfe worein
der König spuckte, begangen werden. Der behutsamste Tadel
der Maßregeln des Hofes, der kleinste Seufzer, den das Mitleiden
mit sich selbst einem Unrecht leidenden Scheschianer
auspreßte, die leiseste Berufung auf die Rechte der Menschheit,
war ein Majestätsverbrechen. Zum Beweise, daß man des
Vergnügens zu strafen nicht satt werden könne, schien man
nichts Angelegner's zu haben, als der Nation täglich neue
Gelegenheiten zu geben, sich strafbar zu machen; und niemand,
ach niemand! ließ sich in den Sinn kommen, daß das strafwiirdigste,
das ungeheuerste aller Verbrechen — die Beleidigung
der Menschheit sey.Danischmend, rief der Sultan aus, ich bin deines Jsfandiars
müde. Der Sultan, sein Günstling, sein Hof und seine
Unterthanen sind sammt und sonders nicht würdig, länger
von der Sonne beschienen zu werden. Wie wenn du eine
hübsche Sündfluth kommen ließest, und die ganze ekelhafte
Brut vom Erdboden wegspültest?Sire, sagte Danischmend, dieß ist die Sache des Himmels:
er wird seine Ursache haben, warum er einer verbrecherischen
Welt so lange zusieht.Keine Metaphysik, Herr Doctor! Höre was ich dir sagen
werde. Ich gebe dir bis morgen Bedenkzeit, ob du sie durch
ein Erdbeben, oder durch eine Sündfluth, oder durch Heuschrecken
und Pest vertilgen willst. Genug, wenn sie mir nur je
eher je lieber aus den Augen kommen.—————
4.Die Lebenskräfte eines großen Reiches (so fuhr Danischmend
des folgenden Abends fort) sind beinahe unerschöpflich;
und eine Nation kann sich Jahrhunderte lang ihrem Untergange
nähern, kann oft unmittelbar an dem Rande desselben
schwanken, und noch Kräfte genug haben, sich wieder aufzuraffen
und den schrecklichen Augenblick etliche Jahre weiter
hinauszusetzen. Ein weitläuftiges, unter einem günstigen
Himmel liegendes Land, welches eine lange Zeit aufs fleißigste
angebaut worden ist, muß lange verwahrloset werden, bis es
zur Wildniß wird; und Menschen, welche einmal an gewisse
Gesetze, an einen gewissen Grad von Unterwürfigkeit gewöhnt
sind, können unendlich viel leiden, bis das Unvermögen,
ihren Zustand länger auszustehen, die Bezauberung auflöst,
oder Verzweiflung ihnen wenigstens den Muth gibt — zu
sterben.Diese Betrachtung pflegt die Werkzeuge einer ungerechten
Regierung bei dem Anblick der zerstörenden Folgen ihrer
Tyrannei gleichgültig und sicher zu machen. Das Uebel ist
noch nicht so groß, denken sie; der Esel schleppt sich noch immer
unter seiner Last fort, er kann noch mehr tragen; und
so wird immer noch mehr aufgelegt, bis er zu Boden sinkt
und stirbt. Indessen ist wahrscheinlich, daß sich eine Wissenschaft
erfinden ließe, wie man, unter gegebenen Umständen,
für jedes Land den Tag, die Stunde, und den Augenblick ausrechnen
könnte, wo der Staat unter einer gewissen Summe
von Uebeln —(die Dazwischenkunft irgend eines wohlthätigen
Wunderwerks ausbedungen)— einsinken mußte; und nichts
ist mehr zu wünschen, als daß zum Besten des menschlichen
Geschlechts ein Preis zur Erfindung eines solchen politischen
Barometers gesetzt werden möchte.Schach-Gebal hatte, wie man vielleicht schon bemerkt
haben wird, gewisse Launen, worin er, bei allem seinem Witz,
Dinge zu sagen fähig war, welche seinem Oheim Schach-Badam
Ehre gemacht hätten. Die Wahrheit zu sagen, er hörte zuweilen
nur mit halbem Ohr, und dieß war gerade, was ihm
dießmal begegnete. Sobald er hörte, daß Danischmend seinen
Discurs mit einer Reflexion anfing, überließ er sich, ohne ganz
unachtsam darauf zu seyn, den Gedanken, die sich von ungefähr
anboten, bis ihn der politische Barometer, wie ein elektrischer
Schlag, auf einmal wieder zur Aufmerksamkeit weckte. Die
Idee gefiel ihm. Höre Danischmend, rief er, der Einfall, den
du da hattest, ist vortrefflich. Wenn es nur an einem Preise
liegt, so setze ich zehntausend Bahamd'or für den Erfinder aus.
Du kannst morgen dem Präsidenten meiner Akademie Nachricht
davon geben.Nurmahal und Danischmend sahen einander verstohlner
Weise an; aber der Ton des Sultans war zu ernstlich, als
daß es rathsam gewesen wäre, ihn mit Lächeln zu beantworten.
Sie zogen sich also mit Hülfe einer kleinen Grimasse so gut
aus der Sache, als es in der Eile möglich war. Danischmend
versicherte Seine Hoheit, der zehente Theil des versprochnen
Preises werde hinlänglich seyn, die Philosophen von Indostan
in Thätigkeit zu setzen; und Schach-Gebal ergötzte sich nicht
wenig an dem Gedanken, seine Regierung durch eine so sinnreiche
und nützliche Erfindung verherrlicht zu sehen. Nach
einer kleinen Weile fuhr Danischmend, auf Befehl des Sultans,
in seiner Erzählung fort.Aus Mangel des politischen Lastenmessers, welcher das
Glück gehabt hat den Beifall Ihrer Hoheit zu erhalten, läßt
sich dermalen nicht genau bestimmen, wie lange Scheschian
unter Jsfandiars Regierung noch hätte schmachten können,
wofern dieser unweise Fürst durch einen Schritt, der in den
damaligen Umständen des Reichs durch nichts gerechtfertiget
werden konnte, die fatale Stunde nicht selbst herbeigerufen
hätte.Ihre Hoheit erinnern sich ohne Zweifel noch der Blauen
und Feuerfarbnen, die unter der Regierung Azors so gefährliche
Unruhen in Scheschian angezündet hatten. Jsfandiar,
der sich bei seiner Thronbesteigung das Gesetz gemacht zu haben
schien, alles zu hassen was sein Vater geliebt hatte, nahm
einige Jahre lang die Feuerfarbnen aus keinem andern Grunde
in seinen besondern Schutz, als weil unter der vorigen Regierung
die Blauen die Oberhand gehabt hatten. Damit ja niemand
an dem Beweggrunde seines Betragens zweifeln könnte,
spottete er öffentlich und ohne Zurückhaltung über den Glauben
der einen und der andern. Eblis hatte ihn angewöhnt, die
Religion überhaupt in einem falschen Lichte zu betrachten.
Nichts konnte kürzer seyn als die Metaphysik dieses Günstlings
war. "Nothwendigkeit und Ungefähr, sagte er, haben
sich in die Regierung der Welt getheilt. Der Mensch schwimmt
wie ein Sonnenstaud im Unermeßlichen; sein Daseyn ist ein
Augenblick; dieser Augenblick ist alles was er sein nennen
kann, und sich diesen Augenblick zu nutze zu machen, ist alles
was er zu thun hat." — Auf solche Trugschlüsse hatte er die
ruchlose Sittenlehre und die tyrannische Staatskunst gebaut,
wovon der Untergang seines Vaterlandes die Folge war. "Die
Religion, sagte man öffentlich an Jsfandiars Hofe, ist eine
nützliche Erfindung der ältesten Gesetzgeber, um unbändige
Völker an ein ungewohntes Joch anzugewöhnen. Sie ist ein
Zaum für das Volk; die Beherrschen desselben müssen den
Zügel in ihrer Hand haben: aber den Zaum sich selbst anlegen
zu lassen, wäre lächerlich."Wenn diese Sätze auch in gewisser Maße auf das, was
man Staatsreligion nennt, anwendbar wären, so konnte doch
nichts unbesonnener seyn, als sie laut genug zu sagen, um
von jedermann gehört zu werden. Wiewohl Eblis die Religion
nur für ein politisches Mittel gegen die Unbändigkeit
des Pöbels hielt, so hätte er doch einsehen sollen, daß die
gute Wirkung dieses Mittels lediglich von dem Glauben an
seine Kraft abhängt, so wie die Amulete, womit die Braminen
und Bonzen ihre Anhänger in Ostindien und Sina zu beschenken
pflegen, nur durch die hartnäckige Zuversicht zu ihren geheimnißvollen
Kräften einige Wirkung thun können. Dem Volk
öffentlich sagen daß man es nur betrüge, und erwarten daß
es sich demungeachtet immerfort betrügen lassen werde, setzt
eine Geringschätzung des gemeinen Menschenverstandes voraus,
welche der Klugheit des witzigen Eblis wenig Ehre macht.
Dieses Betragen mußte nach der damaligen Lage der Sachen
in Scheschian nothwendig einen gedoppelten Schaden thun.
Auf der einen Seite schlich die Verachtung der Religion von
den Großen und Gelehrten sich nach und nach bis zum Pöbel
herab; welcher froh zu seyn schien, daß seine Beherrscher
thöricht genug waren, den Damm, der ihnen noch einige
Sicherheit gegen den Schwall der allgemeinen Verderbniß
verschaffen konnte, selber zu durchbrechen. Auf der andern
Seite ließen die Bonzen von der blauen Partei, wie leicht zu
erachten ist, diesen Anlaß, ihre verfallenen Angelegenheiten
wieder herzustellen, nicht unbenutzt. Je näher die Gefahr
andrang, welche dem Scheschianischen Aberglauben den Untergang
drohte, desto eifriger waren sie, kein Mittel unversucht
zu lassen, das Volk aus seiner schlafsüchtigen Gleichgültigkeit
aufzuwecken, und in das wilde Feuer einer fanatischen Andacht
zu setzen. Unter den Händen einer weisen Regierung würde
die Gleichgültigkeit der Scheschianer gegen den ungereimten
Glauben ihrer Väter das Mittel geworden seyn, eine große
Verbesserung ohne gewaltsame Erschütterungen und auf eine
beinahe unmerkliche Weise zu bewerkstelligen. Aber die Unbesonnenheit
der anmaßlichen Philosophen dieser Zeit, "das alte
Gebäude einzureißen, ohne ein anderes von festerem Grunde,
bessern Materialien und edlerer Bauart aufzuführen," ließ
nicht nur diese glückliche Gelegenheit entschlüpfen, sondern
vermehrte noch die Uebel, welche die unmittelbaren Früchte
des Unglaubens sind, mit allen den unseligen Folgen des Fanatismus,
der (wie uns die Jahrbücher der Menschheit belehren)
allemal, wenn Gottlosigkeit und sittliche Verwilderung
am höchsten gestiegen sind, seine verwüstende Fackel am heftigsten
geschwungen, und oft ganze Welttheile das grausame
Schicksal eines Landes, das von Feinden und Freunden zugleich
verheeret wird, hat erfahren lassen.Der Hof, dessen einzige Beschäftigung war, die allgemeinen
Uebel des Staats in seinen besondern Nutzen zu verwenden,
unterließ nicht, alle Bewegungen der Blauen aufs
schärfste zu beobachten, und fand desto leichter Gelegenheit
ihnen beizukommen, da sie, durch ihre schwärmerische Hitze
verblendet, sich stark genug glaubten, ihre Gegner, die Feuerfarbnen,
und den Hof der sie beschützte, selbst heraus zu fordern.
Wiewohl sie, der Zahl nach, die kleinere Partei ausmachten,
so schien ihnen doch der Reichthum ihrer vornehmsten
Glieder eine desto gewissere Ueberlegenheit zu geben, da,
ordentlicher Weise, der Reichste derjenige ist, der sich die meisten
Anhänger zu verschaffen weiß. Aber eben diese Reichthümer
waren das, was die Raubsucht Jsfandiars und seiner
Gehülfen reizte. Man beschloß sich derselben unter einem
Vorwande zu bemächtigen, den man entstehen lassen konnte,
sobald man wollte. Man stellte sich als ob man über die
Bewegungen der Blauen unruhig würde; man sprach viel von
Gefahren, welche über dem Nacken des Staats schweben sollten;
man flüsterte von einer übelgesinnten Partei, von geheimen
Anschlägen, von verdächtigen Zusammenkünften; und
man endigte damit, daß es vonnöthen seyn werde, mit einiger
Strenge gegen die Blauen zu verfahren. Man hielt mehr
als man versprochen hatte, in Hoffnung, die Blauen würden
sich nicht geduldig genug mißhandeln lassen, um keine Gelegenheit
zu größern Mißhandlungen zu geben; und man fand
sich nicht betrogen. Kurz, man ruhete nicht, bis man sie zu
einigen Bewegungen aufgereizt hatte, denen man den Namen
von Aufruhr und Empörung geben konnte; und nun hatte
Eblis seinen Zweck erreicht. Aber er und der unglückliche Jsfandiar
genossen diese Freude nicht lange. Die Blauen, angeflammt
von einigen schwärmerischen Anführern, welche desto
mehr zu gewinnen hofften je weniger sie zu verlieren hatten,
empörten sich endlich im ganzen Ernste. Eine unendliche
Menge von Mißvergnügten aller Arten schlug sich zu ihrer
Partei. Das Volk, welches schon lange mit Ungeduld auf
ein öffentliches Zeichen zum Aufruhr gewartet hatte, rottete
sich in verschiedenen Provinzen von Scheschian zusammen, riß
allenthalben die Bildsäulen Jsfandiars nieder, plünderte seine
Cassen, und ermordete alle, die es als Werkzeuge seiner tyrannischen
Regierung verabscheute. Der Taumel, worin man
am Hofe zu Scheschian zu leben gewohnt war, machte, daß
man die ersten Ausbrüche eines Aufstandes, von welchem so
leicht vorher zu sehen war daß er allgemein werden würde,
mit Verachtung ansah; und Eblis glaubte einen großen Streich
gemacht zu haben, da er die Anführer einer zusammengelaufnen
Rotte, welche in der Hauptstadt selbst Unruh' erregt hatte,
mit Strafen belegen ließ, bei deren bloßer Erzählung allen
übrigen, wie er sagte, die Waffen aus den Händen fallen sollten.
Aber er kannte die menschliche Natur nur halb. Das
unmittelbare Anschauen dieser Strafen, und der Anblick einiger
tausend gedungener Mörder, bereit, auf den ersten Wink,
wie eben so viele wilde Thiere, unter ein friedsames und
schüchternes Volk einzufallen, hätte diese Wirkung allerdings
gethan: aber die Nachrichten, welche sich von diesen neuen
Beweisen der Grausamkeit Jsfandiars in den Provinzen verbreiteten,
thaten eine ganz entgegengesetzte auf die Einbildungskraft
der Scheschianer. Ihr Mißvergnügen verkehrte sich
in Wuth; die Anführer der Empörung fanden sich nun in der
unumgäglichen Nothwendigkeit zu siegen, oder wenigstens
nicht ungerochen zu sterben. Der Aufstand, dessen Gefahr
Eblis, so lang es möglich war, seinem betrogenen Herrn verborgen
hatte, gewann in kurzem eine solche Gestalt, daß
man sich gezwungen sah Jsfandiarn die Augen zu öffnen.Dieser Prinz, dem es weniger an Muth, als an der Geschicklichkeit
ihn zu regieren, fehlte, machte sich fertig, an der
Spitze eines Kriegsheers, dessen Treue er durch große Geschenke
und noch größere Versprechungen erkauft zu haben
glaubte, zum erstenmal in seinem Leben —gegen seine Unterthanen
zu Felde zu ziehen. Die Häupter der Empörung hatten
inzwischen Zeit genug gehabt, sich in Verfassung zu setzen,
Abrede mit einander zu nehmen, und nach einem gemeinschaftlichen
Plane zu handeln. Da sie entschlossen waren, die Waffen
nicht eher niederzulegen, bis sie die Wohlfahrt des Staats
und die Rechte seiner Bürger gegen die Anmaßungen der willkürlichen
Gewalt auf eine dauerhafte Art sicher gestellt hätten:
so fanden sie nöthig alles so viel möglich zu vermeiden, was
ihrem Unternehmen das Ansehen eines strafbaren Aufruhrs
geben könnte. Das ganze Scheschian sollte überzeugt werden,
daß sie die Waffen nicht gegen ihren rechtmäßigen König, sondern
bloß zu nothgedrungener Beschützung ihrer wesentlichsten
Rechte gegen die Eingriffe seiner Rathgeber ergriffen hätten.
In dieser Absicht ließen sie eine Art von Manifest an Jsfandiarn
gelangen, worin sie, nach einer lebhaften Vorstellung
aller ihrer Beschwerden, sich erklärten, daß sie sogleich wieder
auseinander gehen wollten, sobald der König diesen
Beschwerden abgeholfen, und, zum Beweise seiner Aufrichtigkeit,
den Günstling Eblis der gerechten Rache einer ganzen
beleidigten Nation ausgeliefert haben würde.Dieß, sagte Schach-Gebal, war eine Zumuthung, wozu
ein Fürst, der auf seine Ehre hält, sich nie verstehen wird.Auch war Jsfandiar weit von einem solchen Gedanken
entfernt, fuhr Danischmend fort. Aber es währte nicht lange,
so bekam er Ursache sich reuen zu lassen, daß er die Erhaltung
eines Einzigen — die auf der Wage der Klugheit ein Atom
ist, wenn die Wohlfahrt des Staats und die Sicherheit des
Thrones in der andern Schale liegt — für wichtig genug
angesehen hatte, sie so theuer zu erkaufen. Eblis wurde bald
gewahr, daß die Sachen seines Herrn und seine eigene einer
furchtbaren Entscheidung nahe waren. Er fand es zu gefährlich
für sich selbst, seine eigene Sicherheit von dem Ausgang
eines Treffens abhangen zu lassen, von welchem er sich in jeder
Betrachtung wenig versprechen konnte. Er bedachte sich also
nicht lange. Treue, Dankbarkeit, Freundschaft konnten ihn
nicht verhindern, eine schändliche That zu thun; denn sie waren
für ihn bloße Namen ohne Bedeutung. Er ließ sich in
geheime Unterhandlungen mit den Häuptern der Mißvergnügten
ein, und machte sich anheischig, mit den größten Theile
des königlichen Kriegsheeres zu ihnen überzugehen, wofern sie
ihm die Ehre, auf gleichen Fuß mit ihnen selbst an der Wiederherstellung
der öffentlichen Ruhe zu arbeiten, zugestehen
und hinlänglich versichern würden. Die Empörten gingen alles
ein, und Eblis arbeitete inzwischen mit eben so viel Eifer
als Behutsamkeit daran, die Truppen und ihre vornehmsten
Anführer theils in seinen Anschlag zu ziehen, theils zu unwissenden
Werkzeugen desselben zu machen; und dieß that er
zu eben der Zeit, da er seinen Herrn durch den Schein der feurigsten
Ergebenheit und durch eine Menge falscher Nachrichten
in die tiefste Sicherheit zu versenken wußte. Sein Anschlag
ging so glücklich von Statten, daß er, in einem Anstoße des
Schwindelgeistes, welcher große Verbrecher schon so oft zu
Werkzeugen ihres eigenen Untergangs gemacht hat, auf einmal
sich die stolze Hoffnung träumen ließ, in dem Augenblicke,
da Jsfandiar vom Throne herabstürzen würde, sich
selbst hinauf zu schwingen. Die Empörten hatten bisher noch
immer geneigt geschienen, die königliche Würde in dem verhaßten
Jsfandiar zu schonen. Aber Eblis stellte ihnen vor,
daß es unmöglich sey, so lange der Tyrann lebe, an eine
dauerhafte Staatsverbesserung zu denken, oder nur Sicherheit
für ihre eignen Personen und Güter zu hoffen. Er wußte
ihnen die Nothwendigkeit, das Uebel (wie er sagte) durch einen
kühnen Streich an der Wurzel abzuhauen, so eindringend vorzustellen,
daß man ihn auf alle mögliche Weise zu unterstützen
versprach, wofern er die Ausführung dieses Streiches übernehmen
wollte.Alles schien sich zu vereinigen, den Verräther Eblis des
glänzenden Ziels seiner Wünsche theilhaftig zu machen, als
er auf einmal (aber zu seinem Unglück erst da es zu spät
war) die Erfahrung machte: daß der Lasterhafte sehr Unrecht
hat, von den Werkzeugen seiner Uebelthaten Tugend zu erwarten.
Eblis hatte gehofft, die Wenigen, denen er sein
Geheimniß anzuvertrauen genöthiget war, durch Eidschwüre,
Belohnungen und Erwartungen eines schimmernden Glückes
gefesselt zu haben. Aber er betrog sich. Einer von ihnen
machte die Anmerkung, daß wahrscheinlicherweise noch mehr
zu gewinnen sey, wenn er dem Sultan die Treulosigkeit seines
Vertrauten entdecken würde. Er that es eine Stunde zuvor,
ehe der Anschlag gegen das Leben des Sultans ausgeführt
werden sollte. Es nur um Mitternacht. Jsfandiar, von
wüthendem Grimm über die Undankbarkeit eines Günstlings,
für den er sich selbst aufgeopfert hatte, hingerissen, verschmähte
den bloßen Gedanken der Flucht. Der Emir, der
ihm die Verschwörung entdeckte, hatte nicht vergessen, sich vorher
eines Theils der Leibwache zu versichern. Von diesen
und von allen, auf deren Treue er sich am meisten verlassen
zu können glaubte, umgeben, befahl Jsfandiar, den Verräther
Eblis und die übrigen Zusammenverschwornen in Verhaft
zu nehmen. Sie hatten sich eben an einem abgeredeten
Orte versammelt, um zur Ausführung ihres Vorhabens zu
schreiten, als sie gewahr wurden, daß sie verrathen waren.
Es brauchte nur einen Augenblick, um das Schreckliche ihrer
Lage in seiner ganzen Größe zu übersehen. Die Verzweiflung
allein konnte ihnen den einzigen Ausweg öffnen, der noch
möglich war. Sie entschlossen sich zum hartnäckigsten Widerstand.
Der schrecklichste Tod ist uns gewiß, rief Eblis: mit
den Waffen in der Hand können wir, im unglücklichsten
Falle, nur sterben; aber es ist eben so wohl möglich, daß wir
die Oberhand erhalten. Wüthend schlugen sie sich durch die
Trabanten Jsfandiars hindurch, drangen mit großem Geschrei
in den Palast ein, und stießen alles nieder, was sich ihnen
entgegensetzte. In wenigen Augenblicken war der ganze Palast
in Aufruhr; die meisten schlugen sich auf die Seite der Verschwornen.
Der Augenblick kam, da derjenige, zu dessen
Füßen vor kurzem Millionen Sklaven im Staube sich wälzten,
in angstvoller Betäubung nach Hülfe, nach Mitleiden umher
sah, und nicht einen einzigen fand, welcher Tugend genug
gehabt hätte, seine Brust zum Schilde eines verabscheuten
Königs zu machen. Ja, rief er den auf ihn eindringenden
Verschwornen entgegen, ich will sterben: aber ich will nicht
ungerochen fallen. Mit diesen Worten stürzte er sich mit
gezücktem Dolch auf Eblis hin; doch eh' er ihn erreichen
konnte, fiel er von unzähligen Stichen durchbohrt zu Boden.
Inzwischen hatte der Lärm, den dieser wilde Auftritt im
Palaste verursachte, einen großen Theil der Hauptstadt aus
dem Schlaf erweckt. Das Volk stürmte haufenweise herbei.
Dumpfes gräßliches Geschrei: "Freiheit, Freiheit! weg mit
dem Tyrannen und seinen Gehülfen!" schallte furchtbar durch
die Hallen des Palasts. Eblis, mit dem Haupte Jsfandiars
an der Spitze seines Schwerts, hoffte durch diesen Anblick die
Raserei des Pöbels zu besänftigen: aber das abgerissene
Haupt des Sultans in der Hand seines treulosen Günstlings
zu sehen, dieser Anblick veränderte auf einmal den Gegenstand
ihrer Wuth. Der Verräther wurde in Stücken zerrissen.
Alle, die ihn vertheidigen oder rachen wollten, fielen. Der
Palast wurde geplündert und in Flammen gesetzt. Das Feuer
ergriff einen Theil der Stadt und fraß desto schneller um
sich, da niemand daran dachte, seinen Verwüstungen Einhalt
zu thun. Alle Gräuel eines allgemeinen Aufruhrs
vereinigten sich, die unglückliche Stadt Scheschian etliche
Tage lang zu einem Schauplatz von Thaten zu machen, von
welchen die Menschlichkeit schaudernd ihr Antlitz wendet.
Gleichwohl war dieß alles nur der Anfang, und, so zu sagen,
das Zeichen zur allgemeinen und völligen Auflösung aller
Bande, wodurch die Nation bisher noch zusammengehalten
worden war. Jsfandiar hinterließ keinen gesetzmäßigen Thronfolger;
denn er hatte seine Brüder und seine Neffen, die
Söhne eines jüngern Bruders von Azorn, bald nach seiner
Thronbesteigung unter verschiedenem Vorwande aus dem
Wege geräumt. Die vornehmsten Städte des Reichs machten
Anstalten sich in Freiheit zu setzen, konnten aber über die
Gestaltung der Verfassung, welche sie sich geben wollten, so
wenig einig werden, daß sie entweder durch bürgerliche Unruhen
zu Grunde gingen, oder bald diesem bald jenem von fünf oder
sechs der mächtigsten Emirn, welche um die Krone stritten,
sich unterwerfen mußten. Während dieses Streites, der mit
aller Wuth und Langwierigkeit eines Bürgerkriegs geführt
wurde, erfuhr Scheschian die Drangsale der Anarchie zum
zweitenmal in einem Grade, der entsetzlich gewesen seyn muß,
da er mit der Stufe der Verderbniß, zu welcher die Nation
herabgesunken war, in Verhältniß stand. Etliche Jahre lang
schien alles Gefühl von Moralität in jeder Seele bis auf den
letzten Funken erloschen zu seyn, und den ungeheuern Leichnam
des Staats einer scheußlichen Verwesung überlassen zu
haben. Auch würde dieß, allem Ansehen nach, das Schicksal
von Scheschian gewesen seyn, wofern nicht der Schutzgeist der
Menschheit zu einer Zeit, da man alle Hoffnung aufzugeben
anfing, den unglücklichen Rest einer einst so großen und blühenden
Nation mit mitleidigen Augen angesehen hätte.Ich danke dir, Danischmend, sagte Schach-Gebal, für die
gute Justiz, welche du, zu Ehre des Thrones und zur Warnung
aller künftigen Jsfandiaren und Eblissen (wenn anders
die Natur jemals wieder ihresgleichen hervorbringen sollte),
an diesen Ungeheuern ausgeübet hast. Im übrigen will ich
dir nicht verhalten, daß du uns eine Art von Genugthuung
dafür schuldig bist, uns seit dem ehrlichen Ogul-Kan (der bei
allem dem gleichwohl einige große Untugenden hatte) mit
lauter namenlosen oder schwachen Königen unterhalten, und
die Reihe zuletzt gar mit einem Taugenichts beschlossen zu
haben, der in der That so hassenswürdig ist, daß der verdienstloseste
unter seinen Vorgängern bloß dadurch, weil
man gar nichts von ihm sagen kann, in Vergleichung mit
ihm zu einem guten Fürsten wird. Es ist unangenehm, einen
so mißgestalteten Charakter nur für möglich zu halten.Und noch unangenehmer, sagte Danischmend, daß schwerlich
eine Nation auf dem Erdboden ist, welche sich des Glückes
rühmen könnte, unter ihren Fürsten keinen Jsfandiar gehabt
zu haben. Gleichwohl däucht mir sogar dieser schlimmste unter
den Königen von Scheschian weniger Haß als Bedauern verdient
zu haben. Alle Umstände, in welchen er lebte, schienen
von irgend einem feindlichen Genius zu seinem Verderben zusammen
geordnet zu seyn. Kein tugendhafter, kein ehrlicher
Mann unter seinem ganzen Volke, welcher Menschlichkeit genug
gehabt hätte, dem verblendeten Fürsten wenigstens aus
Mitleiden die Wahrheit zu sagen! Lauter abschätzige Sklaven
zu seinen Füßen, lauter schändliche der Schamröthe unfähige
Schmeichler an seinem Ohr! Sollte man es für möglich
halten, daß ein Jsfandiar, ein gekrönter Missethäter, dessen
Leben eine Kette von lasterhaften und unsinnigen Ausschweifungen
war, von einer Menge von Rednern und Schriftstellern
seiner Zeit mit allen Lobsprüchen, die nur immer der beste
König verdienen kann, überhäuft worden seyn könnte? Sollte
man glauben, daß ein Scheschianer unverschämt genug habe
seyn können, diesen nämlichen Jsfandiar, in Gegenwart von
Tausenden, deren Blicke und Mienen ihn Lügen straften, den
würdigsten und geliebtesten unter den Fürsten, den Vater
seines Volkes, den wohlthätigen Schutzgott seines Reiches zu
nennen? Gleichwohl gab es unter den Gelehrten, unter
den angeblichen Weisen der Nation solche Elende; und, was
beinahe eben so erstaunlich ist, Jsfandiar war fähig solchen
Unsinn mit Vergnügen anzuhören, und die dreifachen Sklaven,
welche die Verwegenheit hatten mit Wahrheit, Tugend und
Ehre ein so freches Gespötte zu treiben, auf der Stelle mit
Belohnungen zu überhäufen, welche zu geben und verdient zu
haben in gleichem Grade schändlich war. Konnte Jsfandiar
alles Gefühl von Recht und Unrecht so gänzlich verloren haben,
um die ausschweifenden Lobreden, Lobreden welche den bittersten
Satyren so ähnlich tönten, ohne vor Scham zu vergehen,
anzuhören? Und wenn er es konnte, wie unwürdig der
menschlichen Gestalt mußte der erst seyn, den die Hoffnung
eines ehrlosen Gewinnes fähig machte, die Sprache der
Empfindung wissentlich zu misbrauchen, um einen weltkündigen
Tyrannen in seiner Verhärtung zu bestärken? Was für
Elende mußten es seyn, welche solche Lobreden anhören konnten,
ohne in allgemeinem Aufstand dem ungeheuern Lügner
ins Gesicht zu widersprechen? welche sogar fähig waren, den
lauten Beifall zuzuklatschen? Man muß gestehen, die Scheschianer
verdienten einen König wie Jsfandiar; und man
braucht sich nur einen Augenblick vorzustellen, wer sie waren,
um das Mitleid, welches der Anblick des Leidens unsrer Mitgeschöpfe
natürlicherweise in uns erweckt, in Freude über die
Zerstörung einer so häßlichen Brut ausgearteter Menschen
verwandelt zu fühlen.—————
5.Danischmend hat uns die Verdorbenheit der Scheschianischen
Nation so groß und so allgemein vorgestellt, sagte die
Sultanin, daß ich nicht begreife, wo er den Mann hernehmen
will, der aus diesem Chaos eine neue Welt zu erschaffen fähig
seyn sollte. Dieß bin ich wenigstens gewiß, daß dieser Mann
sich nicht am Hofe zu Scheschian gebildet haben kann.Der beste unter allen Sinesischen Königen bildete sich unter
einem Strohdache, versetzte Danischmend. Und wie hätte
(sagt ein Sinesischer Schriftsteller) der tugendhafte Landmann
Chun nicht der beste unter den Königen werden sollen? Sein
erster Stand hatte ihn vorher zum Menschen gebildet. Dieß
ist die Hauptsache. Wie wenige unter denjenigen, die von der
Wiege an zu künftigen Herrschern erzogen werden, können
sich dieses Vortheils rühmen!Tifan, der Wiederhersteller seines Vaterlandes, Tifan,
der Gesetzgeber, der Held, der Weise, der Vater seines Volkes,
der geliebteste und der glücklichste unter allen Königen, —
mit dessen Geschichte ich im Begriff bin den Sultan meinen
Herrn zu unterhalten, würde wahrscheinlicher Weise alles
dieß nicht gewesen seyn, wenn er an dem Hofe seines Vetters
Jsfandiar, oder an irgend einem andern Asiatischen Hofe
seiner Zeit, wäre gebildet worden.Von der Natur selbst auf ihrem Schooße erzogen, fern
von dem ansteckenden Dunstkreise der großen Welt, in einer
Art von Wildniß, zu einer kleinen Gesellschaft von unverdorbenen,
arbeitsamen und mäßigen Menschen verbannt, ohne
einen Schatten von Vermuthung, daß er mehr sey als der
Geringste unter ihnen, brachte er die ersten dreißig Jahre
seines Lebens in einem Stande zu, worin sein Herz, ohne
es zu wissen, zu jeder königlichen Tugend gebildet wurde.Dieses sonderbare Glück, ohne welches er schwerlich der
Stifter der allgemeinen Glückseligkeit seiner Nation geworden
wäre, hatte Tifan der Grausamkeit Jsfandiars und einem
andern eben so glücklichen als ungewöhnlichen Zufalle zu
danken, nämlich dem Umstande, daß seine erste Jugend dem
einzigen tugendhaften Manne, der vielleicht damals im ganzen
Scheschian lebte, anvertraut worden war.Jsfandiar hatte bald nach seiner Thronbesteigung alle seine
Brüder, nebst den Kindern, welche Temor, der einzige Bruder
seines Vaters, hinterlassen hatte, aus dem Wege geräumt.
Tifan, der jüngste unter den letztern, war damals etwan
sieben Jahre alt, und befand sich unter der Aufsicht eines
bejahrten Visirs, den sein Vater vorzüglich geliebt hatte.
Dschengis (so nannte man diesen Visir) hatte einen einzigen
Sohn von gleichem Alter mit dem Sohne des Prinzen Temor;
und das einzige Mittel, wodurch er das Leben des jungen
Tifan retten konnte, war, seinen eigenen Sohn den von
Jsfandiarn abgesendeten Mördern Preis zu geben. Dschengis
hatte den Muth, der Tugend ein so großes Opfer zu bringen.Er gab sein eigenes Kind hin, und zog sich mit dem jungen
Tifan, der nun stir seinen Sohn gehalten wurde, in eine
unbekannte Gegend der mittäglichen Gränze von Scheschian
zurück. Es war ein fruchtbares aber unangebautes Thal, von
Gebirgen und Wildnissen eingeschlossen, und, wie er glaubte,
von der Natur selbst zu einer Freistätte bestimmt für den Tugendhaften,
der sein Glück in sich selbst findet, und für einen
jungen Prinzen, den das Glück seine Unbeständigkeit in so
zarter Jugend schon erfahren ließ.Hier legte Dschengis eine Art von Pflanzstätte an, indem
er einer Anzahl Sklaven beiderlei Geschlechts, die er von den
benachbarten Tschirkassiern zu diesem Ende gekauft hatte, die
Freiheit unter der Bedingung schenkte, daß sie ihm helfen
sollten diese öden Gegenden anzubauen. Die Natur belohnte
seinen Fleiß mit dem glücklichsten Erfolge. In wenigen Jahren
verwandelte sich der größte Theil dieser angenehmen Wildniß
in Kornfelder, Gärten und Auen, von tausend kleinen
Bächen gewässert, welche Dschengis und seine Gehülfen aus
den benachbarten Gebirgen in ihre aufblühenden Pflanzungen
ableiteten. Die frohen Bewohner lebten im Ueberflusse
des Nothwendigen, und in dieser glücklichen Armuth an
entbehrlichen Dingen, welche für den Weisen oder für den Unwissenden
Reichthum ist. Dschengis, wiewohl sie alle seine Sklaven
gewesen waren, maßte sich keiner Herrschaft über sie an.Alle Ungleichheit, welche nicht von der Natur selbst herrührt,
war aus den Hütten dieser Glückseligen verbannt. Die
Väter der sämmtlichen Haushaltungen machten zusammen eine
Art von Gericht aus, das sich über Dinge, welche die allgemeine
Wohlfahrt betrafen, berathschlagte, und die kleinen
Streitigkeiten schlichtete, die unter einem so wenig zahlreichen,
so fröhlichen und so armen Völkchen entstehen konnten.Im Schooße dieser kleinen Colonie wuchs, als unter seinesgleichen,
der Neffe des größten und üppigsten aller morgenländischen
Könige in einer Unwissenheit seines Standes auf,
welche der weise Dschengis für nöthig hielt, was auch das
Schicksal über seinen königlichen Pflegesohn beschlossen haben
möchte. Ist er zum Thron bestimmt, dachte er, so werden
die Völker, die er einst glücklich machen wird, die Asche des
ehrlichen Dschengis dafür segnen, daß er ihnen einen König
erzogen hat, der in der Gewohnheit die niedrigste Classe von
Menschen als seinesgleichen anzusehen, — in der Gewohnheit
nichts von andern zu erwarten, was sie nicht auch von ihm
fordern können, — in der Gewohnheit seinen Unterhalt seinem
eigenen Fleiße zu danken zu haben, —aufgewachsen, des sinnlosen
Wahnes unfähig ist, daß Millionen Menschen nur darum
in der Welt seyen, damit er allein müßig gehen und sich allen
seinen Gelüsten überlassen könne. Ist es hingegen sein Schicksal
sein Leben in der Dunkelheit zuzubringen, so ist die Unwissenheit
seiner Abkunft ein Gut für ihn selbst: ihm den
wohlthätigen Irrthum, sich für den Zustand worin er lebt
geboren zu glauben, benehmen wollen, wäre in diesem Falle
Grausamkeit.Tifan ließ sich also, wenn er hinter seinen Heerden herging,
wenig davon träumen, daß ihn die Geburt bestimmt
habe, statt des Schäferstabes einen Scepter zu führen; und
das fürstliche Blut, das in seinen Adern floß, sagte ihm so
wenig von irgend einem angebornen Vorzuge vor den Leuten
mit denen er lebte, daß er vielmehr einen jeden mit einem
Gefühl von Ehrerbietung ansah, welcher besser arbeiten konnte,
und also nützlicher war als er. Oft wenn Dschengis den jungen
Prinzen, in seinem Kittel von grober Leinwand, mit beschwitzter
Stirne von der Feldarbeit zurückommen sah, lachte
er bei sich selbst über die Unverschämtheit jener Schmeichler,
welche die Großen der Welt bereden wollen, als ob sogar in
ihrem Blute ich weiß nicht was für eine geheimnißvolle Zauberkraft
walle, die ihrer ganzen Person und allen ihren Trieben
und Handlungen eine gewisse Hoheit mittheile, welche sie
von gemeinen Menschen unterscheide und diese letztern zu einer
unfreiwilligen Ehrfurcht zwinge. Wer dächte, daß dieser junge
Bauer ein Königssohn wäre? sagte er zu sich selbst. Er ist
wohl gebildet; seine Augen sind voller Feuer; seine Züge bezeichnen
eine gefühlvolle und wirksame Seele: aber bei dem
allem erkennt, außer mir selbst, niemand der ihn sieht etwas
anders in ihm, als einen zum Karst und Pfluge gebornen
Bauernsohn, und er selbst ist vollkommen überzeugt, daß Hysum,
unser Nachbar, ein ungleich besserer Mann ist als er.Diese Betrachtung schmeichelt den Fürstensöhnen nicht,
sagte Schach-Gebal, und ich gestehe, daß ich sie nie gemacht
habe; aber nun, da sie gemacht ist, däucht mir, sie hat Recht.
Die Poeten und Romanschreiber, die uns solche Dinge weißmachen
wollen, verdienten etliche Duzend Streiche auf die
Fußsohlen dafür; denn ich wette, sie glauben selbst kein Wort
davon.Der junge Tifan verlor bei der Lebensart, worin ihn sein
Pflegevater erzog, die feine Lilienfarbe und das schwächliche
Ansehen, welches, wenn er am Hofe zu Scheschian erzogen
worden wäre, ihn vermuthlich von gemeinen Erdensöhnen
unterschieden hätte. Aber er gewann dafür einen starken und
dauerhaften Körper, eine männliche Sonnenfarbe, frisches
Blut, und Lippen, in welche er nicht nöthig hatte zu beißen,
um sie röther als reife Kirschen zu machen.Indessen war der weise Dschengis weit davon entfernt, die
angeborne Bestimmung seines Pflegesohns aus den Augen zu
verlieren. Tifan hatte ihm zu viel gekostet, als daß er sich
hätte begnügen sollen, ihn bloß zu einem guten Landmanne
zu bilden; denn alles was der bethörte Jsfandiar that, um
die Nation so schnell als möglich zu Grunde zu richten, machte
es mehr als wahrscheinlich, daß Tifan, vielleicht eher als er
dazu tüchtig wäre, sich aufgefordert finden könnte, sein Recht
an die Krone geltend zu machen. Dschengis setzte sich also
nichts Geringeres vor — und der bloße Vorsatz klingt schon
widersinnig, so sehr hat er das allgemeine Vorurtheil wider
sich — als, den jungen Tifan (ohne ihm, bis es Zeit wäre,
das geringste von seinem Vorhaben merken zu lassen) mitten
unter lauter Hirten und Ackerleuten zu einem guten Fürsten
zu bilden. Ueberzeugt, daß Güte des Herzens ohne Weisheit
eben so wenig Tugend, als Wissenschaft ohne Tugend Weisheit
ist, bemühte er sich, zu eben der Zeit, da er sein Gefühl für
das Schöne und Gute und jede sympathetische und menschenfreundliche
Neigung zu nähren und in Fertigkeit zu verwandeln
suchte, seinen Verstand von den eingeschränkten Begriffen,
die sich von den Gegenständen, die ihn umgaben, in seiner
Seele abdruckten, stufenweise zu den erhabenen Ideen der bürgerlichen
Gesellschaft, des menschlichen Geschlechts, der Natur,
des Ganzen, und seines geheimnißvollen aber anbetenswürdigen
Urhebers zu erheben. Alle sittliche Vollkommenheit eines Menschen,
zu welchem besondern Beruf er immer geboren seyn
mag, hängt davon ab, daß diese Ideen in seinem Verstande,
und die Gesinnungen, welche sich aus ihnen bilden, in seinem
Herzen die Herrschaft führen. Aber für keinen Menschen ist
dieß unentbehrlicher als für denjenigen, der dazu berufen ist,
sittliche Ordnung in irgend einem besondern Theile der allgemeinen
menschlichen Gesellschaft zu unterhalten. Wehe seinen
Untergebenen und ihm selbst, wenn seine Seele von dem Bilde
einer allgemeinen Harmonie und Glückseligkeit nicht in Entzücken
gesetzt wird! wenn ihm die Rechte der Menschheit
nicht heiliger und unverletzlicher sind als seine eigenen! wenn
die Gesetze der Natur, mit tiefen unauslöschlichen Zügen in
seine Seele gegraben, ihn nicht in allen seinen Handlungen
leiten! Mit Einem Worte, wehe dem Volke, dessen Beherrscher
nicht lieber der beste unter den Menschen als der mächtigste
unter den Königen seyn möchte! —Diese Begriffe sind
keine Grillen einsiedlerischer Weltbeschauer. Unglücklich genug
für das menschliche Geschlecht, wenn sie von den Großen und
Mächtigen dafür gehalten werden! Aber die Natur der Dinge
hängt nicht, wie das Glück oder Unglück der Menschheit, von
den Begriffen der Großen ab. Sie können nicht verhindern,
daß die Strafen der Natur nicht unfehlbar auf die Verachtung
eines jeden Gesetzes der Natur folgen; und wenn die bisherige
Gestalt des Erdbodens noch Jahrtausende dauern sollte,
so wird die Geschichte aller künftigen Alter sich mit der Geschichte
aller vergangenen vereinigen, die Könige zu belehren:
daß jeder Zeitpunkt, worin jene großen Grundbegriffe mit
Dunkel bedeckt gewesen, jene wohlthätigen Grundgesetze nicht
für das was sie sind, für das unverletzliche Gesetz des Königs
der Könige, anerkannt worden sind, ein Zeitpunkt des öffentlichen
Elends, der sittlichen Verderbniß, der Unterdrückung
und der allgemeinen Verwirrung, eine unglückliche Zeit für
die Völker und eine gefährliche für die Könige gewesen ist.Danischmend war, wie wir sehen, in einer vortrefflichen
Stimmung, den Königen Moral zu predigen; aber zum Unglück
ermangelten seine Predigten niemals, den Sultan seinen
Herrn einzuschläfern. Der gute Doctor wollte eben einen
neuen Anlauf nehmen, als er gewahr wurde, daß seine Zuhörer,
jeder in einer eigenen Stellung, in tiefem Schlummer
lagen. Daß doch meine Moral immer und allezeit eine so
narkotische Kraft hat! sprach er zu sich selbst: ich begreife
nichts davon. Einer von den Zauberern, meinen Feinden,
muß die Hand im Spiele haben; es ist nicht anders möglich.—————
6.Die Begriffe (so fuhr Danischmend in der Erzählung von
Tifans Erziehung fort), welche dieser junge Prinz von dem
weisen Dschengis erhielt, konnten nicht anders als auf seinen
Verstand und auf sein Herz mit ihrer vollen Kraft wirken,
und jenem alles das Licht, so wie diesem alle die Rechtschaffenheit
mittheilen, welche sie, vermöge der Natur der Sache,
einer unverdorbenen Seele mittheilen müssen. Die Grundsätze —I. Alle Menschen sind Brüder, und haben von Natur gleiche
Bedürfnisse, gleiche Rechte und gleiche Pflichten; II. Die wesentlichen Rechte der Menschheit können weder
durch Zufall, noch Gewalt, noch Vertrag, noch Verzicht,
noch Verjährung, sie können nur mit der menschlichen
Natur verloren werden; und eben so gewiß läßt sich
keine nothwendige noch zufällige Ursache denken, welche
einem Menschen, unter was für Umständen er sich auch
befinde, von seinen wesentlichen Pflichten loszählen
könnte; III. Ein jeder ist dem andern schuldig, was er in gleichen
Umständen von ihm erwarten würde; IV. Kein Mensch hat ein Recht, den andern zu seinem
Sklaven zu machen; V. Gewalt und Stärke gibt kein Recht, die Schwachen zu
unterwerfen, sondern legt ihren Besitzern bloß die natürliche
Pflicht auf, sie zu bespritzen; VI. Ein jeder Mensch hat, um einen gerechten Anspruch an
Wohlwollen, Mitleiden und Hülfe von Seiten eines
jeden Menschen zu haben, keinen andern Titel vonnöthen,
als daß er ein Mensch ist; VII. Der Mensch, welcher von andern verlangen wollte,
daß sie ihn köstlich nähren und kleiden, — mit einer
prächtigen Wohnung und allen ersinnlichen Bequemlichkeiten
versehen, —ihm, auf Unkosten ihrer Ruhe, Bequemlichkeit
und Nothdurft, alles nur mögliche Vergnügen
gewähren, — unaufhörlich arbeiten um ihn aller
Bemühung zu überheben, — sich bloß mit dem Unentbehrlichen
behelfen, damit er seine üppigsten Begierden
bis zur Ausschweifung befriedigen könne, —kurz, daß sie
nur für ihn leben, und, um ihm alle diese Vortheile zu
erhalten, jeden Augenblick bereit seyn sollten, sich allen
Arten des Ungemachs und Elends, dem Hunger und dem
Durst, dem Frost und der Hitze, der Verstümmelung
ihrer Gliedmaßen und den schrecklichsten Gestalten des
Todes für ihn auszusetzen — der einzelne Mensch, der
an zwanzig Millionen Menschen eine solche Forderung
machen wollte, ohne sich schuldig zu halten, ihnen sehr
große und mit solchen Diensten in gehörigem Ebenmaße
stehende Gegendienste dafür zu leisten, — wäre ein Wahnsinniger,
und müßte seine Forderungen an Leute machen,
die es noch mehr als er selbst wären, wenn er Gehör
finden sollte. Diese und tausend andre Sätze, welche sich aus ihnen ableiten
lassen, fand der junge Tifan gleichsam mit der eigenen
Hand der Natur in seine Seele geschrieben. Es waren eben
so viele Gefühle, welche ihn der weise Dschengis in Grundsätze
verwandeln lehrte, deren überzeugender Kraft seine Vernunft
eben so wenig widerstehen konnte, als es in seiner
Willkür stand, den Tag für Nacht, oder warm für kalt zu
halten. Er fand keine Vorurtheile in seinem Gemüthe, welche
der vollen Wirkung dieser Wahrheiten entgegen gearbeitet
hätten. Alles was ihn umgab, weit entfernt sie zu bestreiten
und auszulöschen, erläuterte und bestätigte sie: und da sich
Dschengis sorgfältig hütete, ihm die unselige und hassenswürdige
Nachricht zu geben, "daß der größte Theil der
Menschen, durch eine beinahe unbegreifliche Verderbniß des
Verstandes und Willens, von jeher so gehandelt und sich so
habe behandeln lassen, als ob das Gegentheil aller dieser
Wahrheiten wahr wäre," so gewöhnte sich seine Seele dergestalt
an diese Art zu denken, daß ihm diejenige, welche
damals am Hofe zu Scheschian herrschte, eben so widersinnig
und ungeheuer vorgekommen wäre, als wenn ihm jemand
hätte zumuthen wollen, den Schnee für schwarz anzusehen,
oder sich von der Mittagssonne in einem glühenden
Ofen abzukühlen. Er war schon achtzehn Jahre alt, eh' er noch einen Begriff
davon hatte, daß man anders denken könne, als die
Natur und Dschengis ihn denken lehrte; eh' er wußte, was
Mangel und Unterdrückung sey, oder sich die mindeste Vorstellung
von einer erkünstelten und auf anderer Elend gebauten
Glückseligkeit machen konnte. Dschengis hatte sein Gedächtniß
mit einer Menge von Erzählungen und mit Liedern und
Sprüchen aus den besten Dichtern in Scheschian angefüllt;
aber diese Erzählungen schilderten lauter unschuldige Sitten;
diese Lieder waren lauter Ergießungen eines unverdorbenen
Herzens, diese Sprüche lauter Gesetze der Natur und
der unverfälschten Vernunft; alles war des goldnen Alters
würdig.Der junge Prinz hatte nun die Jahre erreicht, wo die
Natur durch die Entwicklung des süßesten und mächtigsten
aller unsrer Triebe gleichsam die letzte Hand an ihr Werk, an
den Menschen legt, und, indem sie ihn durch das nämliche
Mittel zum Urheber seiner eigenen Glückseligkeit und der Erhaltung
seiner Gattung macht, ihn auf die überzeugendste
Weise belehrt, sie habe sein besonderes Glück mit dem allgemeinen
Besten dergestalt verwebt, daß es unmöglich sey, eines
von dem andern abzulösen ohne beide zu zerstören. Die Liebe,
— dieser bewundernswürdige Instinct, den die Natur zur
stärksten Triebfeder der besondern und allgemeinen Glückseligkeit
der Menschen bestimmt hat, — gesellt sich itzt auf einmal
gleich einem himmlischen Genius zu ihm, um ihn auf den
Weg seiner irdischen Bestimmung zu leiten, und diesen Weg
nit Rosen zu bestreuen. Durch sie erhält er die ehrwürdigen
Namen eines Ehegemahls und Vaters. Sie concentrit alle
seine sympathetischen Neigungen in der Liebe zu einem Weibe,
welches die Hälfte seines Selbst wird, und zu Kindern, in
denen er dieß Selbst verjüngt und vervielfältiget sieht. Sie
wird auf diese Weise die Stifterin der Familiengesellschaften,
welche die Elemente der bürgerlichen sind, und von deren
Beschaffenheit das Wohl eines Staates dergestalt abhängt,
daß die Verblendung der Gesetzgeber, welche für dieses Institut
der Natur weder so viel Ehrfurcht, als sie ihm schuldig waren,
getragen, noch alle die Vortheile, die davon zu ziehen sind,
daraus gezogen haben, unbegreiflich ist.Der tugendhafte und weise Dschengis kannte und ehrte
die Natur. Mit Vergnügen sah er dem stufenweisen Fortgange
der Neigung zu, welche die Schönheit und Unschuld
einer jungen Schäferin, deren Eltern seine Nachbarn waren,
dem jungen Prinzen eingeflößt hatte. Er besorgte nicht, daß
sie seinem Pflegesohne im Wachsthum in jeder Tugend und
Vollkommenheit seines künftigen Berufs hinderlich seyn würde;
und der Gedanke, ihr deßwegen Einhalt zu thun, weil Tifan
ein Prinz und Tili die Tochter eines gemeinen Landmannes
war, konnte ihm um so weniger einfallen, weil die Könige
von Scheschian sich allezeit mit Töchtern ihrer Unterthanen
vermählt hatten. Tili war wirklich so liebenswürdig als es
eine Tochter der Natur seyn kann. Eine besondere Sympathie,
welche von ihrer Kindheit an sich zwischen ihnen geäußert
hatte, schien der Beweis, daß sie bestimmt seyen eines durch
das andere glücklich zu seyn. Dschengis unterließ nicht sich
diese Stimmung seines Pflegesohns zu nutze zu machen, um
die Früchte der eben so einfachen als erhabenen Philosophie,
womit er seine Seele bisher genähret hatte, zur Reife zu
bringen. Er entwickelte in freundschaftlichen Unterredungen
die neuen Empfindungen des jungen Tifans; er zeigte ihm
in denselben die Stimme der Natur, die ihn zur Erfüllung
eines wichtigen Theils seiner Bestimmung rufe, und unterrichtete
ihn in den ehrwürdigen und süßen Pflichten derselben.
Tifan wurde Gemahl, ohne weniger Liebhaber zu seyn; er
wurde Vater, und in dem Augenblicke, da er die ersten
Früchte einer keuschen Liebe an seine Brust drückte, fühlte er,
daß er, selbst in den Armen der schönen Tili, die süßeste
Regung der Natur noch nicht gekannt hatte.Man hat längst bemerkt: der begeisterte Stand, in welchen
eine schöne Seele durch die erste Liebe gesetzt wird, erhöhe sie
in jeder Betrachtung weit über das, was ein Mensch gewöhnlicherweise
ist; und es scheint, daß einige Weise des
Alterthums eben dadurch bewogen wurden, in der Liebe eine
Art von Genius zu sehen, durch welchen gleichsam neue
Sinne für das Schöne und Gute in der Seele eröffnet, und
eine Art von unmittelbarer Gemeinschaft zwischen ihr, und
allem was göttlich ist, hergestellt werde. Dieß wenigstens
scheint gewiß zu seyn, daß wir in dieser Art von Bezauberung
eine größere Empfindlichkeit für alles Schöne, eine
größere Leichtigkeit jede Tugend auszuüben, einen höhern
Grad von allgemeiner Sympathie, einen mehr als gewöhnlichen
Hang zu erhabnen, weit gränzenden und wunderbaren Ideen
in uns erfahren; und daher scheint auch kein bequemerer
Zeitpunkt zu seyn, um begeisternde Vorstellungen von dem
höchsten Wesen in einer jungen Seele hervorzubringen, als
eben dieser.Der weise Dschengis mußte diese Betrachtung gemacht
haben; denn er wählte mit Vorsatz diese Zeit, um seinem
Pflegesohn die geläuterten und erhabnen Empfindungen der
Religion einzuflößen, welche er für nöthig hielt, um der Seele
einen unbeweglichen Ruhepunkt, den Leidenschaften ein mächtiges
Gegengewicht, und der Tugend die kräftigste Aufmunterung
zu verschaffen. Die richtigsten Begriffe, welche wir aus der
Quelle der Natur schöpfen können, sind ohne die Idee eines
unendlich vollkommnen Urhebers und Vorstehers der Natur
äußerst mangelhaft. Welch ein Unterschied zwischen dem engen
Kreis, in welchen die thierische Sinnlichkeit eingeschlossen ist,
und dem gränzenlosen All, in welches der erstaunte Geist
hinaus sieht, sobald er einen Schöpfer der Welt erkennt, dessen
wohlthätige Macht eben so unbegränzt ist als sein Verstand!
Dschengis hegte von dem höchsten Wesen eben diese reinen
Begriffe, welche die Weisen der ältesten Zeit einer langen Betrachtung
der Natur und vielleicht einem unmittelbaren Umgange
mit höhern Wesen zu danken hatten; Begriffe, die sich
unter den Philosophen des östlichen Theils der Erde eine lange
Zeit erhalten haben, und selbst durch alle Ungereimtheiten des
Aberglaubens und des Götzendienstes nicht gänzlich ausgelöscht
werden konnten.Das höchste Wesen, sagte Dschengis zu dem jungen Tifan,
ist zwar den äußern körperlichen Sinnen, aber nicht dem Geist
unsichtbar, der, sobald er reif genug worden ist, Ordnung und
Zusammenstimmung, allgemeine Gesetze, wohlthätige Endzwecke
und weislich gewählte Mittel in dem großen Schauplatze der
Natur, der uns umgibt, wahrzunehmen, an dem Daseyn einer
höchsten Weisheit und Güte, welche gleichsam die allgemeine
Seele des Ganzen ist, eben so wenig als an dem Daseyn seiner
eignen Seele, die ihm nicht sichtbarer ist als jene, zweifeln
kann. Die Welt ist in allen ihren uns bekannten Theilen zu
unvollkommen, um selbst das höchste Wesen zu seyn, und, im
Ganzen betrachtet, zu groß und vortrefflich, um nicht das Werk
eines höchstens Wesens zu seyn. Ist sie dieses, so ist unser
Daseyn, so sind die Fähigkeiten zu empfinden, zu denken, zu
handeln, und durch den rechten Gebrauch derselben in einem
hohen Grade glücklich zu seyn; so sind die Beziehungen der
ganzen Natur auf die Erhaltung, das Vergnügen und den
Nutzen des Menschen, eben so viele unschätzbare Wohlthaten,
welche wir dem Urheber der Welt zu danken haben; und so
weiset uns das Verhältniß eines allgemeinen Wohlthäters den
ersten Gesichtspunkt an, aus welchem wir das höchste Wesen
zu betrachten haben.Die Erwägung der wunderbaren Ordnung, in welcher
dieses aus einer so unendlichen Menge verschiedener Theile zusammengesetzte
allgemeine Ganze erhalten wird, leitet uns auf
den Begriff eines besondern Endzwecks für jede besondere Gattung,
und eines allgemeinen Zwecks für das ganze System der
Schöpfung. Diese Verbindung zu gemeinschaftlichen Zwecken
führet uns auf die mannichfaltigen Verhältnisse der Wesen gegen
einander, und aus beiden entwickelt sich der Begriff besonderer
und allgemeiner Gesetze der Natur. Der Mensch, der auf
dem besondern Schauplatz, auf den er sich gesetzt befindet, keine
vollkommnere Gattung erblickt als seine eigene, sieht sich doch
bei allen seinen Fähigkeiten und Vorzügen in einer unvermeidlichen
Abhänglichkeit von allem was ihn umgibt. Die ganze
Natur muß ihre Kräfte vereinigen, um ihn von Augenblick zu
Augenblick im Daseyn zu erhalten; das elendste Insect, das
kleinste Sandkorn ist vermögend ihn im Genuß seiner Glückseligkeit
zu stören, ihn zu quälen, ja seinem Leben ein Ende
zu machen. Es ist wahr, die ganze Natur ist ihm dienstbar:
aber er muß sie gleichsam nöthigen, es zu seyn; und ohne
seine Hände, ohne seinen Witz, ohne seinen unverdrossenen
Fleiß, würde dieser Planet, der ihm zur Anbauung angewiesen
ist, bald zu einer unwirthbaren Wildniß werden. Aber wie
sollte der einzelne Mensch einem solchen Geschäfte gewachsen
seyn? Es ist augenscheinlich, daß die ganze Gattung sich vereinigen
muß, um ihre natürliche Herrschaft über den Erdboden
zu behaupten, und daß ein jeder seine besondere Sicherheit,
sein besonderes Wohlseyn, nur in dem vollkommensten
und glücklichsten Zustande der ganzen Gattung findet. Daher
diese allgemeinen Gesetze der menschlichen Natur, welche durch
die Absonderung der Menschen in besondere Gesellschaften zwar
verdunkelt und auf mannichfaltige Weise verfälscht worden sind,
aber, so lange der Mensch kein Mittel findet sich eine andere
Natur zu geben, nothwendig allgemein verbindliche Gesetze
für die ganze Gattung bleiben. Ein sehr fühlbarer Beweis,
daß sie es sind, liegt darin, weil die Menschen für jede Uebertretung
dieser Gesetze durch die nothwendigen Folgen dieser
Uebertretung gestraft, weil sie in eben dem Grade, wie sie den
Pflichten der Natur untreu sind, unglücklich und elend werden.
Diese Betrachtung zeigt das höchste Wesen aus einem neuen
Gesichtspunkte. Der Urheber der Natur ist auch der Gesetzgeber
der Natur; und eben dadurch, weil die Beobachtung oder
Uebertretung seiner Verordnungen die unumgängliche Bedingung
der Glückseligkeit oder des Elendes unsrer Gattung
ist, "erkennen wir in seiner Gesetzgebung zugleich den Urheber
der Natur, den Wohlthäter des Menschen und den vollkommensten
Verstand."Aber auch hier steht die Vernunft noch nicht still. Der
Mensch erfährt, mitten im Genuß derjenigen Glückseligkeit,
welche ihm der weiseste Genuß der Dinge außer ihm geben
kann, daß sie unfähig sind ihm die vollkommne Glückseligkeit
zu geben, die er wünschet; und seine so oft betrogene Hoffnung
erhebt ihre Augen endlich nach einem unvergänglichen Gute,
nach demjenigen, welches das Urbild und die Quelle alles
Schönen und Guten ist. In ihm glaubt sie das letzte Ziel
aller ihrer Wünsche, und in der unmittelbaren Vereinigung
mit ihm den höchsten Endzweck des Daseyns aller empfindenden
Wesen zu sehen. Die Seele fühlt bei diesem großen
Gedanken den Kreis ihrer Thätigkeit sich erweitern, und jenseits
der Gränzen dieses Lebens (wovon immer nur der gegenwärtige
Augenblick wirklich, der zukünftige ungewiß, und alles
Vergangene Traum ist) entdeckt sich ihrem verlangenden Auge
eine bessere Zukunft. Und so zeigt sich ihr das Wesen der Wesen
aus einem dritten Gesichtspunkte, als das höchste Gut und
letzte Ziel aller erschaffenen Geister.Jedes dieser Verhältnisse der Gottheit gegen die Menschen
beweiset bis zum Augenschein, daß die Idee des unendlichen
Geistes in dem innern System unsrer Seele eben das ist und
seyn soll, was die Sonne in dem großen Kreise der Schöpfung,
der uns umgibt; — daß sie es seyn soll, die der Seele Licht
und Wärme gibt, um jede Tugend, jede Vollkommenheit hervorzutreiben
und zur Reife zu bringen. Jener süße Zug der
Sympathie, der uns geneigt macht, uns mit andern Geschöpfen
zu erfreuen oder zu betrüben, wird nun etwas ganz
anderes als an bloßer animalischer Trieb. Allgemeine Güte,
zärtliche Theilnehmung an den Schicksalen der Wesen unsrer
Gattung, sorgfältige Vermeidung alles Zusammenstoßes, wodurch
wir ihre Ruhe, ihren Wohlstand verletzen würden, lebhafte
Bestrebung ihr Bestes zu befördern und mit dem unsrigen
zu vereinigen; — alles dieß, in dem Lichte betrachtet, welches
die Idee der Gottheit über uns verbreitet, sind Gesetze des
allmächtigen und wohlthätigen Beherrschers aller Welten;
Gesetze, von deren Verbindlichkeit uns nichts loszählen kann;
Gesetze, von deren Befolgung die Erfüllung des ganzen Endzwecks
unsers Daseyns abhängt.So waren die Begriffe von Religion beschaffen, welche der
weise Dschengis in der Seele des jungen Tifan entwickelte,
und solchen Begriffen entsprach der Unterricht, den er ihm von
dem Dienste des höchsten Wesens gab. Dankbarer Genuß
seiner Wohlthaten, und aufrichtiger Gehorsam gegen seine
Gesetze, sagte Dschengis, sind der einzige wahre Dienst, den
wir einem Wesen leisten können, das unser bloß insofern bedarf,
insofern es uns zu Werkzeugen seiner großen wohlthätigen
Absichten erschaffen hat.Bewundern Sie nicht auch die mannichfaltigen Gaben
unsres Freundes Danischmend? sagte Schach-Gebal zu der
schönen Nurmahal. Ich sehe, daß er im Nothfall einen so
guten Iman abgeben könnte, als vielleicht jemals einer am
Hofe eines Sultans gewesen ist. Aber für heute lass' es immer
genug seyn, Danischmend; und das nächstemal, wenn von deinem
Tifan wieder die Rede seyn wird, erinnere dich, daß du mir
einen Gefallen erweisen würdest, sobald als möglich auf die
Hauptsache zu kommen.7.So viel ich mich von allem, was du uns mit deiner gewöhnlichen
Weitläuftigkeit von der Erziehung des jungen
Tifans erzählt hast, erinnern kann (sagte Schach-Gebal, als
Danischmend sich zu gewöhnlicher Zeit anschickte seine Erzählung
fortzusetzen), so mag unter den Händen des ehrlichen
Dschengis eine ganz gute Art von Jungen aus ihm geworden
seyn; aber noch sehe ich, mit deiner Erlaubniß, nicht, wie er
dadurch der große König werden konnte, den du uns erwarten
gemacht hast.Sire, versetzte Danischmend, alles warum ich Ihre Hoheit
bitte, ist noch ein wenig Geduld zu haben, und ich bin überzeugt,
es wird Ihnen in wenig Tagen kein Zweifel tiber diesen
Punkt übrig bleiben.Die Größe und Erhabenheit, wozu Dschengis die Begriffe
seines Lehrlings emporzutreiben sich bemüht hatte, machten es
nothwendig, daß er ihm zu gleicher Zeit eine vollständige Kenntniß
von dem gesellschaftlichen Leben, von dem was man einen
Staat nennt, und von der Einrichtung, Polizei und Verwaltung
desselben geben mußte. Er that es: und nachdem er dem
jungen Tifan gezeigt hatte, wie dieser Erdball, vermöge der
richtigen Begriffe von der Natur und Bestimmung des Menschen,
aussehen und regiert seyn sollte, so machte er ihm nach und
nach begreiflich, wie es zugehen könnte, daß alles ganz anders
wäre als es seyn sollte. Von dem anschauenden Begriffe der
kleinen Colonie, in welcher er aufgewachsen war, brachte er
ihn stufenweise bis zu dem verwickelten Begriff einer großen
Monarchie, von dem ländlichen Hausvater bis zu dem großen
Hausvater von Scheschian. Der Prinz folgte ihm in allen
diesen Erörterungen ohne sonderliche Mühe. Aber desto größere
Schwierigkeit hatte es, ihm begreiflich zu machen, wie aus dem
allgemeinen Vater einer Nation ein willkürlich gebietende
Herr, und aus diesem Herrn, mit einer kleinen Veränderung,
ein Tyrann habe werden können.Der junge Prinz erschrack nicht wenig, wie er vernahm,
daß die schönen Ideen von unschuldigen Menschen und goldnen
Zeiten, die mit ihm aufgewachsen waren, nur goldne Träume
seyen, aus denen ihn eine kleine Reise durch die Welt auf eine
sehr unangenehme Art erwecken würde.Sein Verlangen eine Reise, welche ihn so viel Neues lehren
würde, zu machen, nahm mit der heftigsten Begierde, allen
Drangsalen seiner Mitgeschöpfe abzuhelfen, täglich zu; und
Dschengis trug um so weniger Bedenken, seinem Verlangen
nachzugeben, je nothwendiger es war, ihm eine ausführliche
und anschauende Kenntniß von allen den Mißbräuchen, Unordnungen
und daher erwachsenden Uebeln zu verschaffen, welchen
(wenigstens in einem beträchtlichen Theile des Erdbodens) ein
Ende zu machen seine große Bestimmung war. Ueberdieß
hatten die gesunden Grundsätze seiner Erziehung zu tiefe
Wurzeln in seiner Seele gefaßt, als daß von der Ansteckung
der Welt etwas für ihn hätte zu besorgen seyn sollen. Im
Gegentheil erwartete er, daß der Anblick alles des mannichfaltigen
Elends, welches sich die Menschen durch Entfernung von
den Gesetzen der Natur zugezogen haben, den jungen Tifan
von der unumgänglichen Nothwendigkeit ihrer Befolgung nur
desto lebhafter überzeugen werde.So viel Mühe Tifan hatte, sich von seiner Geliebten
und von seinem kleinen Sohne loszureißen, so überwältigte
doch die Ungeduld seiner Neugier, die Welt besser kennen zu
lernen, die zärtlichen Regungen der Natur. Er entfernte sich
also zum erstenmal von den friedsamen Hütten, worin er, der
Welt unbekannt, die glückliche Einfalt seiner Jugend verlebt
hatte, und durchwanderte in der Gesellschaft des getreuen
Dschengis drei Jahre lang einen großen Theil von Asien. Er
lernte die Natur unter tausend neuen Gestalten kennen, und
erstaunte über die mannichfaltigen Wunder, wodurch die Kunst
sie nachzuahmen, ja selbst zu übertreffen und zu verbessern
sucht. Aber er erstaunte noch mehr, wie er sah, daß der
elende Zustand der Völker durchgehends desto größer war, je
mehr Natur und Kunst sich zu vereinigen schienen sie glücklich
zu machen. Die schönsten und fruchtbarsten Provinzen waren
immer diejenigen, in welchen das Volk auf die unbarmherzigste
Weise unterdrückt wurde. Tifan sah mit Entsetzen Könige,
welche das Vermögen ihrer Unterthanen wie einen dem
Feind abgesagten Raub in den ungeheuersten Ausschweifungen
der Ueppigkeit verpraßten; Könige, welche das kostbare Blut
der Menschen in muthwilligen Kriegen verschwendeten, und
sechs blühende Provinzen zu Einöden verwüsteten, um die
siebente zu erobern, deren Behauptung es ihnen unmöglich
machte, ihren Völkern die Vortheile des Friedens jemals auf
zehn Jahre zu versichern. Er sah Könige, welche, aus tiefer
Untüchtigkeit zu allen ihren Pflichten, die Verwaltung des
Staats Kebsweibern und Günstlingen überlassen mußten, und,
während daß sie ihr unrühmliches Leben in Müßiggang und
sinnlichen Wollüsten verträumten, sich nicht schämten, von
hungrigen oder raubgierigen Schmeichlern mit den besten unter
den Fürsten, ja mit der Gottheit selbst sich vergleichen zu
lassen. Er sah kleine Rajas, die ihre Unterthanen und sich
selbst zu Bettlern machten, um sich eine Zeit lang, unter dem
allgemeinen Naserümpfen der Welt, das lächerliche Ansehen
zu geben, mit den größten Monarchen Asiens in die Wette
geschimmert zu haben. Er sah einen sehr guten, sehr liebenswürdigen
Fürsten das Unglück seiner Staaten bloß dadurch
vollkommen machen, weil ihm sein böser Genius ein allgemeines
Mißtrauen gegen alles was ihn umgab eingeflößt
hatte. Kurz, er lernte die Sultanen, Visire, Omras, Mandarinen,
Mollas, Derwischen und Bonzen seiner Zeit kennen,
und verwunderte sich nun nicht mehr, warum er den größten
Theil von Asien in einem Verfall sah, welcher einen baldigen
allgemeinen Umsturz ankündigte. Bei allem dem machte er
tausend nützliche Beobachtungen, und hier und da, oft unter
einem unscheinbaren Dache, die Bekanntschaft eines weisen
und rechtschaffenen Mannes, oder eines unbekannten und unbenützten
Talents. Dschengis ließ keine Gelegenheit vorbei,
wo er ihn die Anwendung seiner Grundsätze zu machen lehren
konnte. Er führte ihn allenthalben von den äußerlichen Zufällen
auf die Quelle des Uebels, und zeigte ihm, wie vergebens
man jenen abzuhelfen sucht, so lange diese nicht verstopft
ist, oder —welches der Fall vieler Staaten ist — nicht
verstopft werden kann. Er zeigte ihm durch Beispiele, welche
desto lehrreicher seyn mußten weil sie unmittelbar unter ihren
Augen lagen, daß nichts einfacher sey als die Kunst weislich
zu regieren, und daß es weniger Mühe koste, ein Volk geradezu
glücklich zu machen, als es, durch tausend krumme Wege,
mit einigem Schein von Recht und Billigkeit zu Grunde zu
richten. Er zeigte ihm, daß überall, wo das Volk unterdrückt
und der Staat übel verwaltet wurde, der Fürst selbst, von
rastloser Gemüthsunruhe herumgetrieben, von tausend Besorgnissen
geängstiget, von allen Seiten mit Schwierigkeiten umringt,
zu einer schimpflichen Abhänglichkeit von der eigennützigen
Treue und den schelmischen Ränken der ntchtswürdigsten
seiner Sklaven verurtheilt, belastet mit dem Hasse
seiner Unterthanen und mit der Verachtung der Welt, —
unter allen Unglücklichen, die er machte, selbst der Unglücklichste
war. Kurz, diese Reise wurde für den jungen Tifan
eine Schule, worin er sich, ohne es selbst zu wissen, zum
künftigen Regenten ausbildete; und (was hierbei nicht das
unbeträchtltchste ist) eine Reise, welche für ihn so lehrreich und
für Scheschian so nützlich war, kostete in drei ganzen Jahren
kaum so viel, als alle die Kebsweiber, Mohren, Gaukler und
Elephanten, welche den König von Siam von einem seiner
Landhäuser zum andern begleiten, in acht Tagen aufzuzehren
pflegen.Hier unterbricht sich der Sinesische Autor, dem wir folgen,
selbst, um uns zu sagen, daß die Reisen des Prinzen
Tifan eine Unterredung zwischen dem Sultan Gebal, der schönen
Nurmahal und dem Philosophen Danischmend über die
Reisen junger Fürsten veranlaßt habe, welche er, da die
Sinesischen Prinzen, einem uralten Herkommen zufolge, niemals
außer Landes zu reisen pflegten, zu übersetzen für überflüssig
erachtet habe. Alles was er uns davon meldet, ist — daß,
nachdem Schach-Gebal sich, aus vielen Gründen, sehr ernstlich
gegen dergleichen fürstliche Wanderungen erklärt, und
bei dieser Gelegenheit seiner Galle durch ziemlich bittre
Spöttereien über gewisse Könige seiner Zeit Luft gemacht, welche
ihre Blödigkeit und ihre schlechte Erziehung mit ungeheuern
Kosten in den vornehmsten Reichen Asiens Schau getragen —
Danischmend, als ob er plötzlich aus einem Traum erwache, an
den Sultan seinen Herrn sich gewendet, und gesagt habe: aber
was würden Ihre Hoheit von einem großen Fürsten sagen,
der den Muth hätte, den Ergötzungen seines Hofes, den Reizungen
der Jugend und der Allgewalt, und dem wollüstigen
Müßiggange, worin junge Fürsten die schönste Zeit des Lebens
zu verlieren pflegen, sich zu entreißen, und, in Gestalt eines
Privatmannes, weitläuftige und beschwerdenvolle Reisen zu
unternehmen — um weiser und besser zu werden, um die
Menschen, die ein Fürst gewöhnlicher Weise nie anders als in
Masken sieht, in ihrer natürlichen Gestalt kennen zu lernen,
— und um selbst des Vergnügens, ein Mensch zu seyn, und
seiner persönlichen Eigenschaften wegen geliebt zu werden, ungestörter
und vollkommner genießen zu können? Was würden
Sie sagen, wenn dieser Fürst, in Begleitung weniger Freunde,
ohne Pracht, ohne Aufwand, ohne den zwanzigsten Theil des
Geschleppes, welches die Großen gewöhnlich nach sich zu ziehen
pflegen, in allen seinen Staaten herumreisete, überall selbst
sich erkundigte, wie die Gesetze beobachtet, wie das Recht gehandhabet,
wie die Staatswirthschaft bestellt würde; die Beschwerden
eines jeden, der sich an ihn wendete, selbst anhörte,
und durch seine Leutseligkeit jedermann zu gleichem Vertrauen
einlüde; bei den prächtigen Schlössern seiner Omras, wo jedes
Vergnügen ihn erwartete, vorbei eilte, um rauhe Gebirge zu
besteigen, oder durch unwegsame schneebedeckte Wälder in die
armseligen Hütten der Dürftigkeit hinein zu kriechen, und beim
Anblick des elenden Brodes, dessen nur genug zu haben ein
Theil seiner nützlichsten Unterthanen sich glücklich achten würde,
Thränen der Menschlichkeit zu weinen? Und was würden Ihre
Hoheit sagen, wenn dieser liebenswürdigste unter den Fürsten,
gleich einer zu den Menschen herabgestiegenen Gottheit, jeden
seiner Tritte mit Wohlthaten bezeichnete, und bei jedem seiner
Blicke irgend ein Mißbrauch abgestellt, irgend ein Gebrechen
verbessert, eine Uebelthat bestraft, ein Verdienst aufgemuntert
würde? —Danischmend, Danischmend! (rief der Sultan) was ich
sagen würde? —Ich würde —Hier hielt Seine Hoheit eine
ziemliche Weile ein, und der schönen Nurmahal pochte das
Herz vor Furcht für den ehrlichen, wohlmeinenden, aber, in
der That, gar zu unbedachtsamen Danischmend —Ich würde
sagen, fuhr der Sultan endlich fort, daß du mir den großen
Fürsten auf der Stelle nennen sollst, der dieß alles gethan hat.Sire, antwortete Danischmend ganz demüthig, ich gestehe
freimüthig, daß ich, wofern Ihre Hoheit sich nicht entschließen
es selbst zu seyn, weder unter Ihren Vorgängern noch unter
Ihren Zeitgenossen einen kenne, der dieß alles gethan hätte.
Aber mein Herz sagt mir, daß die Idee eines solchen Fürsten,
die ich in diesem Augenblick, wie durch eine Art von Eingebung,
auf einmal in meiner Seele fand, kein Hirngespinnst
ist. Er wird kommen, und sollt' es auch erst in vielen Jahrhunderten
seyn; ganz gewiß wird er kommen, um zu gleicher
Zeit die Ehre der Vorsehung, der Menschheit und des Fürstenstandes
zu retten, und der Trost eines unglücklichen Zeitalters,
das Vorbild der Könige, und die Liebe und Wonne aller
Menschen zu seyn.Gute Nacht, Danischmend, sagte der Sultan lächelnd:
ich sehe du rappelst. Unser Prophet befiehlt uns, Leute in
deinen Umständen mit Ehrerbietung anzusehen; aber gleichwohl
könnte, däucht mich, eine Prise Niesewurz nicht schaden,
Freund Danischmend!—————
8.Ungeachtet der launischen Art, wie Schach-Gebal seinen
sogenannten Freund Danischmend zu Bette geschickt hatte,
fand er doch so viel Belieben an der Unterhaltung, die ihm
die Scheschianische Geschichte gab, daß er die Zeit, die dazu
ausgesetzt war, dießmal gegen seine Gewohnheit beschleunigte,
weil er neugierig war zu hören, wie Danischmend es anfangen
würde, um aus dem jungen Tifan einen so großen König zu
machen als er versprochen hatte. Danischmend fuhr also in
seiner Erzählung fort, wie folgt.Der junge Tifan hatte auf seiner dreijährigen Reise viel
gelernt; denn er kannte nun die Menschen wie sie sind; und
die Festigkeit, zu welcher, ehe sich Dschengis mit ihm in die
Welt hinauswagte, seine aus der Natur eingesogenen Grundsätze
gelanget waren, sicherte seinen Kopf und sein Herz gegen
alle die schädlichen Eindrücke, welche gewöhnlich die Folgen
des Contrastes zwischen dem was ist, und dem was seyn sollte,
in jungen Gemüthern zu seyn pflegen. Er überzeugte sich
bis zum innigsten Gefühl, daß die Menschen Unrecht hätten,
so zu seyn wie sie sind."Wenn man ihnen, sagte er zu seinem Mentor, den
Vorzug der Vernunft vor den übrigen Thieren nicht absprechen
kann, so muß man doch gestehen, daß sie sich derselben so
schlecht bedienen, daß es beinahe besser für sie wäre, dieses
gefährlichen Vorzuges gar zu ermangeln. Denn welches Thier
ist nicht in seiner Art weniger elend als der Mensch? Sie
sind weise in Kleinigkeiten, und Thoren in Sachen wovon das
Glück ihres Lebens abhängt; sinnreich, wo es darum zu thun
ist sich selbst zu hintergehen, und blöde genug sich von andern
mit offnen Augen betrügen zu lassen. Sie könnten frei seyn,
sind geboren es zu seyn, beweisen sich's selbst daß Freiheit
eine unentbehrliche Bedingung zur Glückseligkeit und Vollkommenheit
vernünftiger Wesen sey; und sind bei allem dem
Sklaven, sind es so sehr, daß sogar unter zwanzig unumschränkten
Sultanen kaum einer sich erwehren kann, der Knecht
seiner Weiber, oder desjenigen der ihm seine Weiber hütet,
oder irgend eines andern noch verächtlichern Geschöpfes zu
seyn."Wohl beobachtet, Tifan! rief der Sultan Gebal, weil
ihm in diesem Augenblick ein paar Sultanen einfielen, die
das Unglück hatten sich in diesem Falle zu befinden, und weil
Seine Hoheit über dem Vergnügen, in eben diesem Augenblicke
über allen solchen Schwachheiten emporzuschwimmen, sich nicht
erinnerte wie oft in seinem Leben dieß auch sein eigener
Fall gewesen war."Die Freiheit (fuhr Tifan fort), womit sich die Menschen
so viel wissen, ist so wenig für sie gemacht, daß sie, sobald sie
Mittel finden, sich ihrer zu bemächtigen, ein so kostbares Gut
zu nichts zu gebrauchen wissen, als sich selbst und andern
Schaden damit zu thun. Die einzigen freien Menschen, die
wir auf unsrer Reise gesehen haben, waren Räuber oder
herumstreichende Bonzen. — Eben so widersinnig gehen sie
mit den Gesetzen um, von welchen sie zu glauben vorgeben,
daß ohne sie keine Ordnung, keine Sittlichkeit, kein besonderer
noch allgemeiner Wohlstand möglich sey. In allen Staaten,
die wir gesehen haben, fanden wir die kleinere Zahl einzig
bemüht, die Gesetze zu durchbrechen, und die größere, unbemerkt
unter ihnen wegzuschlüpfen. Die Religion, hörten wir
sagen, ist das Ehrwürdigste, das Beste, was der Himmel den
Sterblichen geben konnte; aber mir däucht, sie spielen mit
ihrer Religion, wie sie mit ihren Gesetzen spielen. Unter
allen diesen unzählbaren Braminen und Bonzen, wovon wir
die Länder um den Indus und Ganges wimmeln sahen, mögen
wohl einige sehr ehrwürdige Personen seyn; aber die meisten
widerlegen ihre Lehren so augenscheinlich durch ihre Handlungen,
daß man keine andre Wahl hat, als sie entweder für
wissentliche Betrüger, oder für Unsinnige zu halten, die das
Gift selbst verschlucken, vor welchem sie andre warnen."Von welcher Seite ich die Menschen ansehe, finde ich sie
in Widerspruch mit sich selbst; und immer machen sie von dem,
wodurch sie besser und glücklicher werden könnten, einen so ungeschickten
oder unbescheidenen Gebrauch, daß es in ihren Händen
ein Werkzeug ihres Elendes wird. Sie stellen sich als ob sie die
sinnlichen Wollüste verachteten, und überfüllen sich damit so oft
sie nur können. Die Tugend, sagen sie, ist des Menschen
höchstes Gut; und bei jeder Gelegenheit verkaufen sie ihr
höchstes Gut um — verächtlichen Gewinnst, oder um einen
angenehmen Augenblick. Sie haben sich um ihrer Sicherheit
willen in große Gesellschaften vereiniget; und verlieren in
ihnen unvermerkt alles das was sie in Sicherheit bringen
wollen. Sie schmeicheln sich, die Herren der übrigen Geschöpfe
zu seyn; alle Elemente sind uns dienstbar, sagen sie,
die Welt ist unser: und unter jeder Million dieser Herren der
Welt sind wenigstens neunmalhunderttausend, welche ihren
Antheil an diesem prächtigen Titel um den Zustand der Elephanten
des Königs von Siam gern vertauschen würden."Was soll man von einer so seltsamen Gattung von Geschöpfen
denken? Liegt ihre Aehnlichkeit mit den unschuldigen
und gutartigen Menschen, unter welchen ich aufgewachsen bin,
nur in der äußerlichen Gestalt? Oder wie war es möglich von
ihrer ursprünglichen Natur so sehr abzuarten? Was nützen
ihnen alle ihre vermeinten Verbesserungen des natürlichen
Zustandes, ihre Gesetze, ihre Polizei, ihre Künste, wenn sie
nur desto unglücklicher sind, je mehr sie Mittel zum glücklichen
Leben haben?"Der Mensch, antwortete Dschengis, kommt unvollendet,
aber mit einer Anlage zu bewundernswürdigen Vollkommenheiten
aus den Händen der Natur. Die nämliche Bildsamkeit
macht ihn gleich fähig, sich die Form eines Gottes — oder
die Mißgestalt eines Ungeheuers aufdrücken zu lassen. Alles
hängt von den Umständen ab, in welche er beim Eintritt in
die Welt versetzt wurde, und von den Eindrücken, die sein
wächsernes Gehirn in der ersten Jugend empfing. Bleibt er
sich selbst überlassen, so wachsen seine Neigungen in wilder
Ueppigkeit mit ihm auf, und seine edelsten Kräfte bleiben unentwickelt.
Lebt er in Gesellschaft, so nimmt er unvermerkt
die Sprache, die Manieren, die Sitten, die Meinungen, das
Interesse und den Geist der besondern Gesellschaft an, die ihn
umgibt; und so verbreitet sich das Gift der physischen und
sittlichen Verderbniß, wenn es einmal den Zugang in diese
Gesellschaft gefunden hat, unvermerkt durch die ganze Masse
aus. Der Mensch wird gut oder schlimm, aufrichtig oder falsch,
sanft oder ungestüm, blödsinnig oder witzig, träg oder thätig,
je nachdem es diejenigen sind, von welchen er sich immer umgeben
sieht. Und wiewohl keiner ist, der nicht etwas von der
besondern Anlage zu einem eigenthümlichen Charakter, womit
ihn die Natur gestempelt hat, beibehielte, so dient doch dieß
in großen Gesellschaften meistens nur die Anzahl der übelgebildeten
und grotesken sittlichen Formen zu vermehren. Je
größer diese Gesellschaften und je größer die Menge der kleinern
ist, aus welchen sie, wie die Cirkel in dem Weltsystem unsrer
Sternseher, zusammengesetzt sind, je mehr diese verschiedenen
kleinen Kreise einander drücken und pressen, je häufiger die
Leidenschaften, Vortheile und Ansprüche in diesem allgemeinen
Gewimmel aneinander stoßen; je mehr geht von der ursprünglichen
Gestalt des Menschen verloren. Eine sehr kleine und
von der übrigen Welt abgeschnittene Gesellschaft erhält sich ohne
Mühe bei der angebornen Einfalt und Güte der Natur. Hingegen
ist es eine schlechterdings unmögliche Sache, daß etliche
Millionen, welche zusammen in Einem Staate von mäßiger
Größe, oder etliche Hunderttausend, welche in Einer Stadt
zusammengedrängt leben, einander nicht in ziemlich kurzer
Zeit sehr verderben sollten, wofern der Gesetzgeber nicht ganz
besondere Sorge getragen hat, dem Uebel des Zusammenstoßes
der Interessen, und dem noch größern Uebel der sittlichen Ansteckung
durch weise Einrichtungen zuvorzukommen.Und wie könnte dies geschehen? fragte Tifan.Durch eine sehr einfache Veranstaltung, antwortete Dschengis.
Es geschieht, indem man verhindert, daß die Hauptstadt
eines ganzen Reiches zu keiner übermäßigen Größe anwächst;
indem man die Stände, deren Unterschied aus der Natur der
bürgerlichen Gesellschaft entspringt, wohl von einander absondert,
und dafür sorget, daß jeder Ursache habe, mit dem seinigen
zufrieden genug zu seyn, um zu den höhern ohne Neid
hinauszusehen; indem man allen Ursachen einer allzugroßen
Ungleichheit zuvorzukommen oder doch zu wehren sucht; und,
was das wichtigste ist, indem man die Vermehrung der Einwohner
auf alle nur ersinnliche Weise zu befördern, hingegen
Müßiggang, Ueppigkeit und allzugroße Verfeinerung des
Geschmacks und der Lebensart eben so eifrig zu verhindern
bemüht ist.Aber (wendete Tifan ein) wenn die Menschen desto mehr
zur Verderbniß geneigt werden, je zahlreicher sie sind, wie kann
die möglichste Bevölkerung des Staats unter die Mittel gegen
die Verderbniß gehören?Nicht die Menge der Bürger an sich selbst (erwiederte
Dschengis), sondern die allzugroße Verwicklung ihrer Interessen,
der häufige und starke Zusammenstoß ihrer Forderungen, die
verhältnißwidrige Ungleichheit unter den Ständen sowohl, als
unter den Gliedern des nämlichen Standes, und die übermäßige
Bevölkerung einer einzigen Hauptstadt und Provinz auf
Unkosten der übrigen — sind die Ursachen dieser allzugroßen
Gährung, welche den Staat zur Fäulniß geneigt macht. Ein
zahlreicher Adel von mittelmäßigem Vermögen ist einem großen
Reiche eben so nützlich, als ihm der unmäßige Reichthum einiger
wenigen und die Armuth der meisten übrigen schädlich ist.
Ebenso zieht der Staat viel mehr Vortheile davon, wenn ein
Vermögen von zehn Millionen unter hundert Handelsleute vertheilt,
als wenn es in den Händen eines einzigen ist; und eine
Million arbeitsamer Leute, welche Mühe haben das Nothwendige
zu erwerben, sind dem gemeinen Wesen nützlicher als
hunderttausend, welche im Ueberfluß leben. In einem großen
und von der Natur reichlich begabten Staate, wie Scheschian
z. B., können, wenn er wohl organisirt ist, schwerlich zu viel
Menschen seyn. Alles kommt darauf an, sie gehörig zu vertheilen,
und durch Unterhaltung eines Kreislaufs, der jedem
Theile seine erforderliche Nahrung zuführt, zu verhindern, daß
kein Theil auf Unkosten der übrigen zu einer verhältnißwidrigen
Größe anschwelle.Unter tausend solchen Gesprächen, welche, so nützlich sie
für den jungen Tifan waren, Seiner Hoheit nicht anders als
lange Weile machen konnten — weiß der Himmel, rief der
Sultan gähnend — kamen Tifan und Dschengis in Scheschian
an, wo nach dem Entwurfe des weisen Alten ihre Wanderungen
sich endigen sollten. Die unglücklichen Folgen der tyrannischen
Regierung Jsfandiars hatten damals eben ihre höchste Stufe
erreicht. Tifan, so viel Mißbräuche, so viel Thorheit, so viel
Ungerechtigkeit er auch in andern Ländern gesehen hatte, konnte
sich kaum aus der Bestürzung erholen, in welche ihn der elende
Zustand von Scheschian setzte. Sein Begleiter versäumte nichts,
ihm den ausführlichsten und vollständigsten Begriff davon zu
verschaffen. Er führte ihn von Provinz zu Provinz; er zeigte
ihm den gegenwärtigen Verfall; er machte ihm begreiflich, in
welchem blühenden Zustande sich jede, nach Verhältniß ihrer
natürlichen Beschaffenheit, Lage und Beziehung auf die übrigen,
unter einer weisen Staatsverwaltung hätte befinden können;
und entwickelte den Zusammenhang der Ursachen, welche dieses
große Reich in allen seinen Theilen zu Grunde gerichtet hatten.
Bei dieser Gelegenheit erzählte er ihm die wichtigsten Veränderungen,
welche es seit einigen Jahrhunderten erlitten hatte,
schilderte den Geist der verschiedenen Regierungen, und zeichnete
die wichtigsten Fehler aus, welche seit den Zeiten der
Königin Lili gemacht worden waren. Er zeigte ihm, wie leicht
es gewesen wäre jedem Mißbrauche zu rechter Zeit abzuhelfen;
wie natürlich es zugehe, daß diese Mißbräuche durch den
Aufschub der schicklichsten Hülfsmittel endlich unverbesserlich
werden; und wie unvermeidlich der Untergang auch des mächtigsten
Staates sey, wenn der Luxus seinem eigenen Lauf überlassen,
und den verderblichen Folgen desselben nicht eher, als
bis sie die Eingeweide des Staats angefressen haben, und
auch alsdann nicht anders als durch hitzige Mittel und gewaltsame
Operationen, begegnet werde.Hier unterbrach Schach-Gebal die Erzählung durch einen
Einwurf, der vermuthlich auch auf der Zunge mancher Leser
schwebt. Alles dieß, sagte er, ist ganz gut; aber ich begreife
doch nicht recht, wie der ehrliche Tifan, der von seiner Geburt
und vermuthlichen Bestimmung nichts wußte, alle diese politischen
Untersuchungen interessant genug, und überhaupt wie
er begreiflich finden konnte, daß Dschengis sich so viele Mühe
gab, ihn aus einem Bauer zu einem Staatsmann umzubilden.Ich gestehe, sagte Danischmend, daß ich diesem Einwurfe
hätte zuvorkommen sollen. Tifan zeigte von seiner ersten Jugend
an ungewöhnliche Fähigkeiten. Eine glückliche Empfindlichkeit
entwickelte frühzeitig alle Kräfte seiner Seele. Sein
Verstand kam den Unterweisungen seines Lehrmeisters auf
halbem Wege entgegen. Sein Herz war zur Dankbarkeit, zur
Freundschaft und zum Wohlthun aufgelegt. Immer empfand
er die Freude oder die Schmerzen derjenigen, die er liebte,
stärker als seine eigenen. Er kannte keine süßern Augenblicke
als diejenigen, worin er ihnen Vergnügen machen, oder irgend
eine Unlust von ihnen entfernen konnte. Mit einer solchen
Seele fühlt man, sobald man einige Kenntniß der Welt
erlangt hat, einen innerlichen Beruf zu der edelsten Art von
Thätigkeit. Ich glaube schon bemerkt zu haben, daß der junge
Tifan, von der Stunde an, da ihm Dschengis einen Begriff
von dem wirklichen Zustande der menschlichen Gattung gegeben
hatte, den Geschmack an seinem eigenen Glücke verlor, und
vor Begierde brannte, dem Elende seiner Mitgeschöpfe abzuhelfen: —
einer Begierde, die in gewissem Sinn etwas Romanhaftes
hat, aber demungeachtet die Leidenschaft großer
Seelen und die Mutter der schönsten Thaten ist. Dschengis
bediente sich dieser Augenblicke, den Prinzen zur künftigen
Entdeckung seines Standes vorzubereiten. Er machte ihm
Hoffnung, daß er vielleicht bestimmt seyn könnte, seines Wunsches
in einem höhern Grade, als er nach seinen itzigen Umständen
hoffen dürfte, gewähret zu werden; und bestätigte diese
Hoffnung durch eine Menge von Beispielen großer Männer,
welche aus der Dunkelheit hervorgegangen waren, um Wohlthäter
des menschlichen Geschlechtes zu werden. Die edlen
Triebe, die du in dir fühlst, sagte er zu ihm, sind ein angeborner
Beruf zu einer erhabenen und wohlthätigen Bestimmung.
Vielleicht hat die Vorsehung dich zum Werkzeuge großer
Dinge ausersehen. Ist dieß ihre Absicht, so wird sie uns
Wege dazu eröffnen, von welchen wir uns itzt nichts träumen
lassen. Dermalen kommt alles darauf an, daß wir nichts unterlassen
was von uns abhängt. Bemühe dich, mein lieber Tifan,
die Kenntnisse, die Geschicklichkeiten, die Tugenden zu erwerben,
die eine solche Bestimmung voraussetzt; das Uebrige ist
die Sache des Himmels.Tifan kann also, da er seine Reisen unternahm, als ein
junger Mensch betrachtet werden, der eine zwar noch unbestimmte
aber doch entschlossene Neigung in sich fühlt, irgend
eine edle Rolle auf dem Schauplatze da Welt zu spielen; und
so ist, wie mich däucht, der Einwurf gehoben, den Ihre Hoheit
gegen die Schicklichkeit der politischen Erziehung meines jungen
Helden zu machen geruht haben.Aufrichtig zu seyn, Danischmend, sagte der Sultan, alles
was mich an der Sache verdrießt, ist daß ich nicht so glücklich
war, in meiner Jugend einen Dschengis zu finden. Der arme
Schach-Baham! Ihm kam es zu, einen solchen Mann für mich
zu suchen. Aber es hätten zehntausend Dschengisse in Indostan
leben können, ohne daß er einen einzigen von ihnen ausfindig
gemacht hätte. Für ihn waren alle Menschen gleich, diejenigen
ausgenommen, welche Mährchen erzählen und Bilder ausschneiden
konnten; denn diese waren die großen Männer in seinen
Augen. — Fortgefahren, Herr Danischmend!Dschengis hatte, nach einem Aufenthalte von etlichen Monaten
in Scheschian, hohe Zeit mit seinem Untergebenen unsichtbar
zu werden; denn die Kundschafter, deren Eblis eine
große Menge in allen Theilen des Reiches unterhielt, hatten
ihm Nachricht von unsern Wanderern gegeben, welche seine
argwöhnische Aufmerksamkeit rege machten. Aber durch die
Vorsichtigkeit des alten Mentors waren sie in ihrer unbekannten
Freistätte schon wieder geborgen, als der Befehl zu
ihrem Verhaft anlangte.Der junge Tifan ruhete einige Tage in den Armen seiner
geliebten Tili von den Beschwerden einer mühsamen Reise aus.
Der Genuß der lang' entbehrten häuslichen Glückseligkeit, das
Vergnügen, die Gespielen seiner Kindheit und die Gegenden,
wo seine Seele die ersten angenehmen Eindrücke bekommen
hatte, wieder zu sehen, schien eine Zeit lang diejenigen ausgelöscht
zu haben, welche seine Wanderungen durch Scheschian
in seinem Gemüthe zurückgelassen hatten. Aber diese Erinnerungen
wachten bald nur desto lebhafter auf; sie verfolgten
ihn allenthalben, und verbitterten die Wonne seines Lebens.
Sein Herz machte ihm Vorwürfe, so oft er sich der Freude
überließ; es war ihm, als ob er einen Genius in seine Seele
flüstern höre: O Tifan! kannst du dich freuen, da Millionen
Geschöpfe deiner Gattung so elend sind?Bald nach seiner Zurückkunft brachen die öffentlichen Unruhen
in Scheschian aus. Dschengis, welcher Gelegenheit gefunden
hatte, mit einem zuverlässigen alten Freunde das vertraute
Verständniß ihrer jüngern Jahre wieder zu erneuern,
erhielt von ihm durch geheime Wege die genaueste Nachricht
von allein was vorging. Er theilte sie wieder mit dem jungen
Tifan, der vor Ungeduld brannte, die gemißhandelten Scheschianer
an ihrem Tyrannen gerochen zu sehen; und nun
glaubte der Alte, daß es Zeit sey einen neuen Schritt zu thun,
um den Prinzen zur Mittheilung seines großen Geheimnisses
vorzubereiten. Er entdeckte ihm also, daß er selbst aus einem
edeln Geschlechte in Scheschian abstamme; daß er ehmals öffentliche
Würden am Hofe des Königs Azor bekleidet habe, und
ein Vertrauter des einzigen Bruders dieses Fürsten gewesen
sey, aber bald nach dem Tode des letztern, weniger um seiner
persönlichen Sicherheit willen, als aus gänzlicher Ueberzeugung
von seiner Unnützlichkeit unter der neuen Regierung, sich in
dieses Gebirge zurückgezogen habe, um in ungestörter Ruhe
der Erziehung seines geliebten Tifans sich widmen zu können.
— Aber nun (rief Tifan mit aller der Wärme, worein ihn diese
Entdeckung gesetzt hatte), was säumen wir, unser Blut einem
Vaterlande anzubieten, welches in den letzten Zügen liegt, und
alle sein Kinder um Hülfe, oder, wenn Hülfe zu spät kommt,
wenigstens um Rache anruft?Dschengis hatte einige Mühe dem Prinzen begreiflich zu
machen, daß Rechtschaffenheit eben sowohl als Klugheit ihnen
nicht eher gestatten könne, eine Partei zu ergreifen, bis auf
eine zuverlässige Art entschieden sey, auf welcher Seite sich das
stärkste Recht befinde. Jsfandiar, sagte er, hat wie ein Tyrann
regiert; aber sein Erbrecht an die Krone ist unstreitig und unverletzlich.
Die Nation ist schuldig ihn für ihren König zu erkennen.
Es ist wahr, sie hat Rechte, welche eben so heilig
sind als die seinigen; und sie ist so wenig verbunden alles zu
leiden, als er berechtigt ist alles zu thun. Aber vielleicht geht
Jsfandiar in sich; vielleicht gibt er billigen Vorschlägen Gehör,
und vielleicht ist mehr Erbitterung, Rachsucht und Eigennutz als
wahre Vaterlandsliebe in den Bewegungsgründen der Häupter
der Empörung. Die Zeit muß uns hierüber Licht geben. Sobald
Pflicht und Ehre uns auf die eine oder die andere Seite
rufen werden, dann wollen wir gehen.Der junge Tifan sah einer entscheidenden Nachricht mit
Ungeduld entgegen. Aber die Zwischenzeit wurde nicht ungenützt
vorbeigelassen. Dschengis, der sich in seiner Jugend den
Ruhm eines guten Officiers erworben hatte, las unter den Gespielen
seines Pflegesohns einige der stärksten und gewandtesten
aus, um sie nebst Tifan in allen Arten von kriegerischen
Uebungen zu unterweisen. Er vermehrte sie mit einer Anzahl
auserlesener junger Tatarn, welche er durch Geschenke und
Hoffnungen in seine Dienste zog. Tifan that sich bald unter
dieser muthvollen Jugend hervor; er gewann ihre Liebe in
einem so hohen Grade, und schien ihnen allen so unstreitig der
wackerste und beste aus ihrer Mitte zu seyn, daß sie ihn einmüthig
zu ihrem Anführer erwählten; ein Umstand, der in
den Augen des erfreuten Alten von glücklicher Vorbedeutung
war. Nach einiger Zeit langte die Nachricht von dem Tode
des Königs an, und von der Zerrüttung, in welche das erbenlose
Reich dadurch gestürzt worden sey. Nun war es nicht
länger möglich den jungen Tifan zurückzuhalten; und nun
glaubte Dschengis, daß es Zeit sey, sich seines Geheimnisses
zu entledigen.Schaad-Gebal, dem dieses Geheimniß schon bekannt war,
erklärte sich, daß er für dießmal genug habe, und entließ Danischmenden
mit der Versicherung, daß es ihm nicht zuwider seyn
würde, der Fortsetzung dieser Geschichte zuzuhören.—————
9.Zur gewöhnlichen Zeit setzte Danischmend die Geschichte
des Prinzen Tifan folgendermaßen fort.Dschengis sah mit innerlichem Frohlocken das Feuer, welches
in Tifans Seele brannte, und die Entschlossenheit, mit welcher
er bereit war, sein Leben für die Sache eines Vaterlandes zu
wagen, zu dessen Vertheidigung er, als der vermeinte Sohn
eines Edeln von Scheschian, einen angebornen Beruf zu haben
glaubte, und seine Ungeduld über jeden Tag, der die Ausübung
dieser Pflicht verzögerte. Er genoß des reinen und alle
andre Wollust übertreffenden Vergnügens, seine großmüthigen
Bemühungen dem glücklichsten Erfolge sich täglich nähern zu
sehen. Er hatte den Sohn eines Fürsten, der sein Freund gewesen
war, nicht nur gerettet; er hatte ihn zu einem der
besten Menschen gebildet. Jede Tugend, jede Fähigkeit, deren
edler Gebrauch den großen Mann macht, entwickelte sich bei
der kleinsten Veranlassung in seiner schönen Seele. Die Natur
schien etwas Großes mit ihm vorzuhaben; und das Glück eröffnete
ihm bei seinem Eintritt in das männliche Alter einen
Schauplatz, wo die Nothwendigkeit selbst jedem seine Rolle anweist,
wo der Zufall das wenigste thut, und jedes große Verdienst
in seinem eigenthümlichen Glanz erscheint. Meine Ahnungen
sind erfüllt, sagte Dschengis zu sich selbst: Tifan ist
dazu bestimmt, ein neues besseres Scheschian aus den Trümmern
des alten hervorzuziehen. Es ist Zeit ihm zu entdecken,
was er ist, und ihn auf den Weg zu bringen, worauf er werden
kann was er seyn soll.Die neuesten Nachrichten, welche Dschengis von seinem
Freund erhalten hatte, sprachen von einer öffentlichen Verbindung
einiger Städte gegen die Edeln, welche sich zu Nebenbuhlern
um den Thron aufgeworfen hatten. Die Verbundenen
nannten sich die vaterländische Partei, und wiewohl
sie über die Art und Weise, wie die Verfassung des Reiches
fürs künftige eingerichtet werden sollte, unter sich selbst nicht
einig waren, so stimmten sie doch alle in dem Hasse der
Tyrannei und in dem Grundsatz überein, keinen König zu
erkennen, der kein besseres Recht als die Obermacht seiner
Waffen hätte."Die Krone in Scheschian ist aus Mangel eines gesetzmäßigen
Thronfolgers der Nation anheim gefallen," sagte
Tifan: "diejenigen, welche sich derselben mit Gewalt bemächtigen
wollen, haben keinen andern Beruf dazu, als die Sucht
zu herrschen. Die Partei der verbundenen Städte ist die
Partei der Nation; und die Nation allein hat das Recht die
Verfassung festzusetzen, durch welche sie sich des Besitzes ihres
gerechten Anspruchs an Freiheit und Glückseligkeit am besten
versichern zu können glaubt. Dschengis kann es nicht mißbilligen,
wenn ich gehe, meinem Vaterlande Dienste anzubieten,
die ich ihm schuldig bin."Aber was wirst du dazu sagen, Tifan, sprach der Alte,
wenn ich dir entdecke, daß noch ein Prinz aus dem Hause
Ogul-Kans übrig ist, dessen Ansprüche um so weniger zweifelhaft
seyn können, da er ein Sohn des einzigen Bruders des
Sultans Azor ist?Und wo ist dieser Prinz? fragte Tifan mit einer Miene,
welche sehr deutlich verrieth, daß ihn Dschengis mit einer
unwillkommnen Nachricht überrascht hatte. Unsre Nachrichten
melden uns nichts von ihm. Wie kann das Daseyn eines
Prinzen, dessen bloßer Name die Unruhen in Scheschian stillen
würde, ein Geheimniß seyn?Jedermann glaubt (war die Antwort des Alten), daß
dieser Prinz, so wie die übrigen von Azors Hause, ein Opfer
der mißtrauischen Grausamkeit des Tyrannen Jsfandiar geworden
sey. Aber man betrügt sich: er lebt; und — was
dich noch mehr in Verwunderung setzen wird, mein Sohn! —
ich bin der einzige, der um das Geheimniß seiner Erhaltung
weiß.O mein Vater, rief Tifan mit einer immer zunehmenden
Unruhe, welch ein Geheimniß ist dieß! Vielleicht ein unglückliches
für Scheschian! Wie wenn dieser Prinz die Eigenschaften
nicht hätte, die ein Fürst haben muß, der ein so sehr
zerrüttetes, so tief herunter gebrachtes Reich wieder aufrichten,
wieder aufs neue blühend machen soll? Wie wenn er
ein zweiter Jsfandiar, oder wenigstens ein zweiter Azor
würde? Wär' es in diesem Falle nicht Pflicht, —Pflicht gegen
das Vaterland, gegen die Nachwelt, gegen lebende und ungeborne
Millionen —ein so gefährliches Geheimniß mit ewigem
Stillschweigen zu bedecken?Der junge Prinz hat eine sehr gute Anlage, erwiederte
Dschengis, und sein Recht —O mein Vater, fiel ihm Tifan
ein, welches Recht kann heiliger seyn, als das Recht einer
ganzen Nation an Glückseligkeit! Welch ein fürchterlicher Gedanke,
das Schicksal so Vieler von der zweifelhaften Entscheidung
des Charakters eines Einzigen abhängen zu lassen!Aber die Nation muß einen König haben, erwiederte
Dschengis: die Regierung vieler Köpfe taugt nichts in einem
so weit gränzenden Staate; und Scheschian in eine Menge
kleiner Freistaaten zu zerstücken, und diese wieder durch einen
so schwachen Faden, als ein gemeinschaftliches Bündniß, in
ein Ganzes zusammen binden zu wollen, wäre für die Ruhe
und den Wohlstand der Nation gefährlicher, als alles was
wir bei einem jungen Monarchen wagen können. Mir däucht,
dieser Punkt wurde schon lange zwischen uns ausgemacht.Gut, sagte Tifan: aber würde die Nation nicht besser
thun, wenn sie durch eine freie Wahl die Regierung demjenigen
auftrüge, zu dem sie das beste Vertrauen hätte, demjenigen,
der sich eines solchen Vertrauens am würdigsten gezeigt
hätte? Der junge Prinz weiß vielleicht nichts von seinem
Rechte —Er weiß nichts davon, sagte Dschengis —Und der Nation ist, wie du sagtest, sogar sein Daseyn
unbekannt, fuhr Tifan fort. Es kann also nichts Böses daraus
entstehen, wenn man sein Recht ihm selbst und dem Volke
unbekannt bleiben läßt. Mir däucht, dieß wäre doch immer
das sicherste.Aber, versetzte Dschengis, wenn mich nicht alles betrügt,
so können wir uns selbst keinen bessern Fürsten geben, als
diesen, den uns der Himmel gegeben hat. Er ist der edelmüthigste,
der liebenswürdigste, der tugendhafteste junge
Prinz, den die Welt vielleicht jemals sehen wird.Du sagst dieß mit einem so zuversichtlichen Tone, erwiederte
Tifan: wie war es möglich, daß du ihn so genau kennen
lerntest?Sehr möglich, antwortete Dschengis, da ich ihn selbst
erzogen habe.Du selbst? rief Tifan mit einer Bestürzung, welche zeigte,
daß seine Seele der Entwicklung des Geheimnisses aus innerlicher
Ahnung entgegensah.Ich selbst, Tifan; unter meinen Augen ist er aufgewachsen,
und seit mehr als zwanzig Jahren bin ich nicht von seiner
Seite gekommen. — Mit Einem Worte, Tifan; —
du bist dieser Prinz! Du bist der einzige übrig gebliebene
Bruderssohn Azors, und der rechtmäßige Erbe des Scheschianischen
Thrones.Du bist also nicht mein Vater? sagte Tifan mit einem
traurigen Tone der Stimme, indem seine Augen sich mit
Thränen erfüllten.Nein, bester Tifan, versetzte der alte Dschengis, indem
er seine Arme um seinen Hals warf und ihn etlichemal mit
großer Bewegung auf die Stirne küßte, auf welche eine seiner
Thränen fiel. Du bist der Sohn meines Freundes.
Dein Vater war eines Thrones werth. Er hinterließ dich
mir als kostbares Unterpfand; und theuer — theuer, bester
Tifan, aber nicht zu theuer, hab' ich das Recht eines zweiten
Vaters an dich erkauft; denn um dein Leben zu erhalten,
gab ich dem Jsfandiar meinen einzigen Sohn hin. Er
glaubte, dich erwürgt zu haben, und ich entfloh mit dir in
diese Freistätte. Unwissend was der Himmel über dich beschlossen
haben könnte, erzog ich deine erste Jugend, als ob
der Privatstand dein Loos bleiben würde. Wer alles ist, was
ein Mensch seyn muß wenn er diesen edeln Namen in seiner
würdigsten Bedeutung führen soll, wird allezeit einen guten
Fürsten abgeben, sprach ich zu mir selbst. Indessen sah ich
wohl vorher, daß Jsfandiars sinnlose Regierung, zu einer
Zeit, wo die behutsamste Staatswirthschaft kaum vermögend
gewesen wäre das sinkende Reich zu erhalten, sich endlich mit
dem Umsturz der gegenwärtigen Verfassung endigen würde.
Meine Vermuthungen sind in Erfüllung gegangen. Scheschian
ist ohne Haupt; alles Elend und alle Gräuel der Anarchie
schlagen über dem unglücklichen Lande zusammen. Itzt ist die
Zeit da, wo die Tugend eines einzigen Mannes das Schicksal
der ganzen Nation entscheiden kann. Frage dein Herz,
Tifan, was sagt es dir in diesem Augenblicke?Ich fühle eine Verwirrung in mir, erwiederte Tifan, aus
welcher mich zu sammeln Zeit vonnöthen ist. Ich wollte du
hattest mich in einem Irrthum gelassen, bei dem ich glücklich
war. — Und doch! O mein Vater! (er drückte sein schlagendes
Herz an die Brust des Alten, indem er dieß sagte) ich
fühl' es, mein Herz wird immer eben dasselbe bleiben. Ich
wollte als Sohn des edeln Dschengis gehen, mein Leben für
die Ruhe meines Vaterlandes zu wagen; könnt' ich als Temors
Sohn weniger thun? Temors Sohn, sagt' ich! O du
ehrwürdigster, bester alter Mann, lass' mich deinen Sohn bleiben!
Ich kann es ohne Undankbarkeit gegen denjenigen seyn,
dem ich das Leben zu danken habe. Niemand weiß von unserm
Geheimniß als du; und wer würde dir glauben, wenn
du es entdecken wolltest? Lass* mich deinen Sohn bleiben!
Dir hab' ich es zu danken, daß ich mich fähig fühle eine Krone
zu verachten! Du bist mein wahrer Vater; und ich will die
Ehre verdienen, dein Sohn zu seyn. Mein höchster Stolz
geht nicht weiter.Eine Krone verachten, Tissan? rief Dschengis, indem er
sich plötzlich aus seinen Armen los machte. Nein, Tifan,
dieß ist nicht der Weg, mich für das zu belohnen was ich für
dich gethan habe! Verachte die wollüstige Trägheit, den Müßiggang,
die Ueppigkeit, den Uebermuth, die Schwachheiten und
die Laster, wovon die meisten, welche Kronen getragen haben,
Sklaven gewesen sind! Sey des Thrones werth, für welchen
du geboren bist! Aber sage nicht, daß du den erhabensten
Auftrag verachtest, womit der Himmel einen Sterblichen beehren
kann!O mein Vater! erwiederte Tifan, indem eine edle Schamröthe
seine männlichen Wangen überzog: vergib dem unbedachten
Ausdruck eines Gefühls das du nicht mißbilligen
kannst! Du kennest meine Seele, die du selbst gebildet hast,
die durch deine Einflüsse, durch dein Beispiel, die Tugend
lieb gewonnen hat, und allem was schön und groß ist mit
ausgespannten Flügeln entgegen eilt! Ich bin alles was du
willst. Aber, mein Vater, wer anders als der weiseste und
beste Mann im Reich verdient an der Spitze der Nation zu
stehen? Und wenn dieß ist, wer verdient König zu seyn, wofern
es Dschengis nicht verdient?Deine Liebe zu mir macht dich parteiisch, erwiederte der
Alte; und überdieß ist es nicht um die Ehre, der Erste zu
seyn, sondern um ein Amt zu thun, dessen Last jüngere
Schultern erfordert als die meinigen. Meine Erfahrung kann
dir nützen; aber das Feuer, die Thätigkeit, das Anhalten in
der Arbeit, wozu dich deine Jugend fähig macht, könntest du
mir nicht mittheilen.Indessen bleibt noch eine große Schwierigkeit unaufgelöst,
sagte Tifan. Wie willst du den Adel und das Volk von
Scheschian überzeugen, daß ich Temors Sohn sey?Ich? antwortete Dschengis: das will ich nicht! Du selbst;
Tifan, du mußt sie überzeugen. Du hast dein eigen Urtheil
gesprochen! Die Nation weiß nichts von deinem Geburtsrecht,
und es würde mir unmöglich seyn, wenn ich es auch wollte,
sie davon zu überzeugen. Eine freie Wahl muß den Würdigsten
zum Throne rufen. Gehe, Tifan, hilf der Nation
dieß ihr großes Recht gegen diejenigen behaupten, welche
sich den Weg zum Thron auf den Trümmern der Freiheit
bahnen, und mit Gewalt an sich reißen wollen, wozu sie
kein Recht zu haben fühlen. Verdiene, von deinen Mitbürgern
für den besten Mann der Nation erkannt zu werden —
und wehe ihnen, wenn sie den mißkennen, der, wofern mich
nicht alles betrügt, sie glücklich machen wird, wenn sie ihr
Glück in seine Hände stellen.Danischmend, sagte Schach-Gebal — ich fange an zu
merken, daß du im Sinne hast, uns mit einem Romane zu
beschenken. Bisher klang der größte Theil deiner Erzählung
so ziemlich wie eine Geschichte aus dieser Welt. Aber dieser
Dschengis, dieser Tifan! Man erinnert sich nicht, solche
Leute gekannt zu haben! Nicht als ob ich etwas dawider
einzuwenden hätte, daß sie so gute Leute sind! Aber ich hasse
alles, was einem Mährchen ähnlich sieht, Danischmend!Wenn Ihre Hoheit dieß im Ernste meinen, versetzte der
Philosoph, so bin ich genöthigt demühigst um meine Entlassung
anzusuchen. Denn ich muß gestehen, je weiter wir in
der Geschichte Tifans kommen werden, desto weniger wird
sie die Miene einer Geschichte aus dieser Welt haben. Aber
demungeachtet kann ich mir's nicht aus dem Kopfe bringen,
daß sie eine so wahre Geschichte ist, als immer die Geschichte
von Azorn oder Jsfandiarn. Tifan ist kein Geschöpf der Phantasie;
es liegt dem ganzen Menschengeschlechte daran, daß er
keines sey. Entweder er ist schon gewesen, oder, wenn er
(wie ich denke) nicht unter den itzt lebenden ist, wird er
ganz gewiß künftig einmal seyn.Immerhin, sagte der Sultan lächelnd: wenn dein Tifan
auch ein Traum wäre, so wollen wir wenigstens sehen, ob
es sich vielleicht der Mühe verlohnet, ihn wahr zu machen.Ich habe Ihrer Hoheit noch so viel davon zu sagen,
was Tifan that als er König war, daß ich wohl zu thun
glaube, desto kürzer über das zu seyn, was er that um es
zu werden.Gut, Danischmend, wir kennen einander. Langweilige
Erzählungen haben die Gabe nicht, mich einzuschläfern; sie
machen mich ungehalten. Wir wissen nun einmal, daß du
aus deinem Tifan einen König machen willst; und da die
Sache bloß von dir abhängt, so kannst du mich nicht mehr
verbinden, als wenn du die Zurüstungen abkürzest, so viel
nur immer möglich seyn wird.Der Name Dschengis (fuhr Danischmend fort), welcher
bei allen, die noch aus Azors Zeiten übrig waren, in Ansehen
stand, trug nicht wenig bei, den jungen Tifan bei seinem
ersten Auftritt in Scheschian in ein vortheilhaftes Licht zu
stellen. Die vaterländische Partei empfing ihn mit offnen
Armen, und da er bei jeder Gelegenheit die Meinung rechtfertigte,
die man beim bloßen Anblick von ihm faßte, so gewann
er bald das Vertrauen und die Hochachtung seiner Mitgenossen.
Das Unglück der Zeit schien das erschlaffte sittliche
Gefühl der Scheschianer wieder erweckt zu haben. Tifan
stellte ihnen in einem Alter, mit welchem Weisheit beinahe
unverträglich scheint, ein Muster der Vollkommenheit dar,
dem sie anfangs ihre Bewunderung und zuletzt ihre Liebe
nicht versagen konnten. Er war tapfer ohne Verwegenheit,
behutsam ohne Unschlüssigkeit, behend ohne Uebereilung. Er
forderte immer mehr von sich selbst als von andern, und
regierte seine Untergebenen mehr durch sein Beispiel als durch
Befehle. Sein Geist entwickelte bei jeder Gelegenheit die Geschicklichkeiten,
die das Geschäft voraussetzte. Mußte ein
Entwurf gemacht werden: Tifan übersah die ganze Lage der
Sache, sah das Verhältniß seiner Mittel zu den Hindernissen,
begegnete zum voraus den Zufällen die seine Anschläge durchkreuzen
konnten, und bemächtigte sich aller Vortheile, die sein
scharfer Blick in den Umständen des Geschäftes entdeckte.
War es um die Ausführung zu thun: niemand übertraf ihn
an Feuer, an Standhaftigkeit, an unermüdlicher Geduld, an
Geschicklichkeit unvorgesehene Zufälle seinem Plane förderlich zu
machen, die Fehler seiner Gegner zu benutzen, oder seine eigenen
zu vergüten. Mit allen diesen Talenten verband er die
reinsten Sitten, unverzärteltes Gefühl, Geringschätzung der
körperlichen Wollüste, Gleichgültigkeit gegen alle Reizungen zur
Untreue an seinen Pflichten, Leutseligkeit und Sanftmuth
gegen seine Untergebenen, Ehrerbietung gegen Alter, Weisheit
und geprüfte Tugend, einnehmende Gefälligkeit gegen seinesgleichen;
wiewohl er in der That mit allen diesen Eigenschaften
der einzige in seiner Art war. Und, was seinem
Verdienste die Krone aufsetzte, er fand das Geheimniß, mit
so vielen Vollkommenheiten von jedermann geliebt zu werden.Dieß Geheimniß braucht doch wohl keines für uns zu
seyn? sagte Gebal mit einem Blicke, wodurch er den Erzähler
in Verlegenheit setzen zu wollen schien.Auf keine Weise, erwiederte Danischmend: das ganze
Geheimniß besteht in einem Hausmittel, das leicht zu entdecken,
aber nicht leicht zu gebrauchen ist. Eine ungezwungene
Bescheidenheit zog einen Schleier über seine Vorzüge, der
ihren Glanz milderte, ohne verhindern zu können, daß sie
Aufmerksamkeit und Bewunderung erregten. Seine Bemühung,
gegen jedermann gerecht zu seyn, geringere Verdienste
zu sich emporzuheben, und den Belohnungen, welche
ihn suchten, auszuweichen, so lange noch jemand da war der
ein näheres Recht zu haben glauben konnte; seine Bereitwilligkeit,
unter Männern zu dienen, die er an Talenten
weit übertraf; seine Geschicklichkeit, ihnen bei entscheidenden
Gelegenheiten seine Gedanken, als ob es die ihren wären,
unterzulegen, und die Uneigennützigkeit, sie den Ruhm genießen
zu lassen, den er für sie verdient hatte, zufrieden
wenn nur das Gute gethan wurde, der Antheil, den er selbst
daran hatte, mochte bekannt werden oder unbekannt bleiben:
alles dieß versöhnte den Neid und die Eifersucht mit seinen
Vorzügen. Seine Tugend warf so viel Glanz auf diejenigen,
die um ihn waren, daß jedermann stolz darauf war in irgend
einem Verhältnisse mit ihm zu stehen. Dieß hat Tifan auf
meinen Befehl gethan, sagte ein alter Feldherr — ich focht
an seiner Seite, sagte der junge Befehlshaber — wir hatten
Tifan an unsrer Spitze, sagten die Gemeinen, —und jeder
glaubte sich selbst durch nichts mehr Ehre machen zu können,
als etwas durch Tifan, oder mit Tifan, oder unter Tifan
gethan zu haben.Wißt ihr, Danischmend, sagte der Sultan, daß mir
euer Tifan zu gefallen anfängt? Es ist wahr, man merkt
je länger je mehr, daß er nur der phantasirte Held eines
politischen Romans ist. Aber, beim Bart des Propheten!
man kann sich nicht erwehren zu wunschen, daß man dreißig
Jahre junger seyn möchte, um eine so schöne Phantasie wahr
zu machen!Niemals hatte Schach-Gebal etwas gesagt, das ein recht
schönes Compliment von Seiten seiner Gesellschaft besser verdient
hätte. Danischmend, der bei solchen Gelegenheiten
nicht sparsam zu seyn pflegte, trieb, vermöge der gewöhnlichen
Wärme seines Herzens, die Sache beinahe zu weit.
Aber Schach-Gebal erklärte sich darüber auf eine Art, die
ihn (wenigstens in unsern Augen) wirklich hochachtungswürdig
macht. Ich wünschte, sagte er, so vollkommen zu seyn, daß
ihr Schmeichler in die Unmöglichkeit gesetzt wäret, zu viel
Gutes von mir zu sagen. Aber seyd versichert, ich täusche
mich selbst nicht. Ich weiß, was an der Sache ist; mehr ist
unnöthig zu sagen. — Wo blieben wir, Danischmend?Bei dem, was nach der damaligen Lage der Umstände die
nothwendige Folge von Tifans seltnen Verdiensten war. Tifan
that sich unter seiner Partei (zu welcher alles, was noch einen
Funken von Redlichkeit und Vaterlandsliebe in sich fühlte, sich
geschlagen hatte) so sehr hervor, daß er in ziemlich kurzer Zeit
von Stufe zu Stufe bis zur Würde eines Feldherrn stieg;
und da derjenige, der bisher die Seele der Partei gewesen
war, in einem Treffen blieb, ward er einhellig, und ohne
einen Nebenbuhler zu haben, an dessen Platz gestellt.So groß Tifans Vorzüge und Verdienste waren, so muß
man doch gestehen, daß er auch von den Umständen, die zu
seiner Erhebung mitwirken mußten, ungewöhnlich begünstigt
wurde. Das Glück schien aus Liebe zu ihm seiner natürlichen
Unbeständigkeit entsagt zu haben, um ihm in allen seinen Unternehmungen
den Weg zu bahnen, alle widrigen Zufälle von
ihm zu entfernen, und die übrigen alle zu Mitteln seiner
Erhöhung zu machen. Gleichwohl konnte alles was diese, für
ihn allein nicht launische, Göttin zu seinem Vortheil that,
nicht verhindern, daß nicht der Erfolg mehr die natürliche
Frucht seiner Tugend als ein Geschenk des Zufalls zu seyn
geschienen hätte. Unser Held war nicht nur selbst tugendhaft:
er hatte die Gabe, auch diejenigen so zu machen, die um ihn
waren. Was bei edlern Seelen ein sympathetischer Trieb, und
ein tiefes Gefühl der Göttlichkeit der Tugend, die in ihm vermenschlicht
schien, zuwege brachte, wirkte bei andern die Begierde
seinen Beifall zu verdienen, und eine Eifersucht, die
durch ein edles Ziel zu einer rühmlichen Leidenschaft wird.
Sein Anblick, sein bloßer Name setzte seine Freunde und Gefährten
in Begeisterung. Von Tifan angeführt glaubten sie
mehr als gemeine Menschen zu seyn — und waren auch mehr.
Seine Beredsamkeit vollendete das Werk seines Beispiels.
Die Scheschianer —gleich einem armen Findling, der, nachdem
er sich lange für einen verwahrloseten Auswurf der Natur
angesehen, unverhofft von einem edeln und zärtlichen Vater
erkannt wird — empfanden wieder das Glück ein Vaterland
zu haben; ihre Seelen entzündeten sich bei diesem Gedanken;
jeder vergaß darüber sein besonderes Selbst, fühlte dieß Selbst
nur im Vaterlande, und verlor unvermerkt allen Begriff anders
als durch das allgemeine Glück glücklich seyn zu können.Tifan, indem er auf diese Weise die Scheschianer wieder
zum Gefühl der Tugend erweckte, schien in der That eine Art
von Wunderwerk gewirkt zu haben; denn was war dieß anders
als den erstorbenen Staatskörper wieder ins Leben zurückrufen?Dieß machte die Grundlage von allem Uebrigen aus, was
er in der Folge zum Besten der Nation zu Stande brachte;
ohne dieß würden alle seine Bemühungen von geringem Erfolge
gewesen seyn. Aber nachdem es ihm gelungen war, seine Mitbürger
mit der Liebe des Vaterlandes zu begeistern, so machte
sich alles Uebrige gleichsam von selbst. Die Anzahl der Wohlgesinnten
nahm täglich zu; ein großer Theil derjenigen, welche
das Gift der verdorbenen Sitten zu lange bei sich getragen
hatten, als daß man zu ihrer Genesung sich hätte Hoffnung
machen dürfen, war in den Flammen des Bürgerkriegs verzehrt
worden. Die Häupter der Gegenparteien fanden sich
zu schwach, der Nation, welche wieder unvermerkt in ein
Ganzes zusammen geflossen und von Tifans Geist beseelt war,
sich länger mit Gewalt aufzubringen: sie wählten den Weg
der Unterhandlung, und vereinigten sich endlich mit den
Städten und mit dem Ueberreste des Adels, die großen Angelegenheiten
des Reiches der Entscheidung einer allgemeinen
Nationalversammlung zu überlassen.Dschengis hatte alles so gut vorbereitet, daß der Ränkesucht
keine Zeit gelassen wurde, ihre geheimen Maschinen anzulegen.
Der Reichstag kam in kurzer Zeit zu Stande; die
Freunde des Vaterlandes machten die größere Anzahl aus;
und Tifan, der über ihre Herzen schon lange König war, wurde
durch die allgemeine Stimme seiner Mitbürger für den würdigsten
erklärt, eine Nation zu regieren, die es ihm zu danken
hatte daß sie noch eine Nation war, und im Taumel der
Freude, womit die Hoffnung bess'rer Zeiten sie begeisterte,
nicht zu viel zu thun glaubte, wenn sie sich ohne Bedingung
in die Arme ihres Erretters würfe.Dschengis erhielt den Auftrag, ihm vor der ganzen Versammlung
der Stände den Willen der Nation zu eröffnen;
und itzt glaubte der ehrwürdige Alte, daß der Augenblick gekommen
sey, sein Geheimniß öffentlich bekannt zu machen.
Das allgemeine Vertrauen, welches er sich erworben hatte,
die große Meinung von seiner Redlichkeit, der Ton der Wahrheit
mit welchem er sprach, die väterliche Thräne, die über
seine ehrwürdigen Wangen herabrollte, indem er der Aufopferung
seines eigenen Sohnes erwähnte: alles dieß stopfte
jedem Zweifel den Mund. Die Nation war entzückt, in ihrem
Liebling den Sohn eines Prinzen zu finden, dessen Andenken
sie ehrte. Viele, welche Temorn gekannt hatten, glaubten
die Züge seines Vaters in Tifan zu erkennen. Selbst das
Wunderbare, welches in der Sache zu liegen schien, beförderte
den allgemeinen Glauben. Man überzeugte sich, daß
eine für Scheschian wachende Gottheit es so gefügt habe, daß
die Nation, indem sie bloß den Besten zu ihrem Haupte zu
erwählen dachte, unwissend auf eben denjenigen sich vereinigen
mußte, welchen die Geburt zum Thron berechtigte.Tifan wurde also an dem glücklichsten Tage, den Scheschian
jemals gesehen, unter den frohlockenden Segnungen
eines unzählbaren Volkes, zum König von Scheschian ausgerufen.
Dschengis, der ihm seine Erwählung ankündigte, that
es auf eine Art, welche selbst aus Augen, die noch nie geweint
hatten, Thränen preßte."Endlich ist er gekommen, rief er aus, der glückliche, der
feierliche Tag, der mich für die Arbeit, für die Sorgen so
vieler Jahre, für das größte Opfer, welches ein Vater der
Liebe zu seinem Fürsten bringen kann, belohnen sollte! O Tifan!
o du, dessen Leben ich mit dem Blute meines einzigen
Sohnes bezahlen mußte, sieh in meinen halb erloschenen Augen
diese Thränen der Freude und der Zärtlichkeit! Ich hab' ihn
erlebt den großen Tag, um dessentwillen es der Mühe werth
ist, gelebt zu haben! Ich sehe deine Tugend von einem ganzen
Volke anerkannt, mit unbegränztem Vertrauen, mit dem göttlichsten
Loose, das einem Sterblichen zufallen kann, mit uneingeschränkter
Macht Gutes zu thun, bekrönt. O Tifan! ich
höre auf, dein Vater zu seyn, um an Liebe, an Treue der
erste deiner Unterthanen zu werden. Ich kenne dein großes,
wohlthätiges Herz! Welche Lehren könnte die Weisheit dir
geben, die nicht der Finger der Natur selbst in deine Seele
geschrieben hat! Aber, o mein Tifan! geliebtester, bester der
Menschen! wie könnt' ich vergessen, daß du mit allen deinen
Tugenden, mit allen deinen Vorzügen, doch nur — ein Mensch
bist! daß du Schwachheiten und Bedürfnissen, Irrthümern
und Leidenschaften, eben so wie der geringste deiner Unterthanen,
ausgesetzt bist! Möchtest du uns dieß durch die Menge
deiner guten Thaten, durch den unbefleckten Glanz eines der
Tugend geheiligten Lebens vergessen machen! Möchten wir
immer in dir das sichtbare Ebenbild einer weisen und wohlthätigen
Gottheit erkennen, und nur alsdann, wenn wir an deine
Sterblichkeit zu denken gezwungen sind, mit Zittern fühlen,
daß du weniger als eine Gottheit bist! Aber, o Tifan! wenn
jemals — Himmel, laß meine Augen sich auf ewig am Anbruche
des traurigen Tages schließen — wenn jemals deine
Seele ihrer eigenen Würde und ihrer glorreichen Pflichten vergessen,
jemals zu einer unedlen Leidenschaft oder zu einer ungerechten
That herabsinken wollte — o Sohn meines königlichen
Freundes und der meinige, möchte dich dann die Erinnerung
an deinen Dschengis, wie der Arm eines Genius,
vom Rande des Abgrundes zurückziehen! Möchte dir dann
— —Doch nein! niemals, niemals soll — ich schwör' es bei
der Tugend für die ich dich gebildet habe, niemals wird die
schreckliche Stunde kommen, wo dich das Bild deines Dschengis —
wie er, vom Blute seines einzigen Sohnes bespritzt,
unter der furchtbaren Hülle der Nacht dich auf seinen bebenden
Armen tragend, aus Scheschians Mauern entflieht, —
wo dieß um Rache rufende Bild vonnöthen wäre, den Vater
seines Volkes, den besten der Fürsten, zur Tugend zurückzuschrecken!
Nein! bess're Ahnungen, frohe lichtvolle Aussichten
stellen sich meiner beruhigten Seele dar. Mit den
Segnungen deines Volkes und mit meinen Freudenthränen
bezeichnet, wird jeder Tag deines königlichen Lebens zum
Himmel emporsteigen, die guten Thaten, womit du ihn erfüllt
hast, zu den Füßen des Königs der Könige niederzulegen.
Ich, — diese Edlen von Scheschian, die Mitgenossen deines
Ruhms, und deine Gehülfen in dem großen Werke, dein Volk
glücklich zu machen, — dieses unzählbare Volk, welches sein
Wohl in deine Hände gelegt hat, — wir alle werden uns
selig preisen, deine Zeiten erlebt zu haben, und, mit einem
belohnenden Blicke auf mein glückliches Vaterland und dich,
werden sich einst die Augen deines alten Dschengis schließen."Eine feierliche Stille hielt die ganze Versammlung gefesselt,
und Thränen funkelten in jedem auf Dschengis und Tifan
gehefteten Auge. Der neue König, von der Begeisterung seiner
Empfindungen auf einen Augenblick überwältigt, warf sich
mit ausgebreiteten Armen zur Erde; seine Augen mit den
Zeugen der innigsten Rührung erfüllt, starrten gen Himmel.
— "Höre mich, rief er in einer heftigen Bewegung der Seele,
höre mich, alles vermögender Herr der Schöpfung! Wenn
jemals —"Hier hielt er inne, als ob seine große Seele, durch eine
plötzliche Wiederkehr zu sich selbst, gefühlt hätte, daß es einem
Könige nicht gezieme, eine so heftige, wiewohl tugendhafte
Bewegung, als diejenige wovon sein Herz erschüttert war, vor
den Augen seines Volkes ausbrechen zu lassen. Er schwieg auf
einmal — aber man sah in seinen aufgehobnen Augen, daß
sein Geist unter großen Empfindungen arbeitete.Noch immer schwebte stilles Erwarten auf der Versammlung.
Endlich raffte sich Tifan wieder auf; er stand mit
dem ganzen Anstand eines Königes, der die Majestät seines
übernommenen Amtes fühlt, sah mit einem ernsten Blick
voll Liebe über sein Volk hin, und dann sprach er:"Die Empfindungen, die mein Herz in dieser feierlichen
Stunde erfüllen, sind zu groß, mit Worten ausgedrückt zu
werden. In eben diesem entscheidenden Augenblicke, da ihr,
einst meine Brüder und nun meine Kinder, mich für euern
König anerkannt habt, wurde mir von dem unsichtbaren Herrn
des Himmels und der Erde die Handhabung seiner Gesetze
unter euch aufgetragen; dieß ist der Augenblick, wo ich in
eurer Stimme — Gottes Stimme höre. Ihm werd' ich von
nun an von der Gewalt Rechenschaft geben müssen, die er durch
euch mir anvertraut hat. Ich bin berufen, einen jeden unter
euch bei jedem geheiligten Rechte der Menschheit und des
bürgerlichen Standes zu schützen: aber ich bin auch berufen,
einen jeden unter euch zur Erfüllung seiner Bürgerpflichten
anzuhalten. Ich kenne und fühle die ganze Wichtigkeit meines
Amtes, und im Angesichte der Erde und des Himmels weihe
ich ihm alle Kräfte meines Lebens. Ihm in seinem ganzen
Umfange genug zu thun, erforderte die Kräfte einer Gottheit,
und ich bin nur ein Mensch. — Ohne eure Mitwirkung, ohne
eifriges Bestreben eines jeden unter euch, nach den besondern
Verhältnissen seines Standes, mir das gemeine Beste befördern
zu helfen, würden alle meine Bemühungen fruchtlos
seyn. Vergebens würd' ich mich unter den Sorgen für euer
Glück verzehren, wenn ihr nicht so lebhaft als ich selbst von
der großen Wahrheit überzeugt wäret: "daß ohne Liebe des
Vaterlandes, ohne Gehorsam gegen die Gesetze, ohne Emsigkeit
in den Pflichten unsers Berufes, ohne Mäßigung unsrer
Begierden und Leidenschaften, kurz ohne Tugend und Sitten
keine Glückseligkeit möglich ist." Euch und eure Kinder zu
guten Menschen und zu guten Bürgern zu machen, soll mein
erstes und angelegeneres Geschäft seyn; und mein Beispiel soll
euch überzeugen, daß euer König der erste Bürger von Scheschian
ist. Euer Vertrauen zu meiner Tugend hat mir eine
eben so unumschränkte Macht anvertraut, als die Könige,
meine Vorfahren, besessen haben: aber ich kenne die Menschheit
zu gut, um von dieser gefährlichen Macht einen andern
Gebrauch zu machen, als mir selbst und meinen Nachfolgern
die Schranken zu setzen, die zu unsrer beiderseitigen Sicherheit
vonnöthen sind. Der beste König kann seiner Pflicht vergessen;
ein ganzes Volk kann sein eignes Bestes mißkennen.
Ich würde das Amt, für das eurige zu sorgen, schlecht verwalten,
wenn ich euern Königen die Macht benehmen wollte,
die einem Vater über seine Kinder zusteht. Aber ich würde
auch in dem ersten Augenblicke, da ich euer König bin, meiner
Menschheit vergessen, wenn ich nicht auf Mittel bedacht wäre,
mir selbst und meinen Nachfolgern, so viel als möglich, die
Freiheit Böses zu thun zu entziehen. Eine vorsichtige Bestimmung
der Staatsverfassung, und eine Gesetzgebung, welche
die Befestigung der Ruhe, der Ordnung und des allgemeinen
Wohlstandes in diesem Reiche zur Absicht haben wird, soll die
einzige Ausübung der Vollmacht seyn, die ihr mir überlassen
habt, und auch hierin sollen die Weisesten und Besten mir ihre
Hande bieten. Ja, ich selbst, von den Gesinnungen, die in
meinem Herzen herrschen, ermuntert, ich wag' es zu hoffen,
redlicher Dschengis, daß deine Sorgfalt mich zur Tugend zu
bilden, daß das Opfer, womit du mein Leben erkauft hast,
nicht verloren seyn wird. Möcht' es in dem nämlichen Augenblick
aufhören, dieses dem Vaterlande geweihte Leben, wo ich
unglücklich genug wäre, dem geringsten meines Volkes einen
unverschuldeten Seufzer auszupressen!"Danischmend, rief Schach-Gebal, ich habe für diese Nacht
genug! Deine Leute sprechen nicht übel; aber bei dem allem
däucht mir, ich wollte lieber hören, was Tifan gethan als
was er gesprochen hat.Sire, erwiederte Danischmend, wer so spricht wie Tifan,
macht sich anheischig sehr viel zu thun.Das wollen wir sehen, sagte der Sultan.—————
10.Nach allem, was ich von dem Könige Tifan schon gemeldet
habe, fuhr Danischmend fort, kann man sich berechtiget
halten, große Thaten von ihm zu erwarten. Gleichwohl muß
ich gestehen (und es ist wohl am besten ich thue es gleich anfangs),
daß, wenn Tifan ein großer Fürst war, er es in einem
ganz andern Sinn und auf eine ganz andre Weise war, als
die Sesostris, die Alexander, die Cäsar, die Omar, die Mahmud
Gasni, die Dschingis-Kan, und andre Helden und Eroberer,
unter deren Größe die Welt gleichsam eingesunken ist.
Tifans Größe war stille Größe, und seine Thaten den Thaten
der Gottheit ähnlich, welche, geräuschlos und unsichtbar, uns
mit den Wirkungen überrascht, ohne daß wir die Kraft, welche
sie hervorbringt, gewahr werden.Tifans Thaten hatten noch eine andre Eigenschaft mit
den Verrichtungen der Natur gemein. Sie entwickelten sich
so langsam, sie durchliefen so viele kleine Stufen, und erreichten
den Punkt ihrer Reife durch eine so unmerkliche Verbindung
unzähliger auf Einen Hauptzwek zusammenarbeitender
Mittel, daß man ein schärferes Auge als gewöhnlich haben
mußte, um den Geist, der alles dieß anordnete und lenkte,
und die Hand, welche allem die erste Bewegung gab, nicht zu
mißkennen. Eine kurzsichtige Aufmerksamkeit hätte geglaubt,
daß sich alles von selbst mache, oder würde wenigstens nicht
wahrgenommen haben, wie viel Mühe es kostete, den Bewegungen
eines großen Staats so viele Leichtigkeit und eine
so schöne Harmonie zu geben.Das erste, wozu sich Tifan anheischig gemacht hatte, war
eine genauere Bestimmung der Staatsverfassung.Gut, rief Schach-Gebal, dieß ist gerade wo ich ihn erwarte.
Ich erinnere mich dessen noch ganz wohl, was da ihn gestern
davon sagen ließest. Er will sich der Macht nicht berauben,
die einem Vater über seine Kinder zusteht —aber er will so
wenig als möglich ist Freiheit haben Böses zu thun. Noch
verstehe ich nicht recht, was er will oder nicht will. Ich begreife
nicht, wie ein Fürst unabhängig seyn, und Freiheit haben
kann alles Gute zu thun was er will, ohne auch die
traurige Freiheit Böses zu thun zu behalten.Vielleicht wird das, was ich in der Folge melden werde,
die Zweifel Ihrer Hoheit auflösen, erwiederte Danischmend.
Tifan folgte in dieser ganzen Sache dem Rathe des weisen
Dschengis. Ohne diesen würde er, aus einem zu weit getriebenen
Mißtrauen gegen sich selbst und seine Nachfolger, den
größten Fehler begangen haben, den ein Monarch begehen
kann: denn er war im Begriff dem Adel und dem Volke von
Scheschian die gesetzgebende Macht auf ewig abzutreten.Der Himmel verhüte (sagte Dschengis, da sie sich mit einander
über die Sache besprachen), daß Tifan aus der Verfassung
seines Vaterlandes ein unförmliches Mittelding von
Monarchie und Demokratie mache, welches, eben darum weil
es beides seyn will, weder das eine noch das andere ist. Die
Nation von Scheschian muß den König als ihren Vater, und
sich selbst, in Beziehung auf den König, als unmündig betrachten.
Will sie mehr seyn, will sie das Recht haben den
König einzuschränken, ihm und dem Staat Gesetze vorzuschreiben,
und ihre wichtigsten Angelegenheiten selbst zu besorgen,
so muß sie sich gar keinen König geben. Wer sich selbst regieren
kann, hat keinen Vormund, keinen Hofmeister vonnöthen.
Erkennt sie aber den König für ihren Vater, und sich selbst
als Nation für unmündig, welche Ungereimtheit wär' es, gerade
den wichtigsten Theil der Staatsverwaltung ihrer Willkür
überlassen zu wollen! Welche Ungereimtheit, es auf die
Weisheit oder das gute Glück des Unmündigen ankommen zu
lassen, was für Gesetzen, unter welchen Bedingungen, und wie
lang' er gehorchen wollte! Es geziemt also allein dem Könige,
zugleich der Gesetzgeber und der Vollzieher der Gesetze zu
seyn. Die Regierung eines Einzigen nähert sich durch ihre
Natur derjenigen Theokratie, welche das ganze unermeßliche
All zusammenhält. Wenn wir uns ganz richtig ausdrücken
wollen, so müssen wir sagen: Gott ist der einzige Gesetzgeber
der Wesen; — der bloße Gedanke, Gesetze geben zu wollen,
welche nicht aus den seinigen entspringen, oder mit den seinigen
nicht zusammenstimmen, ist der höchste Grad des Unsinns
und der Gottlosigkeit. Die Natur und unser eignes Herz sind
gleichsam die Tafeln, in welche Gott seine unwandelbaren Gesetze
mit unauslöschlichen Zügen eingegraben hat. Der Regent,
als Gesetzgeber betrachtet, hat, wofern er diesen ehrwürdigen
Namen mit Recht führen will, nichts andres zu thun, als den
Willen des obersten Gesetzgebers auszuspähen, und daraus alle
die Verhaltungsregeln abzuleiten, wodurch die göttliche Absicht,
Ordnung und Vollkommenheit mit ihren Früchten, der
Harmonie und der Glückseligkeit, unter seinem Volke am gewissesten
und schicklichsten erlangt werden können.Hat er mit diesen erhabenen Nachforschungen das besondere
Studium seines eigenen Volkes, des Temperaments, der
Lage, der Bedürfnisse, kurz, des ganzen physischen und sittlichen
Zustandes desselben verbunden, so wird es ihm nicht zu schwer
seyn, auch die Anstalten ausfindig zu machen, wodurch jene
große Absicht — in welcher das Glück des einzelnen Menschen,
das Wohl jeder Nation, das Beste der menschlichen Gattung,
und das allgemeine Beste des Ganzen wie in Einem Punkte
zusammenfließen, —auf die möglichste Weise befördert werden
könne. Die Geschicklichkeit, alles dieses zu bewerkstelligen, ist
leichter bei einem Einzigen, als bei einem ganzen Volke oder
bei einem zahlreichen Ausschusse desselben, zu finden; und auch
aus diesem Grund ist es der Sache gemäßer, die gesetzgebende
Macht dem Fürsten allein zu überlassen.Aber, wie wenn unter Tifans Nachfolgern ein neuer
Azor oder Jsfandiar aufstände? sagte Schach-Gebal.Unstreitig, erwiederte Danischmend, ist die gesetzgebende
Macht in den Händen eines Kindes oder eines Unsinnigen ein
fürchterliches Uebel. Aber diesem Unheil (glaubte Dschengis)
könne durch ein gedoppeltes Mittel hinlänglich vorgebogen
werden; nämlich durch die Unverbrüchlichkeit der einmal von
allen angenommenen Gesetzgebung, und durch eine gewisse Anordnung
über die Erziehung der Prinzen des königlichen
Hauses, welche ein Hauptstück im Gesetzbuche Tifans ausmachen
sollte.Diesen Grundsätzen zufolge wurde bald, nachdem Tifan
die Regierung angetreten hatte, eine königliche Erklärung
dieses Jnhalts kund gemacht:1) Da eine mit den unveränderlichen und wohlthätigen
Absichten des Urhebers der Natur übereinstimmende Gesetzgebung
sowohl dem Fürsten als seinen Untergebenen zur unverbrüchlichen
Richtschnur dienen muß: so wird der König vor
allen Dingen sein Hauptgeschäft seyn lassen, mit Beihülfe derjenigen,
welche die Nation selbst für ihre weisesten und besten
Männer erkennt, ein Gesetzbuch zu verfassen, in welchem die
Pflichten und Rechte des Königs, der Nation, und jedes besondern
Standes, aufs genaueste bestimmt, und alle die
Anordnungen, welche, nach der gegenwärtigen Beschaffenheit
des Reichs, zu dessen Wiederherstellung und Wohlstand am
zuträglichsten erachtet werden, zu jedermanns Wissenschaft
gebracht werden sollen.2) Dieses allgemeine Gesetzbuch soll in der Scheschianischen
Sprache mit einer solchen Deutlichkeit abgefaßt werden, daß
der gewöhnlichste Grad des Menschenverstandes und der Erfahrenheit
zureichend seyn möge, es zu verstehen. Nichtsdestoweniger
soll veranstaltet werden, daß dieses Gesetzbuch
hinfür nicht nur einen Hauptgegenstand der öffentlichen Erziehung
ausmache, sondern auch von den Priestern jedes Ortes,
an gewissen dazu bestimmten Tagen, dem Volke öffentlich erklärt
und eingeschärfet werde.3) Nicht nur alle Edlen, Priester und übrige Einwohner von
Scheschian, sondern auch der König und seine Nachfolger, sollen
schwören, daß sie dieses Gesetzbuch nach allen seinen Artikeln
unverletzlich in Ausübung bringen, und weder selbst demselben
entgegenhandeln, noch, so viel an ihnen ist, zugeben wollen,
daß von jemand dagegen gehandelt werde. Diese Unveränderlichkeit
soll ein allgemeiner und unauslöschlicher Charakter aller
in dem Buche der Pflichten und Rechte enthaltenen Gesetze
seyn; diejenigen Polizei- und Staatswirthschafts-Gesetze allein
ausgenommen, die wegen ihrer Beziehung auf zufällige und
der Veränderung unterworfene Umstände, dem Gutbefinden
des Königs und des Staatsrathes unterworfen bleiben müssen;
jedoch mit dem ausdrücklichen Vorbehalte, daß die Veränderungen,
welche der Hof jemals in besagten Gesetzen zu machen
für nöthig erachten wird, den Grundgesetzen des Buches der
Pflichten und Rechte niemals auf einige Weise zuwider laufen
dürfen.4) Weil aber geschehen könnte, daß die obrigkeitlichen
Personen, welchen der König einen Theil seiner großen Pflicht,
die Gesetze zu handhaben und zu vollziehen, anvertrauen muß,
in Verwaltung ihres Amtes saumselig werden, oder gar wissentlich
und muthwillig denselben entgegenhandeln möchten; nicht
weniger, weil besondere Umstände die Aufmerksamkeit des
Gesetzgebers aus diese oder jene einzelne Stadt, Gegend oder
Provinz nothwendig machen können: so soll in jeder Provinz
von Scheschian alle fünf Jahre ein Ausschuß des Adels, der
Priesterschaft, der Städte und des Landvolks, aus einer bestimmten
Anzahl von freiwillig erwählten und vom Hof unabhängigen
Vertretern dieser vier Stände bestehend, in der
Hauptstadt der Provinz zusammenkommen, um die Beschwerden
der Nation überhaupt oder eines jeden Standes insonderheit
in Erwägung zu ziehen, und im Namen der Provinz schriftlich
an den König gelangen zu lassen. Und sollte sich, wider Verhoffen,
zutragen, daß der König auf einen solchen Vortrag
der öffentlichen Beschwerden nicht achtete, oder zu Abstellung
derselben nicht die schleunigste Hülfe leistete: so soll derselbe
von dem Ausschuß der Stände seiner königlichen Pflicht nachdrücklichst
erinnert werden. Falls aber der Hof fortführe, die
Beschwerden der Stände mit Gleichgültigkeit anzusehen, so
soll es ihnen gestattet seyn, auf diejenige Weise, die für solche
Fälle im Gesetzbuche bestimmt werden soll, sich selbst zu helfen.5) Jede Verordnung der königlichen Statthalter und des
Königs selbst soll, ehe sie die Kraft eines Gesetzes haben kann,
von den Vorstehern der Stände in der Provinz, die es angehet,
vorher untersucht und mit dem Buche der Pflichten und Rechte
genau verglichen werden. Würde befunden werden, daß die
neue Verordnung mit dem Gesetze nicht bestehen könnte, so
haben die Vorsteher der Stände, bei Strafe des Hochverraths
wider den Staat, solches dem Statthalter oder dem Könige
selbst mit den Gründen ihres Widerspruchs anzuzeigen. Und
falls der Hof nichtsdestoweniger auf der Rechtmäßigkeit seiner
Verordnung bestände, so sollen die Vorsteher schuldig seyn, die
Stände selbst zusammenzuberufen; diese aber, wofern sie durch
Dreiviertel der Stimmen den Widerspruch der Vorsteher für
gegründet und gesetzmäßig erkannt haben würden, sollen hierüber
eine förmliche Erklärung an den Hof gelangen lassen,
und berechtigt seyn, die Kundmachung einer solchen widergesetzlichen
Verordnung, im Nothfall sogar mit Gewalt, zu
verhindern. Denn in Scheschian soll nicht der König durch
das Gesetz, sondern das Gesetz durch den König regieren.Ihre Hoheit stellen sich leicht vor, fuhr Danischmend fort,
wie zufrieden die Nation mit dieser Erklärung ihres neuen
Königs gewesen seyn muß, aus welcher stark in die Augen
fiel, daß er nichts Angelegner's habe, als unverzüglich sich selbst
und seine Nachfolger in die Unmöglichkeit zu setzen, Böses zu
thun oder nach bloßer Willkür zu regieren.Ohne Zweifel, sagte Schach-Gebal: ich stelle mir's eben so
leicht vor, als ich mir vorstelle, daß ich lieber ein Strauß oder
ein Truthahn wie der König der grünen Länder und sein Neffe,
als ein Sultan seyn wollte, wenn ich mich alle Augenblicke mit
meinen Unterthanen darüber zanken müßte, wer Recht hätte,
ich oder sie.Allerdings würde dieß ein gleich unglücklicher Zustand für
einen König und für sein Volk seyn, versetzte Danischmend.
Aber wenigstens befand Tifan sich nie in diesem Falle.Das kam vermuthlich daher, weil er unter einem besonders
glücklichen Zeichen geboren war, sagte der Sultan.
Denn gewöhnlicher Weise pflegt ein Volk, sobald es das Recht
hat seinem Herrn zu widersprechen, sich der Erlaubniß mit
solchem Uebermuth und so lange zu bedienen, bis das Verhältniß
umgekehrt ist —der Herr der Unmündige, und seine
getreuen Unterthanen der Hofmeister.Ich dächte doch, sagte Danischmend, die Geschichte zeigte
uns viel weniger Beispiele, wo das Volk sein Recht, zu
widersetzlichen Verordnungen Nein zu sagen, so gröblich gemißbraucht
hätte, — als solche, wo Könige, denen niemand
widersprechen durfte, Verordnungen machten, welchen nur
Strauße und Truthähne zu gehorchen würdig seyn können.Herr Danischmend! sagte der Sultan und hielt inne.Wie dem aber auch seyn mag, fuhr der Philosoph ganz
gelassen fort, unter Tifans Regierung (und dieß war nicht
weniger als in einem Laufe von fünfzig Jahren) ereignete sich's
kaum zwei- oder dreimal, daß die Stände für nöthig erachtet
hätten, dem Könige eine solche Vorstellung zu thun. Und jedesmal
betraf es bloß Verbesserungen, welche, unter den besondern
Umständen der Provinz, worin sie vorgenommen werden sollten,
nicht zu rathen waren. Sobald Tifan verständiget wurde, daß
die abgezielte Verbesserung wider seine Absicht Schaden thun
würde: so nahm er seine Verordnung zurück, und die Vorsteher
erhielten ein eigenhändiges Danksagungsschreiben.Du würdest mir einen Gefallen thun, sagte Schach-Gebal,
wenn du mir eine Abschrift von einem solchen Danksagungsschreiben
verschaffen könntest.Danischmend versprach, sich alle Mühe deßwegen zu geben,
und fuhr fort: diese glückliche Harmonie zwischen Tifan und
seinem Volke war eben so sehr die Frucht der vortrefflichen
Regierungsart dieses Fürsten, als der weisen Gesetze, auf die
er sie gegründet hatte. Die Scheschianer waren weder lenksamer
noch besser als irgend ein andres Volk in der Welt.
Noch vor kurzem hatten sie sich in einem so tiefen Grade von
Verderbniß befunden, daß ein Wunderwerk vonnöthen schien,
um sie wieder zu geselligen Menschen und guten Bürgern zu
machen; und es äußerten sich, ungeachtet der bessern Seele
welche Tifan ihnen bereits eingehaucht hatte, allenthalben noch
die Wirkungen des sittlichen Giftes, wovon die ganze Masse
des Staats so lange durchdrungen gewesen war. Tifans Nachfolger
hatte in diesem Stücke einen großen Vortheil. Ihm
kostete es wenig Mühe, ein wohlgesittetes, an die Ordnung
gewöhntes, und ein halbes Jahrhundert lang von dem Geist
eines weisen und guten Fürsten beseeltes Volk, nach Gesetzen,
die dem größten Theil durch die Erziehung zur andern Natur
geworden waren, zu regieren. Aber Tifan, dem niemand vorgearbeitet
hatte; der das Reich in einem Zustande von Zerrüttung
und Verwilderung übernahm; der so vielfältigen und
großen Uebeln abzuhelfen hatte; der nicht etwan bloß ein
wildes Volk zahm oder ein barbarisches gesittet machen, sondern
einen durchaus verdorbenen Staat mit frischem Blut und neuen
Lebenskräften versehen mußte: Tifan konnte ein so großes Werk
nicht anders als durch einen Grad von Tugend, der selten das
Loos eines Sterblichen ist, zu Stande bringen. Jede Schwachheit,
jedes Laster, womit er behaftet gewesen wäre, würde
seinen ganzen Plan vereitelt haben.Aber Natur, Erziehung und standhafter Vorsatz, alle seine
Pflichten in der möglichsten Vollkommenheit zu erfüllen, vereinigten
sich bei ihm, ihn von den gewöhnlichen Schwachheiten
und Ausschweifungen der meisten Personen seines Ranges frei
zu erhalten. Der Natur hatte er ein Herz zu danken, das
im Wohlthun und in der Freundschaft sein höchstes Vergnügen
fand, und seiner Erziehung den unschätzbaren Vortheil, wenig
Bedürfnisse zu haben. Nüchternheit, Mäßigkeit, und Gewohnheit
sich immer nützlich zu beschäftigen, machten ihm Arbeiten,
vor welchen andre Fürsten gezittert hätten, beinahe zum Spiele.
Seine Ergötzlichkeiten waren bloß Erholungen von der Arbeit.
Er suchte sie bei den schönen Künsten, oder im Schooße der
Natur und in dem Vergnügen eines zwangfreien, freundschaftlichen
Umgangs. Wenig um die Meinung bekümmert,
die der unverständige Haufe von ihm haben könnte, und zu
groß um durch äußerlichen Pomp und Schimmer diesen Pöbel
verblenden zu wollen, aber äußerst empfindlich für das Vergnügen
geliebt zu werden, kannte er keinen andern Ehrgeiz,
als den Wunsch, der geliebte Vater eines glücklichen Volkes
zu seyn. Keine Anstrengung, keine Mühe, keine Nachtwache
war ihm beschwerlich, um diesen schönsten unter allen fürstlichen
Titeln zu verdienen.Zu allem diesem kam ein Umstand, ohne welchen der
beste Wille den tugendhaftesten Fürsten vor dem Unglück übel
zu regieren nicht verwahren kann. Tifan hatte beinahe lauter
rechtschaffene Leute, Männer von eben so aufgeklärtem Geist
als edlem Herzen, zu Dienern; und wenn sich auch hier oder
da ein Heuchler mit einzuschleichen wußte, so mußte ein
solcher doch sein Spiel so behutsam spielen, daß der Schade,
den er thun konnte, sehr unbeträchtlich war.Auch dieß ist sehr glücklich, sagte Schach-Gebal. Dein
Tifan hatte gut alles zu seyn was du willst; die ganze Natur
scheint sich zum Vortheile seines Ruhms zusammen verschworen
zu haben.Vielleicht ließe sich wohl behaupten, erwiederte der ehrliche
Danischmend, daß manche Fürsten in diesem Stücke mehr
glücklich als weise gewesen sind. Zu gutem Glück für sie und
für ihre Unterthanen traf sich's gerade, daß sie meistens ehrliche
Leute aus dem Glückstopfe zogen; denn so wie sie es
anfingen, hätte das Gegentheil eben so leicht begegnen können.
Aber von Tifan kann man sagen, daß er außerordentlich unglücklich
gewesen seyn müßte, wenn er und der Staat nicht
wohl bedient gewesen wären. Er war so sorgfältig in der
Wahl seiner Leute, und verstand sich so gut auf den Werth der
Menschen, um nicht leicht betrogen zu werden. Er war zu
sehr Meister von sich selbst, um sich durch den Schein einnehmen
zu lassen; und wußte zu gut, was für ein Charakter,
was für Geschicklichkeiten und Tugenden zu jedem Amt erforderlich
waren, um in den Fehler so vieler Fürsten zu fallen,
welche mit den besten Dienern bloß deßwegen nichts ausrichten,
"weil sie keinen an seinen rechten Platz zu stellen wissen."Schwache und sorglose Regenten verdienen ihr gewöhnliches
Schicksal, von dem Abschaum des menschlichen Geschlechtes
umgeben zu seyn. Das bescheidne Verdienst steht von ferne;
es scheuet sich vor dem ungestümen Gedränge oder den geheimen
Ränken derjenigen, welche den Hof der Fürsten nur
suchen um ihr eignes Glück zu machen: es will eingeladen
seyn. Aber wie sollte ein schwacher Regent es entdecken
können? Unter einem schlimmen geht es noch ärger. Jener
übersieht die Tugend nur; vor diesem muß sie sich verbergen;
bei jenem ist sie kein Verdienst, weil er sie nicht kennt; bei
diesem ist sie ein Verbrechen, weil er sie zu gut kennt.Tifans Charakter, seine Grundsätze, seine Tugenden,
sein einnehmendes Betragen, zogen, wie durch eine magnetische
Kraft, nach und nach alle verständigen und redlichen Leute von
Scheschian, das ist, alle die ihm ähnlich waren, an sich. Kein
Verdienst, kein Talent blieb ihm verborgen; er war zu aufmerksam
um sie nicht zu entdecken; und die Begierde, einem
so vortrefflichen Fürsten bekannt zu werden, erleichterte ihm
die Mühe sie zu suchen. Ueberdieß vermied er in Absicht auf
diejenigen, die zunächst um ihn waren, einen gedoppelten
Fehler, welchen viele Große zu begehen pflegen. Um zu zeigen,
daß sie keinen Günstling haben, um keine Eifersucht unter
ihren Dienern zu veranlassen, um ihre vollkommne Unparteilichkeit
zu beweisen, begegnen sie einem ungefähr wie dem
andern, und das größte Talent, das wichtigste Verdienst,
sieht sich mit einer Menge mittelmäßiger und verdienstloser
Leute in Einen Klumpen zusammen geworfen. Oft geschieht
es, daß ein Regent bloß durch übertriebene Zurückhaltung,
oder durch das Vorurtheil, "daß ein Diener, wenn er auch
alles gethan habe, doch nur seine Schuldigkeit gethan habe,"
seinen redlichsten und besten Dienern den Muth benimmt,
ihren Eifer niederschlägt, und eben deßwegen nicht die Hälfte
des Nutzens erhält, den er und der Staat von ihnen ziehen
könnten. Noch andre berauben sich der guten Dienste würdiger
Männer durch die unglückliche Gemüthsart, "wegen kleiner
Fehler den Werth der wichtigsten Vorzüge zu verkennen;"
durch immerwährendes Mißtrauen und Geneigtheit, bei allem
was Menschen thun, immer die unedelsten Bewegursachen
vorauszusetzen; durch die Gewohnheit, ihre Diener um der
unerheblichsten Dinge willen zu chicaniren, ihnen kein Verdienst
anders als gezwungenerweise, und nur wenn es unmöglich
ist noch eine Einwendung dagegen aufzubringen, einzugestehen
u. s. f. In allen diesen Betrachtungen verdiente Tifan
von den Regenten zum Vorbilde genommen zu werden. Seine
unermüdete Aufmerksamkeit; sein aufmunternder Beifall; seine
Geneigtheit eher einen Fehler als ein Verdienst zu übersehen;
seine Klugheit jeden in sein gehöriges Licht zu stellen, jeden
zu demjenigen zu gebrauchen, wozu er die meiste Tüchtigkeit
hatte; die Gerechtigkeit womit er sein Vertrauen jedem nach
dem Grade des persönlichen Werthes und der wirklichen Verdienste
zumaß; sein Bemühen das Unangenehme in einem
Auftrage durch die Leutseligkeit seines Tons oder durch eine
verbindliche Wendung zu versüßen; die Achtung, womit er
seinen Dienern überhaupt zu begegnen pflegte, und womit er
sie desto stärker aufmunterte, selbige zu verdienen, weil er
gegen alle Fehler, die aus einem schlimmen Herzen oder aus
Mangel an Empfindung für Ehre und Rechtschaffenheit entsprangen,
sehr streng war: —alle diese Eigenschaften brachten
bei seinen Unterthanen eine beinahe wunderthätige Wirkung
hervor. Niemals ist ein Fürst von bessern Leuten, und muntrer,
sorgfältiger, redlicher bedient worden als Tifan. Wer wollte
nicht einem so liebenswürdigen Fürsten dienen? sagte man: er
besitzt das Geheimniß, die beschwerlichsten Pflichten zum Vergnügen
zu machen, und ein einziger Blick von ihm belohnt
besser als die reichsten Belohnungen eines andern. Kein
Wunder also, daß Tifans Regierung ein Muster einer weisen
und glücklichen Staatsverwaltung war; daß er so große
Dinge zu Stande brachte; daß Scheschian unter ihm von der
untersten Stufe des Elends bis zum Gipfel der Nationalglückseligkeit
emporstieg. Kein Wunder, da er die besten
seiner Zeitgenossen zu Gehülfen hatte; da er kein Talent
unbenützt, kein Verdienst unbelohnt, aber auch mit eben so
vieler Aufmerksamkeit keine Saumseligkeit ungeahndet und
keine Bosheit unbestraft ließ; da jede wichtigere Stelle mit
dem tüchtigsten und redlichsten Manne, den er finden konnte,
besetzt war; kurz, da alle Kräfte des Staats in der schönsten
Uebereinstimmung einander unterstützten und förderten, um
den gemeinschaftlichen Zweck der öffentlichen Wohlfahrt zu
bearbeiten.Danischmend, sagte der Sultan, ich bin noch nie besser
mit dir zufrieden gewesen als heute. Ich fühle wohl, daß
es in gewissem Sinn eine sehr nachtheilige Sache ist Sultan
zu seyn. Aber ich bin doch nicht so sehr Sultan, daß ich
mich schämen sollte, noch immer etwas zu lernen. Wenn du
mir einen Dienst thun willst, so lass' mir die vornehmsten
Maximen deines Tifans über die Wahl seiner Diener, und
sein Betragen gegen sie, mit goldnen Buchstaben in ein schönes
Buch zusammen schreiben. Ich gebe dir mein Wort dafür,
daß es — immer neben meinem Kopfkissen liegen soll.—————
11.Der Sinesische Uebersetzer bedauert, daß er, alles Nachforschens
ungeachtet, das Buch mit den goldnen Buchstaben,
welches Danischmend für den Sultan Gebal verfertigen lassen
mußte, nicht habe zu Gesichte bekommen können. Er vermuthet,
man habe am Hofe zu Dehly ein Staatsgeheimniß
daraus gemacht, oder (welches allerdings noch wahrscheinlicher
ist) daß es der goldnen Buchstaben und des prächtigen Bandes
wegen in die königliche Kunstkammer gelegt, und durch diese
gar zu große Hochschätzung der Welt eben so unnütz gemacht
worden sey, als wenn man es unter eine von den Pyramiden
bei Kairo vergraben hätte. Da wir also außer Stande sind,
die vermuthliche Neugier unsrer Leser durch Mittheilung eines
Buches zu befriedigen, welches (wenn es anders bei der bekannten
Ausraubung des Mogolischen Schatzes durch Thamas
Kuli-Kan nicht nach Jspahan gekommen ist) vielleicht noch
immer in irgend einem Winkel der kaiserlichen Schatzkammer
zu Agra verborgen liegt: so bleibt uns nichts übrig, als den
wohlmeinenden Danischmend seine Erzählung von der Regierung
des Königs Tifan fortsetzen zu lassen so gut er kann.Alle Nachrichten, fuhr er fort, welche sich aus den blühenden
Zeiten des Scheschianischen Reiches erhalten haben, vereinigen
sich, den Zustand desselben unter Tifans Regierung als den
glückseligsten, worin sich jemals eine Nation befunden habe,
abzuschildern. Alles, was uns die alten Fabeln oder Ueberlieferungen
von dem wonnevollen Leben der ältesten Menschen
unter der Regierung der Götter melden, wurde in
dieser bewundernswürdigen Regierung wahr gemacht. Die
Fremden, welche Scheschian zu Jsfandiars Zeit gesehen hatten,
und im dreißigsten Jahre der Regierung Tifans wieder dahin
kamen, konnten kaum sich selbst bereden, daß dieß das nämliche
Land und das nämliche Volk sey. Alle Provinzen dieses
weit gränzenden Reiches standen in voller Blüthe; das Land
und die Städte wimmelten von fleißigen, wohlgesitteten und
fröhlichen Einwohnern; und unter diesem fast unzählbaren
Volke herrschte eine Ruhe, eine Sicherheit, eine Eintracht,
welche in Verbindung mit der immer regen Thätigkeit und
allgemeinen innerlichen Bewegung, unbegreiflich schien. Das
Volk ehrte seine Obern, und liebte seinen eignen Zustand;
der Adel schien seiner Vorzüge durch die Tugenden würdig,
womit er den Gemeinen vorleuchtete. Kein Richter bog das
Recht, kein Finanzeinnehmer stahl, kein Statthalter sog seine
Provinz aus. Die Gelehrten hatten —Menschenverstand, die
Kaufleute — Gewissen, und (was Ihre Hoheit zu glauben
Mühe haben werden) sogar die Priester — Verträglichkeit
und Menschenliebe.Nun wahrhaftig, rief Schach-Gebal, wenn dieß nicht durch
Feerei zuging, so möchte ich wohl wissen, wie Tifan es machte,
solche Verwandlungen zu bewerkstelligen!Durch die einfachste und natürlichste Operation von der
Welt, sagte Danischmend —vorausgesetzt, daß ein Fürst die
Macht, die Einsichten und den guten Willen Tifans und einen
Rathgeber wie Dschengis habe — mit einem Worte: durch
gute Gesetze.Dieser erhabenste Theil des königlichen Amtes, und in
den damaligen Umständen Scheschians der wichtigste, beschäftigte
den Sultan Tifan in den ersten Jahren seiner Regierung
mehr als alles übrige. Er bediente sich hierbei anfangs fast
ganz allein der Beihülfe seines alten Freundes. Denn so ein
weitschichtiges Werk die Gesetzgebung für ein ganzes Volk ist,
so schickt sich doch kein andres Geschäft weniger dazu, von
vielen Köpfen bearbeitet zu werden.Die erste Frage war: "ob man sich begnügen sollte, die
alten Gesetze und Gewohnheiten des Reichs zu verbessern,
oder ob zu Erzielung der allgemeinen Wohlfahrt eine ganz
neue Gesetzgebung vonnöthen sey?"Dschengis war für die letzte Meinung. "Ein altes, übel
gebautes und beinahe schon gänzlich verfallnes Gebäude, sagte
Dschengis, muß nicht geflickt, es muß vollends eingerissen, und
nach einem bessern Plan neu aufgeführt werden."Nach diesem Begriffe arbeiteten Tifan und Dschengis das
Gesetzbuch aus, dessen ich gestern bereits erwähnte; und sobald,
mit Zuziehung eines Ausschusses der rechtschaffensten Männer,
welche die Regierung Tifans aus der Verborgenheit hervorgelockt
hatte, die letzte Hand daran gelegt worden war, wurde
es im dritten Jahre Tifans öffentlich kund gemacht, und —
weil der König Mittel gefunden hatte, den ansehnlichsten
Theil der Priesterschaft auf seine Seite zu bringen — ohne
einigen Widerstand in allen Provinzen des Reiches eingeführt.Du verstehst unter der Priesterschaft vermuthlich keine
andre; sagte Schach-Gebal, als die Priester des blauen und
des feuerfarbnen Affen. Wir kennen diese Herren; und ich
begreife alles eher, als wie es Tifan anfing, um sie auf die
Seite der gesunden Vernunft zu bringen. Dein Tifan konnte
ein wenig hexen, das lass' ich mir nicht ausreden!Freilich trugen die Umstände vieles bei, sein Unternehmen
zu erleichtern, versetzte Danischmend. Die ältesten und eifrigsten
Verfechter beider Parteien waren theils durch die Verfolgung
unter Jsfandiarn, theils durch die bürgerlichen Unruhen
aufgerieben worden. Die jungen Priester, welche nun
den größten Theil des Ordens ausmachten, glaubten an die
Gottheit des blauen oder feuerfarbnen Affen nicht stärker als
die ehmaligen Aegyptischen Priester an die Gottheit des Apis
und des Krokodils; hingegen hatten sie große Ursache zu
glauben, daß der Rest von Ansehen, worin sie noch bei dem
Volke standen, in kurzem völlig verschwinden würde, wenn sie
sich der gesunden Vernunft und dem gemeinen Besten, welche
offenbar aus Tifans ganzer Gesetzgebung athmeten, entgegenstemmen
wollten. Zudem hatte man nicht vergessen, sie in
den geheimen Unterhandlungen, welche vorher mit ihnen gepflogen
wurden, zu überzeugen, daß sie bei der neuen Einrichtung
mehr gewinnen als verlieren würden; und wirklich machte
sie die neue Gesetzgebung zu einer so unentbehrlichen, ehrwürdigen
und in jeder Betrachtung so glücklichen Classe, daß
sie, ohne offenbar wider sich selbst und den Staat zugleich zu
arbeiten, sich nicht entbrechen konnten die Absichten des Königs
zu befördern.Das Buch der Pflichten und Rechte wurde also — —Ohne Unterbrechung, Herr Danischmend, rief der Sultan,
besitzt Ihr ein Exemplar von diesem Buche?Bisher, antwortete der Philosoph, hab' ich unter allen
Indischen Handschriften in der Bibliothek Ihrer Hoheit weiter
nichts als einen unvollständigen Auszug davon hervorstochern
können, der aber, wie es scheint, von guter Hand herrühret.
Indessen halte ich's für keine Unmöglichkeit, daß sich
nicht in irgend einem Theile der Welt das Buch selbst oder
wenigstens eine Uebersetzung davon auftreiben lassen sollte.Ich zahle zehntausend Bahamd'or um ein vollständiges
Exemplar davon, sagte Schach-Gebal.Danischmend war nicht geldgierig, und wenn er es auch
gewesen wäre, so kannte er den Sultan seinen Herrn. Ich
zahle zehntausend Bahamd'or für dieß Buch, wollte in seiner
Sprache weiter nichts sagen, als: weil es, wie ich höre, nicht
zu haben ist, so möcht' ich es haben, es koste was es wolle!Der Philosoph versprach also —nicht, das Unmögliche zu
versuchen (wie man bei einer gewissen Nation, die in allen
ihren Complimenten sehr hyperbolisch ist, zu sagen pflegt), aber
doch, alles Mögliche anzuwenden, um die preiswürdige Neugier
Seiner Hoheit zu befriedigen. Inzwischen, fuhr er fort, da es
gleichwohl ungewiß ist, ob dieses Buch überall noch in der
Welt zu finden seyn mag, so wird es Ihrer Hoheit, wie ich
hoffe, nicht zuwider seyn, aus dem besagten Auszug einen
ziemlich umständlichen, und, wenn mich nicht alles betrügt;
interessanten Begriff von den vornehmsten Gesetzen und Anordnungen
des Königs Tifan zu erhalten.Keinesweges, sagte Schach-Gebal: je eher, je lieber!Das ganze Gesetzbuch war in zwei Haupttheile abgetheilt.
Der erste begriff die Pflichten und Rechte des Königes; der
andere, die Pflichten und Rechte der Nation, sowohl überhaupt,
als in allen ihren besondern Gliedern betrachtet.Der erste Theil bestand aus mehr als zwanzig Hauptstücken.
Nichts war darin vergessen, was zur genauesten Bestimmung
der königlichen Vorrechte gehörte. Dem Könige
waren darin alle die Grundregeln vorgeschrieben, welchen er
in Ausübung dieser von seinem Amte unzertrennlichen Vorrechte
genugzuthun hatte. Sogar seine Hofhaltung und die
Einrichtung seines häuslichen Lebens wurde darin an eine
gewisse Form gebunden, welche, ohne die Könige mit einem
unanständigen und unleidlichen Zwange zu belegen, ihren
Begierden Schranken setzte, und ihnen gegen die Weichlichkeit
und Unthätigkeit der meisten morgenländischen Fürsten
zum Verwahrungsmittel diente.Es ist (sagte Tifan im Eingange des ersten und wichtigsten
Theiles seiner Gesetze), es ist ungereimt, während daß man
die Rechte und Schuldigkeiten der Bürger aufs genaueste auseinandersetzt,
die Rechte und Pflichten des Fürsten, von welchen
doch das Wohl des ganzen Staats abhängt, unentschieden und
schwankend seiner eigenen Willkür, oder der Auslegung und
Bestimmung unzuverlässiger und mit keinem entscheidenden
Ansehen bekleideter Rechtsgelehrten zu überlassen. Es ist ungereimt,
während daß dem Privatmanne vorgeschrieben ist,
wie er sich in jedem möglichen Verhältnisse mit seinen Mitbürgern
zu betragen habe, die besondern Beziehungen des Fürsten
gegen den Staat zweideutig zu lassen, und, indessen das Gesetz
den Bürgern in Erwerbung und Verwaltung ihrer Güter alle
möglichen Schranken setzt, dem Monarchen das Eigenthum
seines ganzen Volkes Preis zu geben. Belehren uns nicht die
Jahrbücher des menschlichen Geschlechtes, wie gefährlich diese
widersinnige Nachlässigkeit insgemein für das Glück der Völker,
und von Zeit zu Zeit auch für die Ruhe der Fürsten und für
die Sicherheit ihrer Thronen gewesen ist? Es ist falsche Politik,
sich einzubilden daß es gefährlich seyn könnte, der Majestät
durch die genaueste Bestimmung ihrer Rechte die Hände
zu binden, und das Volk zu einer beständigen Vergleichung
der Handlungen seiner Obern mit der Richtschnur derselben zu
berechtigen. Weise Gesetze schränken die königliche Macht in
keine andern Gränzen ein, als ohne welche das gemeine Wesen,
dessen oberste Diener die Könige sind, immer in Gefahr wäre,
von ihnen selbst, oder wenigstens von den Dienern ihrer
Diener gemißhandelt zu werden. Die ganze Schöpfung wird
von ihrem Urheber (wiewohl er, und er allein, im eigentlichsten
Verstande ein unumschränkter Herr ist) nach Gesetzen
regiert. Welcher irdische Monarch kann sich für berechtigt
halten, willkürlicher regieren zu wollen als Gott selbst? Und
wenn dieser oberste Monarch seine Wirksamkeit bloß darum an
Gesetze gebunden hat, weil er vollkommen weise und gut ist:
aus welchem Bewegungsgrunde könnten Könige, die doch nur
Menschen sind und über ihresgleichen herrschen, ungebundene
Hände verlangen? — Etwan um Gutes zu thun? Das
Gesetz zeichnet ihnen dazu die sichersten Wege vor. Es erspart
ihnen die Mühe und die Gefahr, aus tausend Abwegen,
die vor ihnen liegen, den rechten Weg auszusuchen:
und anstatt sie dem Tadel des Volkes auszusetzen, dient es
ihnen zum Schilde gegen alle Mißdeutungen, Vorwürfe und
Anmaßungen desselben.Diesem Grundsatze gemäß erklärt und bestimmt Tifan
im ersten Kapitel die Pflichten und Rechte des königlichen
Amtes überhaupt. Die monarchische Verfassung, insoferne
sie durch weise Gesetze eingeschränkt ist, verdient den Namen
der vollkommensten Regierungsart eben darum, weil sie der
göttlichen am nächsten kommt. Da es vergebens seyn würde,
eine vollkommnere erfinden zu wollen, so verordnet Tifan
daß Scheschian zu ewigen Zeiten durch einen König regiert
werden solle. Der König, sagt er ferner, hat seine Majestät
nicht von der Willkür des Volkes, sondern von dem erhabenen
Charakter eines sichtbaren Statthalters des obersten
Weltbeherrschers. Alle seine Pflichten entspringen aus diesem
Charakter, und alle seine Rechte aus — seinen Pflichten.
Denn jede Pflicht schließt ein Recht an alles dasjenige,
ohne welches sie nicht ausgeübt werden kann, in sich. Sobald
ein König von Scheschian unglücklich genug wäre, seine
Pflichten abzuschütteln, so hätte er in dem nämlichen Augenblick
auch seine Rechte verloren.Der Vorzug, selbst der Schöpfer seiner Unterthanen zu
seyn, ist ein unterscheidendes Vorrecht der Gottheit. Nichtsdestoweniger
kann der König in gewissem Sinne der Schöpfer
seines Volkes werden, indem er die Vermehrung desselben so
viel immer möglich ist begünstiget; und dieß ist seine erste
Pflicht.Die zweite, worin er sich nicht weniger als einen Nachahmer
der Gottheit zeigt, ist die unverwandte Vorsorge, seinem
Volke (vorausgesetzt daß dieses es an der pflichtmäßigen Anwendung
seiner eigenen Kräfte nicht ermangeln läßt), Unterhalt
und Ueberfluß des Unentbehrlichen zu verschaffen. Wenn
auf diesem ganzen Erdenrunde Menschen sind, die an dem
Unentbehrlichen Mangel leiden, so liegt es wahrlich nicht an
der Kargheit der Natur; denn diese hat Vorrath genug,
zehnmal mehr Menschen, als sich jemals zugleich auf ihrer
Oberfläche befunden haben, reichlich zu ernähren. An den
Statthaltern der Gottheit ganz allein liegt die Schuld; denn
in ihren Händen liegt die Macht, einer allzugroßen Ungleichheit
vorzubauen; dem Müßiggang keine Duldung zu bewilligen;
den Fleiß aufzumuntern; für den möglichsten Anbau der
Ländereien zu sorgen; Vorrathshäuser für künftige Nothfälle
zu unterhalten; den Provinzen zum Umsatz und Vertrieb ihrer
Producte alle von ihm abhangende Bequemlichkeit zu verschaffen;
und (was die unentbehrlichste Bedingung der Bevölkerung
sowohl als des Wohlstandes eines jeden Staates ist)
die Sitten ihrer Völker zu bilden, und, wenn sie einmal gut
sind, sie rein und unverdorben zu erhalten.Auf diese Weise entwickelt Tifan nach und nach alle übrigen
Pflichten, welche aus der großen Pflicht der Vorsorge für den
Staat entspringen, und deren jeder in der Folge ein eigenes
Hauptstück gewidmet ist. Er bezeichnet sie durch kurze allgemeine
Formeln, in welchen, mit eben so viel starken Zügen als
Worten, der König als Gesetzgeber, als Richter als Verwalter
der Staatswirthschaft, als Beschützer des Staats,
als Aufseher der Religion und der Sitten, als Beförderer
der Wissenschaften und Künste, und, was den Grund zu
allen diesen Verhältnissen legt, als der allgemeine Vater
und Pfleger der Jugend des Staats, dargestellt wird.Nichts kann feierlicher seyn als die Apostrophe an die
Könige seine Nachfolger, womit er dieses Hauptstück schließt. —
"Welch ein Umfang von großen, von äußerst wichtigen Pflichten!
ruft der erhabene Gesetzgeber aus. Wisset, ihr Könige,
die ihr einst auf Tifans Stuhle sitzen, und den furchtbaren Eid
der Treue gegen den König der Könige, und gegen das Volk,
das seine Vorsehung euch anvertrauet hat, auf dieses geheiligte
Gesetzbuch schwören werdet, wisset, daß meine Hand zitterte,
da ich diese Pflichten niederschrieb; daß ein Schauer meine
Seele durchfuhr, da ich ihren ganzen Umkreis überdachte. Diese
Gesetze, welche wir beschworen haben, werden unsre Richter
seyn! Je nachdem wir unser großes Amt wohl oder übel verwaltet
haben, wird eine Nachwelt, die uns nichts als Gerechtigkeit
schuldig ist, unser Andenken ehren und segnen,
oder unsre ruhmlosen Namen mit Verachtung aus dem Buche
der Könige auslöschen; und wegen alles Guten, welches wir
zu thun unterlassen, wegen alles Bösen, welches wir gethan
haben, wird dereinst ein unerbittlicher Richter Rechenschaft
von unserer Seele fordern!"In den nächstfolgenden Hauptstücken werden die besondern
Pflichten des königlichen Amtes einzeln genauer entwickelt, und
die Art und Weise, wie sie auszuüben, durch besondere Gesetze
bestimmt. Dieser Ordnung zufolge macht die gesetzgebende
Macht des Königs den Gegenstand des zweiten Hauptstückes
aus. Es werden darin die Fälle angegeben, in welchen der
König berechtiget ist neue Gesetze zu geben, nachdem sie von
den Vorstehern der Stände geprüft und dem Buche der Pflichten
und Rechte nicht entgegenstehend befunden worden. Hauptsächlich
aber beschäftigt sich Tifan darin mit Anordnung der
Mittel, wodurch die Gesetze in jener immer lebhaften Wirksamkeit
erhalten werden können, ohne welche der Staat von der
besten Gesetzgebung wenig Nutzen ziehen würde. Zu diesem
Ende wird nicht nur (wie oben bereits erwähnt worden) dem
Ausschusse der sämmtlichen Stände des Reiches das Recht zugestanden,
in ihren gesetzmäßigen Versammlungen die Beschwerden,
welche durch Uebertretung oder Mißbrauch eines Gesetzes
veranlaßt würden, dem Könige vorzulegen: sondern es werden
auch für jede Stadt, und jeden der kleinen Bezirke, in welche
die Provinzen zu diesem Ende abgetheilt worden, besondere
Aufseher angeordnet, deren Amt ist, auf die Befolgung der
Gesetze genaue Acht zu haben, jede Verletzung derselben anzumerken,
und alle Monate darüber an den Oberaufseher der
ganzen Provinz umständlichen Bericht zu erstatten, damit von
diesem sogleich an den König selbst berichtet, und dem Uebel
mit den gehörigen Mitteln in Zeiten begegnet werden könne.Uebrigens wird in diesem Hauptstücke allen und jeden Einwohnern
von Scheschian bei Strafe der ewigen Landesverweisung
untersagt, Auslegungen oder Glossen über das Buch der
Pflichten und Rechte zu verfassen, oder irgend ein darin enthaltenes
Gesetz, unter welchem Vorwand es auch geschehen könnte,
zu einem Gegenstande der Privatuntersuchung zu machen. Und
falls jemals über den Verstand eines Gesezes, oder die Anwendung
desselben in einem besondern Falle, ein billiger Zweifel
entstehen sollte, so kommt zwar dem Könige das Recht der
Auslegung oder Erklärung zu: jedoch soll dieselbe in keinem
andern, wiewohl ähnlichen, Falle angezogen oder zur Richtschnur
genommen werden; es wäre denn, daß sie, mit Einwilligung
der Stände des Reichs, die Form und Kraft eines
ewig gültigen Gesetzes erhalten hätte.Im dritten Hauptstücke wird die Bevölkerung des Staats
als einer der wichtigsten Gegenstände der königlichen Vorsorge
betrachtet. Die ganze bisherige Verfassung von Scheschian
(sagt Tifan), der Despotismus der Regierung, die Religion der
Bonzen, die unmäßige Größe der Hauptstadt, der Mangel an
Aufmerksamkeit auf den Zustand der Provinzen, die Unterdrückung
und Ausplünderung des Volkes durch Abgaben, die
der Einnahme desselben nicht gemäß waren und durch die
bloße Art des Bezugs schon unerträglich wurden, endlich der
zügellose Luxus und die Verderbniß der Sitten; dieser Zusammenfluß
von Uebeln hatte das Reich binnen einem Jahrhundert
unvermerkt auf die Hälfte seiner ehmaligen Einwohner
herabgeschmelzt, als die letzten Jahre Jsfandiars und die
darauf erfolgte Zerrüttung das allgemeine Elend vollendeten.
Die Entvölkerung der Städte und der verödete Zustand ganzer
Provinzen hat die Einführung fremder Colonien unentbehrlich
gemacht. Aber weder dieses noch irgend ein anderes von den
Mitteln, die von einigen Fürsten in solchen Fällen angewandt
worden sind, kann die abgezielte Wirkung thun, so lange jene
Uebel fortdauern, von welchen die Entvölkerung eines Staates
die nothwendige Folge ist, oder sobald ihnen der Zugang wieder
eröffnet würde. Das gründlichste und unfehlbarste Bevölkerungsmittel
ist demnach eine Gesetzgebung, durch welche nicht
die Zufälle der Entvölkerung überpflastert, sondern die Ursachen
derselben mit der Wurzel ausgerottet werden. — Dieses war
eine der großen Absichten der Gesetze Tifans; und da das ganze
System derselben alle zu Hervorbringung dieser Absicht erforderlichen
Mittel in sich faßte, so blieb dem folgenden König nichts
übrig, als mit der genauesten Sorgfalt über der Beobachtung
dieser Gesetze zu halten, und jeden Mißbrauch, der sie unvermerkt
hätte unkräftig machen und untergraben können, sogleich
im Keime zu ersticken.Uebrigens läßt sich aus einer Stelle dieses Capitels
schließen, daß Tifan auch in den Ehegesetzen der Scheschianer
beträchtliche Aenderungen vorgenommen habe. Allein da sie
ein besonderes Hauptstück des zweiten Theils seines Gesetzbuchs
ausmachen, so läßt sich, bis man eine vollständige Abschrift
desselben gefunden haben wird, weiter nichts davon
sagen, als daß der ehelose Stand durch Tifans Gesetze niemanden
verstattet wurde, der nicht eine angeborne oder zufällige
körperliche Untüchtigkeit von der unverbesserlichen Art
gerichtlich erweisen konnte.Aber, Herr Danischmend, sagte der Sultan, ich möchte
wohl wissen, wie du mir den Zweifel auflösen wolltest, der
mir in diesem Augenblicke gegen Tifans Grundsätze über die
Bevölkerung einfällt. Ich setze voraus (was doch in der
That kaum zu glauben ist), daß er wirklich alle physischen,
politischen und sittlichen Hindernisse, welche der Vermehrung
eines Volkes nachtheilig sind, glücklich aus dem Wege geräumt
habe; was wird die Folge davon seyn? Seine Scheschianer
werden sich vermehren wie die Kaninchen; in kurzem
werden sie nicht mehr Raum genug haben neben einander zu
wohnen; und der bloße Mangel an Unterhalt wird endlich
eine ärgere Verwüstung unter ihnen anrichten, als Despotismus,
Schwelgerei, Bonzen, Tänzerinnen, Aerzte und
Apotheker zusammengenommen nicht anzurichten vermocht
hätten. — Wie oft, sagt man, muß sich ein Volk ordentlicher
Weise verdoppeln, Danischmend?Die Auflösung dieser Frage, versetzte Danischmend, hängt
von einer Menge zufälliger Umstände ab, welche das verlangte
allgemeine Zeitmaß, insofern es richtig seyn soll, unmöglich
zu machen scheinen. Gleichwohl, da sich mit gutem Grunde
voraussetzen läßt, daß unter einem Volke, wie wir uns das
neue Geschlecht von Menschen, welches die Gesetzgebung Tifans
in Scheschian bildete, vorstellen müssen, das ist, unter der
gesundesten, nüchternsten, mäßigsten, fröhlichsten und gutartigsten
Nation von der Welt, die Leute natürlicher Weise ungleich
länger leben, und die Ehen viel länger fruchtbar sind als bei
allen andern Völkern: so können wir, däucht mich, ohne Bedenken
annehmen, daß sich die Anzahl der Einwohner Scheschians
unter besagten Umständen in hundert Jahren wenigstens
zweimal verdoppelt haben müsse; und dieß macht freilich
in zweihundert Jahren eine ungeheure Summe aus."Und woher sollen alle diese Menschen ihren Unterhalt
nehmen?"Ich setze (vermöge einer Berechnung, womit es unschicklich
wäre Ihrer Hoheit beschwerlich zu fallen) voraus, daß
Scheschian, auf dem Grade der Vollkommenheit, wozu Tifan
den Anbau des Landes brachte, vermögend war, wenigstens
hundert Millionen arbeitsamer und mäßig lebender Menschen
zu ernähren."Dieß nenn' ich viel, Herr Danischmend, wofern ihr
euch nicht verrechnet habt. Aber setzen wir immer, daß es
so gewesen sey; woher sollen zweihundert, vierhundert, achthundert,
sechzehnhundert, und alle die unzähligen Millionen,
welche am Ende der zwanzigsten Generation vorhanden seyn
werden, ihren Unterhalt bekommen? Ich wollte wetten, daß
zuletzt nicht einmal Luft genug in der Welt wäre, sie zu
nähren, wenn sie auch von bloßer Luft leben könnten."Und dazu kommt noch ein Umstand, sagte die schöne Nurmahal,
der dem armen Danischmend eine Gelegenheit entzieht,
wodurch er die Anzahl seiner Scheschianer von Zeit zu Zeit
merklich hätte vermindern können. Wenn Tifans Nachfolger
ihrem Vorbilde nur einigermaßen ähnlich waren, und wenn
sich also die Verfassung, welche dieses Reich von Tifan empfing,
einige Jahrhunderte erhalten hat, wie man von einer so vollkommenen
Gesetzgebung nicht anders erwarten kann: so ist
nicht begreiflich, wie Scheschian in dieser ganzen Zeit in einen
Krieg von einiger Bedeutung hätte sollen verwickelt werden
können. Wer hätte sich unterstehen wollen, einen solchen
Staat anzugreifen oder sich ihn zum Feinde zu machen? Und
was in der Welt hätte einen König von Scheschian bewegen
können, selbst der Angreifer zu seyn?Die Ehre seiner Krone kann den besten König nöthigen,
einen Krieg anzufangen, oder an den Händeln seiner Nachbarn
Antheil zu nehmen, sagte Schach-Gebal. Doch, wir
wollen diese Betrachtung gelten lassen was sie kann: immer
seh' ich nicht ab, wie sich Freund Danischmend dießmal aus
der Sache ziehen wird.Bald würden mir Ihre Hoheit bange machen, erwiederte
der Doctor. Gleichwohl ist diese Vevölkerungssache so schlimm
nicht als sie beim ersten Anblicke scheint. Je mehr sich die
Bewohner von Scheschian vervielfältigen, je mehr Hände haben
sie die Natur zu bearbeiten; eine Quelle, welche desto ergiebiger
ist, je größer die Zahl derer ist die aus ihr schöpfen.
Und wer kann das Maß und die Gränzen ihrer Fruchtbarkeit
bestimmen? Ueberdieß nimmt auf der einen Seite mit der
Zahl der Menschen auch die Summe ihrer Bedürfnisse, und
folglich auch der Hände zu, die ihrentwegen in Arbeit gesetzt
werden müssen und von dieser Arbeit leben; so wie auf der
andern Seite Fleiß und Erfindsamkeit durch die immer nahe
Gefahr des Mangels angespornt werden, die Künste zu einer
Vollkommenheit zu bringen, wodurch ihnen vermittelst des
auswärtigen Handels eine Menge andrer Völker zinsbar wird.
Reicht endlich alles dieß nicht zu, nun so werden wir uns
freilich entschließen müssen, die Bienen zum Muster zu nehmen,
und von Zeit zu Zeit die jungen Schwärme zu nöthigen,
sich andre Wohnsitze auszusuchen; es sey nun, indem ein großer
Theil der Scheschianer sich einzeln in fremde Länder zerstreut,
wo fleißige und geschickte Ankömmlinge allezeit willkommen
seyn werden; oder indem der Staat selbst Colonien
aussendet, welche sich auf entlegenen Küsten niederlassen,
Künste und Sitten zu barbarischen Völkern tragen, und durch
das nämliche Mittel, wodurch sie ihren eigenen Zustand verbessern,
zugleich Wohlthäter des menschlichen Geschlechtes
werden. Wie viele und große Inseln, wie viele bewohnbare
Gegenden des festen Landes liegen entweder noch ganz öde,
oder sind doch lange nicht so bewohnt und angebaut, daß sie
nicht noch Raums genug für viele Millionen neuer Ankömmlinge
haben sollten, welche, anstatt ihren Unterhalt durch die
Jagd in unermeßlichen Wildnissen zu suchen, die Werkzeuge
des Ackerbaues und der Künste mit sich bringen, wodurch der
zehnte Theil des Bezirks, worin hundert Wilde kümmerlich
ihrem Hunger wehren, zu einer reichen Vorrathskammer für
hundertmal so viel gesittete Familien gemacht wird!Sehr wohl, sehr wohl, sagte der Sultan lächelnd: und
wenn dieß auch nicht zureicht, Herr Danischmend, nun, so
haben wir ja auf den Nothfall noch Heuschrecken, Pestilenz,
Erdbeben und Ueberschwemmungen, welche uns die Mühe ersparen
können, eine kleine Abänderung in den Gesetzen des
weisen Tifans zu machen."Ich hoffe, wir werden nicht vonnöthen haben, die Natur
um eine so grausame Hülfe anzurufen. Sie hat schon auf
eine andre Weise dafür gesorgt, daß, bei allen möglichen sittlichen
Beförderungsmitteln der Bevölkerung, dennoch nicht
leicht ein gefährliches Uebermaß derselben zu besorgen ist.
Die Vermehrung steht, nach einer allgemeinen Beobachtung,
in einem selten ungleichen Verhältnisse mit der mehrern oder
mindern Leichtigkeit, die das Volk hat, seinen Unterhalt zu
gewinnen. Und gesetzt auch, einer von Tifans Nachfolgern
hätte sich endlich genöthiget gesehen, dem Verbot des ehelosen
Standes etwas weitere Gränzen zu setzen: würde nicht diese
Nothwendigkeit selbst den stärksten Beweis von der Vortrefflichkeit
der Gesetze Tifans ausgemacht haben?"Bei allem dem, fuhr Schach-Gebal in seinem einmal
angenommenen Tone fort, mag es in Scheschian jährlich
eine hübsche Anzahl Findelkinder gegeben haben, Herr Danischmend?Eine sehr ansehnliche, allem Vermuthen nach, sagte der
Philosoph: aber desto besser für den König, oder eigentlicher
zu reden, für den Staat!Wie so, fragte der Sultan.Um Ihre Hoheit nicht mit Räthseln aufzuhalten, so muß
ich sagen, daß es, von Tifans Zeiten an, eigentlich gar keine
Findelkinder in Scheschian gab; — denn von unehelichen war
die Rede nicht mehr. Tifans Gesetze hatten dafür gesorgt,
daß Natur und Liebe sich niemals in der traurigen Nothwendigkeit
befinden konnten, das Süßeste und Wertheste, was
beide haben, verläugnen zu müssen. Aber in allen Städten
und andern schicklichen Plätzen waren Häuser angelegt, wo
die Kinder der Tagelöhner und der Dürftigen (sobald die Last
der Ernährung und Erziehung derselben den Eltern zu schwer
fiel) auf Unkosten des Königs erzogen wurden.Dein Tifan war ein seltsamer Cameralist, rief Schach-Gebal
aus.Dieß war er auch in der That, wie Ihre Hoheit aus
einem der folgenden Kapitel seiner Gesetze sehen werden.
Indessen fiel diese Einrichtung, durch die Art wie sie veranstaltet
war, dem Staate gar nicht schwer, und verschaffte ihm hingegen
einen vielfachen beträchtlichen Nutzen. In den meisten
andern Staaten vereinigen sich Dürftigkeit, ungesunde Nahrung
und durchgängige Verwahrlosung der Leiber und der
Seelen, aus den Kindern der Tagelöhner und der untersten
Classe der Handwerksleute eine Art von Geschöpfen zu machen,
die von der dümmsten Art von Vieh kaum durch etwas
andres als einige, wiewohl öfters sehr unvollkommene, Aehnlichkeit
mit der menschlichen Gestalt zu unterscheiden sind.
In Scheschian war es ganz anders. Da die Eltern dieser
Kinder (außer einem geringen Beitrage, den sie zum Unterhalt
derselben bis ins siebente Jahr, das ist, bis sie durch
die Arbeit, wozu sie angehalten wurden, ihre Nahrung selbst
verdienen konnten, von ihrem Verdienste abgeben mußten)
bloß für ihren eigenen Unterhalt zu sorgen hatten, den sie
durch eine nicht übermäßige Arbeit reichlich erwerben konnten:
so brachten sie zu einem Geschäfte, welches die Natur zum
Besten der Menschheit mit so vielem Reize verbunden hat,
mehr Lust, Munterkeit und Kräfte, als man von andern ihresgleichen,
unter den elenden und drückenden Umständen, worin
sie in den meisten Ländern schmachten, erwarten kann. Sie
zeugten also auch gesundere, stärkere und schönere Kinder;
und die weisen Anstalten, welche Tifan zu Erziehung derselben
getroffen hatte, waren eben so viele Pflanzschulen, worin dem
gemeinen Wesen nützliche Mitglieder von allen Arten gebildet
wurden.In den meisten andern Staaten würden solche Anstalten,
aus Mangel kluger Einrichtung und guter Aufsicht, in kurzem
ausarten, und den gemeinnützigen Zweck nur auf eine sehr
unvollkommene Weise befördern. Aber hier hatte Tifan für
alles gesorgt. Alle in dergleichen öffentlichen Erziehungshäusern
sonst gewöhnlichen Mißbräuche waren unmöglich gemacht. Diese
Kinder genossen unter dem Namen der Pflegekinder des Königs
den unmittelbaren königlichen Schutz. Die Könige selbst, welche
das Gesetz nach dem Beispiele Tifans zu beständigen Reisen
durch die verschiedenen Provinzen des Reichs verpflichtete, kamen
von Zeit zu Zeit, den Zustand ihrer Pflegekinder zu untersuchen,
und die geringste Untreue oder Saumseligkeit auf
Seiten der Personen, welche als Bediente oder als Lehrmeister
und Aufseher bei diesen Häusern angestellt waren, wurde so
scharf bestraft, ein pflichtmäßiges Betragen hingegen, nach
Verfluß einer gewissen Zeit, so wohl belohnt, daß Fremde,
welche diese sonderbaren Stiftungen sahen, sich nicht genug
darüber wundern konnten — daß es so leicht sey, gute Anstalten
in der besten Ordnung zu erhalten.In der That, ich lasse mir diese Einrichtung gefallen,
sagte Schach-Gebal. Aber was machte Tifan mit so vielen
Pflegekindern?Es scheint nicht, daß er jemals über ihre Menge verlegen
gewesen sey, antwortete Danischmend. Die stärksten aus ihnen
wurden zum Soldatenstand, oder zu andern Verrichtungen,
welche vorzügliche Leibeskräfte erfordern, erzogen; und die unfähigsten
waren doch immer zu irgend einer mechanischen Arbeit
gut genug. Ein großer Theil ging als Dienstboten in die
Häuser der Edeln und Begüterten über; mit einem andern
Theile wurden die Fabriken besetzt, welche Tifan in großer
Anzahl angelegt hatte; und diejenigen, bei denen man eine
Anlage zu höhern Talenten, oder den Genie irgend einer
schönen Kunst entdeckte, wurden in dem gehörigen Alter ausgeschossen,
und in andern ihrer Fähigkeit angemessenen Anstalten
zu ihrer Bestimmung zubereitet.Danischmend, sagte der Sultan, merke dir, daß wir
nächstens das weitere von dieser Sache sprechen wollen. Du
sollst mir einen Plan vorlegen, — verstehst du mich? Gute
Beispiele verdienen Nachfolger. Für heute haben wir genug.—————
12.Der Sinesische Uebersetzer, ohne der besondern Unterredungen
des Sultans Gebal mit seinem Hofphilosophen, und
der Entwürfe oder wirklichen Anstalten, welche vermuthlich
die Früchte davon waren, weiter Erwähnung zu thun, begnügt
sich auf seinem bisherigen Wege fortzuschreiten, und berichtet
uns, daß der Sultan des folgenden Abends, da die Rede
wieder von Tifan und seiner Gesetzgebung gewesen, das Gespräch
auf seinen Lieblingsgegenstand, auf die Staatswirthschaft,
gelenkt, und ein großes Verlangen bezeigt habe, zu
wissen, wie dieser Fürst so große Ausgaben, als er, nach
einigen Proben zu urtheilen, sich selbst aufgelegt, habe bestreiten
können? Diese Neugier Seiner Hoheit hätte zu einer sehr
umständlichen Erörterung der Sache geführt, wovon er, da
einem Sinesischen Prinzen über diese Rubrik nichts gesagt
werden könne was er nicht zu Hause eben so gut finde, sich
begnügen würde, folgenden Auszug zu liefern.Die Schriftsteller, sagte Danischmend, aus welchen ich
meine Nachrichten von Tifans Grundsätzen über das Finanzwesen
und über die Staatsökonomie gezogen habe, erzählen
uns davon Dinge, die beim ersten Anblicke sehr seltsam, wo
nicht gar unglaublich klingen. Tifan rühmte sich (sagen sie)
wenige Tage vor seinem Tode gegen seinen Nachfolger, daß er
ihm einen Schatz hinterlasse, dergleichen kein einziger von allen
Königen Asiens aufzuweisen habe. Es ist wahr, sagte er, in
meiner Casse wirst du keinen großen Vorrath antreffen: aber
ich hinterlasse dir sechzig Millionen vergnügte, wohlgenährte,
wohlgekleidete, wohlgesittete, fleißige und unsrer Regierung
wohlgeneigte Unterthanen, welche, sobald du sie zum Besten
des Staats vonnöthen hast, mit allen ihren Fähigkeiten, mit
allem ihrem Vermögen, mit allem Blut in ihren Adern, freiwillig
dein eigen sind. Ich hinterlasse dir Städte, die von
arbeitsamen und geschäftigen Menschen wimmeln, und Landschaften,
die einem blühenden Garten ähnlich sind. Wie sehr
anders sah dieß alles aus als ich König wurde! Aber fünfzig
Jahre, mein Sohn, sind eine schöne Zeit für einen König, der
den Willen hat Gutes zu thun, und der alle seine Unterthanen
zu Gehülfen zu machen weiß. Auch hoffe ich, du wirst in
diesem ganzen Reiche keine verfallene Stadt wieder herzustellen,
keinen Sumpf auszutrocknen, keine Einöde zu bevölkern und
anzupflanzen übrig finden. Die Provinzen deines Reichs sind
wie die Glieder Eines gesunden und vollblühenden Körpers;
Ein gemeinschaftlicher Lebenssaft strömet durch sie hin; jede
dient der andern, jede unterstützt die andre; jede trägt das
Ihrige bei, das Ganze vollkommner zu machen, und erhält
vom Ganzen Lebenswärme und Nahrung, und jeden Beistand
dessen sie benöthigt seyn kann. Jede Classe des Staates ist
was sie seyn soll, und Ein durch sie alle ausgegossener Geist
der Eintracht und Vaterlandsliebe verbindet sie zum allgemeinen
Besten. Die Jugend einer jeden Classe wird zu ihrer
künftigen Bestimmung erzogen. Alle eitle Gelehrsamkeit ist
aus Scheschian verbannt; die Akademie der Wissenschaften ist
in eine Werkstatt nützlicher Erfindungen, in eine Schule der
Weisheit, der Tugend und des Geschmacks verwandelt. Nenne
mir eine Geschicklichkeit und Kunst, die zum Wohlstand eines
Volkes anwendbar ist, und in Scheschian nicht Aufmunterung
und Belohnung finde. Und nun, mein Sohn, gestehe, daß
dein Vater ein guter Wirthschafter war, und folge seinem
Beispiele.Die Wahrheit von der Sache war, daß Tifans Nachfolger
an dem Tage da er den Thron bestieg, —zwar keine Schulden,
aber wirklich kaum so viel Geld in der Schatzkammer fand, als
der reichste Kaufmann zu Scheschian in seiner Casse liegen
hatte. Welch eine Wirthschaft!Bei den meisten andern Fürsten ist nichts willkommner,
als ein Project aus hundert Taels, die in die Schatzkammer
fließen, zweihundert zu machen. Bei Tifan würde mit allen
Projecten, wobei es darauf ankam die Unterthanen ärmer zu
machen, nichts als ein Platz im Zuchthause zu verdienen gewesen
seyn. Bringt mir Vorschläge, pflegte er zu sagen, die
Scheschianer klüger, besser, arbeitsamer, geschickter und glücklicher
zu machen! Je mehr sie alles dieß sind, desto reicher
werden sie seyn: und bin ich nicht reich genug, wenn es meine
Scheschianer sind?Noch eine Seltsamkeit! In allen andern Staaten, oder
doch beinahe in allen, pflegen die Auflagen auf das Volk unvermerkt
(oft auch sehr merklich) zuzunehmen. Die Bedürfnisse
des Staats, sagt man, werden immer größer: und da
in den meisten das Vermögen des Volkes in eben der Maße
abnimmt wie die Staatsbedürfnisse zunehmen; so kommt zuletzt
der Augenblick, wo das Volk, gerade wann der Staat am
meisten bedarf, nichts mehr zu geben hat. In Scheschian war
dieß ganz anders eingerichtet. Tifan verstand die Kunst große
Dinge mit wenigen Kosten zu thun; welches ungefähr eben
so viel ist, als die Kunst der alten Helden, mit kleinen Heeren
große Siege zu erfechten. Gleichwohl war es nicht anders
möglich, als daß die Scheschianer anfangs alle ihre Kräfte aufbieten
mußten, um die großen Summen zu erschwingen, die
zur Ausführung seiner Anstalten zum gemeinen Besten vonnöthen
waren. Aber schon im zehnten Jahre seiner Regierung
sah er sich im Stande, die Last des Volkes merklich zu vermindern;
und in den letzten Jahren bezahlten die Scheschianer
dem Staate kaum den dritten Theil dessen, was ihnen unter
Sultan Azorn abgenommen worden war; und gleichwohl war
der öffentliche Schatz nicht um eine Unze leichter als in den
ersten Jahren Tifans, und wenigstens um neunzehn Theile von
zwanzig reicher als unter Azorn.Wie ging dieß zu? fragte Gebal.Durch die einfachste Operation von der Welt, antwortete
Danischmend. Im zehnten Jahre Tifans waren ungefähr
dreißig Millionen Menschen in Scheschian, welche zusammen
zweihundert Millionen Unzen Silbers in die Schatzkammer
bezahlten. Im fünfzigsten Jahr eben dieses Königs zählte
man über sechzig Millionen Einwohner, welche, um die nämliche
Summe zusammenzubringen, nur halb so viel bezahlten
als ihre Vorgänger, aber noch immer in die Schatzkammer.
Hingegen befanden sich in den letzten Jahren Azors vierzig
Millionen Einwohner in Scheschian, welche drei- und zuletzt
viermal so viel bezahlen mußten; aber unglücklicher Weise das
meiste weder an die Schatzkammer noch an den König, sondern
an die ungeheure Anzahl der Pächter und Einnehmer, an die
Maitressen des Königs, an die Günstlinge und Höflinge, an
die königliche Küche, an die königliche Garderobe, an die königlichen
Pferde, Hunde, Katzen, Elephanten, Riesen, Zwerge,
Affen und Papagaien, und an eine unendliche Menge anderer
entbehrlicher Geschöpfe, die zum Hofstaat Seiner Majestät gehörten,
und insgesammt sehr große Bedürfnisse hatten. Alle
diese Theilnehmer an den Staatseinkünften nahmen so viel
davon zum voraus weg, daß ein mäßig starker Esel wenig
Mühe hatte, den Rest in die königliche Schatzkammer zu tragen;
und dieser einzige Umstand löset, däucht mich, das ganze
Geheimniß auf.Es gefiel dem Sultan Gebal, bei dieser Stelle in ein so
starkes Gelächter auszubrechen, daß Danischmend inne halten
mußte. Der arme Azor, rief er einmal über das andere aus,
der arme Mann! Kann man auch ein ärmerer Schelm seyn
als Azor!In der That, sagte Danischmend, der gute Azor war beinahe
noch ärmer als seine armen Unterthanen.Du hast Recht, Danischmend, versetzte Schach-Gebal: die
guten Leute sind wirklich zu bedauern! — Aber wo blieben
wir? Die Wahrheit zu sagen, ich sehe noch nicht sehr hell in
der Haushaltung deines Tifan.In kurzem, hoffe ich, soll Ihrer Hoheit alles sehr deutlich
werden, erwiederte der Philosoph. Sultan Tifan macht in
seinem Gesetzbuch eine merkwürdige Distinction zwischen den
Bedürfnissen des Königs und den Bedürfnissen des Staats,
und folglich auch zwischen dem Beutel des einen und des andern.
Zu jenen bestimmte er eine beträchtliche Anzahl von
Krongütern, welche seit den Zeiten Ogul-Kans die Domänen
des Königs ausgemacht hatten. Er vermehrte sie, mit Bewilligung
der Nation, durch einen Theil der verödeten Gegenden,
welche, von den bürgerlichen Unruhen her, aus Mangel
an Bewohnern unangebaut lagen, und als dem Staat anheim
gefallen betrachtet, von Tifan aber mit fremden Colonisten
besetzt und in wenig Jahren in einen sehr ergiebigen Stand
gesetzt wurden. Außerdem waren die Einkünfte von den Bergwerken
und Salzgruben von jeher als königliche Güter angesehen
worden, und Tifan ließ es um so mehr dabei bewenden,
weil er sich und seinen Nachfolgern das Vermögen auch willkürlich
Gutes zu thun nicht entziehen wollte; eine Idee, welche
sich mit der menschlichen Schwachheit vielleicht entschuldigen
läßt, wiewohl sie durch ihre Folgen in spätern Zeiten dem
Scheschianischen Reiche verderblich geworden ist.Alle diese Einkünfte betrugen durch die gute Wirthschaft
des Königs Tifan in seinen letzten Jahren ungefähr neun bis
zehn Millionen Unzen Silbers, welche der König verwalten
konnte, wie er wollte, ohne jemand deßwegen Rechenschaft zu
geben. Hingegen mußte er davon seine ganze Hofhaltung,
alle seine Privatausgaben, und, nach Tifans ausdrücklicher
Verordnung, selbst alle diejenigen bestreiten, welche die Majestät
des Thrones erfordert. Da nun diese Summe, so beträchtlich
sie war, gar leicht für die Begierden eines schwachen
oder ausschweifenden Fürsten unzulänglich hätte seyn können:
so verordnete Tifan in einem besondern Abschnitte seines Gesetzbuches,
wie der Hofstaat des Königs, seine Tafel, und alles
was zu seiner Haushaltung gehörte, eingerichtet seyn sollte.
Eine edle Einfalt und eine sehr große Mäßigung war der Geist
dieser Verordnungen. Wenn der Luxus, sagte Tifan, einem
wohl eingerichteten Staat verderblich, und nur in einem sehr
verdorbenen eine Zeit lang ein nothwendiges Uebel ist; wenn
der größte Reichthum desselben in der Menge arbeitsamer
Einwohner besteht, und die Bevölkerung, ohne Mäßigung der
Begierden und des Aufwands, unmöglich so weit gehen kann
als sie sonst natürlicher Weise gehen würde: so fällt in die
Augen, wie nothwendig es ist, daß der Hof dem ganzen Staat
ein fortdauerndes Beispiel einer Tugend gebe, welche die
stärkste Schutzwehre der guten Sitten ist. Nach dem Hofe
bilden sich die Großen und der Adel: und vereinigen sich
diese, dem Volke mit dem Beispiel einer einförmigen, in die
Schranken der Anständigkeit und einer guten Wirthschaft eingeschlossenen
Lebensart vorzuleuchten, so wird das Volk destoweniger
der Gefahr ausgesetzt seyn, den Geist seines Standes
und den Geschmack an der Einfalt seiner eigenen Lebensart
zu verlieren. Diese Einförmigkeit ist nur solchen Leuten
zuwider, in welchen der Müßiggang ausschweifende Begierden
und einen grillenhaften Geschmack ausbrütet: in Scheschian
kann es keine solche Leute geben; denn das Gesetz duldet keine
Müßiggänger. Vom König an bis zum Tagelöhner ist jedermann
mit den Pflichten seines Standes oder mit der Ausübung
seiner Talente beschäftigt; und beschäftigte Leute, für
welche die bloße Ruhe schon eine Art von Vergnügen ist, haben
nur einfache und ungekünstelte Ergötzungen vonnöthen, weil die
Ergötzungen für sie keine Beschäftigung, sondern nur Erholungsmittel
nach der Arbeit sind.Eine nach diesen Begriffen eingerichtete Hofhaltung konnte,
wiewohl das Anständige, und bei gewisser Gelegenheit selbst
das Glänzende, nirgends vermißt wurde, nicht so viel kosten,
daß der König nicht noch große Summen in Händen behalten
hätte, wovon er einen edeln, wohlthätigen und gemeinnützigen
Gebrauch machen konnte. Tifan, zum Beispiel, der ein großer
Liebhaber der Naturforschung war, wendete einen beträchtlichen
Theil seiner eigenen Einkünfte auf physische Versuche,
auf mathematische Werkzeuge, und auf Belohnung derjenigen,
welche in diesem Fache sich vorzüglich verdient machten.
Er stiftete aus seiner eigenen. Casse eine Akademie der schönen
Künste, deren immer zunehmendes Wachsthum eine seiner
angenehmsten Ergötzungen ausmachte. Ueberdieß setzte er für
alle Arten nützlicher Bemühungen jährlich eine beträchtliche
Anzahl von Preisen aus. Alle Unternehmungen, von welchen
dem Staat Ehre oder irgend ein andrer Nutzen zugehen konnte,
fanden in ihm einen großmüthigen aber zugleich einsichtsvollen
Beförderer, welcher Schein und Wahrheit sehr genau zu
unterscheiden wußte. Hauptsächlich aber standen alle jungen
Leute, welche sich durch Proben außerordentlicher Fähigkeiten
hervorthaten, unter seinem unmittelbaren Schutze. Er hielt
ein Verzeichniß über alle die zu dieser Classe gehörten; er verschaffte
ihnen Gelegenheit sich vollkommen zu machen; und da
er sie genau genug kennen lernte, um ihre mannichfaltigen
Talente aufs beste benützen zu können, so mag es wohl diesem
Umstande vornehmlich zuzuschreiben seyn, daß er im Stande
war, die vortreffliche Staatswirthschaft zu führen, deren er
sich gegen seinen Nachfolger rühmte.Bei einem solchen Gebrauch, als Tifan von seinen eigenen
Einkünften machte, läßt sich leicht begreifen, warum er
seinem Sohne keinen großen Vorrath an baarem Gelde hinterließ;
wiewohl unter allen Rubriken seiner Ausgaben keine
einzige war, über die er zu erröthen Ursache gehabt hätte.
Aber daß es auch mit dem öffentlichen Schatze die nämliche
Bewandtniß hatte, würde gegen seine gute Wirthschaft einigen
Verdacht erwecken können, wenn Tifan sich nicht zum
Grundsatz gemacht hätte, die Einnahme und Ausgabe des
Staats so genau gegen einander abzuwägen, daß beim Schlusse
jedes Jahres, nach Abzug der letzten von der ersten, wenig
oder nichts übrig blieb. Dieser öffentliche Schatz bestand aus
den Abgaben, welche theils von den Eigenthümern aller
liegenden Grundstücke, theils von dem beweglichen Vermögen
und Erwerb aller übrigen Einwohner des Reichs erheben
wurden. Er betrug unter Tifans Regierung ordentlicher
Weise niemals über zweihundert Millionen Unzen Silbers,
und durfte auf nichts andres als die unumgänglichen Ausgaben
des Staats, oder auf solche, welche augenscheinlich zum
Besten desselben gereichten, und im Gesetzbuch ausdrücklich
benannt waren, verwendet werden. Der König, sagt Tifan,
hat nicht die mindeste willkürliche Gewalt über das Vermögen
seiner Unterthanen: er ist schuldig sie dabei zu schützen; aber
er ist so wenig als irgend ein andrer Mensch befugt, ihnen
nur den Werth einer Stecknadel wider ihren Willen wegzunehmen.
Hingegen sind die sämmtlichen Bürger des Staats
verbunden, zu den Bedürfnissen desselben und zu gemeinnützigen
Anstalten nach Verhältniß ihres Vermögens oder
Einkommens beizutragen; und da keiner ohne Unsinn diese
Schuldigkeit mißkennen, noch ohne ein Verbrechen gegen den
Staat sich derselben entziehen kann, so kommt alles bloß
darauf an:daß der Nation dieser Beitrag auf alle mögliche Art erleichtert,
unddaß ihr die vollständigste Sicherheit wegen gesetzmäßiger
Verwendung desselben gegeben werde.Die Verordnungen Tifans zur Erreichung dieser zweifachen
Absicht sind so einfach, als man sie von einem Gesetzgeber
erwarten kann, der immer den nächsten Weg gehen
konnte: weil keine Hindernisse, die er hätte schonen müssen,
in seinem Wege lagen, und weil er keine andre Absicht hatte,
als je eher je lieber zum Zweck zu gelangen. Vermöge dieser
Verordnungen mußten alle Classen der Einwohner von
Scheschian dem Staate jährlich einen festgesetzten sehr mäßigen
Beitrag entrichten, der überhaupt so benimmt war, daß
die reichste Classe am meisten, die ärmste hingegen beinahe nichts
bezahlte. In jedem Dorfe und Flecken, so wie in jeder kleinern
Stadt, war in der Vorhalle des Tempels ein wohlverwahrter
Kasten, in welchen jeder Contribuent monatlich seinen
Beitrag in einem Papier, auf welchem sein Name angemerkt
war, durch eine zu diesem Zweck angebrachte Oeffnung hinein
steckte. Wer sich hierin saumselig finden ließ, ohne eine
von den wenigen im Gesetze für gültig anerkannten Ursachen
zum Erlaß anführen zu können, wurde sofort mit Gewalt
zu seiner Schuldigkeit gebracht. Zwei besonders hierzu angestellte
obrigkeitliche Personen führten Rechnung über diese
Einnahme, und lieferten das Eingegangene alle Monate von
den Dörfern und Flecken in die nächste Stadt, an welche sie
angewiesen waren. Aus den kleinern Städten wurde diese
Contribution in die Hauptstadt der Provinz geliefert, und von
da alle drei Monate an die Schatzkammer des Staats zu
Scheschian Rechnung abgelegt. An jedem Ort, in jeder Stadt
und Provinz hatten die bestellten Einnehmer ein Verzeichniß der
Contribuenten ihres Ortes, ihrer Stadt und ihrer Provinz,
so wie die Obereinnehmer zu Scheschian das ihrige von dem,
was jede Provinz nach dem einmal festgesetzten Anschlage beizutragen
schuldig war. Dieser Anschlag bezog sich theils auf
die Ländereien und Häuser, welche, nach Tifans Verordnung,
so lange auf dem nämlichen Fuß angesetzt blieben, bis der
König und die Stände der Nation gemeinschaftlich eine Erhöhung
desselben dem Staate zuträglich oder nothwendig
finden würden; theils auf alle einzelnen Bewohner des Staats
(mit Ausnahme der Dienstboten und der Kinder in den untersten
Classen), deren jeder, nach der Classe zu welcher er
gehörte, mit einer unveränderlichen Schatzung belegt war.
Da nun alle Monate ein genaues Verzeichniß aller Gebornen
und Gestorbenen jedes Orts an die Vorsteher jeder Provinz,
und von diesen jedesmal nach Verfluß dreier Monate an den
Hof eingeschickt werden mußte: so war nichts leichter, als
die Berichtigung dessen was jede Provinz monatlich zu bezahlen
hatte. Und weil keine Reste geduldet, sondern in gewissen
besonderen Fällen, wo das Unvermögen des Contribuenten
erweislichermaßen unverschuldet war, der monatliche Ansatz
lieber gänzlich erlassen wurde: so ging die ganze Operation
immer in gleicher Ordnung fort, ließ sich immer gleichsam
mit Einem Blicke übersehen, und war von allen nachtheiligen
Folgen einer verwickeltern Art von Einrichtung frei.Herr Danischmend, sagte der Sultan, es wäre sehr viel
über diese Sache zu sprechen. Simplicität ist in allen mechanischen
Veranstaltungen eine schöne Eigenschaft. Aber
Tifans Finanzeinrichtung setzt etwas voraus, welches sich
nirgends als in einem idealen Staate voraussetzen läßt. Wenn
nicht alle seine Contribuenten und Einnehmer die ehrlichsten
Leute von der Welt waren, so wollte ich ihm keinen küpfernen
Baham um seine ganze Operation gegeben haben.In der That, erwiederte Danischmend, ist Tifans ganze
Gesetzgebung und Staatsverwaltung auf die Sitten gebaut;
aber man muß auch gestehen, daß er nichts unterlassen hat,
um seinen Unterthanen Sitten zu geben. Liebe zum Vaterlande,
zu den Gesetzen, zur Ordnung, waren Tugenden, zu
welchen die Scheschianer unter seiner Regierung von Kindheit
an gebildet wurden. Die Verbindung des Begriffs der
Ehre mit der genauesten Erfüllung jeder bürgerlichen Pflicht,
und des Gefühls der Schande mit jeder Unterlassung derselben
wurde ihnen zuletzt so natürlich und mechanisch, daß der gemeinste
Mann, im Nothfall, sich lieber etwas von seiner
Nahrung entzogen, als der Schande sich ausgesetzt hätte,
zur Entrichtung des Beitrags, den er dem Staate schuldig
war, mit Gewalt angehalten zu werden. Was die Einnehmer
der Staatseinkünfte betrifft, so wurden sie aus einer
Classe gezogen, bei welcher das Gefühl der Ehre eine vorzüglich
starke Triebfeder ist. Aber wenn es auch bei einigen weniger
wirksam gewesen wäre, so war es, nach Tifans Einrichtung,
nicht leicht sich einer Untreue schuldig zu machen,
und sehr schwer unentdeckt zu bleiben. In diesem Falle wartete
eine äußerst schimpfliche Strafe auf sie; und so wie Tifan
die Scheschianer gewöhnt hatte, gab es wenige, welche nicht
lieber das Leben als ihre Ohren hätten verlieren wollen.Es ist vielleicht niemals eine Monarchie gewesen, worin
die Unterthanen der Schatzkammer .weniger bezahlt hätten, als
die Scheschianer unter Tifan und einigen seiner Nachfolger.
Aber der Hauptgrundsatz, worauf dieser Fürst seine Staatsökonomie
gründete, war: der höchste Wohlstand eines so
großen Staates als der Scheschianische hange von der möglichsten
Bevölkerung ab; die möglichste Bevölkerung von der
Leichtigkeit Unterhalt zu finden; diese von dem möglichst geringen
Preise aller Erfordernisse des Lebens; und das letztere
zu erhalten, hielt er für das einfachste Mittel, die Abgaben
des Volkes so leicht zu machen als möglich, die unentbehrlichen
Lebensmittel hingegen auf einen festen Preis zu setzen,
welchen die Eigenthümer der Ländereien, ohne ausdrückliche
Bewilligung des Königs und der Stände, nicht erhöhen
durften.Während der Regierungen Azors und Jsfandars hatten
die Scheschianer, unter unzähligen Titeln und Rubriken,
welche zu unzähligen Bedrückungen des Volkes Anlaß gaben,
nach und nach vierzig, dann fünfzig, und zuletzt sechzig bis
siebzig vom Hundert ihres jährlichen Einkommens oder Verdienstes
abgeben müssen. Tifan schaffte alle diese Rubriken
ab. "Ein Fürst," sagte er, "der alles, was seine Unterthanen
besitzen, für sein Eigenthum ansieht, mag wohl vonnöthen
haben, auf Kunstgriffe zu denken, wie er sich desselben auf
die unmerklichste Art bemächtigen wolle; und freilich ist ein
Unterschied, ob ich einen Körper durch kleine aber oft wiederholte
Ausleerungen langsam abmergele, oder ob ich ihm sein
Blut auf Einmal abzapfe; aber am Ende erfolgt in jenem
Falle was in diesem; ein wenig Zeit ist alles was man dabei
gewinnt. Nach meinen Grundsätzen (fügte er hinzu) ist
die Frage niemals, was ist des Hofes Interesse? Aber, wenn
ich auch, wie Jsfandiar, alle Einwohner von Scheschian mit
den Rindern und Schafen auf den Triften meiner Kammergüter
in die nämliche Classe setzte, so müßte ich dennoch
anders mit ihnen verfahren als Jsfandiar. Bin ich mit
hunderttausend Unterthanen, deren jeder mir, ohne sich zu
entkräften, dreimal so viel geben könnte, als ich von ihm fordre,
nicht unendlichemal reicher als mit fünfzigtausend Bettlern,
die mir endlich nichts mehr zu geben haben, als die Haut
die noch um ihre marklosen Knochen hängt?"Außer den besagten Personal- und Vermögenssteuern
hatte die Schatzkammer in Scheschian keine Einkünfte. Alle
Zölle auf ein- und ausgeführte Waaren waren mit Tifans
wirthschaftlichen Begriffen unverträglich. Getreide und andere
Naturalien, oder unverarbeitete Waaren in fremde Länder
auszuführen, war bei angemessenen Strafen verboten:
denn der erstern hatte ein so weitläufiger und volkreicher
Staat wie Scheschian für sich selbst vonnöthen, und ohne die
äußerste Verarbeitung aller möglichen Producte der Natur
würde es unmöglich gewesen seyn, ein unzählbares Volk hinlänglich
zu beschäftigen. Hingegen konnte, seiner Meinung
nach, ein Zoll auf die ausgeführten verarbeiteten Waaren zu
nichts dienen, als die Manufacturen und den Handel zu kränken
und zu hemmen, welche doch von einer weisen Regierung
auf alle nur ersinnliche Art aufgemuntert werden. Auf der
andern Seite blieb die Einführung fremder verarbeiteter
Waaren aus einem doppelten Grunde frei; erstens, weil die
Scheschianischen wohlfeiler und besser waren; und dann, weil
Tifan die begüterten Scheschianer durch ein solches Verbot
nicht unnöthiger Weise zum Ungehorsam reizen wollte. Die
Einführung aber solcher rohen Waaren, an welchen sein Land
Mangel hatte, mit Abgaben zu belegen, hielt er für unschicklich,
weil es vortheilhafter war, sie zum Behuf der einheimischen
Manufacturen und Gewerbe auf alle mögliche Weise zu begünstigen.
Endlich hatte Tifan noch einen vortrefflichen
Grund für die Abschaffung aller Arten von Abgaben, außer
der einzigen monatlichen Steuer; und dieser war — weil der
Staat ihrer nicht vonnöthen hatte. Denn zu allen gewöhnlichen
Ausgaben reichten die ordentlichen Einkünfte zu; und
bei außerordentlichen Erfordernissen waren die Stände bereit,
dem König alles zu bewilligen was er nöthig haben konnte.Tifan hatte doch auch ein Kriegsheer? fragte Schach-Gebal.Die nöthige Beschützung eines so weitschichtigen Reiches
erforderte nicht weniger als ein stehendes Heer von zweimalhunderttausend
Mann, welche gut disciplinirt und besoldet
waren, aber ihren Unterhalt, wie billig, dem Staate durch
die friedsamen Dienste abverdienten, wozu sie sich (da ein
ununterbrochener Friede ihre Arme zur Vertheidigung desselben
unnöthig machte) gebrauchen lassen mußten. Landstraßen, dergleichen
man erst in spätern Zeiten unter der Römer Herrschaft
wieder sah, schiffbare Canäle zum Vortheil des einheimischen
Handels, abgeleitete Flüsse, ausgetrocknete Sümpfe, aufgestockte
Wälder und dergleichen, waren die rühmlichen
Beweise, daß Tifan wußte, wozu zweimalhunderttausend
starke wohlgenährte Müßiggänger brauchbar sind.Abermal ein Notabene in Eure Schreibtafel gemacht, Herr
Danischmend, sagte der Sultan. Man lernt doch immer
etwas, woran man nicht gedacht hatte. Dieser Tifan war
wirklich ein Mann, wie ich — einen Minister haben möchte!Außerdem machte er —Gut, gut, rief der Sultan: er hat die Miene noch sehr
viel gemacht zu haben; aber für heute genug!—————
13.Danischmend hatte sich vorgesetzt, den Sultan seinen Herrn
das nächstemal noch mit verschiedenen Anordnungen Tifans,
die sich auf die Staatswirthschaft in Scheschian bezogen, zu
unterhalten: aber Schach-Gebal, dem, sobald er ihn ansichtig
wurde, die zweimalhunderttausend starken wohlgenährten
Müßiggänger wieder zu Kopfe stiegen, ließ ihm keine Zeit
dazu. Herr Danischmend, sagte der Sultan, bei Gelegenheit
der Müßiggänger, von welchen gestern die Rede war — was
machte wohl mein guter Bruder Tifan mit der ungeheuern
Menge von Ya-faou, die, wenn ich mich noch recht erinnere,
unter dem schwachen Azor das Land ausfressen halfen? Und
was wurde aus den blauen und feuerfarbnen Bonzen überhaupt?
Ihr wißt, ich interessire mich für die guten Leute,
und ich will keinen Augenblick länger über ihr Schicksal in
Ungewißheit schweben.Eh' ich Ihre Hoheit über die erste Frage befriedigen
kann, war Danischmends Antwort, muß ich bemerken, daß
eine von Tifans ersten Sorgen war, die Bewohner seines
Staats zu classificiren, und sowohl die Pflichten als die
Gerechtsamen einer jeden Classe genau zu bestimmen. Ein
großer Theil seines Gesetzbuches ist mit diesem wichtigen
Gegenstand angefüllt. Die Landleute, das ist, alle, die sich
mit dem Feldbaue, der Viehzucht, und irgend einem andern
zur Landwirthschaft gehörigen Theile hauptsächlich beschäftigten,
machten den größten Theil der ersten Classe aus. Sie genossen
der Ehre, daß der König selbst zu ihrer Zunft gehörte,
indem er, zum öffentlichen Zeichen, daß der Bauernstand, als
die wahre Grundlage der ganzen bürgerlichen Gesellschaft,
vorzüglich ehrenwerth sey, jährlich an einem der ersten Frühlingstage
in eigener Person einen Baum pflanzte, und ein
Stück Feldes ackerte. Dieser Tag, mit welchem alle Feldarbeiten
in Scheschian angefangen wurden, war einer ihrer
höchsten Festtage, und der oberste Vorsteher jedes Ortes durch
das ganze Reich war verbunden an demselben das nämliche
zu thun was der König, dessen Person er bei dieser feierlichen
Handlung vorstellte. Die Landleute in Scheschian genossen
durch Tifans Gesetzgebung aller Vorzüge frei geborner Bürger;
und wiewohl sie großentheils eine Art von Pächtern der
Edelleute oder des Königs selbst waren, so machten sie doch
durch die Befreiung von aller willkürlichen und tyrannischen
Gewalt, und durch die Mäßigkeit der Abgaben, die sie dem
Staat und ihren Grundherren zu entrichten hatten, ohne
Zweifel die glücklichste Classe der Einwohner von Scheschian
aus; besonders in einigen Provinzen, wo ein milderer Himmel
den Geist der Freude und der sanfteren Gefühle über das
Landvolk ausgegossen hatte, und die ungemeine Fruchtbarkeit
der Natur ihre Arbeiten beinahe in Spiele verwandelte.Die zweite Classe, die aus allen den Bürgern bestand,
welche sich mit den Handwerken und mechanischen Künsten
beschäftigten, und in den Flecken und Städten ihren eigentlichen
Sitz hatten, war zwar, besserer Ordnung wegen, in so
viele besondere Zünfte, als es verschiedene Arten der mechanischen
Künste und Hanthierungen gibt, abgetheilt: aber alle
alten Gebräuche oder Gesetze, welche die Ausübung derselben
mit einem Zwange belegten, der das Talent fesselte, den Fleiß
niederschlug, und den Fortgang der Kunst hemmte, fanden
eben so wenig Schutz bei Tifan als die anmaßlichen Freiheiten,
wodurch jedes Handwerk ehmals ein kleiner Staat im Staate
und berechtiget gewesen war, alle übrigen Bürger nach Gefallen
zu bedrücken. Tifans hauptsächliches Augenmerk bei der
Polizei dieser Classe war, auf der einen Seite den Vortheil
zu erhalten, daß alle Arten von Mannfacturen so gut als
möglich gearbeitet, zugleich aber auch ihrer Verfeinerung gewisse
Schranken gesetzt würden. Der Luxus verwandelt unvermerkt
die Handwerke, welche ganz allein, oder doch hauptsächlich
zur Verfertigung der unentbehrlichsten Bequemlichkeiten
bestimmt sind, in schöne Künste; der Grobschmied, der
Schlosser, der Tischler, wird durch ihn zum Nebenbuhler des
Goldarbeiters, des Bildschnitzers, des Malers u. s. f. Die
Künste arten aus; das Nüzliche wird dem Schönen, das
Zweckmäßige dem Launischen der Mode, die einfältige Zierlichkeit
der Formen einer übertriebenen Feinheit der Ausarbeitung
aufgeopfert. Diese Ueppigkeit der Künste unterhält den Luxus,
der sie ausbrütete, und die Kunst selbst geräth in Verfall.
Tifan, in dessen Augen der Luxus ein auszehrendes Fieber
für jeden Staat war, ließ sich nicht daran genügen, alle Künste,
welche keinen andern Zweck noch Nutzen als die Beförderung
des Müßiggangs und der Ueppigkeit haben, aus Scheschian
zu verbannen; er bemühte sich auch die Ausartung derjenigen,
welche nützlich und unentbehrlich waren, zu verhindern; und
eine Frucht dieses Zweiges seiner Polizei war, daß man alle
Arten von Hausgeräthe, Werkzeugen, Eisen- und Stahlarbeit,
Wollen- und Seiden-Manufacturen, und selbst solche Verarbeitungen,
welche bloß zur Pracht und Zierlichkeit dienen,
nirgends weder besser noch in geringerm Preise haben konnte
als in Scheschian. Die Scheschanischen Künstler lernten die
innere und wesentliche Güte mit dem Schönen und Gefallenden
zu vereinigen; und daher erhielten sich ihre Arbeiten auch
außer Landes lange Zeit in dem Besitz eines Vorzugs, den
ihnen keine andere Nation streitig machen konnte.Die dritte Classe — —Bestand sie aus Bonzen und Ya-faou? fiel Schach-Gebal
ungeduldig ein —Nein, Sire — —So erweise mir den Gefallen, sagte der Sultan, und
springe über sie weg, und über alle andern, so viel ihrer noch
seyn mochten, mit deren Polizei du mich hier sehr unnöthiger
Weise aufhältst, während daß ich ganz andre Dinge wissen
will. In welcher Classe waren die Ya-faou? — Dieß ist
der große Punkt!Die Wahrheit zu sagen, gnädigster Herr, in gar keiner
Classe, versetzte Danischmend: und der Grund, warum Tifan
für nöthig, oder wenigstens für sehr nützlich hielt, sie aus
dem Verzeichnisse der Geschöpfe, die in Scheschian geduldet
wurden (denn Bürger waren sie nie gewesen) auszulöschen,
scheint in der That nicht unerheblich. Ein Staat (sagt er in
seinem Gesetzbuche) kann mit nichts füglicher verglichen werden
als mit einer großen Pflanzung. Diese besteht aus einer
Menge von allerlei Arten von Gewächsen, Bäumen, Stauden,
Blumen, Kräutern und Gräsern. Einige Bäume geben Bauholz,
andere dienen zum Brennen, andere zu Verfertigung
allerlei nöthiger Geräthschaft; andere tragen Früchte und
Erfrischungen des Menschen, andere Speise für das Vieh.
Einige Pfanzen dienen zur Nahrung, andere zur Arznei, viele
nützen bloß zum Vergnügen; sie ergötzen das Auge und den
Geruch; ein schlechtes Kräutchen verbirgt oft unter einer
unscheinbaren Gestalt die herrlichsten Kräfte. Alles was zum
Nutzen oder zur Verschönerung der ganzen Pflanzung etwas
beiträgt, hat seinen Werth, und wird ein Gegenstand der aufmerksamen
Sorgfalt des Besitzers. Aber Unkraut und Trespe,
und schmarutzerische Pfanzen, welche bloß darum sich um die
nützlichen Gewächse herumwinden, um ihnen die besten
Nahrungssäfte zu entziehen, kurz, alles was nicht nur an
sich selbst zu nichts taugt, sondern im Gegentheile durch seine
Ausbreitung das Wachsthum und die Vermehrung der nützlichen
Gewächse hemmet, wird sorgfältig ausgerauft, und bis
auf die kleinsten Fäserchen seiner Wurzeln ausgerottet. Eben
so verhält es sich mit einem wohlgeordneten Staate. Ein
Theil der Bürger beschäftiget sich die übrigen zu nähren, ein
andrer sie zu bekleiden, ein dritter ihre Wohnungen zu erbauen,
ein vierter sie mit tausend nöthigen Geräthschaften und Bequemlichkeiten
zu versehen, ein fünfter den Umsatz und Vertrieb
dieser Dinge zu erleichtern: einige dienen dem gemeinen
Wesen mit ihren Händen, andre mit ihrem Kopfe, andre
sogar mit ihrem Blut und Leben. Verschiedene, wenn sie
auch keine andre Kunst gelernt haben, besitzen wenigstens die
Gabe ihren Mitbürgern Vergnügen zu machen. Alle diese
Arten von Einwohnern sind dem gemeinen Wesen entweder
unentbehrlich oder doch zu irgend etwas gut:: aber wozu ein
Ya-faou, insofern er ein Ya-faou ist, gut sey, dieß, sagt
Tifan, habe ich mit allem Nachsinnen nicht herausbringen
können. Ich sehe alle Plätze, worin man dem Staate Dienste
leisten kann, schon besetzt; und indem ich alle möglichen Arten
von Bedürfnissen überzähle, find' ich keines, worauf der Stand
der Ya-faou sich bezöge. Vielleicht mögen sie zu einer Zeit,
da die Scheschianer, noch zwischen Wildheit und Barbarei
schwebend, an Vernunft und Sitten wenig besser als die
übrigen Thiere waren, vielleicht mögen sie damals einigen
zweideutigen Nutzen geleistet haben. Aber diese elenden Zeiten,
wo die Verwilderung und Abwürdigung der menschlichen Natur
groß genug war, um die Dienste der Ya-faou vonnöthen zu
haben, sind, Dank sey dem Himmel, vorbei. In dem angebauten,
gesitteten, aufgeklärten und polizirten Scheschian
müssen sie entweder, gleich müßigen Hummeln, verdienstlos
die Früchte des Fleißes der arbeitsamen Bürger verzehren,
oder, wenn sie etwas thun wollten, würde ihre Geschäftigkeit
schädlicher als ihr Müßiggang seyn. Der größte Theil von
ihnen hat durch seine rohe Unwissenheit, durch Verachtung
und Verunglimpfung alles dessen was ein Mittel zur Verbesserung
des Narionalzustandes werden konnte, durch die
eifrigste Beförderung des Aberglaubens, der Dummheit und
einer knechtischen Unterwürfigkeit der Geister unter das Joch
sinnloser Vorurtheile, den Fortgang alles Guten in Scheschian
gehemmt; ihre Grundsätze, ihr Beispiel und ihre Bemühungen
vereinigten sich, dem gesunden Menschenverstande, der Tugend
und den Sitten auf ewig den Zutritt in dieses unglückliche
Land zu versperren; — und Tifan sollte sie dulden? Nein,
bei allem was heilig und gut ist! Sie sollen verschwinden
aus unsern Gränzen, und ihre Stätte soll nicht mehr gefunden
werden! — Aber (setzt der weise und menschenfreundliche
Gesetzgeber hinzu) verhüte der Himmel, daß, indem wir die
ganze Gesellschaft der Ya-faou zum Nichtseyn verdammen,
wir gegen die einzelnen Mitglieder derselben ungerecht seyn
sollten! Ohne Zweifel gibt es Männer von Verdiensten, eines
bessern Namens und Platzes würdige Männer, unter ihnen,
würdig des Schutzes der Gesetze und der Achtung ihrer Mitbürger,
denen sie nützlich zu seyn eben so fähig als willig sind.
Fern sey es von uns, diese Rechtschaffenen das Schicksal oder
die Zusammenkettung von Zufälligkeiten, wodurch sie unter
die Ya-faou sich verirrt haben, entgelten zu lassen! Sie
sollen aus einer Gemeinschaft, die ihrer so unwürdig ist,
herausgehoben, und in einer Gestalt, worin sie den übrigen
Bürgern von Scheschian ähnlich sehen, an Plätze gestellt werden,
wo sie ihre Fähigkeiten und Tugenden ungehindert, unverfolgt
vom Neid und von der Dummheit ihrer Mitbrüder, in
völliger Thätigkeit zum gemeinen Besten anwenden können.
Auch den übrigen, wofern sie lieber in die Zahl der guten
Bürger zurückkehren, als sich freiwillig aus ihrem Vaterlande
verbannen wollen, soll der Eintritt in irgend eine für sie
schickliche Classe unbenommen seyn. Es soll ihnen frei stehen,
ob sie den Karst, oder die Art, oder den Hammer ergreifen,
ob sie graben, weben oder spinnen wollen; wozu nur immer
die Stärke ihrer Gliedmaßen oder die Beschaffenheit ihres
Geistes sie am tüchtigsten macht. Aber Bürger sollen sie seyn,
und gute Bürger, oder Scheschian hat weder Luft noch Erde
für sie!Danischmend, rief der Sultan in völliger Entzückung, laß
deine erste Sorge seyn mir das Bildniß dieses unvergleichlichen
Mannes zu verschaffen. Dieß nenn' ich einen König! Ich
muß schlechterdings sein Bildniß haben. Ich will es in allen
ersinnlichen Größen und Stellungen malen lassen; es soll in
allen meinen Zimmern stehen; es soll mir aus Marmor gehauen
und von Golde gegossen werden; ich will es in meinem
Ring und in meiner Beteldose tragen; ich will es auf meine
Kleider sticken und sogar in meine Schnupftücher wirken
lassen —Vortrefflich, dachte Danischmend; und noch besser wär' es,
wenn Ihre Hoheit den Muth hätten, selbst ein Tifan zu seyn.Der anbetenswürdige Mann! rief Schach-Gebal von
neuem. —Aber wie gebärdeten sich die armen Ya-faou dabei?
Gab es keine Bewegungen zu ihrem Vortheil? Es soll mich
sehr wundern, wenn Tifan eine so schwierige Unternehmung
ohne gewaltsame Erschütterung des Staats ausführen konnte.Er hatte seine Maßregeln so gut genommen, sagte
Danischmend, daß die Aufhebung des ganzen Ordens nicht
mehr Bewegung machte, als wenn alle Raupennester in
Scheschian auf Einen Tag vernichtet worden wären. Alles
war dazu vorbereitet. Die Classification aller Einwohner des
Reiches war gemacht, und einer jeden Classe ihr gehöriger
Rang und ihr eigener Kreis der Wirksamkeit angewiesen.
Die Scheschianer fingen itzt von selbst an, die Betrachtung
zu machen, daß die Ya-faou entbehrliche Leute seyn könnten;
und nun war es leicht, sie nach und nach auf die Bemerkung
zu bringen, daß diese entbehrlichen Geschöpfe nicht nur sehr
beschwerlich, sondern wirklich sehr schädlich wären. Die Verachtung,
welche sie schon seit den Zeiten Azors und Jsfandiars
drückte, erleichterte die natürliche Wirkung aller dieser Bemerkungen.
Kurz, die Nation wurde gewahr, daß das, womit
sie so lange gebunden gewesen, keine Fesseln, sondern
nur eine Menge einzelner Faden waren: indem man einen
nach dem andern entzwei riß, fand sich — zu allgemeiner
Verwunderung —daß man frei war; und nun erstaunte man
erst, wie man so lange hatte warten können, sich selbst diese
Erleichterung zu verschaffen.Freund Danischmend, sprach der Sultan, so ein weiser
Mann du bist, so wollt' ich doch wetten, daß du dir nicht
einfallen lässest, wie viel das was du eben sagtest zu bedeuten
hat?Ich dächte doch, wollte der Philosoph zu antworten anfangen,
wenn ihm Schach-Gebal Zeit gelassen hätte — —Alles was du willst, Danischmend; aber gewiß nicht,
daß dir diese Bindfaden, die du mich zerreißen gelehrt hast,
die Stelle meines Itimadulet eintragen würden? Sultanin,
fuhr Seine Hoheit zu der schönen Nurmahal fort: ich bin
schon seit etlichen Wochen in Verlegenheit, den Mann zu
finden, der für einen so wichtigen Platz gemacht ist; und nun
geht es mir gerade wie den Scheschianern; mich wundert,
wie ich nicht schon lange gewahr wurde, daß er bereits gefunden
ist.Ihre Hoheit hatten keine Wahl treffen können, welche
Ihrer Regierung mehr Ehre machte, erwiederte die Sultanin.Beim großen Propheten, rief Danischmend, indem er
dem Sultan zu Füßen fiel: ich beschwöre Ihre Hoheit, zu
bedenken was Sie thun wollen! Ich — Jtimadulet? Ich
zittre vor dem bloßen Gedanken. Machen Sie mich zu allem
andern, zum Aufseher über Ihr Schmetterlingscabinet, oder
zum Vorsteher Ihrer Akademie, oder zum Vorsteher —Ihrer
Truthühner, wofern ich ja ein Vorsteher seyn soll; zu allem
in der Welt, nur nicht zum Itimadulet! Ich sehe den ganzen
Umfang eines solchen Amtes zu sehr ein — —Närrischer Mensch, rief der Sultan, eben darum sollst
du es haben! Du hast meinen Willen gehört; morgen stell'
ich dich im Divan vor, und kein Wort weiter!—————
14.Die Welt wird durch so wenig Weisheit als nur immer
möglich ist, oder, um uns gelehrt auszudrücken, durch ein
Minimum von Weisheit regiert. —Dieß ist ein Satz, der von
Nimrod und seinem Itimadulet an bis auf diesen Tag, durch
eine ununterbrochene Ueberlieferung von einem Sultan und
Itimadulet auf den andern fortgepflanzt worden seyn soll, und
der (wofern er so richtig ist als diejenigen, die es am besten
wissen können, behaupten), vermöge des berühmten Grundsatzes
der möglichsten Ersparung, in der That beweisen würde,
daß die Welt unverbesserlich regiert werde. In der That gehen
die Kenner so weit, uns zu versichern: wenn es auch zuweilen
begegne, daß ein Epiktet unter dem Namen Antoninus
ein Jmperator, oder unter dem Namen Thomas Morus ein
Großkanzler werde, so lehre die Erfahrung, daß, trotz aller
Weisheit dieser vortrefflichen Männer, die Sachen in der
Welt gleichwohl nicht merklich besser gingen als unter den
gewöhnlichen Imperatoren und Großkanzlern; zum offenbaren
Beweise, daß eine gewisse Fatalität, welche aller menschlichen
Weisheit zu stark ist, die Umstände und mitwirkenden Ursachen
so fein zu verbinden wisse, daß die Weisheit der besagten
Epiktete immer, oder doch meistens — wie eine Kugel, die
durch den unterwegs erlittenen Widerstand entkräftet worden
— wenige Schritte vor dem Ziele matt und kraftlos zu Boden
sinke, und also am Ende dennoch das oben bemeldete Minimum
heraus komme, welches nach den Gesetzen und dem ordentlichen
Laufe der Natur hinlänglich ist, die Welt im Gange zu
erhalten.Dieses vorausgesetzt wird man es wenigstens nicht ganz
unbegreiflich finden, daß der neue Itimadulet Danischmend,
—ungeachtet er, die Wahrheit zu sagen, von allen zu diesem
hohen Amte erforderlichen Eigenschaften, die Gutherzigkeit
und Aufrichtigkeit ausgenommen, wenig oder nichts besaß,
und (wie unsre scharfsichtigen Leser bemerkt haben werden) von
der Regierungskunst nicht viel mehr verstand als ein Blinder
von Farben — mit Hülfe seines guten Genius und des Zufalls
gleichwohl seine Rolle ganz erträglich spielte, und sie
vielleicht mit der Zeit wohl gar vortrefflich zu spielen gelernt
haben würde, wenn die Derwischen und Bonzen (die sich's
nicht aus dem Kopfe bringen ließen, daß er böse Absichten
wider sie im Schilde führe) nicht Mittel gefunden hätten, ihn
dem Sultan seinem Herrn verdächtig zu machen. In der That
geschah dem ehrlichen Danischmend Unrecht: denn niemand
konnte von irgend einer übelthätigen Absicht gegen sie entfernter
seyn als er; er, der den bloßen Schatten des Unrechts
tödtlich verabscheuete, und nicht fähig gewesen wäre den geringsten
unter allen Fakirn ohne Regungen der Menschlichkeit
leiden zu sehen. Aber bei diesen Herren war es eine ausgemachte
Sache, "daß ein Mann, der sie gern zu bessern Leuten
machen wollte, als sie zu seyn Lust hatten, ihr geschworner
Feind sey;" und da sie unter Schach-Gebals Regierung
einen desto größern Einfluß hatten, je abgeneigter ihnen
der Sultan war; so war es noch immer viel Glück für den
guten Danischmend, daß er, durch Vermittlung der schönen
Nurmahal, mit dem Verlust seiner Ehrenstelle und einer
kleinen Entschädigung davon kam, die ihn in den Stand
setzte, in seinen alten Tagen, fern vom Hofe und vom Geräusche
des geschäftigen Lebens, seinen Betrachtungen über
eine Welt, die ihn vergessen hatte, nachzuhängen, und oft
bei sich selbst, so herzlich als Demokritus, zu lachen, wenn
er sich an alles, was er gesehen hatte, erinnerte; besonders
wenn ihm wieder einfiel, daß er Hofphilosoph bei Schach-Gebal,
Aufseher über die Bonzen und über das königliche
Theater, Biograph der Könige von Scheschian, und, was
das lustigste unter allen war, etliche Monate lang sogar
Itimadulet von Indostan gewesen war.Wir hoffen, Freund Danischmend werde sich durch seine
Betrachtungen, durch die Episode von dem Emir und den
Kindern der Natur, und durch den guten Willen, der aus
seiner Erzählung von den Königen in Scheschian allenthalben
hervorbricht, dem geneigten Leser schon so wohl empfohlen
haben, daß diese kleine Abschweifung, wozu er uns veranlaßt
hat, keiner Abbitte vonnöthen haben werde. Und so lenken wir
ohne weiteres wieder in den Weg unsrer Geschichte ein.Die Beförderung des weisen Danischmend zum ersten
Minister machte keine Veränderung in seinem Amte, den
Schlaf des Sultans seines Herrn durch Erzählung der Denkwürdigkeiten
von Scheschian zu befördern. Die Geschichte der
von Tifan ausgeführten Staatsverbesserung wurde also bei der
ersten Gelegenheit wieder vorgenommen; und da Schach-Gebal
nochmals sein Verlangen äußerte, zu hören wie es den
blauen und feuerfarbnen Bonzen dabei ergangen sey, so befriedigte
Danischmend seinen Willen durch folgenden Bericht.Die Grundsätze und die gereinigten Empfindungen, welche
der weise Dschengis seinem Pflegesohn über den erhabensten
Gegenstand, der die menschliche Seele beschäftigen kann, über
die Religion, beigebracht hatte, lassen nicht weniger erwarten,
als daß Tifan, sobald er den öffentlichen Ruhestand im Reiche
hergestellt und die dringendsten Angelegenheiten desselben besorgt
hatte, sich mit allem Eifer einer aufgeklärten Frömmigkeit
dazu verwendet haben werde, den Völkern von Scheschian,
statt des elenden Aberglaubens worin sie seit so vielen Jahrhunderten
von ihren Priestern unterhalten worden waren,
eine vernünftige und dem wahren Besten der Menschheit
angemessene Religion zu geben; und man muß gestehen, daß
er hierin alles gethan hat, was man billiger Weise von einem
Gesetzgeber fordern kann, dessen Schuld es nicht war, etliche
tausend Jahre vor der Geburt unsers großen Propheten in
die Welt gekommen zu seyn.Um zu seinem Zwecke zu gelangen, mußte er zwei große
Dinge zu Stande bringen, — den Aberglauben vernichten,
der noch immer dem größern Theile seines Volkes in dem feuerfarbnen
oder in dem blauen Affen den geheiligten Gegenstand
einer verjährten Anbetung zeigte; — und schickliche Mittel
finden, die Scheschianer an würdige Begriffe von dem höchsten
Wesen und an einen vernünftigen Gottesdienst zu gewöhnen.
Beides würde manchem andern Regenten unendlich schwer und
vielleicht ganz unmöglich gefallen seyn. Aber Tifan, der in
dieser wichtigen Sache ohne Nebenabsichten, nach Grundsätzen
die aus der tiefsten Kenntniß des Menschen geschöpft waren,
und nach einem durchdachten Plane, langsam, aber anhaltend
und standhaft verfuhr, Tifan erreichte seinen Zweck, und —
was in einem Geschäfte dieser Art das außerordentlichste ist,
aber die natürliche Folge seines klugen Verfahrens war — erreichte
ihn, ohne daß eine so große Veränderung die geringste
Erschütterung im Staate verursacht, oder irgend einem Scheschianer
einen Tropfen Blut gekostet hätte.Der erste Schritt, den er zu diesem Ende that, war eine
Verordnung, in welcher beide Theile, Blaue und Feuerfarbne,
zum Frieden und zu gegenseitiger Duldung angewiesen wurden.
Tifan schilderte darin mit wenigen aber starken Zügen
den Abgrund von Elend, worein die Nation unter Azorn und
Jsfandiarn durch schwärmerischen Eifer und unduldsame Grundsätze
gestürzt worden. Er stellte den Geist der Verfolgung in seiner
ganzen abscheulichen Ungestalt dar: er führte an, daß die
Begriffe der Menschen weder von ihrer eigenen Willkür noch von
den Befehlen eines Obern abhangen; daß Irrthum niemals
ein Verbrechen sey; daß kein Mensch, kein Priester, keine
Obrigkeit in der Welt ein Recht haben könne, andere zu zwingen
ihrer Ueberzeugung und ihrem Gewissen zuwider zu handeln;
und daß der Weg des sanftesten Unterrichts und eines
guten Beispiels der einzige sey, auf welchem Verirrete in die
Arme der Wahrheit und der Tugend zurückgeführt werden
können. Diesen Grundsätzen zufolge versicherte er nicht nur
beiden Theilen seinen königlichen Schutz für die ungekränkte
Ausübung desjenigen Gottesdienstes, zu welchem sie sich in
ihrem Gewissen verbunden hielten; sondern gewährte auch einem
jeden, welcher itzt oder künftig von der besten Art das
höchste Wesen zu verehren andere Begriffe hegen würde, als
diejenigen welche bisher in Scheschian geherrschet hätten, aus
gleichem Grunde völlige Freiheit, hierin seinem Gewissen zu
folgen: indem er sich ein für allemal erklärte, daß alle Meinungen,
welche mit der Ruhe des Staats und mit den guten
Sitten nicht unverträglich wären, sich seines Schutzes auf
gleiche Weise zu erfreuen haben sollten.Von dieser allgemeinen Duldung waren diejenigen allein
ausgenommen, welche unglücklich genug seyn sollten, sich
verbunden zu glauben, die Duldung, welche sie für sich selbst
verlangten, niemanden, der anders dächte als sie, angedeihen
zu lassen. "Solche allein, sagt Tifan, sprechen sich ihr Urtheil
selbst; indem sie ihre störrige Unverträglichkeit öffentlich
zu Tage legen, beweisen sie auf die unläugbarste Weise
ihre gänzliche Unfähigkeit zum geselligen Leben. Ferne sey
es gleichwohl von uns, sie, die durch eine solche Denkungsart
schon elend genug sind, mit einiger Strafe an Vermögen,
Ehre, oder Freiheit deßwegen zu belegen! Aber daß wir sie
für Glieder unsers gemeinen Wesens erkennen, dieß können
sie ohne offenbare Unbilligkeit nicht erwarten. Sie mögen
so viel ihrer sind, ohne einige Bedrückung von uns und
unsern Unterthanen, mit Hab und Gut aus unsern Gränzen
ziehen, und sich Wohnungen suchen wo sie wollen. Aber
in Scheschian kann und soll niemand geduldet werden, der
nicht bereit ist seinen Nebenmenschen und Mitbürgern alles
Gute zu erweisen, was er will daß sie ihm erweisen sollen."Itimadulet, sagte Schach-Gebal, die Verordnungen meines
guten Bruders Tifan haben einen ganz eigenen Ton, der
nicht der gewöhnliche Kanzleiton ist; aber ich dächte, daß dieß
der gute Ton ist. Er begnügt sich nicht zu befehlen; er überzeugt
den Menschenverstand, daß seine Befehle gerecht und
billig sind. Dieß muß nothwendig eine Wirkung thun.Tifans Verordnung that eine sehr gute, versetzte Danischmend.
Sie bahnte ihm den Weg zu seinem großen Vorhaben,
und setzte die Gemüther unvermerkt in die Fassung,
Neuerungen, zu welchen ein Theil der Scheschianer ohnehin
schon gestimmt war, ohne Widerwillen anzusehen.Bald darauf ging er weiter. Er hatte, seitdem er in
Scheschian lebte, unter den Bonzen und sogar unter den Ya-faou
selbst nicht wenige angetroffen, welche besser dachten
als die übrigen, und nicht ohne innerliche Beschämung sich als
die niedrigen Werkzeuge betrachteten, wodurch Dummheit und
Aberglauben in ihrem Vaterlande verewiget würde. Es kostete
ihm wenig Mühe, alle Priester von diesem Schlage in
kurzer Zeit zu seinem Vorhaben zu gewinnen; und nachdem er
sich einmal einer ziemlichen Anzahl derselben völlig versichert
hatte, konnte er sie ohne Bedenken den Anfang machen lassen,
dem Volke stufenweise Begriffe beizubringen, von welchen man
mit der Zeit eine heilsame Revolution der Gemüther hoffen
konnte. Aber auch hier ging er mit aller der Vorsicht zu
Werke, womit man verfahren muß, wenn man eingewurzelte
Vorurtheile ohne gewaltsame Mittel ausrotten will. Eine Zeit
lang begnügte man sich, durch Unterricht in denjenigen Wahrheiten,
die zum Glauben des Daseyns und der Vollkommenheiten
des höchsten Wesens und seines Verhältnisses gegen die
Menschen leiten, und durch Verbindung dieser Wahrheiten
mit einer gereinigten Sittenlehre, einen höhern Grad von
Licht und Wärme in die Seele der Scheschianer zu bringen;
und erst dann, da man gewahr wurde, daß sie über die Ungereimtheit
ihres bisherigen Götzendienstes selbst betroffen zu
seyn anfingen, erleichterte man ihrer noch ungeübten Vernunft
die Arbeit, und bewies ihnen geradezu, daß sie bisher irregeführt
worden seyen. Dieses konnte nun freilich ohne einige
Bewegungen nicht geschehen. So unbegreiflich es einem jeden
scheinen muß, der die Macht der Vorurtheile nicht genugsam
erwogen hat, so ist doch gewiß, daß die beiden Affen noch immer
Anhänger behielten, welche für ihre Erhaltung mit einem
Eifer arbeiteten, der einer bessern Sache würdig war. Aber
Tifan begnügte sich sie zu beobachten, und ihrem Eifer, sobald
er die Schranken der Mäßigung überschreiten wollte, durch die
gelindesten Mittel Einhalt zu thun; hingegen trug er kein
Bedenken, sie mit gleicher Unparteilichkeit gegen alle Störungen
ihrer Gegner zu schützen: und anstatt daß dieses kluge
Betragen den Fortgang der guten Sache gehemmt haben
sollte, war es derselben vielmehr beförderlich; indem dadurch
die Hindernisse unvermerkt aus dem Wege geräumt wurden,
und, was bei einem andern Verfahren ein Werk des Zwanges
oder einer schwärmerischen Hitze gewesen wäre, nun das
langsam reifende, aber desto vollkommnere und dauerhaftere
Werk der Ueberzeugung war.Die Geschichtschreiber von Scheschian erwähnen bei dieser
Gelegenheit eines geheimen Gottesdienstes, welchen Tifan,
mit Hülfe der Priester seiner Partei, für alle diejenigen,
welche sich geneigt erklärten den Dienst der beiden Affen zu
verlassen, angeordnet habe. Sie drücken sich aber so dunkel
über diese Sache aus, daß es unmöglich ist, etwas Genaues
davon zu sagen. Alles was sich davon vermuthen läßt, ist,
daß dieser geheime Gottesdienst mit den Mysterien bei den
Aegyptiern und Griechen viele Aehnlichkeit, und zum hauptsächlichen
Gegenstand gehabt habe, diejenigen, welche darin
iniziirt wurden, theils durch symbolische Vorstellungen theils
durch deutlichen Unterricht, von der Eitelkeit des Götzendienstes
zu überzeugen, und, vermittelst einer Art von feierlicher
Verpflichtung auf die Grundwahrheit der natürlichen Religion,
zu besserer Erfüllung ihrer menschlichen und bürgerlichen
Pflichten verbindlich zu machen, Insbesondere mußten
die Jniziirten eine allgemeine Sanftmuth und Duldung der
Irrenden, in Absicht alles andern aber, was sie bei diesen
Mysterien gesehen und gehört hatten, so lange bis die Abgötterei
aus Scheschian verschwunden seyn würde, ein unverletzliches
Stillschweigen angeloben. Diese Veranstaltung
(sagen die Geschichtschreiber) wirkte mehr als alles Uebrige, die
große Absicht des weisen Tifan zu befördern. Die Begierde
zu diesen Mysterien zugelassen zu werden, wurde nach und
nach eine Leidenschaft bei den Scheschianern; und je mehr
Schwierigkeit ihnen dabei gemacht wurde, desto heftiger war
das Verlangen, Antheil an einer Sache zu nehmen, die
ihnen, durch die geheimnißvolle und feierliche Art womit sie
behandelt wurde, von unendlicher Wichtigkeit zu seyn schien.
In der That mußte Tifan, indem er daran arbeitete den
Scheschianern die sinnlichen Gegenstände ihres bisherigen vermeinten
Gottesdienstes zu entziehen, etwas anderes, welches
ihre Sinne und ihre Einbildungskraft gehörig zu rühren geschickt
war, an dessen Stelle setzen; und ich zweifle sehr, ob
er in dieser Absicht auf ein zweckmäßigeres und zugleich unschuldigeres
Mittel hätte verfallen können. Vielleicht möchten
seine Mysterien in der Folge diese letztere Eigenschaft verloren
haben, wenn er nicht die Vorsicht gebraucht hätte, von
dem Augenblick an, da der Dienst des höchsten Wesens in
Scheschian der herrschende war, die Pflicht des Stillschweigens
aufzuheben. Und glücklich wäre es für dieses Reich gewesen,
wofern er eben so viele Behutsamkeit in Bestimmung des
Amtes der Priester gezeigt, und nicht durch eben dasjenige,
wodurch er sie zu nützlichen Bürgern des Staates zu machen
gedachte, ihnen die gefährliche Gelegenheit gegeben hätte, in
der Folge sich unvermerkt zu Herren desselben zu machen.Ei, ei, ei! sagte Schach-Gebal, den Kopf schüttelnd, was
höre ich! Wer hätte so etwas von einem Sultan wie Tifan
vermuthet!In der That läßt sich nicht läugnen, daß ihn seine gewöhnliche
Klugheit in diesem Stück ein wenig verlassen habe.
Indessen kann gleichwohl zu seiner Entschuldigung dienen,
daß es, in seinen Umständen, schwer war, es besser zu
machen; und, wenn auch dieß nicht zureicht, welcher Gesetzgeber
hat Weisheit genug gehabt, jeden möglichen Mißbrauch
seiner Anordnungen voraus zu sehen, und durch entgegenwirkende
Mittel im Keime zu ersticken? Tifan hatte, aus erheblichen
Gründen, den Bonzen die Mühe der öffentlichen
Erziehung der Jugend abgenommen, und glaubte verbunden
zu seyn, sie dafür durch ein anderes Amt zu entschädigen,
welches sie bei gebührendem Ansehen erhalten, aber zugleich
in die Nothwendigkeit setzen würde, gern oder nicht, das gemeine
Beste zu befördern. Er bestellte sie also (wie ich neulich
schon erwähnt zu haben glaube) zu öffentlichen Lehrern des
Buchs der Pflichten und Rechte. Er glaubte den Gesetzen
den Charakter der Unverletzlichkeit nicht tiefer eindrücken zu
können, als indem er den Unterricht in denselben zu einem
wesentlichen Theile des Gottesdienstes machte; und die nachtheiligen
Folgen, die von dieser Einrichtung etwa zu besorgen
seyn möchten, glaubte er verhütet zu haben, indem er im
Gesetzbuche selbst die Priester gemessene anwies, sich aller
willkürlichen Auslegungen, Ausdehnungen oder Einschränkungen,
so wie aller spitzfindigen Fragen und Distinctionen, gänzlich
zu enthalten, und sich bloß auf die buchstäbliche Erklärung
der Gesetze, auf eine ihrem Geiste gemäße praktische Anwendung
derselben, und auf die Sorge einzuschränken, die Beweggründe
zu ihrer getreuen Erfüllung dem Volke mit der rührendsten
Beredsamkeit einzuschärfen. Kurz, nach seiner Vorschrift
sollte das Gesetzbuch bloß der Text zum moralischen Unterrichte
der Bürger seyn. Aber, da es schwer, wo nicht ganz
unthunlich war, die Priester in eine physische Unmöglichkeit
zu setzen, aus den ihnen vorgeschriebenen Gränzen heraus
zu treten: so begab sich's (wiewohl sehr lange nach Tifans
Zeiten), daß die Priester Mittel fanden, aus Lehrern des
Gesetzes unvermerkt Ausleger, aus Auslegern Richter, und
aus Richtern, zu großem Nachtheile der Scheschianer, zuletzt
selbst Gesetzgeber zu werden; — wie ich, wofern Ihre Hoheit
an der Fortsetzung dieser Geschichte Gefallen tragen sollten,
zu seiner Zeit umständlich zu erzählen die Ehre haben werde.Indessen scheint Tifan alles dieß, wenigstens einigermaßen,
vorausgesehen, und daher die Nothwendigkeit empfunden zu
haben, alle Glieder eines Ordens, der einen so wichtigen Einfluß
in den Staat hatte, so viel nur immer möglich, zu rechtschaffenen
Bürgern zu bilden. Er wendete deßwegen, nachdem
er die Erblichkeit des Priesterstandes auf ewig aufgehoben hatte,
eine ganz besondere Vorsorge auf die Erziehung der künftigen
Priester; und seinen unverbesserlichen Anstalten ist es ohne
Zweifel zuzuschreiben, daß er selbst noch in seinem Alter das
Vergnügen hatte, eine Zucht von Priestern aus seiner Schule
hervorgehen zu sehen, dergleichen die Welt vor ihm und nach
ihm nur selten gesehen hat. Würdige Diener einer wohlthätigen
Gottheit, schienen sie keinen andern Wunsch zu kennen als
Gutes zu thun. Die Wichtigkeit ihres Amtes erhob und veredelte
ihren sittlichen Charakter, ohne sie aufzublähen; und das
Beispiel ihres Lebens machte beinahe allen andern Unterricht
überflüssig. Ihre Weisheit war bescheiden, sanft, herablassend;
ihre Tugend unerkünstelt, ungefärbt und ohne hinterlistige
Absichten, die Frucht der glücklichen Harmonie ihres Herzens
mit ihrer Ueberzeugung; sie leuchtete andern vor ohne Begierde
gesehen zu werden, und hatte der Folie eines gleißnerischen
Ernstes nicht vonnöthen. Menschenliebe und patriotischer
Geist waren die allgemeine Seele ihres ganzen
Ordens. Jedes gemeinnützige Unternehmen fand in ihnen
seine eifrigsten Beförderer. Die sich selbst immer gleiche
Heiterkeit ihres Geistes, die großen und edeln Gesinnungen
wovon sie belebt waren, die Gewohnheit sich in einem von
allen Sorgen des Lebens befreiten Zustande bloß mit Betrachtung
der Wahrheit und Ausübung der Tugend zu beschäftigen,
die Leichtigkeit, womit sie jede Pflicht ausübten,
und der sittliche Reiz, der sich dadurch über ihr ganzes Leben
ausbreitete, vereinigten sich, sie zu würdigen Lehrern der
Nation, zu wahren Weisen, zu Vorbildern einer unverfälschten
Tugend, zu Schutzgöttern der guten Sitten und zu
Gegenständen der allgemeinen Verehrung zu machen.Itimadulet, sagte Schach-Gebal, schaffe mir solche Priester,
und dann soll man sehen ob ich ein Feind ihres Ordens
bin, wie boshafte Leute vorgeben! Du hast das Recept,
wie man sie machen kann; warum sollte in Indostan nicht
möglich seyn was in Scheschian möglich war?Sire, versetzte Danischmend, was ich im Begriffe bin
zu sagen, wird Ihrer Hoheit einer von den paradoxesten
Sätzen scheinen, die vielleicht jemals von einem Philosophen
behauptet worden sind; aber nichtsdestoweniger hat es seine
völlige Richtigkeit damit. Sollten Ihre Hoheit wohl glauben,
daß eben dieser vortreffliche Charakter der Scheschianischen
Priesterschaft in der Folge eine der wirksamsten Ursachen des
Untergangs der Gesetzgebung Tifans wurde, und durch eine
lange Reihe von Mittelursachen zuletzt den Untergang des
ganzen Reichs beförderte?Und wie kann dieß zugegangen seyn, Herr Danischmend?Auf die natürlichste Weise von der Welt. Priester, die
so weise, so rechtschaffen, so liebenswürdig waren, als diejenigen,
welche Tifans Veranstaltungen hervorbrachten, mußten
durch eine unfehlbare Nothwendigkeit nach und nach zu einer
Stufe von Ansehen gelangen, welche sie unvermerkt zu Meistern
aller Herzen machte. Man beeiferte sich um ihre Freundschaft,
man suchte ihren Umgang, man erbat sich ihren Rath, man
unternahm endlich weder Großes noch Kleines ohne einen
Priester beizuziehen. Sie wurden die Schiedsrichter aller
Zwistigkeiten, die Rathgeber der Großen, und einige von
ihnen stiegen durch den Ruf ihrer Tugend und ihrer Talente
sogar zu den höchsten Würden des Reiches. Ich denke dieß ist
genug gesagt, das Räthsel auflöslich zu machen. Man weiß
nun wie es weiter ging. —Die Priester von Scheschian waren
Menschen — was wollen wir mehr?Verzweifelt! rief Schach-Gebal, indem er eine gewisse
Miene von komischem Unwillen annahm, welche Seiner Hoheit
nicht übel zu lassen pflegte: man ist doch wirklich übel mit
diesen Herren dran! Sind sie schlimm, so —sind sie es insgemein
in einem so hohen Grade, daß man nicht weiß wie
man ihnen genug wehren soll; sind sie gut, so werden sie dem
Staate durch ihre Tugenden gefährlich! In der That, ich
wollte zu Gott — aber was hilft wünschen? Unentbehrlich
sind sie nun einmal, — denn, unter uns, Danischmend, ich
habe mir schon mehr als eine Nacht in meinem Leben mit
Nachdenken verdorben, wie es anzufangen wäre, damit man
sich für ihre ferneren Dienste ein-für allemal bedanken könnte:
aber ich bin überzeugt daß nicht weiter daran zu denken ist;
man kann ihrer eben so wenig entübriget seyn, als — Hier
hielt der Sultan ein, und setzte nach einer langen Pause —
nichts weiter hinzu.Ihre Hoheit wollen sagen, als aller andern Stände,
von den Sultanen und ihren Visiren an bis zu den Wasserträgern
und Holzhackern. Aber welche Classe von Menschen
kann lange das bleiben was sie seyn sollte? Die Priester von
Scheschian waren nicht die einzigen im Staate, welche nach
und nach ausarteten; und nimmermehr würden sie ihm so
verderblich geworden seyn, wenn die übrigen Classen ihrem
Charakter und ihren Pflichten treu geblieben wären. Indessen
ist zur Ehre des Priesterstandes und der Gesetzgebung Tifans
genug, daß sie mehr als hundert Jahre nach seinem Tode
noch immer die besten unter allen Scheschianern, und überhaupt
(wenn man das Landvolk ausnimmt) die letzten waren,
die dem Hange zur Verderbniß nachgaben, der sich unter
den Nachfolgern Tifans allmählich des Hofes, der Hauptstadt,
und endlich der ganzen Nation bemächtigte.Die Verbesserung, welche Tifan in der Religion seines
Reiches so glücklich zu Stande brachte, war ohne Zweifel der
wichtigste Dienst, den er seinen Unterthanen leisten konnte.
Er stellte dadurch eine friedsame Eintracht zwischen Religion
und Staat, zwischen den Pflichten der erstern und dem Interesse
des andern, zwischen Glauben, Vernunft und Sitten
her; eine Eintracht, welche die Quelle von unendlich vielem
Guten, und dadurch allein schon ein unschätzbares Gut war,
weil sie alles das Böse verschwinden machte, was der Mangel
einer solchen Harmonie in den meisten Staaten zu verursachen
pflegt. Man muß auch gestehen, daß die Klugheit, womit
er in dieser Sache zu Werke ging, die Aufmerksamkeit aller
Fürsten verdient, welche sich in einem ähnlichen Falle befinden
könnten. Indessen würde er dennoch seinen Zweck entweder
gar nicht oder nur sehr unvollkommen erreicht haben, wenn
er nicht, durch eine der merkwürdigeren Verordnungen seines
Gesetzbuches, alle darin nicht gebilligten Classen und Gemeinheiten,
unter welchen die Ya-faou die ersten waren, gänzlich
aufgehoben hätte.So viel sich aus eignen Umständen abnehmen läßt, müßte
eine ausführliche Erzählung, wie er dieses bewerkstelligte,
etwas sehr Unterhaltendes seyn; aber unglücklicher Weise findet
sich hier in den Handschriften eine Lücke — —Schon wieder eine Lücke! rief Schach-Gebal ungeduldig,
und immer eine Lücke, wo mir am meisten daran gelegen ist,
die Sachen recht zu wissen! Ich erkläre hiemit, daß ich dieser
Lücken äußerst überdrüssig bin, und — mit Einem Worte,
Freund Danischmend, ich will nicht dabei verlieren, verstehst
du mich? Wenn eine Lücke in deinen Handschriften ist, so
magst du sie ergänzen wie du kannst; kurz —ich will binnen
drei Tagen den ganzen Entwurf, wie Tifan in dieser Sache
zu Werke gegangen, auf meinem Tische liegen haben, oder
— ich wasche meine Hände über die Folgen die daraus entstehen
mögen!Der Itimadulet versprach, indem er seine Hand auf seinen
Kopf legte, dem Willen seines gebietenden Herrn Genüge zu
thun; und er entwarf zu diesem Ende einen weitläufigen
Plan, worüber der Sultan, da er ihn durchblätterte und die
Anzahl der Blätter zählte, ein großes Behagen äußerte. Gleichwohl
ist zweifelhaft, ob Seine Hoheit diesen Plan jemals zu
lesen Zeit gewinnen konnte. So viel ist gewiß, daß der Derwisch
Zikzak, der dem weisen Danischmend in der Würde eines
Itimadulet folgte, diesen nämlichen Plan unter den Papieren,
welche der Sultan von Zeit zu Zeit von seinem Tische wegräumen
ließ, unversehrt und in vergoldetes Leder eingebunden
liegen fand, und daß von diesem Augenblick an weiter nichts
davon gehört worden ist.—————
15.In einigen der folgenden Nächte unterhielt Danischmend
den Sultan seinen Herrn mit einer ziemlich umständlichen
Erzählung, wie Tifan die öffentliche Erziehung eingerichtet
habe. Dieser Gegenstand, der wichtigste in den Augen des
Scheschianischen Lykurgus, machte einen beträchtlichen Theil
seines Gesetzbuches aus. In den Tagen, worin die gegenwärtige
Geschichte ans Licht tritt, ist über diese Sache so viel
geschrieben worden, daß es unmöglich scheint etwas Neues
davon zu sagen; und beinahe sollte man Bedenken tragen,
irgend etwas davon zu sagen, da nicht ohne Grund zu besorgen
ist, das mit Schriften von der Erziehungskunst überfüllte
Publicum möchte sich zuletzt des Ekels, der eine natürliche
Folge der Ueberladung ist, nicht länger erwehren können, und
gar nichts mehr davon hören wollen; welches denn ein sehr
einfaches Mittel wäre, die Früchte aller der großen Bemühungen,
die bisher auf die Verbesserung dieses wichtigen Theils
der Staatsökonomie verwendet worden, in der Blüthe zu
ersticken. Aus dieser Betrachtung sowohl, als weil wirklich
alles Gute, was sich von dieser Materie überhaupt sagen läßt,
unsern Lesern schon aus andern Quellen bekannt seyn muß,
glauben wir sie uns verbindlich zu machen, wenn wir die weitläufigen
Nachrichten des schwatzhaften Danischmend so kurz als
nur immer möglich seyn wird zusammenziehen."Ein Staat, sagt Tifan im Eingange des Kapitels von
der Erziehung könnte mit den besten Gesetzen, mit der besten
Religion, bei dem blühendsten Zustande der Wissenschaften und
der Künste, dennoch sehr übel bestellt seyn, wenn der Gesetzgeber
die Unweisheit begangen hätte, einen einzigen Punkt zu
übersehen, auf welchen in jedem gemeinen Wesen alles ankommt —
die Erziehung der Jugend. Die vortrefflichste Einrichtung
des Justizwesens macht einen Sachwalter nicht gewissenhaft,
einen Richter nicht unbestechlich; die beste Religion
kann nicht verhindern, von unwürdigen Dienern zum
Deckmantel der häßlichsten Laster gemacht, und zur Beförderung
der schändlichsten Absichten gemißbraucht zu werden; die herrlichsten
Polizeigesetze können wenig Wirkung thun, wenn Vaterlandsliebe,
Liebe zur Ordnung, Mäßigung, Redlichkeit und
Aufrichtigkeit, den Bürgern fremde Tugenden sind; und die
weiseste Staatsverfassung kann den Monarchen nicht verwehren,
durch einen unruhigen Geist, oder durch Trägheit
und Schwäche der Seele, oder irgend eine ausschweifende
Leidenschaft, seine Völker unglücklich zu machen. Alles hängt
davon ab, daß in jeder zu den Tugenden seines Standes und
Berufs gebildet werde; und wann soll, wann kann diese Bildung
vorgenommen werden, wofern es nicht in dem Alter
geschieht, wo die Seele, jedem Eindruck offen und zwischen
Tugend und Laster unschlüssig in der Mitte schwebend, sich
eben so leicht mit edeln Gesinnungen erfüllt, an richtige Grundsätze
gewöhnt, in tugendhaften Fertigkeiten bestärkt —als, dem
Mechanismus der sinnlichen Triebe, dem Feuer der Leidenschaften
und der Ansteckung verführerischer Beispiele überlassen,
die unglückliche Fertigkeit der Thorheit und des Lasters annimmt?
Der Wohlstand eines Staates, die Glückseligkeit einer
Nation hängt schlechterdings von der Güte der Sitten ab.
Gesetzgebung, Religion, Polizei, Wissenschaften, Künste, können
zwar zu Beförderungsmitteln und Schutzwehren der Sitten
gemacht werden: aber sind erst die Sitten verdorben, so hören
auch jene auf wohlthätig zu seyn; der Strom der Verderbniß
reißt diese Schutzwehren ein, entkräftet die Gesetze, verunstaltet
die Religion, hemmt den Fortgang jeder nützlichen Wissenschaft,
und würdiget die Künste zu Sklavinnen der Thorheit
und Ueppigkeit herab. Die Erziehung allein ist die wahre
Schöpferin der Sitten; durch sie muß das Gefühl des Schönen,
die Gewohnheit der Ordnung, der Geschmack der Tugend,
durch sie muß vaterländischer Geist, edler Nationalstolz, Verachtung
der Weichlichkeit und alles Geschminkten, Gekünstelten
und Kleinfügigen, Liebe der Einfalt und des Natürlichen,
mit jeder andern menschenfreundlichen, geselligen und bürgerlichen
Tugend, von den Herzen der Bürger Besitz nehmen;
durch sie müssen die Männer zu Männern, die Weiber zu
Weibern, jede besondere Classe des Staates zu dem was sie
seyn soll gebildet werden. Die Erziehung —höret es, o ihr,
die nach Tifan auf seinem Throne sitzen werden! sie ist die
erste, die wichtigste, die wesentlichste Angelegenheit des Staats,
die würdigste, die angelegenste Sorge des Fürsten! Alles übrige
wird ein Spiel, wenn die öffentliche Erziehung die möglichste
Stufe ihrer Vollkommenheit erreicht hat. Die Gesetze gehen
alsdann von selbst; die Religion, in ihrer Majestät voll Einfalt,
bleibt was sie ewig bleiben sollte, die Seele der Tugend
und der feste Ruhepunkt des Gemüthes: die Wissenschaften
werden zu unerschöpflichen Quellen wahrer Vortheile fur das
gemeine Wesen; die Künste verschönern das Leben, veredeln
die Empfindung, werden zu Aufmunterungsmitteln der Tugend.
Jede Classe von Bürgern bleibt ihrer Bestimmung treu;
allgemeine Emsigkeit, von Mäßigkeit und guter Haushaltung
unterstützt, verschafft einem unzählbaren Volke Sicherheit vor
Mangel und Zufriedenheit mit seinem Zustande. Von dem
Augenblick an, da ihr die Veranstaltungen, von deren vollkommenster
Einrichtung und öfterer Wiederbelebung so große Vortheile
abhangen, vernachlässiget, werden unvermerkt alle übrigen
Räder des Staats in Unordnung gerathen; der Verfall der
Erziehung wird die Ausartung der Sitten, und diese, wofern
ihr nicht weise genug seyn werdet die Quelle des Uebels in
Zeiten zu entdecken und zu verstopfen, unfehlbar den Verfall
des Staats nach sich ziehen."Nach Tifans Begriffen war es also bei der Erziehung
viel weniger darum zu thun, den künftigen Bürgern gewisse
Kenntnisse und Geschicklichkeiten beizubringen —wiewohl auch
dieser Theil, nach Maßgebung der künftigen Bestimmung eines
jeden, keineswegs verabsäumt wurde — als, jede besondere
Classe zu den Tugenden ihres künftigen Standes, und überhaupt
Alle zu jeder Tugend des gesellschaftlichen und politischen
Lebens zu bilden. Auf diesen großen Zweck war der ganze
Erziehungsplan angelegt. Alles in demselben war praktisch;
die Schule machte nicht, wie in den meisten übrigen Staaten,
ein besonderes für sich bestehendes Institut aus, welches mit
dem gemeinen Wesen nur durch einzelne schwache Faden zusammenhängt;
alles bezog sich in den Scheschianischen Schulen
auf den künftigen Gebrauch, und der Jugend wurde nichts
gelehrt, was sie ohne Schaden wieder vergessen konnte.Tifan verordnete, daß in dem ganzen Scheschianischen
Reiche die Knaben öffentlich, die Töchter hingegen, deren
Bestimmung ordentlicher Weise in den engern Cirkel des häuslichen
Lebens eingeschränkt ist, absonderlich von ihren Müttern
oder nächsten Verwandten erzogen werden sollten. Unter jenen
waren nur die Söhne des Königs, und unter diesen allein
diejenigen, welche in besonderem Verstande die Pflegetöchter
der Königin genannt wurden, von der allgemeinen Regel ausgenommen.
Denn die letztern wurden, eben so wie die Knaben,
in besonders dazu eingerichteten Erziehungshäusern, unter
eigener oberster Aufsicht der Königin, zu der einfältigen, arbeitsamen
und schuldlosen Lebensart, die ihrer Bestimmung
angemessen war, und zu allen Tugenden, ohne welche es unmöglich
ist eine rechtschaffene Ehegattin und eine gute Mutter
zu seyn, auferzogen. Alles was man gemeiniglich gegen dergleichen
Anstalten einzuwenden pflegt, fand bei diesen nicht
statt; sie waren so vorsichtig und in allen Betrachtungen so
zweckmäßig eingerichtet, daß (den Fall einer allgemeinen Verderbniß
der Sitten in Scheschian ausgenommen) eine merkliche
Verschlimmerung derselben unmöglich war.Die Hauptquelle der Gebrechen solcher öffentlichen Anstalten
liegt darin, daß man so wenig als möglich darauf
verwenden will. Die Leute, die dabei gebraucht werden, sind
oft selbst rohe und mit den Eigenschaften zu einem so edeln
Beruf gar nicht begabte Leute. Sie haben so wenig Anspruch
an einige Achtung der Welt zu machen, daß es kein Wunder
ist, wenn sie meistens schlecht denkende Geschöpfe sind; und sie
werden so armselig belohnt, daß es noch weniger zu verwundern
ist, wenn Leute ohne Grundsätze und Tugend ihren eigenen
Zustand auf Unkosten ihrer Untergebenen zu verbessern suchen;
welches denn, da diesen letztern ohnehin alle ihre Bedürfnisse
so sparsam als möglich zugemessen werden, nicht geschehen
kann, ohne sie an dem Unentbehrlichen Mangel leiden
zu lassen. Tifans Veranstaltungen für die Erziehung armer
Kinder von beiderlei Geschlechte verdienten den Namen königlicher
Anstalten im eigentlichen Verstande. Nichts was zu
ihrer Vollkommenheit gehörte, war dabei gespart. Die dazu
gewidmeten Häuser waren weitläufige wohl eingetheilte Gebäude,
von gesunder Lage, mit Gärten und Spaziergängen
versehen. Jedes derselben hatte seinen eigenen Arzt, der zugleich
der oberste Aufseher der ganzen Anstalt, und ein Mann
von geprüftem Werthe war. Die Nahrung der Kinder war
gesund, zureichend und wohl zubereitet; ihre Kleidung einfach
aber zierlich; und für ihre Gesundheit und Reinlichkeit wurde,
wiewohl sie nur die Kinder von Tagelöhnern und armen Leuten
waren, eben so viele Sorge getragen, als ob sie von dem
besten Adel in Scheschian gewesen wären; "denn Reinlichkeit,
sagte der weise Tifan, ist eine nothwendige Bedingung der
Gesundheit, und ohne Gesundheit ist ein Mensch sich selbst
und der Welt zu nichts gut."Mir däucht, Tifan zeigte sich in allem diesem als ein
wahrer Vater seines Volkes; und den Fürsten, welche bei Anstalten
von dieser Art weniger Aufmerksamkeit auf die Einrichtung
derselben wenden als er, wollte ich demüthig rathen, sie
lieber gar eingehen zu lassen.Außer diesem ordnete Tifan für jede wichtigere Classe der
Bürger eine besondere Erziehung an. Die Kinder der Landleute
hatten, seiner Meinung nach, keiner künstlichen Bildung
vonnöthen. Die Natur thut bei ihnen das Beste. Die
Verderbniß der Sitten in einem Staate rührt niemals von
ihnen her. Alle Tugenden, deren sie vonnöthen haben, sind
gewissermaßen die natürlichen Früchte ihrer Lebensart; und
wenn sie nicht durch Härte und Unterdrückung boshaft gemacht,
oder durch das böse Beispiel der Städte angesteckt werden,
sind sie mit den einfältigen aber gesunden Begriffen und Gesinnungen,
die sie der Natur und dem Menschenverstand allein
zu danken haben, die unschuldigsten Leute von der Welt. Ihre
Unwissenheit selbst ist für sie ein Gut, weil sie eine nothwendige
Bedingung der Tugenden ihres Standes und ihrer Zufriedenheit
mit demselben ist. Entwickelte Begriffe, verfeinerte
Empfindungen, physische und unorganische Kenntnisse, oder
eine gelehrte Theorie der Landwirthschaft, sind entweder gar
nicht für sie gemacht, oder würden ihnen doch wenig nützen.
Der junge Bauer kann die Regeln des Feldbaues und der
ländlichen Wirthschaft von seinem Vater und Großvater besser
lernen als von dem gelehrtesten Naturforscher; und ihm diese
Regeln auf eine wissenschaftliche Art beizubringen wäre wenig
weiser gehandelt, als wenn man ihn die Redekunst und die
Logik lehren wollte, damit er sich ausdrücken und Schlüsse
machen lerne. Dieser Begriffen zufolge schränkte Tifan den
Schulunterricht, der sich für das Landvolk schickt, auf die Kunst
zu lesen, zu schreiben und zu rechnen, auf die einfachsten Begriffe
und Maximen der Religion und Sittlichkeit, und auf
die Erklärung eines sehr vortrefflichen Kalenders ein, den er
durch die Akademie der Wissenschaften für sie machen ließ.
Alles übrige was zu thun war, um die Landleute von ihrem
Verhältniß gegen den Staat, von ihren Gerechtsamen, und
von ihren bürgerlichen sowohl als häuslichen Pflichten zu belehren,
war dem Priester übertragen, mit welchem Tifan jedes
Dorf versah. Dieser Priester stellte zugleich die erste obrigkeitliche
Person des Dorfes vor, und war durch eine sehr
genau bestimmte Instruction angewiesen, wie er sein zweifaches
Amt zu verwalten habe.Was hingegen die Bewohner der Städte betrifft, welche
durch ihre Lebensart und Bestimmung viel weiter als das
Landvolk von dem ursprünglichen Stande der Natur entfernt
werden, von diesen urtheilte Tifan, daß sie überhaupt einen
höhern Grad der Aufklärung, mehr Entwickelung, Verfeinerung
und Politur vonnöthen hätten. "Je größer die Anzahl
der Menschen ist (spricht er), die in einerlei Ringmauern
beisammen leben; je stärker die innerliche Gährung und der
Zusammenstoß sind, welche aus der Verschiedenheit ihrer Neigungen,
Leidenschaften, Absichten und Vortheile entspringen
müssen; je schwerer es ist, mitten unter so vielerlei Dissonanzen
die zum Wohl des Ganzen nöthige Harmonie zu erhalten;
je leichter jede Art von Verderbniß sich unter sie einschleicht,
und je schneller sie durch die sittliche Ansteckung fortgepflanzt
und bösartig gemacht wird: desto augenscheinlicher
ist die Nothwendigkeit, die Erziehung in den Städten zu einem
politischen Institut zu machen, und alles darin auf den großen
Zweck zu richten, die städtische Jugend aufs sorgfältigste zu
geselligen Menschen und zu guten Bürgern zu bilden. Aus
diesem Grunde machte der Unterricht in der Sittenlehre,
und in der Verfassung, den Gesetzen und der Geschichte von
Scheschian, den wesentlichsten Theil derjenigen Erziehung aus,
welche allen jungen Bürgern gemein war; und obgleich die
Art des Vortrags und die Grade der Ausführlichkeit des Unterrichts
dem Unterschied der Stände und der künftigen Bestimmung
angemessen waren, so wurde doch selbst bei der
Jugend von den untern Classen auf keinen geringern Zweck
gearbeitet, als sie —zu eifrigen Liebhabern eines Vaterlandes,
dessen gegenwärtiger Zustand sich dem Ideal der öffentlichen
Glückseligkeit näherte —zu gehorsamen Befolgern einer Gesetzgebung,
deren Weisheit ihrem Verstand einleuchtete —
und zu willigen Beförderern des gemeinen Besten, mit welchem
sie ihr eigenes unzertrennlich verbunden sahen, zu machen.Außerdem hielt Tifan für nöthig und anständig, daß alle
Bürger, zu welcher Classe sie gehören möchten, in ihrer Muttersprache
unterrichtet, und gelehrt würden, einige der besten
Nationalschriftsteller, die er zu diesem Ende für classisch erklärte,
mit Verstand und Geschmack zu lesen. Er urtheilte mit
sehr gutem Fuge, daß ein Volk, welches berechtigt seyn
wolle, sich für besser als Samojeden und Kamtschadalen anzusehen,
seine eigene Nationalsprache richtig und zierlich zu
reden gelernt haben müsse; und da die jungen Scheschianer
das Glück hatten, keine fremde Sprache erlernen zu müssen,
so war es um so viel leichter, von ihrer eigenen in einem
Grade Meister zu werden, dessen sich, bei andern Völkern,
sogar unter den Gelehrten nur die wenigsten rühmen können.Noch ein andrer Umstand, der die Schulen von Tifans
Einsetzung auszeichnet, war, daß dieser Gesetzgeber den Unterricht
und die Uebung in der Höflichkeit zu einem wesentlichen
Theile der öffentlichen Erziehung machte. Er sah die
Höflichkeit für eine Vormauer der öffentlichen Ruhe, für den
stärksten Damm gegen alle Arten von Beleidigungen und gewaltthätigen
Ausbrüchen der Leidenschaften, und also für das
sicherste Mittel an, der Obrigkeit die unangenehme Mühe —
und dem Staate den schädlichen Einfluß —häufiger Bestrafungen
zu ersparen; und man muß gestehen, unter einem sehr
zahlreichen Volke scheint sie, besonders für die geringern Classen,
eine der nothwendigsten politischen Tugenden zu seyn. In
dieser Rücksicht verfaßte Tifan ein besonderes Ceremonial für
alle Stände, Classen, Geschlechter, Alter, Verhältnisse und
Vorfallenheiten, an welches die Scheschianer so mechanisch
und pünktlich angewöhnt wurden, daß es ihnen endlich zur
andern Natur ward. Vielleicht haben die Sineser, welche
dieses Institut von jenen borgten, die Sache, nach Art aller
Nachahmer, zu weit getrieben; aber die großen Vortheile,
die ihrer Polizei davon zugehen, können uns begreiflich machen,
wie schön und nämlich dieser Theil von Tifans Gesetzgebung
in seiner ursprünglichen Beschaffenheit gewesen seyn
müsse.Vermöge eines zur Grundverfassung von Scheschian gehörigen
Gesetzes blieben die Kinder ordentlicherweise in der
Hauptclasse ihres Vaters. Diese Hauptclassen waren auf sieben
festgesetzt. Sie bestanden aus dem Adel oder den Nairen, den
Gelehrten, den Künstlern, den Kaufleuten, den Handwerkern,
dem Landvolke und den Tagelöhnern; und jede der sechs erstern
theilte sich wieder in verschiedne besondere: die letzte aber,
welche Tifan als die vornehmste Werkstätte der Bevölkerung
ansah, und deren Kinder, als dem Staate vorzüglich angehörig
(wie schon gemeldet worden), auf öffentliche Unkosten
erzogen wurden, waren auf gewisse Weise von besagtem Gesetz
ausgenommen. Der Adel, der sich wieder in den höhern
und niedern theilte, konnte von dem Könige niemanden mitgetheilt
werden. Wenn ein adeliges Geschlecht erlosch, so versammelten
sich die Häupter aller übrigen, und erwählten aus
der zweiten oder dritten Classe den Mann, der sich durch die
größten Verdienste und den edelsten Charakter der Ehre, in
ihren Orden aufgenommen zu werden, am würdigsten gezeigt
hatte. Dieser ging davon sofort in die Classe der Edlen über,
und füllte die Lücke durch ein neues Geschlecht aus, welches
von dem Augenblicke leiner Aufnahme an, alle Rechte des
Adels eben so vollständig genoß, als ob es so alt als die Welt
gewesen wäre. Hingegen hatte der König das Recht, an den
Platz jedes erloschenen Stammes aus dem höhern Adel denjenigen
aus dem niedern, den er für den Würdigsten achtete,
eigenmächtig auszuwählen. Die Kinder aus den vier folgenden
Hauptclassen waren nur in dem Falle einer erweislichen Untüchtigkeit
zu den Bestimmungen ihrer Classe oder einer entschiedenen
Neigung und Tüchtigkeit zu den Geschäften einer
andern, von dem Gesetze losgezählt: und aus der sechsten
Classe war es, ohne ausdrückliche königliche Erlaubniß (welche
im Gesetz auf besondere Fälle eingeschränkt war) gar nicht erlaubt,
in die zweite, dritte oder vierte überzugehen. Und auf
gleiche Weise waren auch die Heirathen aus einer Hauptclasse
in die andere durch ein Grundgesetz, von welchem der König
nur selten dispensiren konnte, untersagt.Da nun solchergestalt die Stände in diesem Reiche gehörig
abgesondert waren —welches Tifan für unumgänglich
nöthig hielt, wenn jeder den ihm eigenthümlichen Charakter
unvermischt beibehalten sollte, so war eine nothwendige
Folge hiervon, daß auch jede Classe ihre eigene Erziehung bekommen
mußte.Die Söhne aus der dritten, vierten und fünften erhielten
die ihrige theils in dem väterlichen Hause, theils in den für
sie angeordneten öffentlichen Schulen, theils bei den Meistern
ihrer Profession, bei welchen sie sich außerhalb ihres Geburtsortes,
sechs Jahre lang (vom sechzehnten an gerechnet), in
derselben üben mußten. Für die Kaufleute, Künstler und feinern
Handarbeiter war überdieß in allen größern Städten des
Reichs eine Art von Akademie angelegt, wo jeder die Theorie
seiner Kunst, mit der wirklichen Ausübung verbunden, in möglichster
Vollkommenheit und unter Anführung der erfahrensten
Meister, zu erlernen Gelegenheit hatte. Aber die Besuchung
dieser Akademie war vom Gesetze nur denjenigen als eine Schuldigkeit
auferlegt, welche sich in einer von den Hauptstädten des
Reichs niederlassen wollten.Die Classe der Gelehrten, oder, wie sie der Sinesische
Uebersetzer nennt, der Mandarinen, begriff wieder sechs besondere
Ordnungen unter sich: die Akademisten, die Priester, die
Schullehrer, die Aerzte, die Richter, Polizeiaufseher und andre
obrigkeitliche Personen, und die Sachwalter. Die Ordnung,
in welcher sie hier genannt worden, bestimmte in Scheschian
ihren Rang. Diese sämmtlichen Abtheilungen genossen vom
zehnten bis zum sechzehnten Jahre einer gemeinschaftlichen
öffentlichen Erziehung in besonders dazu gestifteten Häusern,
deren äußerliche Einrichtung von denjenigen, worin die Pflegekinder
des Königs und der Königin erzogen wurden, wenig
unterschieden war. Jedes derselben hatte einen Akademisten,
einen Priester und einen Arzt zu Oberaufsehern. Eine der
vornehmsten Obliegenheiten dieser Aufseher war, die Gemüthsart,
den Genie und das Maß der Fähigkeiten der jungen Leute
aufs genaueste zu erforschen. Ihre Wahrnehmungen darüber
mußten sie, mit eben so vieler Genauigkeit als ob es atmosphärische
oder astronomische Beobachtungen gewesen wären,
von Tag zu Tag aufzeichnen, und daraus, zu Ende der beiden
letzten Jahre, einen mit verschiedenen Probestücken begleiteten
Bericht an den Statthalter der Provinz einsenden. Dieser
setzte eine Commission von sechs Akademisien zu Untersuchung
derselben nieder; und nach dem Gutachten der letztern wurde
jeder Jüngling in diejenige unter den sechs vorbenannten Ordnungen,
zu welcher ihn Neigung und Fähigkeit vorzüglich bestimmten,
und zugleich in diejenige höhere Schule versetzt, worin
die besondere Ordnung, in welche er nun gehörte, zu ihrem
künftigen Amte ausgebildet und vollkommen gemacht wurde.In der Auswahl der künftigen Priester wurde vornehmlich
auf diejenige glückliche Mischung des Temperaments gesehen,
welche ihrem Besitzer eine vorzügliche Anlage zu Weisheit
und Tugend gibt. Alle sehr feurigen, unruhigen, ruhmbegierigen
und unternehmenden Geister, alle jungen Leute von außerordentlich
lebhafter Empfindung und Einbildungskraft wurden von
einem Stande ausgeschlossen, dessen wesentlichste Pflicht war,
dem Volke mit dem Beispiel untadeliger Sitten vorzuleuchten
und die Religion durch ihren Wandel ehrwürdig zu machen.
Auf diesen Hauptzweck war ihre ganze Erziehung eingerichtet.
Von den Wissenschaften, welche nicht unmittelbar weiser und
besser machen, wurde ihnen nur so viel beigebracht, als vonnöthen
war, um keine Verächter derselben zu seyn. Hingegen
wurde auf die Bildung ihres Geschmacks besondere Aufmerksamkeit
gewendet; denn Tifan behauptete, daß ein feines und
gelehrtes Gefühl des Schönen und Guten ein wesentliches
Stück der Weisheit sey. Die Religion, zu deren besonderem
Dienste sie in diesen Schulen iniziirt wurden, war nicht mehr
der alte armselige Affendienst der Scheschianer; es war diejenige,
welche Dschengis ehmals dem jungen Tifan eingeflößt,
und dieser zur Grundfeste seiner ganzen Gesetzgebung gemacht
hatte. Da sie durchaus praktisch war, da alles Grübeln über
die Natur des höchsten Wesens durch ein ausdrückliches Strafgesetz
untersagt war: so machte sie auf einer Seite bloß ein
politisches Institut, und auf der andern eine Angelegenheit
des Herzens aus; oder, mit andern Worten es war bloß
darum zu thun, durch sie ein besserer Bürger und ein glücklicherer
Mensch zu werden, als man ohne sie hätte seyn können.
Aus diesen Gesichtspunkten allein lehrte man die jungen
Priester die Religion von Scheschian betrachten; und aus eben
diesem Grunde machte die Moralphilosophie und das Studium
der Gesetze die Hauptbeschäftigung ihrer Vorbereitungszeit aus.Gleich sorgfältig wurden auch die Schullehrer in besondern
für sie angeordneten Pflanzschulen zu ihrer künftigen
Bestimmung zubereitet. Diejenigen, welche zu diesem Stande
ausgewählt wurden, mußten Beweise der größten Fähigkeiten,
eines scharfen Beobachtungsgeistes, einer großen Geschmeidigkeit
der Seele und eines edeln Herzens gegeben haben.
Tifan glaubte, daß man nur den vortrefflichsten Männern der
Nation die Sorge für den kostbarsten Schatz derselben anvertrauen
könne. Aber eben darum machten sie auch eine der
angesehensten Classen aus, wurden nächst den Akademisten und
Priestern als die vornehmsten Staatsbedienten betrachtet,
waren für ihre Arbeit reichlich belohnt, und genossen, wenn
sie dem Staate fünfundzwanzig Jahre lang gedient hatten, für
ihr übriges Leben einer zwar nicht ganz unbeschäftigten, aber
doch ruhigen und mit großem Ansehen verknüpften Unabhängigkeit.
Diejenigen, welche man einem so wichtigen Stande
widmete, wurden, von ihrem sechzehnten Jahr an, zehn Jahre
lang in allen Wissenschaften, die zu einer vollständigen Kenntniß
des Menschen gehören, und in allen nur möglichen Fertigkeiten,
wodurch sie zu ihrem Amte geschickter gemacht werden
konnten, geübt. Sie waren überhaupt in zwei Ordnungen
abgetheilt; in die Lehrer der niedern und in die Lehrer
der höhern Schulen; und für jede Ordnung waren in jeder
Provinz besondere Vorbereitungsanstalten.Da Tifan sich eine so große Angelegenheit daraus machte,
jeder wichtigern Classe von Bürgern, und besonders denjenigen,
welche zur Verwaltung ihres Amtes einen gelehrten Unterricht
in den Wissenschaften oder in den Gesetzen von Scheschian
vonnöthen hatten, ihre eigene Erziehung zu geben: so
stellt man sich leicht vor, daß er für die Erziehung des jungen
Adels nicht weniger Sorge getragen haben werde. Die Adeligen
in Scheschian besaßen nicht nur den größten Theil der
Ländereien eigenthümlich, wiewohl ohne Gerichtsbarkeit: sondern
ihre ehmals sehr übertriebenen, unter Azorn und Jsfandiarn
aber nach und nach unendlich verminderten Vorzüge
waren durch Tifans Gesetzgebung wieder zu einem solchen
Glanze hergestellt worden, daß sie nun, sowohl durch ihren
Reichthum als durch ihre Vorrechte, die ansehnlichste Kaste
im Staate ausmachten. Außer dem wesentlichen Antheil, der
ihnen an der Garantie der Gesetze und Nationalrechte zukam,
hatte der hohe Adel in Scheschian, der aus den ältesten und
begütertsten Familien bestand, ein angebornes Recht an alle
obersten Staats- und Kriegsbedienungen. Der König erwählte
zwar dazu wen er wollte; aber das Gesetz verband ihn,
aus dem Adel zu wählen. So vorzügliche Rechte konnten,
nach den Begriffen unsers Gesetzgebers, nicht anders als mit
eben so großen Pflichten verbunden seyn. Weil die Edeln in
Scheschian die reichste Classe ausmachten, so trugen sie auch
zu den Bedürfnissen des Staats am meisten bei; und weil
sie die vornehmsten Gehülfen des Königes in der Regierung
waren, so mußten sie auch die Geschicklichkeiten und die Tugenden
besitzen, die eine so edle Bestimmung voraussetzt. Tifan
fand, daß es etwas mit dem Besten des Staats ganz Unverträgliches
wäre, dem freien Belieben der Edelleute zu überlassen,
ob sie müßig gehen, oder sich nützlich beschäftigen; —
ob sie rohe Verächter der Wissenschaften, deren Werth sie nicht
verstehen, und anmaßliche Despoten der schönen Künste, deren
erste Grundbegriffe ihnen fremde sind, — oder aufgeklärte
Freunde und Kenner der einen und der andern; ob sie ungeschliffen
und ausgelassen in ihren Sitten verdorben in ihren
Grundsätzen, anstößig und übelthätig in ihren Handlungen, —
oder ob sie tugendhafte, nach großen Grundsätzen handelnde
Patrioten und Menschenfreunde seyn; — mit Einem Wort,
ob sie, ihrem innern Werthe nach, die verächtlichste, oder,
ihrer Bestimmung gemäß die schätzbarste Classe des Reichs
vorstellen wollten. Er glaubte, verzehren was andre arbeiten,
sey kein genugsames Verdienst um den Staat; und es sey
widersinnig, mit einer niedrigen Seele an den Ruhm und die
Rechte edler Vorältern Anspruch zu machen, und unerträglich,
wenn ein verdienstloser Mensch, bloß um eines von ungefähr
ihm zugefallnen adeligen Namens willen, auf die nützlichen
und an innerlichem Werth edlen Glieder des Staats verächtlich
herabzusehen sich berechtigt hält. Um den Adel von Scheschian
vor einer so schimpflichen Ausartung zu verwahren, um
ihn wirklich zu dem was er seyn sollte zu bilden, ordnete Tifan
für die adelige Jugend seines Reichs eine öffentliche Erziehung
an, bei welcher die Mittel, die zu ihrer Vervollkommnung
angewandt wurden, den ganzen Umfang seines großen
Zweckes umfaßten. Nicht Sklaven, aber zuverlässige Stützen
des Throns, weise Vorsteher der Nation, muthige Vertheidiger
ihrer Ruhe und standhafte Vertreter ihrer Rechte, voll
edlen Gefühls ihrer Unabhängigkeit gegen alle Anmaßungen
einer willkürlichen Gewalt, aber gehorsam gegen die Gesetze,
unfähig eine Unwahrheit zu sagen oder eine Niederträchtigkeit
zu thun, großmüthig und bescheiden in Verwendung ihres
Vermögens, aber Verächter des Reichthums der ein Sold der
Knechtschaft und des geschmeidigen Lasters ist, und stolz auf
eine Armuth, welche durch den Schatten, den sie auf die Tugend
wirft, den Glanz derselben mehr erhebt als verdunkelt;
Beförderer aller nützlichen Künste, aber vorzüglich geborne
Beschützer des Ackerbaues, dem sie ihre eigene Unabhängigkeit
zu danken haben; mit Einem Worte, Vorbilder der übrigen
Stände in jeder Tugend des geselligen und bürgerlichen Lebens,
und geschickt, die Vorzüge ihres Standes. wofern sie ihnen
nicht angeerbt gewesen wären, durch persönliche Verdienste zu
erwerben: — dieß sollten die Edeln von Scheschian seyn, und
dieß wurden sie durch Tifans weise Veranstaltung. Die Schulen,
in welchen sie erzogen wurden, standen unter der unmittelbaren
Aufsicht des Königs und der Reichsstände. Die geschicktesten
Akademisten wurden zu ihren Lehrern und Aufsehern
bestellt. Nichts was den Körper, den Geist und das
Herz vervollkommnen kann, wurde in ihrer Erziehung verabsäumt.
Sie fing sich mit dem fünften Jahre des Alters an,
und endigte sich erst mit dem einundzwanzigsten. Kein Sohn
eines Scheschianischen Edeln war einiger Beförderung fähig,
der diese öffentliche Erziehung nicht genossen hatte. In den
fünf letzten Jahren derselben mußten dem Könige von Zeit
zu Zeit die Beobachtungen der Aufseher über die Fähigkeiten
und Sitten ihrer Untergebenen, und Proben ihres Fleißes
eingeschickt werden. Alle Jahre wurden diejenigen, deren Zubereitungszeit
verflossen war, dem Könige vorgestellt. Er behielt
die vorzüglichsten an seinem Hofe, und die übrigen wurden,
jeder in seiner Provinz, stufenweise zu den Geschäften
und Ehrenstellen, die ihrem Stande zukamen, befördert.Itimadulet sagte Schach-Gebal, was mir an den Erziehungsanstalten
deines Tifan am besten gefällt, ist die Anordnung
dieser mit wirklichen Proben belegten Berichte über die
Talente und Sitten der jungen Leute von den höhern Classen.
Auf diese Weise blieb ihm kein guter Kopf, kein vorzüglicher
Charakter in seinem ganzen Reiche unbekannt. Er war nicht
in dem Falle, worin wir andern uns zu befinden pflegen, seine
Leute aus einem Glückstopfe ziehen zu müssen, wie du neulich
sagtest. Sein Staat glich einer künstlichen Maschine, von
deren Wirkung der Meister gewiß ist, weil er weiß, daß er
seine Federn, Hebel, Räder, Schrauben und wie die Dinge
beißen, jedes an seinen Platz gestellt hat. Ich denke, Freund
Danischmend diese Kunst sollte sich ibm ablernen lassen —denn
wir wollen uns nicht zu weise dünken, von einem solchen Meister
zu lernen.Unstreitig, erwiederte der neue Itimadulet, sind unter
seinen Verordnungen und Anstalten manche, wovon sich auch
in den Staaten des Sultan meines Herrn guter Gebrauch
machen ließe; zum Beispiel (setzte er mit einer bald ironischen
Miene hinzu) die vortreffliche Art, wie er Scheschian von dem
schädlichen Ungeziefer, den Ya-faou —Aber bei allem dem, fiel Gebal plötzlich ein, muß diese
treffliche Kunstmaschine, deren Lob ich so eben aus vollem
Herzen anstimmte, irgend einen verborgenen Capitalfehler gehabt
haben, daß sie, wie du schon mehr als Einmal etwas voreilig
zu verstehen gegeben hast, in so kurzer Zeit ins Stocken
gerieth, und endlich gar so gänzlich zu Grunde ging, daß
weder Ttfan noch sein Reich unsern Universalhistorikern auch
nur dem Namen nach bekannt ist.In der That, versetzte Danischmend, war es, wie Ihre
Hoheit sagen, etwas voreilig von mir —Hat nichts zu bedeuten, Herr Danischmend! Im Gegentheil,
du hast mir einen Gefallen gethan, mich auf diesen
Punkt aufmerksam zu machen. Ich glaube nun deinen Tifan
und seine Gesetzgebung mit seiner ganzen Art zu regieren so
gut zu kennen als — meine eignen Angelegenheiten. (Das
mag wohl seyn! dachte Danischmend, mit einem Seufzer, den
er noch zu rechter Zeit in einen kleinen Husten verwandelte.)
Seine Staatseinrichtung, wie gesagt, ist ein Meisterwerk, fuhr
der Sultan fort: aber, ohne mir selbst ein Compliment zu
machen, ich hatte eine Art von Ahndung, daß sie von keiner
langen Dauer seyn könnte. Indessen muß es doch die Mühe
verlohnen, von dir zu hören wie es damit zuging, und dieß
ist, unter uns gesagt, das Einzige was mich an deiner Geschichte
von Schechian noch interessiren kann. Richte dich
also darauf ein, Itimadulet, wenn ich dich wieder rufen lasse,
meine Neugier hierüber zu befriedigen.—————
16.Es ist ein trauriges Loos aller guten Dinge in der Welt,
fing Danischmend an, als er nach einigen Tagen wieder an
das Bette Seiner Hoheit gerufen wurde, daß sie unter den
Händen der Menschen nicht lange unbeschädigt und unverdorben
bleiben können. Leider gilt dieß von Gesetzgebungen, Staatsverfassungen
und Regierungen ganz vorzüglich. Wie vollkommen
auch die gesetzmäßige Verfassung eines Staats seyn
mag, bei der Vollziehung kommt alles auf die Beschaffenheit
der Menschen an, in deren Händen die Gewalt ist, welche
der Staat dem Fürsten, und der Fürst wieder theilweise denen,
die ihm regieren helfen sollen, anzuvertrauen genöthigt ist.
Wie angelegen ließ sich's nicht der gute Tifan seyn, seiner
Gesetzgebung eben dadurch die Krone der Vollkommenheit aufzusetzen,
daß er ihr die möglichste Dauerhaftigkeit zu geben
suchte! Eben darum weil er einsah, wie sehr alles auf die
sittliche Beschaffenheit der Regierten sowohl als der Regierenden
ankommt, machte er die moralische Bildung der Scheschianer
zum Hauptzweck seiner Erziehungsanstalten, und die
Erhaltung der Sitten in der möglichsten Lauterkeit zum Augenmerk
aller seiner Verordnungen. Aber eben darum, weil es
unmöglich ist unter einem großen Volke die Sitten lange unverdorben
zu erhalten, konnt' er mit aller seiner Vorsicht mehr
nicht bewirken, als daß es mit der sittlichen Verderbniß seines
Volkes langsamer zuging, und also der Zeitpunkt des politischen
Todes, welchem sich jeder Staat mit immer zunehmender
Geschwindigkeit nähert, von dem seinigen etwas weiter
entfernt wurde, als es ohne seine Vorkehrungen geschehen
wäre.Ohne Zweifel liegt diese Tendenz zum Schlechterwerden
so tief in der menschlichen Natur, daß ihre Wirkung durch
keine menschliche Veranstaltung gänzlich aufgehoben werden
kann. Auf diesen Punkt scheint der gute Tifan zu wenig
Rücksicht genommen, nub überhaupt den Menschen, die er
(ohne sich dessen vielleicht bewußt zu sew) zu viel nach seinem
eigenen Herzen beurtheilte, bei aller seiner Vorsicht, noch
immer mehr Gutes zugetraut zu haben, als er mit Recht erwarten
konnte: und dieser Umstand ist vielleicht allein der
Grund, warum einige seiner Gesetze den Keim ihrer Verderbniß
bereits in sich trugen, und die Entwickelung desselben unvermerkt
beförderten. So hatte er z. B., in der besten Absicht
von der Welt, die Scheschianische Priesterschaft, um sie
zu veredeln und dem Staate nützlich zu machen, zu öffentlichen
Lehrern des Gesetzbuches bestellt, und zu diesem Endzweck
alle nur ersinnliche Sorge getragen, sie zu vortrefflichen
Bürgern zu bilden. Aber, was er nicht vorhergesehen hatte,
war, daß er gerade dadurch diesem Stand ein Ansehen und
einen Einfluß verschaffte, dessen sich in der Folge — wenn
die Sitten nach und nach schlaffer geworden seyn, und die
Gesetze also einen Theil der Kraft, die sie von jenen erhalten,
verloren haben würden — ehrgeizige und heuchlerische Menschen
bedienen würden, selbstsüchtige Plane zum Nachtheil
des Staats durchzusetzen. Aus einer ähnlichen Ursache hatte
er, wiewohl anfangs eine gänzliche Umschaffung der Scheschianischen
Landesverfassung zu seiner großen Absicht nöthig
schien, den erblichen Adel als eine besondere Classe von Staatsbürgern
beibehalten, und ihn nicht nur im Besitz eines
Theils seiner ehemaligen Vorzüge gelassen, sondern ihn noch
durch das ausschließliche Recht an die obersten Staats- und
Kriegsbedienungen so hoch über alle übrigen Classen erhoben,
daß es kaum begreiflich ist, wie Tifan die künftigen Folgen
einer so auffallenden Ungleichheit sich selbst habe verbergen
können. Was auch immer über diesen Punkt zu seiner Rechtfertigung
oder Entschuldigung gesagt werden könnte, gewiß
ist, daß dieß einer der größten Fehler seiner Gesetzgebung
war, und vielleicht mehr als alle übrigen zum Untergang derselben
beitrug. Denn wie konnte er erwarten, daß ein Volk,
das durch eben diese Staatseinrichtung zu der höchsten Stufe
von Cultur, deren die Menschheit fähig scheint, gelangen
mußte, ein so unbilliges Vorrecht einer verhältnißmäßig kleinen
Anzahl in die Länge dulden, oder daß diejenigen, die im
Besitz desselben waren, sich dessen gutwillig begeben würden?Endlich ist nicht zu läugnen, daß Tifan, wiewohl es sein
ernstlicher Wille war, sich selbst und seinen Nachfolgern die
Freiheit Böses zu thun so viel möglich zu entziehen, dennoch
durch Betrachtungen, an welchen sein Herz mehr Antheil
hatte als seine Vorsicht, sich verleiten ließ, den Königen von
Scheschian eine größere Macht einzuräumen, als mit der
Sicherheit seiner Gesetzgebung, von welcher doch die Sicherheit
seines Volkes abhing, in die Länge bestehen konnte.Wie meinst du das, Freund Danischmend? fragte Schach-Gebal
mit einem bedenklichen Zucken der Augenbrauen."Ich will damit so viel sagen: als Tifan sich und seinen
Thronfolgern das Vermögen auch willkürlich viel Gutes zu thun
nicht entziehen wollte, und diesem zufolge der Krone ein
unabhängiges jährliches Einkommen von zehn Millionen Unzen
Silbers zueignete, worüber der König nach seinem Belieben
schalten konnte; so geschah es unstreitig aus dem löblichsten
Bewegungsgrund, und konnte, so lange sein Geist auf seine
Nachfolger forterbte, dem Staate nicht anders als ersprießlich
seyn. Nur scheint er vergessen zu haben, daß eine große willkürliche
Macht Gutes zu thun ihrem Besitzer nothwendiger
Weise auch eine eben so große Macht Böses zu thun ertheilt;
und daß also alle Könige nach ihm lauter Tifane gewesen seyn
müßten, wenn dieser Theil seiner Anordnungen nicht zu verderblichen
Mißbräuchen Anlaß und Mittel hätte geben sollen."Was du da sagst, Itimadulet, gilt wohl von der ganzen
Gesetzgebung und Staatsverwaltung deines Tifan. Augenscheinlich
war alles auf seine persönliche Denk- und Sinnesart
berechnet. Die Scheschianer, um das zu bleiben was er
aus ihnen machte, hätten immer einen Tifan an ihrer Spitze
haben müssen. Wie konnte er so übermäßig bescheiden seyn,
so etwas als möglich vorauszusetzen?In der That, versetzte Danischmend, glaubte er durch
die äußerst sorgfältige Erziehung, welcher die künftigen Thronfolger
nach dem Gesetz unterworfen seyn sollten, sein Möglichstes
gethan zu haben, um seinem Reich eine lange Folge
eben so guter Könige, als er selbst war, zu versichern. Aber
auch dieß hing doch gänzlich von der Beschaffenheit derjenigen
ab, denen die Vollziehung dieses wichtigsten Theils seiner Gesetzgebung
anvertraut werden mußte. Es läßt sich kaum denken,
daß er alles dieß, und was daraus folgt, nicht vorhergesehen
haben sollte. Aber vermuthlich war seine Meinung auch
nur, selbst das möglichste Gute zu schaffen, und, nachdem er
alle Vorsicht, deren ein weder unfehlbares noch allvermögendes
Wesen fähig war, für die Zukunft angewandt hatte, es
nun dem Schicksal zu überlassen, wie lange sein Werk, und die
Bewegung die er ihm einmal gegeben hatte, dauern würde,
Zum Unglück für Scheschian blieb der eben so weise als gute,
und eben so thätige als weise Tifan, der (wie Ihre Hoheit
so richtig urtheilten) gleich dem Phönix der Fabel in jedem
seiner Nachfolger wieder hätte aufleben müssen —Ich bedanke mich in Parenthesi für die Verschönerung
meiner Anmerkung, sagte der Sultan mit einem etwas zweideutigen
Lächeln.— unter zweiundzwanzig Königen, aus welchen die
Titanische Dynastie bestand, der einzige in seiner Art: seinen
Sohn Temor ausgenommen, der unter der langen Regierung
seines Vaters Zeit genug gehabt hatte sich zu überzeugen,
daß er, wenn die Reihe dereinst an ihn käme, gegen die Gewohnheit
der Thronfolger, nichts Besseres thun könne, als
sich so zu betragen, daß die Scheschianer noch immer von
Tifan regiert zu werden glauben möchten. Dieser Temor
würde, seiner vortrefflichen Erziehung ungeachtet, in einer
Epoche wie jene, worin sein Vater einen so großen Charakter
entfaltet hatte, nur eine mittelmäßige Rolle gespielt haben:
in den glücklichen Umständen hingegen, worin er den Thron
bestieg, war er gerade deßwegen, weil er fünfzig Jahre lang
Tifans bester Unterthan gewesen war, der würdigste Nachfolger
dieses großen Königs. Allein mit ihm endigte sich auch
das wirkliche goldene Alter der Scheschianer. Nach einer
dreißigjährigen Regierung hinterließ Sultan Temor den Thron
seinem Sohne Turkan, der das Feuer des Geistes, den Muth
und die Thätikgeit seines Großvaters geerbt zu haben schien,
aber, da ihm sowohl die Anlage zu den sanftern Tugenden,
als der Vortheil von einem Dschengis in der Dunkelheit des
Privatstandes erzogen zu seyn, mangelte, eben darum weil
er nur zur Hälfte Tifan war, der glücklichen Verfassung seines
Vaterlandes die erste Wunde schlug. Nach den Versuchen
zu urtheilen, die er in den ersten Jahren seiner Regierung
machte, die Reichsstände zu verschiedenen Aenderungen in den
Gesetzen Tifans zu bewegen, — Aenderungen, welche unter
dem Anschein des gemeinen Besten die Macht der Krone beträchtlich
vermehrt haben würden, — hätte sein unruhiger
Geist sich schwerlich an dem bescheidenen Ruhme seines Vaters
begnügt, wenn ihm ein langwieriger Krieg mit dem
Könige von Katay nicht einen andern Tummelplatz eröffnet
hätte. Er hörte sich zwar gern den zweiten Tifan nennen;
aber er wollte es auf seine eigene Art seyn —Was du ihm doch nicht übel nehmen wirst? fiel Schach-Gebal
ein —"Ich nicht; aber die Scheschianer hatten gegen diese eigene
Art manches einzuwenden."Danischmend mein Freund, von einem Itimadulet sollte
man billig erwarten, daß er das Volk besser kennen müßte,
um aus diesem Umstand etwas zum Nachtheil Turkans zu
folgern. Deine Scheschianer machten es, denke ich, wie alle
ihresgleichen, wenn es ihnen zu wohl ergeht: sie wurden
übermüthig.Sire, erwiederte Danischmend, wofern dieß der Fall war,
so ließ es Turkan nicht an sich fehlen, den Exceß ihres Wohlbefindens
nach Möglichkeit zu mäßigen. Denn er führte Krieg
beinahe seine ganze Regierungszeit durch, und Scheschian hatte
den ganzen Wohlstand vonnöthen, der die Frucht einer achtzigjährigen
Ruhe unter der besten Staatsverwaltung war, um
von den Folgen seiner glänzenden Unternehmungen nicht zu
Boden gedrückt zu werden. Katay war damals nach Scheschian
das mächtigste Reich im Osten, es besaß, wie jenes,
einen großen Ueberfluß an den kostbarsten Naturgütern; aber
seiner innern Verfassung nach stand es weit hinter jenem zurück,
und der große Handelsverkehr, der zwischen beiden Völkern
vorwaltete, war gänzlich zum Vortheil der Scheschianer.
Uebrigens konnte man diesen Krieg insofern gerecht auf
Seiten der Scheschianer nennen, als die erste Veranlassung
nicht von ihnen herrührte: aber wahrscheinlich würde Tifan
an dem Platze seines Enkels Mittel gefunden haben,
auf eine oder andere Weise den Ausbruch desselben zu verhüten.Herr Danischmend, fiel der Sultan ein, wenn der Hof
von Katay die Gelegenheit gegeben hatte, so erforderte doch
wohl die Ehre der Scheschianischen Krone eine Beleidigung
nicht ungestraft hingehen zu lassen? Aber worin bestand denn
die Beleidigung?"Eine von den Tartarischen Horden, die unter dem Schutze
des Königs von Katay standen, hatte eine Scheschianische Karawane
geplündert. Turkan forderte im Namen seiner Unterthanen
Genugthuung; der Hof von Katay zögerte: Turkan
erneuerte seine Forderungen mit Hitze und Stolz, und da er
immer kältere Antworten erhielt, so eilte er (in der That
viel rascher als er gethan haben würde wenn es ihm um
Beibehaltung des Friedens zu thun gewesen wäre) seinen
nicht weniger stolzen Nachbar die Ueberlegenheit seiner Macht
auf die nachdrücklichste Art fühlen zu lassen. Nach der Grundverfassung
des Reichs konnte der König keinen Krieg ohne
Einstimmung der Nation unternehmen. Aber dießmal fand
Turkan eine große Mehrheit derselben willig, seinen Antrag
aus allen Kräften zu unterstützen: das Volk, weil es die erlittene
Beleidigung um so höher empfand, je lebhafter es
seine Vorzüge über die Katayer fühlte; und der Adel, weil
ein großer Theil desselben sich Ruhm, Ehrenstellen und andere
ansehnliche Vortheile von dieser Gelegenheit versprach.
Der Krieg wurde also beschlossen, und die in Feuer gesetzten
Scheschianer beeiferten sich, ihren jungen König, der an der
Spitze seines Heers die Miene hatte einem gewissen Sieg entgegen
zu gehen, durch Verdoppelung der gewöhnlichen Kriegsmacht
und freudige Bewilligung außerordentlicher Beiträge so lange zu
unterstützen, bis er den gedemüthigten Feind zu einem rühmlichen
Frieden gezwungen haben würde. Dieser würde auch vermuthlich
in wenigen Feldzügen erhalten worden seyn, wenn Turkan und
sein Volk sich der Vortheile, die ihnen das Glück anfangs zuwandte,
mit etwas mehr Mäßigung hätten bedienen wollen.
Aber kaum hatte ihnen der erste Sieg einen Theil der feindlichen
Gränzen unterworfen, so mischte sich schon die Eroberungssucht
ins Spiel; und eine der schönsten Provinzen des
Katay'schen Reichs, welche Turkan dem seinigen einzuverleiben
beschlossen hatte, und die er wechselsweise bald einnahm
bald wieder verlor, blieb nicht nur das Ziel eines Krieges,
der mit abwechselndem Glücke beinahe seine ganze Regierung
durch währte, sondern auch, nachdem sie ihm abgetreten worden
war, auf lange Zeit die Quelle eines unversöhnlichen Hasses
und oft erneuerter Fehden zwischen den Königen von Katay
und Scheschian.Turkan genoß die Ruhe nicht lange, die er seinem erschöpften
Volk endlich wieder verschafft hatte. Von seinen
vier Söhnen waren drei auf dem Bette der Ehre gestorben;
und so folgte ihm Akbar, der jüngste, in einem Alter, worin
es, selbst bei einer Erziehung wie die Scheschianischen Königssöhne
erhielten, schwer ist, ein großes Volk — und noch
schwerer sich selbst zu regieren.Keine Satyren mehr, Herr Danischmend! unterbrach der
Sultan den Erzähler abermals:: vergiß nicht, daß mich nach
dem Ende deiner Erzählung verlangt —Wenn dieß ist, sagte Danischmend, dem die sonderbare
Laune seines Herrn aufzufallen anfing, so verdient Sultan
Akbar Dank; denn seine Regierung war ein starker Schritt,
wo nicht zum Ende der Geschichte von Scheschian, wenigstens
zu einer Abänderung seiner Verfassung, die dasselbe nicht
wenig beschleunigte. Akbar liebte die Künste, die nur im
Frieden gedeihen, nicht weniger leidenschaftlich als sein Vater
die kriegerischen geliebt hatte: aber er begnügte sich nicht, die
Spuren der Verwüstungen eines langwierigen Krieges in
seinem Reich auszulöschen und dessen ehmaligen Wohlstand
wieder herzustellen. Er wollte noch mehr thun als Tifan
und Temor, und wurde nicht gewahr, daß er, während er
sich überredete den höchsten Flor des Reichs zum einzigen
Augenmerk zu haben, bloß für seine Lieblingsleidenschaften
arbeitete. Von lauter Künstlern und Virtuosen, Kennern
und Dilettanten umgeben, deren Interesse war seine Leidenschaft
vielmehr anzufeuern als zu mäßigen, hörte er in seinem
ganzen Leben nichts was ihn aus dieser süßen Täuschung
hätte wecken können. Azor, Lili, und Alabanda selbst, blieben
in allem, was sie für die schönen Künste thaten, weit hinter
ihm zurück: denn man mußte ihm die Gerechtigkeit widerfahren
lassen, daß er sie nicht, nach Gewohnheit der meisten
Fürsten, zu bloßen Sklaven seines Vergnügens herabwürdigte,
sondern sie um ihrer selbst willen liebte und nur an der Vollkommenheit
ihrer Werke Vergnügen fand. Auch darüber
hatte sich keine zu beklagen, daß er sie etwa aus Vorliebe zu
einer andern vernachlässige; jede schien vielmehr berechtigt sich
für die vorzüglich begünstigte zu halten. Indessen war doch
gewiß, daß die Baukunst, weil sie mit seiner Liebe zum Schönen
zugleich seine Prachtliebe und Eitelkeit am meisten befriedigte,
den ersten Rang in seiner Zuneigung behauptete; wenigstens
konnte man nicht anders urtheilen, wenn man die Menge
und Herrlichkeit aller Arten von öffentlichen Gebäuden sah,
womit er die Residenz Scheschian und alle Hauptstädte seiner
Provinzen angefüllt hatte. Natürlich reichten die Einkünfte
der königlichen Domänen, so groß sie auch waren, bei weitem
nicht zu, eine so kostbare und unersättliche Leidenschaft zu befriedigen:
und kaum fühlte man die Unzulänglichkeit, so entstand
eben so natürlich das Verlangen ihr abzuhelfen. Das
kürzeste Mittel war, einen kleinen Bruch in das Gesetzbuch
Tifans zu machen, und Seiner Hoheit nicht nur die willkürliche
Verwaltung des öffentlichen Schatzes, sondern auch die
Macht, nach Gutdünken neue Zuflüsse in denselben zu leiten,
auf eine gute Art in die Hände zu spielen. Die Sache lag
dem guten Akbar zu sehr am Herzen, als daß sich unter den
Kunstliebhabern, von welchen sein Hof wimmelte, nicht gar
bald einer gefunden hätte, der sein Haupt nicht eher zur
Ruhe legte, bis er ein wohlberechnetes Plänchen, wie das
alles am sichersten zu bewerkstelligen wäre, ausgearbeitet hatte.
Alles kam darauf an, den Adel und die Priesterschaft dahin
zu bringen, daß sie sich, gegen eine billige Entschädigung, eine
so ungeheure Ausdehnung der königlichen Gewalt gefallen
ließen. Denn diese beiden mußten schlechterdings gewonnen
werden: der Adel, wegen des entscheidenden Einflusses, den
ihm die Staatsverfassung gab; die Priesterschaft, weil sie
unmittelbar auf das Volk wirkte und durch ihr Ansehen alles
über dasselbe vermochte. Beides hatte große Schwierigkeiten,
wofern Akbar versucht worden wäre seine Absichten durch
gewaltsame Mittel erreichen zu wollen: aber beide Stände
konnte man zu gewinnen hoffen, wenn man ihre Mitwirkung
unter keiner andern Bedingung verlangte, als insofern sie
ihnen selbst vortheilhafter wäre als die Anhänglichkeit an die
Tifanische Constitution. In dieser Rücksicht glaubte man von
den zehen Millionen Unzen Silbers, die der König aus seinen
unabhängigen Domänen zog, keinen nützlichern Gebrauch machen
zu können, als daß man sie zu Hebung der Skrupel verwendete,
welche sich natürlicher Weise beim Antrag einer so wesentlichen
Verschlimmerung der beschwornen Staatsverfassung in dem
Gewissen derjenigen erheben mußten, deren erste Pflicht die
Erhaltung dieser Verfassung war. In der That hätten beide
Stände eines höhern Grades von Uneigennützigkeit, als man
von gewöhnlichen Menschen erwarten darf, vonnöthen gehabt,
wenn sie eine so günstige Gelegenheit hätten versäumen sollen
—die einen, ihre durch den letzten Krieg und durch die Nachahmung
der Kunst- und Prachtliebe des jungen Königs erschöpften
Finanzen wieder herzustellen — die andern, welche
sich seit Tifans Zeiten mit sehr spärlich zugemessnen Einkünften
behelfen mußten, die ihrigen zu verbessern und ihren Wünschen
so viel möglich gleich zu machen. Man trat also in aller
Stille mit den vornehmsten Gliedern des Ausschusses der
Reichsstände in geheime Unterhandlungen; die Herren machten
ihre Bedingungen: man wurde des Handels eins. Aber,
was der Hof als den ersten Präliminarpunkt zugestehen mußte,
war: daß es, um die Nation nicht zu sehr zu erschrecken,
schlechterdings nöthig sey, die alte Form der Verfassung beizubehalten,
und sich vor der Hand an der unbegränzten Bereitwilligkeit
der Stände, dem König alles was er verlangen
würde zu bewilligen, um so mehr zu begnügen, da die zugleich
stillschweigend ertheilte Freiheit, den Staat mit so viel Schulden
zu belasten, als die väterliche Sorge Seiner Hoheit für
den möglichsten Flor desselben bei Gelegenheit etwa für nöthig
erachten möchte, die zu Dero gnädigsten Befehl stehenden
Summen nach Gutbefinden dupliren und dripliren konnte.Die edeln und ehrwürdigen Patrioten, mit welchen dieser
geheime Tractat geschlossen wurde, nahmen es auf sich, ihre
übrigen Collegen, unter den zugestandenen Bedingungen, auf
ihre Seite zu bringen, und fanden weniger Widerstand als
sie sich selbst vorgestellt hatten: so viel hatten bereits seit
Tifans Zeiten die Sitten an ihrer Einfalt und die Gesetze an
ihrer Energie verloren.Akbar berief nun die Stände, um, wie er sagte, über die
gegenwärtige Lage und Bedürfnisse des Vaterlandes sich mit
ihnen zu berathen. Der Friede, hieß es in der königlichen
Rede vom Throne, habe zwar, zu großer Freude Seines väterlichen
Herzens, alle Quellen des gemeinen Wohlstandes wieder
reichlicher als jemals fließen gemacht: aber die gänzliche Ausheilung
aller Wunden, die ein beinahe zwanzigjähriger Krieg
dem Staate geschlagen habe, und sowohl die Sicherstellung
desselben gegen seine natürlichen Feinde, die nur durch eine
entschiedene Ueberlegenheit von neuen Unternehmungen abgeschreckt
werden könnten, als die Erhaltung der so theuer
errungenen Früchte des Sieges, machten mehr als gewöhnliche,
wiewohl die Kräfte der Nation nicht übersteigende Anstrengungen
vonnöthen; zu welchen Seine Hoheit ihre getreuen
Stände um so bereitwilliger zu finden hofften, da Sie es
ihrer Weisheit gänzlich überließen, für die nöthige Vermehrung
der Staatseinkünfte durch solche Mittel und Wege zu
sorgen, die den Unterthanen besonders der ehrwürdigen Classe
der Landleute, die wenigste Beschwerde verursachen würden.Die Stände blieben Seiner Hoheit in ihrer Antwort
nichts schuldig: denn wiewohl der Geist der Zeiten Tifans
von Scheschian gewichen war, so hatte man doch die Sprache
derselben beibehalten; und der Kanzleistyl jener Zeit blieb
immer eben derselbe, auch nachdem es so weit gekommen war,
daß man durch die wechselseitigen Complimente, die der König
dem Volke, und die Repräsentanten des Volkes dem Könige
machten, des öffentlichen Elendes nur zu spotten schien. Seine
getreuen Stände fühlten sich unvermögend, sagten sie, einem
so huldreichen und so unermüdet für das Glück seiner Völker
arbeitenden Monarchen den ganzen Umfang des Vertrauens
und der Anhänglichkeit, wovon sie durchdrungen waren, zu
beweisen. Was kennten sie, um nicht gar zu weit hinter
ihrer Pflicht zurückzubleiben, weniger thun, als den Beschluß
fassen, sein Vermögen Gutes zu thun seiner gränzenlosen
Thätigkeit gleich zu machen? — Diesem zufolge übertrugen
sie ihm volle Machtgewalt, über die Verwendung des öffentlichen
Schatzes eben so unbeschränkt zu gebieten als über seine
eigene Casse; und um den großmüthigsten der Fürsten in den
Stand zu setzen, seinen wohlthätigen Wünschen einen desto
freiern Spielraum zu geben, ordneten sie verschiedene neue
Abgaben an, wovon man zwar seit mehr als hundert Jahren
in Scheschian nichts gewußt hatte, die sich aber um so leichter
rechtfertigen ließen, da das Reich durch die natürlichen Folgen
der Tifanischen Einrichtungen sich augenscheinlich auf einer
Stufe von allgemeinem Wohlstand befand, der eine namhafte
Vermehrung der Staatseinkünfte ohne merkliche Bedrückung
des Volkes möglich und zulässig zu machen schien. Dagegen
bewies aber auch Sultan Akbar seine Dankbarkeit für das in
ihn gesetzte Vertrauen durch die schönsten —Versprechungen:
und als eine thätige Probe seines guten Willens gab er sogleich
zwei Gesetze, wovon das eine den Adel, zu einiger Entschädigung
für die großen Opfer, die er dem Staat in dem Katay'schen
Kriege gebracht hatte, auf eine unbestimmte Zeit von allen Abgaben
befreite; das andere den Verdiensten des Priesterthums,
durch verhältnismäßige Erhöhung des Einkommens der verschiedenen
Priesterclassen und Stiftung einer Anzahl neuer
reich begabter Tempel und Ordenshäuser, gebührende Gerechtigkeit
widerfahren ließ.Vortrefflich! rief Schach-Gebal: das konnt ich mir voraus
vorstellen, daß die Herren die Baulust meines guten Bruders
Akbar nicht unbenutzt lassen würden. Aber das Volk, auf
dessen Unkosten dieser ganze schöne Handel abgeschlossen wurde,
was sagte das dazu?Sire, erwiederte Danischmend, das Volk ist, wie Ihre
Hoheit wissen, ein gar launiges, grillenhaftes Thier: zu einer
Zeit duldet es die auffallendsten Eingriffe in seine Rechte mit
der kaltblütigsten Gleichgültigkeit, zur andern geräth es über
die unbedeutendere Kleinigkeit in Feuer: heute kann man
alles von ihm erhalten, morgen vielleicht gar nichts. Die
Scheschianer hatten sich in einigen ruhigen Jahren völlig
wieder hergestellt; Akbars Prachtliebe, und die großen Werke,
wodurch er alle Arten von Künstlern und Arbeitern in
Beschäftigung und ungeheure Summen in den schnellsten
Umlauf setzte, machten seinen Namen und seine Regierung
der Nation beliebt; der allgemeine Wohlstand, der für den
Augenblick dadurch befördert wurde, erhöhte ihren Muth, und
machte sie geneigt, dem Fürsten und den seinem Beispiele
nacheifernden Großen einen Theil dessen, was sie von ihnen
gewannen, ohne eine allzu genaue Berechnung wieder zu geben.
Ueberdieß hielt man es für billig, daß der Adel, der im Kriege
sich um die Nation verdient gemacht und zum Theil wirklich
viel dabei eingebüßt hatte, belohnt und entschädiget würde;
und die Priesterschaft stand, ihrer Weisheit und reinen Sitten
wegen, in einem so hohen Ansehen bei dem Volke, daß es
von freien Stücken noch mehr für sie zu thun geneigt war
als Akbar vorschlug. Bei allem dem fehlte es doch hier und
da nicht an Widerspruch und Mißvergnügen, und viele Alte,
die von ihren Vätern das Glück der Zeiten Tifans rühmen
gehört hatten, weissagten der Nachkommenschaft wenig Gutes
von der kühnen Anmaßung, eine Constitution, welche mehr
das Werk einer wohlthätigen Gottheit als eines Sterblichen
schien, so leichtsinnig verbessern zu wollen. Aber sie wurden
überstimmt, und manche Generation ging vorbei, ehe die
Folgen der Uebel, zu welchen jetzt der Grund gelegt wurde,
den Scheschianern zu spät die Augen öffneten.Es bedarf vielleicht vieler Jahrhunderte, bis so ein Gebäude,
wie Tifan errichtet hatte, vor Alter und Baufälligkeit
zusammensinkt. Gleichwohl hätte dieser Augenblick endlich
kommen müssen; denn daß eine unzerstörbare Staatsverfassung
unter die unmöglichen Dinge gehöre, ist noch von niemand
geläugnet worden.So hätte ich große Lust der erste zu seyn, sagte Gebal
lachend. Warum wär' es denn so unmöglich, ein Staatsgebäude
aufzuführen, das wenigstens eben so dauerhaft wäre,
als die Pyramiden in Aegypten, die schon einige tausend Jahre
stehen, und wahrscheinlich so lange stehen werden, als der
Elephant, der die Erde trägt, auf der großen Schildkröte, und
die Schildkröte auf der zusainmengeringelten Schlange?O gewiß, sagte Danischmend: man brauchte zur Aufführung
eines solchen Staats nur die Pyramiden zum Muster
zu nehmen. Auch ist dieß, dünkt mich, bei unsern östlichen
Staatsverfassungen bereits geschehen; und es erklärt sich daraus,
warum, zum Beispiele, das Sinesische Reich, wiewohl
es schon so oft durch Eroberung unter fremde Oberherren
gekommen ist, dennoch seine innere Verfassung bei jeder Revolution
unverändert erhalten hat. Ich hätte mich also genauer
ausdrücken, und sagen sollen, daß meine Behauptung nur von
Staaten gelte, deren Bürger (wie die Scheschianer unter
Tifan) freie Menschen sind. Ich zweifle sehr, ob für solche
jemals eine bessere Constitution als die Tifanische diesseits des
Mondes gesehen worden ist; und doch ist leicht zu zeigen,
daß gerade in dem was ihre Vortrefflichkeit ausmachte, die
Ursache ihres Untergangs war.Wie käme das? fragte der Sultan mit einer ironischen
Miene von unglaublicher Verwunderung.Die Tifanische Constitution, antwortete Danischmend,
gründete sich einerseits auf die Einschränkung der Monarchie
durch eine solche Vertheilung der höchsten Gewalt zwischen dem
König, dem Adel und den Stellvertretern des Volks, wodurch
keines dieser politischen Gewichte, von deren richtigem Zusammenwirken
der Wohlstand des Staats abhing, ein merkliches
Uebergewicht über die andern sollte erhalten können; andrerseits
auf die Güte der Sitten, und auf eine Cultur, wodurch Tifan
die Dauer seiner Gesetze zu einer natürlichen Folge der freien
Ueberzeugung des Volkes von ihrer einleuchtenden Vernunftmäßigkeit
zu machen hoffte. Auf diesen zwei Hauptpfeilern
ruhte sein ganzes Gebäude; aber jeder dieser Pfeiler selbst
stand auf einem sandigen Grunde, der unter einem so schweren
Gewicht unvermerkt weichen mußte. Niemals wird in irgend
einem Staate derjenige, der mit irgend einem Antheil an
Macht und Ansehen bekleidet ist, sich lange in der Einschränkung
halten, die ihm das Gesetz vorgeschrieben hat. Gibt
das Gesetz die höchste Gewalt in die Hand eines Einzigen,
so wird dieser Einzige nicht ruhen, bis er sich über das
Gesetz erhoben und es dahin gebracht hat, daß sein Wille,
nicht der allgemeine, das höchste Gesetz ist. Vertheilt es dieselbe
unter mehrere durcheinander eingeschränkte Mächte, so
wird jede von ihnen, so gut wie jener Einzige, sich so lange
auszudehnen streben, bis sie den Damm, der sie einzwängen
soll, durchbrochen hat: und ist das Gesetz einer jeden, für
sich allein, zu mächtig, so werden sie sich gegen dasselbe vereinigen,
oder in geheime Unterhandlungen mit einander treten,
und — unter der Bedingung sich in die Vortheile, die sich
keine allein zuzueignen vermag, brüderlich zu theilen — die
schicklichsten Mittel das Gesetz unkräftig zu machen mit einander
abreden. Dieser Umstand ist für sich allein schon mehr
als hinlänglich, den immer zunehmenden Verfall und endlich
die ganze Auflösung jeder politischen Gesellschaft zu bewirken:
aber auch ohne ihn würde bloß die Cultur (ich meine eine
solche, wie diejenige, wozu Tifan durch seine Gesetze den Grund
legte) mit der Zeit die nämliche Wirkung hervorbringen.Danischmend ist heute zu paradoxen Behauptungen aufgelegt,
sagte der Sultan: aber ich seh' ihn kommen —Ihre Hoheit halten mir zu Gnaden, fuhr dieser fort,
wenn ich Ihnen etwas sehr Einfältiges zu sagen scheinen werde,
das aber darum nicht weniger wahr ist. Damit ein Volk sich
gutwillig einer Regierung unterwerfe, welche, vermöge der
Natur der Sache und des Menschen, ewig nach ungebundener
Willkürlichkeit strebt, muß betagtes Volk sich in einem Zustande
von Dumpfheit, Einfalt und Unmündigkeit befinden, der
genau so lange und keinen Augenblick länger dauern kann,
als es in Unwissenheit und Vorurtheile, gleich einem Wickelkinde,
um und um eingewickelt bleibt: und wofern ein gewisser
Grad von Cultur sich mit diesem Zustande vertragen soll, so
muß die vereinigte Gewalt der Gesetze, der Erziehung, der
Sitten und der Gebräuche, im Nothfall durch die Schrecken
eines eisernen Despotismus verstärkt, zusammenwirken, jeden
Fortschritt zu höhern Stufen unmöglich zu machen. Ist aber
dieser Fortschritt freigelassen, wird er durch die Verfassung
sogar befördert: so ist nichts natürlicher, als daß endlich die
Zeit kommen muß, wo das besagte Volk mit seinen Befugnissen
und Rechten, und überhaupt mit seinem wahren Interesse
so bekannt wird, daß es sich nicht länger zum leidenden
Gehorsam bequemen will, geschweige daß die Blendwerke,
Gaukeleien und Zauberformeln länger bei ihm anschlagen sollten,
womit es sich ehmals in seiner Dumpfheit bemaulkorben
und nach der Pfeife seines Führers tanzen machen ließ. Es
wird also —Erspare dir die Mühe uns zu sagen was es thun wird,
Itimadulet, fiel ihm der Sultan ins Wort — wir kennen das!
Aber meinst du nicht auch, daß sich aus dem, was du uns eben
da zu sagen beliebt hast, ein vortreffliches Argument gegen
deine fortschreitende Cultur ziehen ließe?O gewiß ein vortreffliches, sagte Danischmend mit einer
lächelnden Grimmasse, die nicht ganz so ehrerbietig war als
einem ersten Minister, der seinem Gebieter antwortet, geziemen
will.Nicht daß ich etwas gegen die Cultur hätte, fuhr der
Sultan ganz kaltblütig fort: im Gegentheil! — nur mit deiner
fortschreitenden Cultur, Herr Danischmend, die so lange fortschreitet
bis sich die Leute gar nicht mehr regieren lassen wollen,
mit der würde ich mich schwerlich recht vertragen können.
Ich liebe Ordnung und Ruhe in meinem Lande; das Ei soll
nicht klüger seyn wollen als die Henne; und wer zum Dreschflegel,
zum Hammer, zur Nadel und zur Ahle geboren ist, soll
sich den Kopf nicht damit zerbrechen, was er thun wollte,
wenn er Oberrichter, Statthalter, Itimadulet, oder Herr
des weißen Elephanten wäre. Das ist meine Meinung von
der Sache; und nun weiter im Text, Freund Danischmend!Die gar zu schöne, gar zu gute, gar zu vernünftige, und
eben darum (wie Ihre Hoheit weislich bemerkt haben) für so
alberne Thiere als die Menschen sind gar nicht passende Verfassung,
welche Tifan der Einzige den Scheschianern gab, würde
also, wenn man sie auch ihre natürliche Zeit hätte ausleben
lassen, endlich doch ein Ende genommen haben, sagte ich: aber
die Maßregeln, die der pracht- und kunstliebende Akbar mit
seinen getreuen Ständen nahm, ließen es dazu nicht kommen,
sondern beschleunigten den fatalen Zeitpunkt um einige Jahrhunderte.
Der erste und gefährlichste Schritt war nun glücklich
gemacht. Der Hof hatte das Vergnügen zu sehen, daß ein
so gewaltiger Bruch in die Tifanische Grundverfassung nicht
nur ohne die geringste Erschütterung, sondern sogar mit fast
allgemeinem Beifall, gemacht worden war: so eifrig hatten
sich's die dankbaren und in aller Stille nach höhern Dingen
strebenden Priester angelegen seyn lassen, das Glück der Regierung
Akbars, und die unendlichen Vortheile, die dem Reich
aus den neuen Einrichtungen zuwachsen würden, dem gläubigen
Volke von ihren Lehrstühlen sowohl als bei allen andern
Gelegenheiten anzupreisen. Von nun an wußte der Hof, der
Adel und die Klerisei, wie sie mit einander ständen; jener
wußte daß er durch diese, diese daß sie durch jenen erhalten
könnten was sie wollten. Das alles machte sich anfangs mit
der größten Leichtigkeit. Die höchst einfachen Formeln —
"was wird uns für unsere Gefälligkeit?" und "was verlangen
die Herren?" — machten die ganze Procedur aus. Nichts
war tröstlicher, als die Harmonie und Eintracht zu sehen,
die zwischen dem Hof und dem Ausschusse der getreuesten
Stände vorwaltete; nichts bewundernswürdiger, als der
leichte und rasche Gang aller Unternehmungen des erstern,
die ohne die geringste Friction von statten gingen und in der
möglichst kürzesten Zeit in größter Vollkommenheit zu Stande
kamen; nichts auffallender, als der Glanz, die blühende Gestalt,
das Ansehen von Wohlhabenheit, Ueberfluß und Reichthum,
welche Akbars Regierung über das ganze Reich verbreitete.
Unglücklicherweise konnte nur alle diese Herrlichkeit
von keiner langen Dauer seyn. Denn wie hätten nicht beide
Theile bald genug ausfindig machen sollen, daß ihr besonderes
Interesse bei diesem Handel, den sie auf Unkosten des allgemeinen
Besten mit einander geschlossen hatten, nicht so ganz
eben dasselbe sey? Augenscheinlich erforderte es der Vortheil
des Hofes, die Gefälligkeiten, die er verlangte, recht
wohlfeil zu haben: umgekehrt hingegen verhielt es sich mit
dem Interesse der Stände und ihrer Stellvertreter: denn
dieses war natürlicherweise, ihre Waare so theuer zu verkaufen
als möglich. In der That war der Appetit der letztern
so stark, daß das Doppelte von allen Einkünften des
Königs kaum zugereicht hätte, ihre bescheidenen Wünsche zu
befriedigen. Dagegen hatte auf der andern Seite der Hof,
dessen Casse dem Fasse der Danaiden glich, immer so viele
und dringende Bedürfnisse, daß die Reichthümer des ganzen
Staates zu ihrer Befriedigung noch unzulänglich schienen. Es
konnte also nicht fehlen, daß jene gute Harmonie in der Folge
von beiden Seiten durch Schwierigkeiten, Zögerungen und
Verweigerungen von Zeit zu Zeit unterbrochen werden mußte.
Die Kunst einander auf eine feine Art wechselseitig zu hintergehen
und zu übervortheilen, wurde nun das Hauptstudium
der Höflinge und der Stellvertreter der Nation: aber auch
diese verächtliche Art von Politik reichte nicht lange zu; und
die Herren des Ausschusses, durch die gutmüthige Geduld des
Volkes immer kühner gemacht, fanden zu wichtige Vortheile
bei einer unbegränzten Gefälligkeit gegen die Forderungen des
Hofes, als daß die Betrachtung, wie wohl oder übel die ärmern
Volksclassen sich dabei befänden, sie länger zurückgehalten
hätte. Im Gegentheil, man suchte sich selbst über diesen
Punkt durch die gewöhnlichen Trugschlüsse zu täuschen. Der
Augenschein zeigt ja, sagte man, daß die Quellen sich mit
den Abgaben zugleich vermehren. Ein zu große Wohlstand
ist den untern Classen mehr nachtheilig als vortheilhaft; denn
er reizt sie nur zu Müßiggang und Ueppigkeit. Sie arbeiten
immer nur so viel sie müssen. Größere Abgaben ermuntern
die Jndustrie, und dieß in dem Maße, wie sie die Wohlhabenheit
und selbst die Subsistenz erschweren; — und was
dergleichen halb wahre Cameralweidsprüche mehr sind. In der
That schien die noch immer zunehmende Lebhaftigkeit der
Circulation, die hohe Vollkommenheit wozu die Fabriken und
Handarbeiten getrieben wurden, und der blühende Zustand
des auswärtigen Handels, die neuen Maximen eine Zeit lang
zu bestätigen. Was für Tifans Zeiten schicklich und sogar
nothwendig war, hieß es, paßt nicht mehr auf die unsrige.
Unvermerkt gewöhnte man sich daran, die Quelle, aus welcher
man immer unbescheidener schöpfte, für unerschöpflich zu halten;
und so erschwerte man die Subsistenz der Armen, in der
wohlthätigen Absicht ihre Emsigkeit aufzumuntern, so lange,
bis endlich Mangel, übermäßige Arbeit, und die Verzweiflung
sich jemals zu einem bessern Zustand hinauf zu arbeiten, ihnen
zuletzt das Daseyn selbst unerträglich zu machen anfing; ein
fürchterlicher Augenblick, der bei einer großen Nation sich gewöhnlich
damit endiget, daß sie in einem allgemeinen Aufstand
ihre letzten Kräfte zusammenrafft, um sich entweder
selbst zu helfen, oder sich zugleich mit ihren Unterdrückern
unter den Trümmern des Staats zu begraben."Von diesem verzweifelten Zustande waren die Scheschianer
zwar unter Akbars glänzender Regierung noch weit entfernt;
aber, nachdem durch ihre eigene unverzeihliche Nachlässigkeit
die Schranken, in welche Tifan die königlichen Prärogative
eingeschlossen hatte, einmal durchbrochen waren, eilte der
Staat unter seinen Nachfolgern dem Untergange mit immer
schnellern Schritten entgegen. Denn nun folgte eine Reihe
namenloser Könige, die das Ruder der Regierung, welches sie
selbst zu führen unvermögend oder unlustig waren, bald einer
Bande zusammen verschworner Minister, bald einem unersättlichen
Günstlinge, bald einer ausschweifenden Buhlerin,
bald einem herrschsüchtigen Priester, bald dem ersten besten der
sich dessen bemächtigen wollte, überließen. Tifans öffentliche
Anstalten geriethen zusehends in Verfall, seine wichtigsten Gesetze
kamen nach und nach außer Uebung, und wurden zuletzt
ein bloßer Gegenstand akademischer Streitfragen; und was
etwa von seinen Einrichtungen noch beibehalten wurde, erhielt
unter den Händen der Priester unvermerkt eine so veränderte
Form und Richtung, daß der reine wohlthätige Geist
des Stifters gänzlich dabei verloren ging, und vielmehr gerade
das Gegentheil von dem herauskam, was er dadurch
hatte bewirken wollen."Wenn die Priesterschaft von Scheschian, wie ich neulich
bereits erwähnte, unter die letzten gehörte, die dem einbrechenden
Schwall der Sittenverderbniß nachgaben; so darf
ich nicht vergessen, zur Steuer der Wahrheit hinzuzusetzen:
daß es schwer gewesen wäre den Zeitpunkt zu bestimmen,
worin diese ehrwürdigen, exemplarischen Lehrer des Tifanischen
Gesetzbuchs die Bemerkung machten, daß man mit dem äußerlichen
Scheine der Weisheit und Heiligkeit beim Volk ungefähr
eben so weit, und oft noch weiter komme als mit der
Realität, und daß das erstere den Neigungen und Leidenschaften
der menschlichen Natur ungleich bequemer sey. Genug,
die Scheschianischen Bonzen machten diese Bemerkung ungefähr
um eben die Zeit oder bald nachher, da der großmüthige
Akbar sich ihres guten Willens, durch die vorerwähnten ansehnlichen
Vermehrungen ihres Antheils an den Gütern dieser
Welt, versichert hatte; und nachdem sie einmal gemacht war,
währte es nicht lange, daß mit der Sinnesart und den Tugenden
der ehemaligen Priester von Tifans Schöpfung auch
die letzte Stütze seiner Gesetze verschwand, und diese Classe
von Staatsbürgern durch die Heuchelei und den blendenden
Schein, womit sie ihre unbändige Herrschsucht und ihre
übrigen Laster zu verdecken wußte, dem Reiche wieder eben
so schädlich wurde, als ihre Vorfahren unter Azor und
Jsfandiar."Indessen, da es damit vermöge der Natur der Sache
langsamer herging, und die Priester ihr Spiel mehr als
andere verbergen mußten, gewann der Scheschianische Adel
einen starken Vorsprung. Sein Reichthum und sein Ansehen
stieg unter jeder neuen Regierung; er bemächtigte sich aller
Civil- und Militärämter, die ihm Gelegenheit verschafften
noch reicher zu werden; er besetzte alle subalternen Stellen
mit seinen Creaturen, und übte über den Hof selbst eine Art
von Tyrannei aus, die endlich sogar einem der schwächsten
unter allen namenlosen Königen unerträglich zu werden anfing.
Dieser König, zu seiner Zeit Tifan der Zweite genannt,
wurde so lang' er lebte von der Königin seiner Gemahlin,
und die Königin seine Gemahlin —Wie hieß sie? fragte Schach-Gebal —"Dulika, wenn Ihrer Hoheit etwas an ihrem Namen
gelegen ist —Warum nicht, da man mir sogar den namenlosen König
ihren Gemahl genannt hat? Ich liebe Consequenz, auch selbst
in Kleinigkeiten, Herr Danischmend.Wollte Gott, dachte Danischmend, Ihre Hoheit liebten
sie in wichtigern Dingen! —Aber er hütete sich dießmal es
laut zu denken."Der König also wurde, wie gesagt, von seiner Gemahlin
Dulika, und die Königin Dulika, die ihrem Gemahl
an Beständigkeit in ihren Zuneigungen nichts nachgab, ihre
ganze Regierung durch fast eben so unbeschränkt von Kolaf,
dem Oberbonzen der Stadt Scheschian, regiert."Gebal warf einen Blick auf die Sultanin Nurmahal,
öffnete den Mund, biß sich in die Lippen, und sagte —
nichts.Danischmend fuhr fort, ohne zu thun als ob er es bemerkt
hätte: Tifan der Zweite gehörte weder unter die bösartigen
noch unter die blödsinnigsten Fürsten seiner Zeit; im
Gegentheil, er war ein strenger Freund von Zucht, Ordnung
und Gerechtigkeit, haßte den Müßiggang, und liebte sein
Volk: aber zum Unglück war er noch ein größerer Liebhaber
von —Schmetterlingen. Der schlaue Bonze bediente sich dieser
unschuldigen Schwachheit, Seiner Hoheit beizubringen, daß
es keine königlichere Leidenschaft gebe als die Liebe zur Naturgeschichte;
dafür gestand er aber auch sehr gern, daß die
Schmetterlingsgeschichte der interessanteste Zweig dieser weitläufigen
Wissenschaft sey, und daß eine vollständige Sammlung
aller Schmetterlingsarten in der Welt ein beneidenswürdiger
Schatz wäre, wodurch sich ein König von Scheschian
über alle Völkerhirten gegen Morgen und Abend erheben
würde. Die Naturgeschichte war um diese Zeit gerade das
Lieblingsstudium der Gelehrten und Ungelehrten in Scheschian.
Der Oberbonze Kolaf hatte also wenig Mühe mit Hülfe aller
jungen Bonzen, denen an seiner Gunst gelegen war, das
Schmetterlingscabinet Seiner Hoheit in kurzer Zeit ansehnlich
zu erweitern. Tifan der Zweite beschäftigte sich in eigener
Person sowohl mit allen zur Aufbehaltung seiner Sommervögel
nöthigen Arbeiten, als mit ihrer Anordnung und zierlichen
Aufstellung.Nach und nach dehnte sich seine Liebhaberei über alle
übrigen Insecten, und als er auch damit fertig war, erst über
die zweifüßigen Vögel, ja zuletzt (wie es mit solchen Leidenschaften
zu gehen pflegt) über alle lebendigen und leblosen
Naturproducte auf, über und unter der Erde aus; und das
alles machte dem guten Könige so unendlich viel zu thun,
daß er täglich dem Himmel dafür dankte, die Sorge für sein
Reich einer so klugen Frau, wie seine Gemahlin in seinen
Augen war, mit ruhigem Herzen überlassen zu können.Kolaf bediente sich inzwischen seiner Gewalt über den
Geist der Königin, sie auf das ungeheure Uebergewicht des
Adels und die Abnahme des königlichen Ansehens aufmerksam
zu machen, und sie zu überzeugen, wie nothwendig es sey,
den Uebermuth dieser stolzen Unterthanen zu dämpfen, und
der Krone die verlorne Obermacht wieder zu verschaffen. Er
schlug dazu zwei sehr zweckmäßige Büttel vor. Das eine war,
einen Krieg anzufangen, der den zahlreichen Adel vermindern
und ihm Gelegenheit geben würde, sich durch seine auch im
Felde nicht eingeschränkte Ueppigkeit und Prachtliebe zu
Grunde zu richten; das andere den Priesterstand, dessen Ansehen
beim Volke seine Anhänglichkeit an die Krone um so
verdienstlicher mache, mehr als bisher zu begünstigen, und
die ansehnlichern Civilbedienungen, die bisher größtentheils
in den Händen unwissender, schlecht erzogener und lasterhafter
Menschen übel genug verwaltet worden, mit würdigen
Männern aus dem gelehrten Stande zu besetzen. Zum ersten
fand sich gar bald eine Veranlassung; denn nichts ist leichter
als Händel zu haben wenn man sie sucht: und zum letztern
wußte Kolaf ebenfalls zu rechter Zeit Rath zu schaffen.In der That hatte er dem größten Theile des Scheschianischen
Adels durch die Beschuldigung der Unwissenheit und
schlechten Erziehung kein Unrecht gethan. Schon lange waren
die Gesetze Tifans, die sich auf die Erziehung des Adels bezogen,
außer Uebung gekommen. Diese selbst von jenem
weisen Fürsten, mehr als dem Staat und ihr selbst zuträglich
war, begünstigte Kaste, hatte seit der Regierung der Könige
Turkan und Akbar ihre erhabene Bestimmung, den einzigen
Grund ihrer Vorrechte, gänzlich aus den Augen verloren.
Zu hoch über ihre Mitbürger hinauf gesetzt um nicht hoffärtig,
und zu reich um nicht übermüthig zu seyn, überließen
sich die Scheschianischen Nairen in den Jahren, worin sie zur
Erfüllung ihrer künftigen großen Pflichten gebildet werden
sollten, dem üppigsten Müßiggang und allen Ausschweifungen
einer unbändigen Jugend. Sie blieben unwissend, und
gewöhnten sich, Gelehrsamkeit und alles was Fleiß und Anstrengung
des Geistes erfordert, als Dinge die weit unter
ihnen waren anzusehen. Alle Zweige der Wissenschaften blieben
also den Priestern und übrigen Gelehrten von Profession
überlassen: und da die erstern vermöge der Constitution zu
Lehrern des Tifanischen Gesetzbuches bestellt waren, und durch
ihre vielfachen Verhältnisse gegen das Volk die beste Gelegenheit
hatten, sowohl den Character als die jedesmalige Lage,
Bedürfnisse und Gesinnungen desselben besser als andre kennen
zu lernen; so konnte der Oberbonze Kolaf mit gutem Fug
erwarten, daß sein Plan, die Bonzen, die das Vertrauen des
Volks besaßen, nach und nach an die Plätze des allgemein
verhaßten Adels zu bringen, den vollen Beifall des größern
Theils der Nation haben würde.Sobald er also einen ansehnlichen Theil der Nairen durch
einen Krieg, den er selbst ingeheim angezettelt hatte, aus
Scheschian entfernt sah, wußte er es durch seine im ganzen
Reiche verbreiteten Freunde und Ordensgenossen so einzuleiten,
daß von allen Seiten große Klagen einliefen, über Untüchtigkeit,
Unredlichkeit, Mißbrauch der obrigkeitlichen Gewalt,
Versagung der Justiz, Verdrehung der Gesetze, Bestechungen,
kurz über alle Arten von Verbrechen, deren die bisherigen
Justiz- und Polizeistellen, Districtaufseher, Statthalter der
Provinzen, und andere Staatsbeamte aus der Kaste der
Nairen sich schuldig gemacht hatten. Da es thöricht gewesen
wäre die Habichte bei den Geyern zu verklagen, so wurden
alle diese Beschwerden unmittelbar vor den Thron gebracht.
Sie verursachten scharfe Untersuchungen; man fand, sowohl
des Beispiels wegen als um das aufgebrachte Volk zufrieden
zu stellen, für nöthig, gegen die Schuldigbefundenen mit der
äußersten Strenge zu verfahren; und das letzte Resultat von
allen diesen mit vieler Klugheit in einandergepaßten Operationen
war, daß Kolaf zum ersten Minister des Königs, oder
eigentlicher zu reden, der Königin erhoben wurde, und daß
binnen wenig Jahren die ansehnlicheren und die einträglichsten
Staatsbedienungen in den Händen solcher Priester waren, die
sich durch Talente, Wissenschaft und einen Schein von strenger
Tugend und tadellosen Sitten ausgezeichnet hatten. Die
Wahl des Hofes wurde dadurch in den Augen der Nation so
vollständig gerechtfertigt, daß die Königin, unter dem Schirm
der allgemeinen Liebe, welche sie sich durch diese Staatsverbesserung
erwarb, nun freie Hände hatte, die wieder hergestellte
königliche Autorität so weit auszudehnen als sie
wollte.Dieses Ungewitter, zu welchem Kolaf und seine Anhänger
die Zurüstungen in größter Stille gemacht hatten, fand bei
seinem Ausbruche die Herren von der adeligen Kaste so wenig
vorbereitet, daß ihnen nichts übrig blieb als sich in die Zeit
zu schicken, und durch das zweideutige Verdienst des leidenden
Gehorsams, womit sie sich den Verfugungen des Hofes unterwarfen,
von ihren ehemaligen Vorrechten noch so viel zu
retten, daß sie unter günstigern Umständen auch das Verlorne
wieder zu gewinnen hoffen konnten.So weit war Danischmend, als der Bramine der Sultanin
Nurmahal, welcher seit einigen Tagen die Erlaubniß
hatte bei dieser Unterhaltung zugegen zu seyn, ihn bemerken
machte, daß der Sultan unter dieser Erzählung unvermerkt
eingeschlafen war. Der Erzähler empfahl sich also, und schlich
in aller Stille nach Hause, um über eine und andere Bemerkung,
die er diesen Abend gemacht hatte, seine Betrachtungen
anzustellen. Es hatte ihm nicht entgehen können, daß
Schach-Gebals Angesicht und Benehmen gegen ihn seit kurzem
nicht mehr war wie sonst: und heute besonders war die sonderbare
Laune, womit er ihn öfter als gewöhnlich unterbrach,
so auffallend gewesen; der Sultan hatte so wenig verbergen
können oder verbergen wollen, daß er etwas gegen ihn auf
dem Herzen habe; auch hatte er in Nurmahals Gesicht etwas
so Zurückgehaltenes, und an dem übermäßig freundlichen
Braminen von Zeit zu Zeit eine so tückische Schadenfreude
aus den halb geschlossenen Augen hervorblicken sehen. Das
alles waren keine Zeichen von guter Vorbedeutung. Je mehr
er allen Umständen nachdachte, desto mehr Licht ging ihm auf,
und desto weniger blieb es ihm zweifelhaft, daß man über
einem geheimen Anschlag gegen ihn brüte, und daß seine
Jtimaduletsschaft, allein Ansehen nach, ihrem Ende nahe sey.Danischmend hatte diese, ihm von Schach-Gebal in einem
seltsamen Anstoß von sultanischer Laune aufgedrungene hohe
Ehrenstelle zwar noch nicht lange genug bekleidet, um etwas
gethan zu haben, was ihm die Ungnade seines Herrn oder
der schönen Nurmahal und ihres Braminen hätte zuziehen
können: aber er hatte desto mehr gedacht und gesprochen;
und wenn die Derwischen, Bonzen und Fakirn nicht viel
Gutes von ihm erwarteten, so sagte ihm sein Gewissen, daß
sie alle Ursache dazu hätten. Er hatte sogar bereits von
seinen Anschlägen gegen diese wackern Leute — von welchen er
(wie wir wissen) nicht so günstig dachte, als sie es von einem
Itimadulet von Indostan billig wünschen mochten —manches
gegen den Sultan fallen lassen, und er kannte Se. Hoheit zu
gut, um nicht vorauszusehen, daß sein Geheimniß unverzüglich
in den Schooß der schönen Nurmahal niedergelegt worden
sey. Er begab sich also mit einer Art von Gewißheit zu Bette,
daß es eine zwischen der Sultanin und dem Braminen bereits
abgekartete Sache sey, ihn baldmöglichst vom Hofe zu entfernen:
aber daß der Augenblick der Ausführung schon so
nahe sey, das hatte er sich nicht träumen lassen. Die Ueberraschung
war also nicht gering, als er um die Zeit des ersten
Morgengebets durch ein großes Getümmel in seinem Hause
aus einem sehr ruhigen Schlummer geweckt wurde, und gleich
darauf die Thür seines Schlafzimmers aufgehen und einen
Officier von der Leibwache hereintreten sah, der ihm im
Namen des Sultans ankündigte, daß er sein Gefangener sey.Da auf ein solches Compliment nichts anders zu antworten
war, so stand Danischmend, beinahe so ruhig als er sich
niedergelegt hatte, auf, kleidete sich hurtig an, und folgte
dem Officier, der ihn durch ein Labyrinth von Gängen, Treppen
und Gewölben endlich in einem kleinen, mit eisernen Gittern
verwahrten Zimmerchen absetzte, ihm wohl zu leben
wünschte, und, nachdem er die Thur abgeschlossen hatte, ein
paar so schwere Riegel vorschob, daß er von dieser Seite seines
Gefangenen halben völlig sicher seyn konnte.Danischmend, der sich gleich bei seiner Erhebung zum
Itimadulet vorgestellt hatte, daß die Komödie ungefähr einen
solchen Ausgang nehmen würde, schickte sich in seine neue
Lage (wiewohl er das Unangenehme derselben so lebhaft als
ein andrer fühlte) wie ein weiser Mann, hoffte das Beste,
war auf das Aergste gefaßt, und fand bei dieser raschen Veränderung
seines Schicksals wenigstens den Umstand tröstlich,
daß er dadurch des Frohndienstes, Se. Hoheit mit der Geschichte
der Könige von Scheschian einzuschläfern, überhoben
wurde.Desto unzufriedener bezeigt sich darüber der Sinesische
Uebersetzer dieser Geschichte, dem die dadurch verursachte Unvollständigkeit
eines so wichtigen Werkes so sehr zu Herzen
geht, daß er sich nicht enthalten kann, in eine bittre Strafrede
gegen die Sultanen, Tschirkasserinnen, Braminen, Fakirn
und Bonzen auszubrechen, die an diesem Unheil, wie er
sagt, ungefähr zu gleichen Theilen, Schuld waren.Wiewohl nun (fährt er, nachdem er seiner Galle Luft
gemacht hat, in einem ruhigern Tone fort) der Verlust, den
die Welt dadurch erleide, unersetzlich sey; so habe er sich doch,
um die Wißbegierde der Leser nicht ganz unbefriedigt zu lassen,
alle nur ersinnliche Mühe gegeben, über den Ausgang dieser
Geschichte, die sich nicht eher als mit dem Scheschianischen
Reiche selbst hätte enden sollen, einiges Licht zu erhalten; und
es sey ihm endlich geglückt, aus alten Sagen und glaubwürdigen
Urkunden so viel davon herauszubringen, daß er sich im
Stande finde, nachdenkenden Lesern einigermaßen begreiflich
zu machen, wie besagtes Reich unter der ungeheuern Last von
Uebeln, die in einer langen Reihe namenloser oder heilloser
Könige über demselben zusammen gehäuft worden, endlich
nothwendig habe einsinken und zu Grunde gehen müssen.Ob der Lateinische Uebersetzer diesen von seinem Sinesischen
Vorgänger mit so mühsamem Fleiß ausgearbeiteten
Anhang nicht für interessant genug gehalten habe, oder ob er
durch irgend einen Zufall an Verdolmetschung desselben gehindert
worden, ist uns unbekannt. Genug, daß wir in seiner
Handschrift nichts als eine Note am Schluß des Werkes
gefunden haben, worin er sich begnügt, seinen Lesern die Resultate
der Geschichtserzählung des Sinesers in einem kurzen
Auszuge folgendermaßen mitzutheilen.—————
Der Oberpriester Kolaf und seine Ordensbrüder genossen
den Sieg, den sie über den Scheschianischen Adel erhalten hatten,
nicht so lange als sie es zur Ausführung aller ihrer Plane
wünschten; der unvermuthete Tod der Königin Dulika beraubte
sie einer Stütze, die ihnen dazu unentbehrlich war.Vermög' eines von Tifan gegebenen Gesetzes mußte sich
der König eine neue Gemahlin aus den zwölf schönsten Mädchen
wählen, welche von den Stellvertretern der zwölf Hauptprovinzen
des Reichs nach einer vorgeschriebenen Ordnung für
ihn ausgesucht wurden. Kolaf konnte und wollte auf die Wahl
der neuen Königin keinen Einfluß haben; aber er besaß ein
unfehlbares Mittel, das Herz des Königs für diejenige zu
bestimmen, zu welcher er selbst das beste Vertrauen hatte. Der
Gewohnheit nach mußten die zwölf Jungfrauen dem Könige
bei ihrer Vorstellung ein kleines Geschenk darbringen. Zili,
die Tochter eines Oberpriesters, der ein vertrauter Freund
des ersten Ministers war, beglückte Se. Hoheit mit einem
äußerst seltnen —Schmetterling, der seiner prächtigen Sammlung
noch fehlte, und dem er schon lange nachgetrachtet hatte.
Tifan der Zweite vor Freude außer sich, erklärte die schöne
Zili auf der Stelle zur Königin seines Herzens und des Reichs.
Kolaf rechnete, wie billig, auf die Dankbarkeit der neuen Königin,
welche den Talisman, dem sie ihre Erhebung schuldig
war, heimlich von ihm empfangen hatte. Aber die Hofleute
machten bald die schwache Seite der jungen Zili ausfindig.
Ein wunderschöner junger Nair, der auf einmal durch ihre
Veranstaltung am Hof erschien, bemächtigte sich der Zuneigung
der Königin Zili durch seine Gestalt, und durch ein Geheimniß
die Federn ausgestopfter Vögel in ihrer ganzen Schönheit zu
erhalten, des Königs, in einem so hohen Grade, daß Kolaf
seinen Platz nicht länger haltbar fand, und sich mit einem
großen Gehalt und der Würde eines Hohenpriesters von ganz
Scheschian, welche ausdrücklich für ihn creirt wurde, vom
Hofe zurückzog.Von dieser Zeit an stellte der Adel sein verlornes Ansehen
nach und nach so gut wieder her, daß die Priesterschaft, wiewohl
sie sich vom Hofe fast ganz unabhängig gemacht hatte, es
doch der Klugheit am gemäßesten fand, sich an der billigen
Theilung zu begnügen, welche ihr von ihren Nebenbuhlern
um die Oberherrschaft angeboten wurde; ein Vertrag, der
(wie leicht zu erachten) von beiden Seiten nicht so gewissenhaft
gehalten wurde, daß nicht ein jeder beflissen gewesen seyn
sollte, den andern, so oft sich die Gelegenheit dazu anbot,
nach Möglichkeit zu übervortheilen und auszustechen.Solchergestalt bildete sich aus diesem geheimen Einverständnisse
der mächtigsten Familien des Adels und der Oberpriester
eine Art von Aristokratie, worin der Name des Königs
und die äußern Formen der Monarchie nur deßwegen beibehalten
wurden, weil man sich des königlichen Ansehens bedienen
konnte, das Volk desto bequemer und ungestrafter zu unterdrücken.Die Regierung Tifans des Zweiten war eine der längsten
in dieser Dynastie, und die neue Ordnung oder Unordnung
der Dinge hatte nicht nur Zeit genug sich zu befestigen, sondern
erhielt sich auch durch die Klugheit der Häupter beider
Parteien in einem ziemlichen Gleichgewichte.Aber unter seinen Nachfolgern wurde diese friedliche Eintracht
häufig unterbrochen. Der Hof des Königs und der geheiligte
Palast des Hohenpriesters waren fast immer bald in
geheimer bald in öffentlicher Opposition; das Uebergewicht der
Macht schwankte zwischen beiden hin und her; einigemale kam
es sogar zu einem Bruch, der die Ruhe des Reichs erschütterte.
Indessen mußte doch zuletzt wieder Friede gemacht werden,
und immer war es das Volk ganz allein, das die Unkosten
der Aussöhnung tragen mußte.Die schlechte Haushaltung des Hofes — die kostbaren
Launen und gränzenlosen Verschwendungen der Günstlinge von
beiderlei Geschlecht — die unersättliche Habsucht der Großen,
als natürliche Folge eines übermüthigen Luxus, der, wiewohl
von dem Blut und Mark des Volkes genährt, niemals genug
an sich ziehen konnte um einen bodenlosen Schlund zu füllen
— unnöthige und ungerechte Kriege, wobei nur Feldherren,
Commissarien und Lieferanten sich bereicherten, während Myriaden
unschuldiger Familien zu Grunde gerichtet und der
Staat durch die Eroberungen selbst immer ärmer wurde, —
thörichte aber kostspielige Unternehmungen, wobei man ohne
Plan und Ueberschlag des Aufwands und der Kräfte verfuhr,
und oft dreimal mit großen Unkosten wieder einreißen mußte
was man mit noch größern gebaut hatte — diese und hundert
andre Artikel von gleichem Schlage vermehrten die sogenannten
Staatsbedürfnisse auf eine so ungeheure Art, daß, ungeachtet
die Abgaben, womit das Volk nach und nach unter
allen nur ersinnlichen Titeln belastet worden war, den arbeitenden
Classen zu ihrer nothdürftigsten Subsistenz kaum das
Unentbehrlichste übrig ließen, die Zinsen der Staatsschulden
zuletzt beinahe die ganze Summe der Einkünfte aufzehrten, und
zu Bestreitung der übrigen Aufgaben täglich neue Schulden
gemacht werden mußten.Die Unzufriedenheit des Volkes, welche man lange keiner
Aufmerksamkeit würdigte, die immer näher kommende Gefahr
eines unvermeidlichen Staatsbankrutts, und die schrecklichen
Folgen, die er nach sich ziehen mußte, machten endlich einige
redliche Männer, denen das Vaterland am Herzen lag, so
kühn, sich zu Vormündern der Nation aufzuwerfen, und ihre
Beschwerden der Regierung in einem anständigen aber männlichen
Tone vorzutragen. Man verglich den gegenwärtigen
Zustand von Scheschian mit dem was er in den Zeiten des
großen Tifans gewesen war, und was er noch itzt in einem
ungleich höhern Grade seyn könnte, wenn der Ehrgeiz und
Eigennutz derjenigen, denen die Nation ihre Wohlfahrt anvertraute,
das wohlthätige Joch seiner Gesetze nicht abgeschüttelt
hätten; man sprach laut und nachdrücklich von den Rechten
des Volks und von den Pflichten der Regenten; man
ließ keinen Mißbrauch ungerügt, keine Quelle des allgemeinen
Elends unentdeckt; man zeigte deutlich und gründlich was anders
werden müsse, und wie es besser werden könne. Aber
diejenigen, die man dadurch zum Nachdenken erwecken wollte,
hörten und lasen entweder nichts, oder hatten zu viel Eigendünkel
um sich rathen zu lassen, oder affectirten wohl gar
Warnungen für Drohungen anzusehen, und ermächtigten sich,
die Stimme der Vernunft und der Vaterlandsliebe in dumpfen
Kerkern ungehört verhallen zu lassen. Bald wurde die kleine
Zahl der redlich gesinnten Fürsprecher des Volks von einer
Menge andrer verdrängt, die (nach ihren Grundsätzen und
nach dem Ton ihres Vortrags zu urtheilen) keine andre Absicht
haben konnten, als die Mißvergnügten noch mehr aufzuhetzen
und eine Revolution zu beschleunigen, in welcher sie
eine bedeutende Rolle zu spielen hofften.Die Gährung der Gemüther wurde nun zusehends immer
stärker und allgemeiner; das Volk fand seinen Zustand unerträglich,
und fing an furchtbare Zeichen zu geben, daß es ihn
nicht länger ertragen wolle. Die Regierung hatte sein Zutrauen
unwiederbringlich verloren; alle Bande des gesellschaftlichen
Vereins waren aufgelöst, alle Springfedern der Regierung
ohne Spannung; der Adel und die Häupter der
Priesterschaft vom allgemeinen Hasse zu den ersten Opfern
seiner Rache bestimmt: mit Einem Worte, das Maß des Unsinns,
des Uebermuths, der Verbrechen, der Tyrannei, und
—der Geduld war voll; nur Ein Tropfen mehr, und es lief über.
Sollte man es für möglich halten, daß diejenigen, die am
Ruder des Staats saßen, unter solchen Umständen, während
ein jeder, der sich die Ohren nicht geflissentlich zustopfte, den
Orkan schon von ferne brausen hörte, sorgloser als jemals
schlummerten und von keiner Gefahr sich träumen ließen? Aber
sie wurden auf eine schreckliche Art erweckt. Ein Edict, worin,
unter dem Vorwand dringender Staatsbedürfnisse, dem Volk
eine neue Abgabe zugemuthet wurde, und welches der Hof unklugerweise
in einem Zeitpunkt ergehen ließ, da, entweder zufälligerweise
oder durch geheime Veranstaltungen der Uebelgesinnten,
ein schnell überhandnehmender Mangel der nothdürftigsten
Lebensmittel die untern Volksclassen in die lebhafteste
Unruhe setzte, —dieses Edict war das Signal zum allgemeinen
Aufstande. Im ganzen Reiche drängte sich der Pöbel in großen
Massen zusammen, schwärmte, von den Verwegensten und
Ruchlosesten aus seinem Mittel angeführt, überall umher, ermordete
alle die es für seine Tyrannen oder für Werkzeuge der
Tyrannei ansah, plünderte und zerstörte die Schlösser und Landsitze
der Nairen, verbrannte die Zollhäuser, raubte die öffentlichen
Classen aus, und beging alle Arten von Ausschweifungen
und Gräuelthaten. Die Hauptstadt, in welcher die Empörung
zuerst ausgebrochen war, ging in allem diesem den übrigen mit
ihrem Beispiele vor. Die ihrer Schuld sich bewußten und durch
Weichlichkeit und Ausschweifungen entnervten Nairen hatten
weder Muth noch Kraft zum Widerstand; viele retteten
ihr Leben durch eine schnelle Flucht; die meisten fielen ihren
Feinden in die Hände und starben eines schmählichen Todes.
Der namenlose König, der letzte und verdienstloseste von Tifans
Abkömmlingen, wurde, mit den wenigen die ihn nicht verlassen
hatten, in seinem eigenen Palast eingekerkert, und, bei
einem mißlungenen Versuch zu entfliehen, der Wuth des Pöbels
preisgegeben.Das Volk, das sich anfangs ohne Plan und Zweck bloß den
ungestümen Eingebungen der Verzweiflung, der Rache und
Mordlust überlassen hatte, fing endlich an der Stimme einiger
Männer von Talenten und Einsichten Gehör zu geben, die sich
zu Wiederherstellung der Ordnung zusammen thaten, und durch
ihre Popularität das Vertrauen desselben gewonnen hatten.
Aber da war kein Dschengis, kein Tifan mehr, der mit überwiegenden
Geisteskräften Weisheit und Tugend genug vereinigt
hätte, um sich alle Gemüther zu unterwerfen, und diese Obermacht,
ohne eigennützige Absichten, bloß zum Besten des Ganzen
anzuwenden. Der kleinen Anzahl der Wohlgesinnten fehlte es
theils an Muth und Beharrlichkeit, theils hofften sie irrigerweise
durch die Macht der Vernunft auszurichten, was ihre
Gegner, die sich aus Ehrgeiz und Herrschsucht zu Anführern
des Volks aufgeworfen hatten, auf einem viel kürzern Wege
dadurch erhielten, daß sie sich Alles erlaubten und vor keiner
Abscheulichkeit zurückbebten, wenn sie nur ein Mittel zu ihrer
Absicht war. Nothwendig behielten also die letztern die Oberhand:
aber da jeder um seinen eigenen Zweck verfolgte und keiner
dem andern traute, jeder allein herrschen und keiner gehorchen,
keiner der Zweite oder Dritte seyn wollte, so zerfielen
sie unter sich selbst; und während das Reich von einer Menge
Factionen zerrissen wurde, wovon immer eine die andre aufrieb,
fielen die benachbarten Könige, nach einem ingeheim abgeredeten
Plane, zu gleicher Zeit über das zerrüttete und an seinen
selbstmörderischen Wunden sich verblutende Scheschian her, und
bemächtigten sich, beinahe ohne Widerstand, der Provinzen, die
sich ein jeder zu seinem Antheil ausbedungen hatte. Die unglücklichen
Scheschianer, theils unter hundert fremde Völker
zerstreut, theils stückweise den angränzenden Staaten einverleibt,
verloren mit ihrer politischen Existenz zugleich ihren uralten
Namen, und eines der mächtigsten Königreiche des
Orients verschwand so gänzlich von der Erde, daß es schon zu
den Zeiten des Sinesischen Kaisers Tai-Tsu den gelehrtesten
Alterthumsforschern unmöglich war, die ehmaligen Gränzen
desselben zuverlässig anzugeben.Anmerkungen.1.S. 2. Z. 25. Tonos Konkoleros, der letzte assyrische König
in der zweiten Dynastie, dessen Name in zwei Verzeichnissen statt dem
des Sardanapalus steht. Man hält aber diesen letzten Namen für
einen bloßen Beinamen, welcher den Bewundernswürdigen bezeichne.
Sollte er diesen Beinamen um der Thaten willen erhalten haben, die
man dem Sardanapal gewöhnlich zuschreibt, so hätte es dann freilich
keiner weitern Satyre bedurft.S. 7. Z. 19. 20. Einem Manne der zum Beherrscher
der Welt geboren war. — So wie der Vernünftige natürlicherweise
des Thoren Meister ist, so hat der vollkommenste Mann
ein angebornes Recht über die übrigen zu herrschen: es ist ein Gesetz
der Natur, sagte Aristoteles, der Lehrer der größten unter den
Königen. W.S. 21. Z. 22. Dieser Freund ist er selbst — Siehe
den vortrefflichen Discurs von der Freundschaft in Montagne's Essays,
L. I. eh. 27, besonders die Stellen wo er von seinem Freunde spricht.
Z. E. En l'amitié dequoy je parle, les ames se meslent et se confondent
l'une et l'autre d'un meslange si universel, qu'elles effacent et
ne retrouvent plus la cousture qui les a jointes. Si on me presse
dire pourquoy je l'aimois, je sens que cela ne se peut exprimer qu'en
respondant: parceque c'etoit luy, parceque c'etoit moi. Die Freundschaft
ist Eine Seele in zwei Leibern, sagt —nicht der schwärmerische Plato,
sondern der gründliche, der tiefsinnige, der kalte Aristoteles; und von allem,
was dieser große Mann gesagt hat, macht nichts seinem Herzen mehr
Ehre als dieß. W.S. 20. Z. 5. Eblis — ist ein bedeutend gewählter Name,
denn er ist im Koran der Name des abgefallenen Engels und der Vater
aller bösen Geister die in das Reich der Verdammniß verbannt sind.4.S. 61. Z. 19. Wird — — bis er zu Boden sinkt —
Wir finden den nämlichen Gedanken unter dem nämlichen Bilde in
einem vor kurzem aus Licht getretenen wunderbaren Buche, welches
seinem Verfasser vielleicht im Jahre 2440 mehr Ehre, als im Jahre
1772 Nutzen bringen wird. Dieses ungefähre Zusammentreffen wird,
wie wir hoffen, dem guten Danischmend nicht zur Sünde angerechnet
werden. Der ehrliebe Träumer, dessen wir erwähnten, mag wohl ein
wenig mehr schwarze Galle in seinem Blute haben, als ein Mann, dem
seine Ruhe lieb ist, sich wünschen soll. Aber es ist doch immer schwer,
einem Menschen nicht gut zu seyn, der seine Mitgeschöpfe so lieb hat,
daß ihn weder Bastille noch Bicètre abhalten kann, alles heraus zu
sagen was er aus dem Herzen hat. — Der Leser beliebe nie zu vergessen,
daß diese Anmerkung, so wie dieses ganze Werk, im Jahre 1771
und 72 geschrieben ist. W. — Das Werk, von welchem geredet wird,
ist das Jahr 2440 von Mercier, in welches er alles das Gute hinein
verlegte, welches man i. J. 1772 nur wünschen konnte, aber mit der
gehörigen Vorsicht laut wünschen durfte.5.S. 76. Z. 18. Der beste unter allen Sinesischen
Königin. — Chun, der Mitregent und Nachfolger des guten Kaisers
Yao. Siehe Du Halde's Beschreib. des Sines. Reichs I. Th. S. 263
der Deutschen Uebersezung. Im übrigen ist nicht zu bergen, daß die
Geschichte der Sinesischen Kaiser Yao und Chun, allem Ansehen nach,
nicht mehr historische Wahrheit hat, als die Geschichte des Scheschianischen
Königs Tifan. W.S. 83. Z. 5. Die Strafen der Natur — — folgen —
Die vollkommensten Gesetze, sagt Sokrates, sind diejenigen,
welche man nicht ungestraft übertreten kann, weil sie uns durch die
natürlichen und vermeidlichen Folgen ihrer Uebertretung bestrafen; und
er beweiset dem Sophisten Antiphon, daß die Gesetze der Natur, oder,
welches eben so viel sey, die allgemeinen Gesetze Gottes, diese unterscheidende
Eigenschaft haben. Siehe Xenophons Charakter und merkwürdige
Reden des Sokrates B. IV. Die Gesetze der Natur und des gesellschaftlichen
Lebens sind die Regel der Könige, von welcher sie niemals
ungestraft abweichen können. können. Die ganze allgemeine Staatsgeschichte
ist ein Commentarius über diese große Wahrheit; und ohne weit in die
alten Zeiten zurückzugehen, wird uns z. E. das Leben eines Philipp
II. und Ludwigs XIV., der tragische Tod Karls I. von England
und der Fall seines Sohnes Jakobs II. Beispiele genug darstellen, sie
zu erläutern und zu bestärken. W.8.S. 111. Z. 3. Einer Begierde, die — — — Romanhaftes
hat — In der That fällt das Ungereimte in dem
Verhältniß der Kräfte eines einzelnen Menschen, gegen die ungeheure
Unternehmung allen Unbilden und Fehden in der Welt steuern zu wollen,
einem jeden in die Augen. Und gleichwohl ist nichts wahrscheinlicher,
als daß ein Duzend Don Ouichotten, die sich miteinander verständen,
und, anstatt auf die Feinde des Don Gaiferos und der schonen Melisandra,
auf die Feinde des menschlichen Geschlechtes mit eben dem Muthe,
mit welchem der Held von Mancha seine chimärischen Gegner bekämpfte
(nur freilich mit einem gesundern Kopfe als der seinige war),
losgingen, die Gestalt unsrer sublunarischen Welt binnen einem Menschenalter
mächtig ins Bessere verändern würden. W.10.S. 136. Z. 20-21. Sesostris, ein ägyptischer Pharao aus
der Mythenzeit, dessen Name einen Beschauer der Sonne anzeigt, gehörte
zu denen, die am frühesten nach Weltherrschaft strebten, und sie, der
Sage zufolge, nach neunjährigen Feldzügen ziemlich erreichte. Nachdem
er Afrika und Asien sich unterworfen, setzte er in Thracien seinen Zügen
ein Ziel, entweder wegen der Gefahr, sein Heer durch Hunger zu verlieren,
oder weil er von den Geten geschlagen wurde. — Omar, der
Khalif, Muhameds Nachfolger und durch seine glücklichen Eroberungen
der Verbreiter seiner Lehre. Man sagt von ihm, daß er die Bibliothek
zu Alexandria dem Koran aufgeopfert habe. — Mahmud Gasni, ein
Afghanen-Anführer, wild, kriegliebend, blutdürstig, nahm 1722 von
Jspahan und dem Persischen Throne Besitz. Er ward am Ende wahnsinnig,
des Throns entsetzt, und auf seines Nachfolgers Befehl enthauptet.S. 146. Z. 24-25. Den schönsten von allen fürstlichen
Titeln zu verdienen — Sollt' es möglich seyn, daß unter
allen künftigen Regenten, denen diese Geschichte in einem Alter, da
ihr Kopf noch nicht zu sehr verschroben und ihr Herz noch nicht ganz
versteinert ist, in die Hände käme, auch nur Einer wäre, der, nachdem
er diesen Tifan kennten gelernt, den Gedanken ertragen könnte, einen
solchen Charakter ein bloßes Ideal bleiben zu lassen?
Anm. eines Ungenannten.11.S. 151. Z. 18. Thamas Kuli-Kan — Schwang sich vom
Esel- und Kameltreiber und vom Anführer einer 5000 Mann starken
Räuberbande, durch die unglückliche Lage Persiens zu Anfange des achtzehnten
Jahrhunderts, erst zum Feldherrn, und dann durch seinen glänzenden
Kriegsruhm unter dem Namen Schach-Nadirt zum Sultan von
Persien empor. Der Mann von seltnen Talenten und Eigenschaften
setzte auch in dieser Lage die Sparsamkeit seiner früheren Jahre fort, die
aber mit der Zeit zu gränzenlosem Geiz und unersättlicher Habsucht
stieg. Im J. 1738 erhielt er Veranlassung zu einem Einfall in das
Reich des Großmoguls, ward durch die einzige Schlacht bei Karnal
Herr des ganzen Landes, und zog im Triumph in die Hauptstadt Delhi
ein. Er selbst erhob aus dem kaiserlichen Schatz an ungeprägtem Gold,
Juwelen und andern Kostbarkeiten mehr als 600 Millionen, und seine
Soldaten eine Beute von 100 Millionen davon. Dem Sultan ließ er,
nach den geziemenden Abtretungen, sein Reich wieder.S. 151. Z. 21. Agra — Stadt in der indischen Provinz
gleiches Namens. Anfangs ein Dorf, ward es erst durch einen Afghanischen
Fürsten und dann mehr noch durch den Mogolischen Kaiser Akbar,
welcher sich dort auszuhalten pflegte, zu einer der größten und prächtigsten
Städte, die 800,000 Einwohner zählte.12.S. 173. Z. 24. Taels — Tails, Taes, Silbergewicht bei den
Chinesen, etwa 1 Rthl. 10 gr. an Werth.S. 179. Z. 25. Beim Schlusse des Jahrs — nichts
übrig blieb — Man würde die Absicht des Herausgebers dieser Geschichte
sehr verfehlen, wenn man dasjenige, was hier und an andern
Stellen von den Einrichtungen oder Maximen des Königs Tifan gesagt
wird, für einen indirecten Tadel weiser und mit den tiefsten Einsichten
in die Regierungskunst begabter Fürsten ansehen wollte. In
einem idealen Staate kann man alles einrichten wie man will, in
einem wirklichen ist der größte Monarch nicht allezeit noch in allen
Stücken Herr über die Umstände. Was in Scheschian schicklich war,
oder es durch Tifons Gesetzgebung wurde, ja, was an sich selber
und im Allgemeinen als vortheilhaft für alle Staaten gelten kann,
kann in einem gewissen Staate besonderer Umstände und Verhältnisse
wegen, nachtheilig, unschicklich oder gar unmöglich seyn. W.S. 181. Z. 6. In jedem Dorfe — — Oeffnung
hineinsteckte — Im Jahre 2440 soll (wenn Merciers patriotischer
Traum noch in Erfüllung ginge) eine ähnliche Einrichtung in Frankreich
zu sehen seyn. Vielleicht hat die Revolution, welche sich der
Träumer wohl nicht so nahe vorstellte, die 635 Jahre, die bis dahin
noch hätten verfließen sollen, beträchtlich abgekürzt. W.13.S. 194. Z. 15. Beteldose — Betel, das Blatt eines
pfefferartigen Gewächses, wird bei den Jndiern eigens zubereitet und
von ihnen unaufhörlich gekaut, aber nie verschluckt. Der Saft kitzelt
ihren Gaumen, erhält die Zähne gut und macht wohlriechenden Athem.
Bei allen Feierlichkeiten und Besuchen reicht man einander Betel.14.S. 197. Z. 2. Grundsatz der möglichsten Ersparung —
Wurde von den Physikotheologen aufgestellt, und findet sich wohl in
der Natur bewahrt, deren Weisheit mit den möglich wenigsten Mitteln
immer ihren Zweck erreicht, was die Staatsökonomie gern nachthun
möchte, wenn sie könnte.S. 198. Z. 14. Daß ein Mann — — ihr geschworner
Feind sey — Es gibt noch mehr Classen, bei denen dieß eine eben
so ausgemachte Sache ist. Jeder greise in seinen eigenen Busen und
richte sich selbst! W.15.S. 215. Z. 11. Edler Nationalstolz — Es gibt einen
albernen, kindischen Nationalhochmuth, der unstreitig ein eben so lächerliches
als schädliches und also ein sehr häßliches Nationallaster ist: aber
es gibt auch einen edeln tugendhaften Nationalstolz, ohne welchen die
Griechen niemals die Zeiten des Perikles, die Römer niemals die Zeiten
der Scipionen, die Engländer niemals die Zeiten ihrer guten Königin
Elisabeth gesehen hätten; ohne welchen eine Nation nur eine große Rotte
von Menschen ist, die sich von ungefähr, wie Reisende auf einer Landkutsche,
beisammen finden; ein verächtlicher Haufe ohne Charakter, ohne
Stärke, ohne Muth, ohne Geschmack, ohne irgend etwas ist, das sie
aus dem Dunkel, das schon so viele Völker verschlungen hat hervorstechen
machen könnte. W.S. 218, Z. 24. Fürsten, welche bei Anstalten dieser
Art u. s. w. — Es gibt in der Haushaltungskunst gewisse höchst einfältige
Regeln, deren Verachtung gleichwohl von großer Beträchtlichkeit
ist. Ein Regent wendet z. B. zehntausend Thaler zu einer gewissen Absicht
an, welche durch diese Summe nur sehr unvollkommen, d. i. wenig
besser als gar nicht, erreicht wird. Zweitausend Thaler mehr
würden alles gut machen; aber diese will man ersparen: man muß sich
behelfen, heißt es, und überlegt nicht, daß man, um diese zweitausend
Thaler zu behalten, zehntausend verliert, weil die Vortheile, die man
damit zu gewinnen suchte, nicht gewonnen werden. W.S. 226. Z. 16. Da alles Grübeln über die Natur des
höchsten Wesens durch ein ausdrückliches Strafgesetz
untersagt war. — Ließe sich so etwas wohl untersagen? Und wenn
man es untersagte, würde es mehr helfen als zu der Zeit, da man
dergleichen Grübler einkerkerte und verbrannte? — Sollte vom bloßen
Vortrag des Ergrübelten die Rede seyn, so hat es auch hier mit den
Strafgesetzen seine Bedenklichkeiten. — Ist Grübeln im schlimmen Sinne
genommen: was kann der Grübler gegen seine Natur? — Jedoch ich
bemerke bloß, daß Wieland dieß Verfahren nicht etwa zur Nachahmung
hat empfehlen wollen, denn anderwärts erklärt er sich bestimmt dagegen.16.S. 248. Z. 25. Der Elephant u. s. w. — Nach einem
Indischen Mythus wird die Erde von einem ungeheuren Elephanten getragen,
der auf einer verhältnissmäßigen Schildkröte steht, die von einer
Schlange umgeben ist. Das ganze Sinnbild sagt, daß Weisheit und
Allmacht die Erde auf sicherem Fundamente gegründet haben.
|