C. M. Wieland's
Werke.Siebenter Band.Leipzig.G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.1853.
Buchdruckerei der J G Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart.Der goldne Spiegel
oder
die Könige von Scheschian.Eine wahre Geschichte
aus dem Scheschianischen übersetzt.
| — Inspicere tanquam
la speculum jubeo — |
Erster Band.
Zueignungsschrift
dessinesischen Uebersetzers
anKaiser Tai-Tsu.
|
Glorwürdigster Sohn des Himmels!
| Ihrer Majestät lebhaftestes Verlangen ist Ihre Völker
glücklich zu sehen. Dieß ist das einzige Ziel Ihrer unermüdeten
Bemühungen; es ist der große Gegenstand
Ihrer Berathschlagungen, der Inhalt Ihrer Gesetze und
Befehle, die Seele aller löblichen Unternehmungen, die
Sie anfangen und —ausführen, und das, was Sie von
allem Bösen abhält, welches Sie nach dem Beispiel andrer
Großen der Welt thun könnten, und — nicht thun.Wie glücklich müßten Sie selbst seyn, bester der
Könige, wenn es gleich leicht wäre, ein Volk glücklich zu
wünschen, und es glücklich zu machen; wenn Sie, wie
der König des Himmels, nur wollen dürften, um zu vollbringen,
nur sprechen, um Ihre Gedanken in Werke verwandelt
zu sehen!Aber wie unglücklich würden Sie vielleicht auch seyn
wenn Sie wissen sollten, in welcher Entfernung, bei allen
Ihren Bemühungen, die Ausführung hinter Ihren Wünschen
zurückbleibt! Die unzählige Menge der Gehülfen
von so mancherlei Classen, Ordnungen und Arten, unter
welche Sie genöthiget sind Ihre Macht zu vertheilen,
weil auch den unumschränktesten Monarchen die Menschheit
Schranken setzt; die Nothwendigkeit, sich beinahe in
allem auf die Werkzeuge Ihrer wohlthätigen Wirksamkeit
verlassen zu müssen, macht Sie — erschrecken Sie nicht
vor einer unangenehmen aber heilsamen Wahrheit! —
macht Sie zum abhänglichsten aller Bewohner Ihres unermeßlichen
Reiches. Nur zu oft steht es in der Gewalt
eines Ehrgeizigen, eines Heuchlers, eines Rachgierigen,
eines Unersättlichen — doch, wozu häufe ich die Namen
der Leidenschaften und Laster, da ich sie alle in Einem
Worte zusammenfassen kann? eines Menschen — in
Ihrem geheiligten Namen gerade das Gegentheil von Ihrem
Willen zu thun! An jedem Tage, in jeder Stunde, beinahe
dürft' ich sagen in jedem Augenblick Ihrer Regierung,
wird in dem weiten Umfang Ihrer zahlreichen Provinzen
irgend eine Ungerechtigkeit ausgeübt, ein Gesetz
verdreht, ein Befehl übertrieben oder ausgewichen, ein
Unschuldiger unterdrückt, ein Waise beraubt, ein Verdienstloser
befördert, ein Bösewicht geschützt, die Tugend abgeschreckt,
das Laster aufgemuntert.Was für ein Ausdruck von Entsetzen würde mir aus
den Blicken Ihrer Höflinge entgegen starren, wenn sie
mich so verwegen reden hörten! Wie sollt' es möglich seyn,
daß unter einem so guten Fürsten das Laster sein Haupt
so kühn emporheben, und ungestraft so viel Böses thun
dürfte? Die bloße Voraussetzung einer solchen Möglichkeit
scheint eine Beleidigung Ihres Ruhmes, eine Beschimpfung
Ihrer glorreichen Regierung zu seyn. — Vergeben
Sie, gnädigster Oberherr! ungestraft, aber nicht
öffentlich und triumphirend, hebt das Laster sein Haupt
empor; denn das Angesicht, das es zeigt, ist nicht sein
eigenes; es nimmt die Gestalt der Gerechtigkeit, der Gnade,
des Eifers für Religion und Sitten, der Wohlmeinung mit
dem Fürsten und dem Staate, kurz die Gestalt jeder Tugend
an, von welcher es der ewige Feind und Zerstörer
ist. Seine Geschicklichkeit in dieser Zauberkunst ist unerschöpflich,
und kaum ist es möglich, daß die Weisheit des
besten Fürsten sich gegen ihre Täuschungen hinlänglich verwahren
könnte. Ew. Majestät glaubten vielleicht das Urtheil
eines Uebelthäters zu unterschreiben, und unterschrieben
den Sturz eines Tugendhaften, dessen Verdienste sein
einziges Verbrechen waren. Sie glaubten einen ehrlichen
Mann zu befördern, und beförderten einen schändlichen
Gleißner. Doch dieß sind Wahrheiten, wovon Sie nur
zu sehr überzeugt sind. Sie beklagen das unglückliche Loos
Ihres Standes. Wem soll man glauben? Tugend und
Laster, Wahrheit und Betrug haben einerlei Gesicht, reden
einerlei Sprache, tragen einerlei Farbe; ja, der feine Betrüger
(das schädlichste unter allen schädlichen Geschöpfen)
weiß das äußerliche Ansehen gesunder Grundsätze und untadeliger
Sitten gemeiniglich besser zu behaupten als der redliche
Mann. Jener ist es, der die Kunst ausgelernt hat,
seine Leidenschaften in die innersten Höhlen seines schwarzen
Herzens zu verschließen, der am besten schmeicheln, am behendesten
sich jeder Vortheile bedienen kann, die ihm die
schwache Seite seines Gegenstandes zeigt. Seine Gefälligkeit,
seine Selbstverläugnung, seine Tugend, seine Religion
kostet ihn nichts; denn sie ist nur auf seinen Lippen,
und in den äußerlichen Bewegungen, die sein Inwendiges
verbergen: er hält sich reichlich für seine Verstellung entschädiget,
indem er unter dieser Maske jeder bösartigen Leidenschaft
genug thun, jeden niederträchtigen Anschlag ausführen,
und mit einer ehernen Stirne noch Belohnung für
seine Uebelthaten fordern kann. Ist es zu verwundern, o
Sohn des Himmels, daß so viele sind, die alle andern
Talente verabsäumen, alle rechtmäßigen und edlen Wege zu
Ansehen und Glück vorbeigehen, und mit aller ihrer Fähigkeit
allein dahin sich bestreben, es in der Kunst zu betrügen
zur Vollkommenheit zu bringen?Aber wie? Sollte der Fürst, der die Wahrheit liebt,
wiewohl auf allen Seiten mit Larven und Blendwerken umgeben,
verzweifeln müssen, jemals ihr unverfälschtes Angesicht
von dem geschminkten Betrug unterscheiden zu können?
Das verhüte der Himmel! Wer die Wahrheit aufrichtig
liebt (und was kann ohne sie liebenswürdig seyn?) wer
auch alsdann sie liebt, wenn sie nicht schmeichelt, der hat
nur geübte Augen vonnöthen, um ihre feineren Züge zu
unterscheiden, welche selten so gut nachgemacht werden können
daß die Kunst sich nicht verrathen sollte. Und um diese
geübten Augen zu bekommen, —ohne welche das beste Herz
uns nur desto gewisser und öfter der arglistigen Verführung
in die Hände liefert, — ist kein bewährteres Mittel, als
die Geschichte der Weisheit und der Thorheit, der Meinungen
und der Leidenschaften, der Wahrheit und des Betrugs
in den Jahrbüchern des menschlichen Geschlechts auszuforschen.
In diesen getreuen Spiegeln erblicken wir
Menschen, Sitten und Zeiten, entblößt von allem demjenigen,
was unser Urtheil zu verfälschen pflegt, wenn wir
selbst in das verwickelte Gewebe des gegenwärtigen Schauspiels
eingeflochten sind. Oder, wofern auch Einfalt oder
List, Leidenschaften oder Vorurtheile geschäftig gewesen sind
uns zu hintergehen: so ist nichts leichter, als den falsch gefärbten
Duft wegzuwischen, womit sie die wahre Farbe der
Gegenstände überzogen haben.Die ächtesten Quellen der Geschichte der menschlichen
Thorheiten sind die Schriften derjenigen, welche die eifrigsten
Beförderer dieser Thorheiten waren. Der Mißbrauch,
den sie von der Bedeutung der Wörter machen,
betrügt unser Urtheil nicht: sie mögen immerhin widersinnige
Dinge mit der gelassensten Ernsthaftigkeit erzählen,
selbst noch so stark davon überzeugt seyn, oder überzeugt
zu seyn scheinen; dieß hindert uns nicht, lächerlich zu finden
was den allgemeinen Menschenverstand zum Thoren
machen will. Immerhin mag ein von sich selbst betrogener
Schwärmer die Natur der sittlichen Dinge verkehren
wollen, und lasterhafte, unmenschliche Handlungen löblich,
heroisch, göttlich nennen, rechtmäßige und unschuldige hingegen
mit den verhaßtesten Namen belegen: nach Verfluß
einiger Jahrhunderte kostet es keine Mühe, durch den magischen
Nebel, der den Schwärmer blendete, hindurch zu
sehen. Kon-Fu-Tsee könnte ihm ein Betrüger, und Lao-Kiun
ein weiser Mann heißen: sein Urtheil würde die
Natur der Sache, und die Eindrücke, welche sie auf eine
unbefangene Seele machen muß, nicht ändern; der Charakter
und die Handlungen dieser Männer würden uns
belehren, was wir von ihnen zu halten hätten.Aus diesem Grunde empfehlen uns die ehrwürdigen
Lehrer unsrer Nation die Geschichte der ältern Zeiten als
die beste Schule der Sittenlehre und der Staatsklugheit, als
die lauterste Quelle dieser erhabenen Philosophie, welche ihre
Schüler weise und unabhängig macht, und indem sie das
was die menschlichen Dinge scheinen von dem was sie
sind, ihren eingebildeten Werth von dem wirklichen, ihr
Verhältniß gegen das allgemeine Beste von ihrer Beziehung
auf den besondern Eigennutz der Leidenschaften, unterscheiden
lehrt, uns ein untrügliches Mittel wider Selbstbetrug und
Ansteckung mit fremder Thorheit darbietet; eine Philosophie,
in welcher niemand ohne Nachtheil ganz ein Fremdling
seyn kann, aber welche, in vorzüglichern Verstand,
die Wissenschaft der Könige ist.Ueberzeugt von dieser Wahrheit widmen Sie, bester
der Könige, einen Theil der Stunden, welche die unmittelbare
Ausübung Ihres verehrungswürdigen Amtes Ihnen
übrig läßt, der nützlichen und ergötzenden Beschäftigung,
Sich mit den Merkwürdigkeiten der vergangenen Zeit bekannt
zu machen, die Veränderungen der Staaten in den
Menschen, die Menschen in ihren Handlungen, die Handlungen
in den Meinungen und Leidenschaften, und in dem
Zusammenhang aller dieser Ursachen den Grund des Glückes
und des Elendes der menschlichen Gattung zu erforschen.Irre ich nicht, so ist die Geschichte der Könige von
Scheschian, welche ich zu den Füßen Ihrer Majestät hier
lege, nicht ganz unwürdig, unter die ernsthaften Ergötzungen
aufgenommen zu werden, bei welchen Ihr niemals unthätiger
Geist von der Ermüdung höherer Geschäfte auszuruhen
pflegt. Große, dem ganzen Menschengeschlecht angelegene
Wahrheiten, merkwürdige Zeitpunkte, lehrreiche
Beispiele, und eine getreue Abschilderung der Irrungen
und Ausschweifungen des menschlichen Verstandes und Herzens,
scheinen mir diese Geschichte vor vielen andern ihrer
Art auszuzeichnen, und ihr den Titel zu verdienen, womit
das hohe Ober-Polizei-Gerichte von Sina sie beehrt hat;
eines Spiegels, worin sich die natürlichen Folgen der Weisheit
und der Thorheit in einem so starken Lichte, mit so
deutlichen Zügen und mit so warmen Farben darstellen, daß
derjenige in einem seltenen Grade weise und gut — oder
thöricht und verdorben seyn müßte, der durch den Gebrauch
desselben nicht weiser und besser sollte werden können.Hingerissen von der Begierde, den Augenblick von
Daseyn, den uns die Natur auf diesem Schauplatze bewilliget,
wenigstens mit einem Merkmale meines guten Willens
für meine Nebengeschöpfe zu bezeichnen, hab' ich mich der
Arbeit unterzogen, dieses merkwürdige Stück alter Geschichte
aus der Indischen Sprache in die unsrige überzutragen;
und in dieses Bewußtseyn einer redlichen Gesinnung
eingehüllt, überlass' ich dieses Buch und mich selbst
dem Schicksale, dessen Unvermeidlichkeit mehr Tröstendes
als Schreckendes für den Weisen hat; ruhig unter dem Schutz
eines Königs, der die Wahrheit liebt und die Tugend ehrt,
glücklich durch die Freundschaft der Besten unter meinen
Zeitgenossen, und so gleichgültig, als es ein Sterblicher seyn
kann, gegen
—————
Einleitung.
Alle Welt kennt den berühmten Sultan von Indien Schach-Riar,
der, aus einer wunderlichen Eifersucht über die
Negern seines Hofes, alle Nächte eine Gemahlin nahm, und
alle Morgen eine erdrosseln ließ; und der so gern Mährchen
erzählen hörte, daß er sich in tausend und einer Nacht kein
einzigesmal einfallen ließ, die unerschöpfliche Scheherezade
durch irgend eine Ausrufung, Frage oder Liebkosung zu unterbrechen,
so viele Gelegenheit sie ihm auch dazu zu geben beflissen
war.Ein so unüberwindliches Phlegma war nicht die Tugend
oder der Fehler seines Enkels Schach Baham, der (wie jedermann
weiß) durch die weisen und scharfsinnigen Anmerkungen,
womit er die Erzählungen seiner Visire zu würzen pflegte,
ungleich berühmter in der Geschichte geworden ist, als sein
erlauchter Großvater durch sein Stillschweigen und durch seine
Unthätigkeit. Schach-Riar gab seinen Höflingen Ursache, eine
große Meinung von demjenigen zu fassen, was er hätte sagen
können, wenn er nicht geschwiegen hätte; aber sein Enkel
hinterließ den Ruhm, daß es unmöglich sey, und ewig unmöglich
bleiben werde, solche Anmerkungen oder Reflexionen (wie
er sie zu nennen geruhte) zu machen wie Schach-Baham.Wir haben uns alle Mühe gegeben die Ursache zu entdecken,
warum die Schriftsteller, denen wir das Leben und die
Thaten dieser beiden Sultanen zu danken haben, Schach-Riars
Sohn, den Vater Schach-Bahams, mit keinem Worte erwähnen:
aber wir sind nicht so glücklich gewesen einen andern Grund
davon ausfindig zu machen, als — weil sich in der That nichts
von ihm sagen ließ. Der einzige Chronikschreiber, der seiner
gedenkt, läßt sich also vernehmen; "Sultan Lolo, sagt er,
vegetirte einundsechzig Jahre. Er aß täglich viermal mit bewundernswürdigem
Appetit, und außer diesem, und einer sehr
zärtlichen Liebe zu seinen Katzen, hat man niemals einige besondere
Neignng zu etwas an ihm wahrnehmen können. Die
Derwischen und die Katzen sind die einzigen Geschöpfe in der
Welt, welche Ursache haben, sein Andenken zu segnen. Denn
er ließ, ohne jemals recht zu wissen warum, zwölfhundert und
sechsunddreißig neue Derwischereien, jede zu sechzig Mann, in
seinen Staaten erbauen; machte in allen größern Städten des
Indostanischen Reiches Stiftungen, worin eine gewisse Anzahl
Katzen verpflegt werden mußte; und sorgte für diese und jene
so gut, daß man in ganz Asien keine fettern Derwischen und
Katzen sieht, als die von seiner Stiftung. Er zeugte übrigens
zwischen Wachen und Schlaf einen Sohn, der ihm unter dem
Namen Schach-Baham in der Regierung folgte, und starb an
einer Unverdaulichkeit." So weit dieser Chronikschreiber, der
einzige, der von Sultan Lolo Meldung thut; und in der That,
wir besorgen, was er von ihm sagt, ist noch schlimmer als gar
nichts.Sein Sohn, Schach-Baham, hatte das Glück bis in sein
vierzehntes Jahr von einer Amme erzogen zu werden, deren
Mutter eben dieses ehrenvolle Amt bei der unnachahmlichen
Scheherezade verwaltet hatte. Alle Umstände mußten sich vereinigen,
diesen Prinzen zum unmäßigsten Liebhaber von Mährchen,
den man je gekannt hat, zu machen. Nicht genug, daß
ihm der Geschmack daran mit der ersten Nahrung eingeflößt,
und der Grund seiner Erziehung mit den weltberühmten Mährchen
seiner Großmutter gelegt wurde: das Schicksal sorgte auch
dafür, ihm einen Hofmeister zu geben, der sich in den Kopf
gesetzt hatte, daß die ganze Weisheit der Aegyptier, Chaldäer
und Griechen in Mährchen eingewickelt liege.Es herrschte damals die löbliche Gewohnheit in Indien,
sich einzubilden, der Sohn eines Sultans, Raja's, Ohmrah's
oder irgend eines andern ehrlichen Mannes von Ansehen und
Vermögen, könne von niemand als von einem Fakir erzogen
werden. Wo man einen jungen Menschen von Geburt erblickte,
durfte man sicher darauf rechnen, daß ihm ein Fakir an der
Seite hing, der auf alle seine Schritte, Reden, Mienen und
Gebärden Acht haben, und sorgfältig verhüten mußte, daß der
junge Herr nicht — zu gescheidt werde. Denn es war eine
durchgängig angenommene Meinung, daß einer starken Leibesbeschaffenheit,
einer guten Verdauung, und der Fähigkeit sein
Glück zu machen, nichts so nachtheilig sey als viel denken und
viel wissen; und man muß es den Derwischen, Fakirn
Santonen, Braminen, Bonzen und Talapoinen der damaligen
Zeiten nachrühmen, daß sie kein Mittel unversucht ließen, die
Völker um den Indus und Ganges vor einem so schädlichen
Uebermaße zu bewahren. Es war einer von ihren Grundsätzen,
gegen die es gefährlich war Zweifel zu erregen: "Niemand
müsse klüger seyn wollen als seine Großmutter."Man wird nun begreifen, wie Schach-Baham bei solchen
Umständen ungefähr der Mann werden mußte, der er war. Man
hat bisher geglaubt, die einsichtsvollen Betrachtungen, die abgebrochenen
und mit viel bedeutenden Mienen begleiteten —
"das dacht' ich gleich" —"ich sage nichts, aber ich weiß wohl
was ich weiß" — oder, "doch was kümmert das mich?" und
andre dergleichen weise Sprüche, an denen er einen eben so
großen Ueberfluß hat als Sancho Pansa an Spruchwörtern, —
nebst seinem Widerwillen gegen das, was er Moral und Empfindung
spinnen nennt, wären bloße Wirkungen seines Genie's
gewesen. Aber einem jeden das Seine! Man kann sicher
glauben, daß der Fakir, sein Hofmeister, keinen geringen Antheil
daran hatte.Der Sohn und Erbe dieses würdigen Sultans, Schach-Dolka,
glich seinem Vater an Fähigkeit und Neigung beinahe
in allen Stücken, ein einziges ausgenommen. Er war nämlich
ein erklärter Feind von allem, was einem Mährchen gleich sah,
und setzte diesem Haß um so weniger Gränzen, da er bei Lebzeiten
des Sultans seines Vaters genöthigt gewesen war, ihn
aufs sorgfältigste zu verbergen. Wir wurden uns, nach dem
Beispiele vieler berühmter Schriftsteller, über diese Ausartung
gar sehr verwundern, wenn uns nicht däuchte, daß es ganz
natürlich damit zugegangen sey. Sultan Dolka hatte in dem
Zimmer der Sultanin seiner Mama (wo Schach-Baham die
Abende mit Papierausschneiden, und Anhören lehrreicher Historien
von beseelten Sofa's, politischen Bal's, und empfindsamen
Gänschen in rosenfarbenem Domino, zuzubringen pflegte)
von seiner Kindheit an so viele Mährchen zu sich nehmen müssen,
daß er sich endlich einen Eckel daran gehört hatte. Dieß war
das ganze Geheimniß; und uns däucht, es ist nichts darin,
worüber man sich so sehr zu verwundern Ursache hätte.Vermuthlich ist aus dieser tödtlichen Abneigung vor den
Erzählungen des Visirs Moslem die außerordentliche Ungnade
zu erklären, welche er auf die Philosophie, und überhaupt auf
alle Bücher, sie mochten auf Pergament oder Palmblätter geschrieben
seyn, geworfen hatte; eine Ungnade, die so weit ging,
daß er nur mit der äußersten Schwierigkeit zurückgehalten
werden konnte, nicht etwa bloß die Poeten (wie Plato), sondern
alle Leute, welche lesen und schreiben konnten, aus seiner Republik
zu verbannen; selbst die Mathematiker und Sterngucker
nicht ausgenommen, welche ihm wesen der aerometrischen und
astronomischen Erfindungen des Königs Straus im Herzen
zuwider waren. Man sagt von ihm, als der vorbelobte Visir
die Geschichte des Krieges zwischen dem Genie Grüner als
Gras und dem Könige der grünen Länder in seiner Gegenwart
erzählt habe, hätte der junge Prinz, der damals kaum siebzehn
Jahre alt war bei der Stelle, wo der Perrückenkopf einen der
vollständigsten Siege über den König Straus erhält, sich nicht
enthalten können auszurufen: das soll mir niemand weiß
machen, daß jemals ein Perrückenkopf den Verstand gehabt hätte,
eine Armee zu commandiren!" — Eine Anmerkung, welche
(wie man denken kann) von allen Anwesenden begierig aufgefaßt
wurde, und, als ein frühzeitiger Ausbruch eines seltnen
Verstandes an einem noch so zarten Prinzen, mit schuldiger
Bewunderung am ganzen Hofe wiederschallte.Schach-Dolka rechtfertigte die Hoffnung, welche man sich
nach solchen Anzeigungen von seinen künftigen Eigenschaften
machte, auf die außerordentliche Weise. Der Neid selbst
mußte gestehen, daß er seinen Vorältern Ehre machte. Er
war der größte Mann seiner Zeit Distelfinken abzurichten; und
in der Kunst Mäuse aus Aepfelkernen zu schneiden hat die Welt
bis auf den heutigen Tag seinesgleichen nicht gesehen. Durch
einen unermüdeten Fleiß brachte er es in dieser schönen Kunst
so hoch, daß er alle Arten von Mäusen, als Hausmäuse, Feldmäuse,
Waldmäuse, Haselmäuse, Spitzmäuse, Wassermäuse
und Fledermäuse, auch Ratten, Maulwürfe und Murmelthiere,
mit ihren gehörigen Unterscheidungszeichen, in der äußersten
Vollkommenheit verfertigte; ja, wenn man dem berühmten
Schek Hamet Ben Feridun Abu Hassan glauben darf, so beobachtete
er sogar die Proportionen nach dem verjüngten Maßstabe
mit aller der Genauigkeit, womit Herr Daubenton in
seiner Beschreibung des königlichen Naturaliencabinets zu Paris
sie zu bestimmen sich die löbliche Mühe gegeben hat.Außerdem wurde Schach-Dolka für einen der besten
Kuchenbäcker seiner Zeit gehalten, wenn ihm anders seine
Hofleute in diesem Stücke nicht geschmeichelt haben; und man
rühmt als einen Beweis seiner ungemeinen Leutseligkeit, daß
er sich ein unverbrüchlichen Gesetz daraus gemacht habe, an
allen hohen Festen seinen ganzen Hof mit kleinen Rahmpastetchen
von seiner eigenen Erfindung und Arbeit zu bewirthen.
Niemals hat man einen Sultan mit Geschäften so
überhäuft gesehen, als es der arme Dolka in dem ganzen
Laufe seiner Regierung war. Denn da alle Könige und Fürsten
gegen Morgen und Abend so glücklich seyn wollten, einige
Mäuse von seiner Arbeit in ihren Kunstcabinetten, oder einen
Finken aus seiner Schule in ihrem Vorzimmer zu haben; und
da Schach-Dolka theils aus Gefälligkeit, theils in Rücksicht
auf das launische Ding, das man Ratio status nennt, niemand
vor den Kopf stoßen wollte: so hatte er wirklich (die Stunden,
die er im Divan verlieren mußte, mit eingezählt) vom Morgen
bis in die Nacht so viel zu thun, daß er kaum zu Athem
kommen konnte.Der Himmel weiß, ob jemals ein anderes Volk das Glück
hatte, mit vier Prinzen, wie Schach-Riar, Schach-Lolo, Schach-Baham
und Schach-Dolka waren, in einer unmittelbaren
Folge gesegnet zu werden. O! die guten Herren! die goldnen
Zeiten! — riefen ihre Omra's und Derwischen.Allein diese wackern Leute können doch auch nicht verlangen,
daß es immer nach ihrem Sinne gehen solle. Schach-Gebal,
ein Bruderssohn Bahams des Weisen (wie ihn seine
Lobredner nannten), welcher seinem Vetter in Ermanglung
eines Leibeserben folgte — denn Dolka hatte vor lauter Arbeit
keine Zeit gehabt an diese Sache zu denken — dieser Schach-Gebal
unterbrach eine so schöne Folge von gekrönten Guten-Männern,
und regierte bald so gut, bald so schlecht, daß
weder die Bösen noch die Guten mit ihm zufrieden waren.Wir wissen nicht, ob ein Charakter wie der seinige unter
regierenden Herren so selten ist, als die Feinde seines Ruhms
behaupten. Aber so viel können wir mit gutem Grunde sagen:
daß, wenn weder der Adel noch die Priester noch die Gelehrten
noch das Volk mit seiner Regierung zufrieden waren,
— Gelehrte und Volk nicht immer so ganz Unrecht hatten.Um eine Art von Gleichgewicht unter diesen Ständen zu
erhalten, beleidigte er wechselsweise bald diesen bald jenen,
und der weise Pilpai selbst hätte ihm nicht ausreden können,
daß man Beleidigungen durch Wohlthaten nicht wieder gut
machen könne. In beiden pflegte er so wenig Maß zu halten,
so wenig Rücksicht auf Umstände und Folgen zu nehmen, so
wenig nach Grundsätzen und nach einem festen Plane zu verfahren,
daß er meistens immer den Vortheil verlor, den er
sich dabei vorsetzte. Man wußte so viele Beispiele anzuführen,
wo er seine besten Freunde mißhandelt hatte, um die übelgesinntesten
Leute mit Gnaden zu überhäufen, daß es endlich
zu einer angenommenen Maxime wurde, es sey nützlicher sein
Feind zu seyn als sein Freund. Jene konnten ihn ungestraft
beleidigen, weil er schwach genug war sie zu fürchten, diesen
übersah er auch nicht den kleinsten Fehltritt. Jene konnten
eine Reihe strafwürdiger Handlungen durch eine einzige Gefälligkeit
gegen seine Leidenschaften oder Einfälle wieder gut
machen; diesen half es nichts ihm zwanzig Jahre lang die
stärksten Proben von Treue und Ergebenheit gegeben zu haben,
wenn sie am ersten Tage des ein und zwanzigsten das Unglück
hatten, sich durch irgend ein nichtsbedeutendes Versehen seinen
Unwillen zuzuziehen.Den Priestern soll er überhaupt nicht sehr hold gewesen
seyn; wenigstens kann man nicht läugnen, daß die Derwischen,
Fakirn und Kalender, welche er nur die Hummeln seines Staats
zu nennen pflegte, der gewöhnlichste Gegenstand seiner bittersten
Spöttereien waren. Er neckte und plagte sie bei jeder
Gelegenheit; aber weil er sie für gefährliche Leute hielt, so
fürchtete er sie, und weil er sie fürchtete, so fand er selten so
viel Muth in sich, ihnen etwas abzuschlagen. Der ganze Vortheil,
den er von diesem Betragen zog, war, daß sie sich ihm
für seine Gefälligkeiten wenig verbunden achteten, weil sie gar
zu wohl wußten, wie wenig sein guter Wille daran Antheil
hatte. Sie rächten sich für die unschädliche Verachtung, die
er ihnen zeigte, durch den Verdruß, den sie ihm in hundert
bedeutenden Gelegenheiten durch ihre geheimen Ränke und
Anstiftungen zu machen wußten. Sein Haß gegen sie wurde
dadurch immer frisch erhalten; aber die Schlauköpfe hatten
ausfindig gemacht, daß er sie fürchte: und diese Wahrnehmung
wußten sie so wohl zu benutzen, daß ihnen seine wärmste Zuneigung
kaum einträglicher gewesen wäre. Sie hatten die
Klugheit, wenig oder keine Empfindlichkeit über die kleinen
Freiheiten zu zeigen, die man sich unter seiner Regierung mit
ihnen herausnehmen durfte. Man mag von uns sagen was
man will, dachten sie, wenn wir nur thun dürfen was wir
wollen.Schach-Gebal hatte weniger Leidenschaften als Aufwallungen.
Er war ein Feind von allem, was anhaltende Aufmerksamkeit
und Anstrengung des Geistes erforderte. Wenn
dasjenige, was seine Hofleute die Lebhaftigkeit seines Geistes
nannten, nicht allezeit Witz war, so weiß man, daß es bei
einem Sultan so genau nicht genommen wird: aber er wußte
doch den Witz bei andern zu schätzen; und so tödtlich er die
langen Reden seines Kanzlers haßte, so hatte er doch Augenblicke,
wo man ihm scherzend auch wenig schmeichelnde Wahrheiten
sagen durfte. Er wollte immer von aufgeweckten Geistern
umgeben seyn. Ein schimmernder Einfall hieß ihm allezeit ein
guter Einfall; allein dafür fand er auch den besten Gedanken
platt, der sonst nichts als Verstand hatte. Nach Grundsätzen
zu denken, oder nach einem Plane zu handeln, war in seinen
Augen Pedanterei und Mangel an Genie. Seine gewöhnliche
Weise war, ein Geschäft anzufangen, und dann die Maßregeln
von seiner Laune oder vom Zufall zu nehmen. So
pflegten die witzigen Schriftsteller seiner Zeit ihre Bücher zu
machen.Er hatte ein paar vortreffliche Männer in seinem Divan.
Er kannte und ehrte ihre Klugheit, ihre Einsichten, ihre
Redlichkeit; aber zum Unglück konnte er ihre Miene nicht
leiden. Sie besaßen eine gründliche Kenntniß der Regierungskunst
und des Staats; aber sie hatten wenig Geschmack; sie
konnten nicht scherzen; sie waren zu nichts als zu ernsthaften
Geschäften zu gebrauchen, und Schach-Gebal liebte keine ernsthaften
Geschäfte, Warum hatten die ehrlichen Männer die
Gabe nicht, der Weisheit ein lachendes Ansehen zu geben?
— Oder konnten sie sich nur nicht entschließen, ihr zuweilen
die Schellenkappe aufzusetzen? Desto schlimmer für sie und
den Staat! Schach-Gebal unternahm zwar selten etwas ohne
ihren Rath; aber er folgte ihm während seiner ganzen Regierung
nur zweimal, und beidemal — da es zu spät war.Es war eine seiner Lieblingsgrillen, daß er durch sich
selbst regieren wollte. Die Könige, welche sich durch einen
Minister, einen Verschnittnen, einen Derwischen, oder eine
Maitresse regieren ließen, waren der tägliche Gegenstand seiner
Spöttereien. Gleichwohl versichern uns die geheimen Nachrichten
dieser Zeit, daß sein erster Iman, und eine gewisse
schwarzaugige Tschirkassierin, die ihm unentbehrlich war, alles
was sie gewollt aus ihm gemacht hätten. Wir würden es
für Verleumdungen halten, wenn wir seine Regierung nicht
mit Handlungen bezeichnet sähen, wovon der Entwurf nur
in der Zirbeldrüse eines Imans oder in der Phantasie einer
schwarzaugigen Tschirkassierin entstehen konnte.Schach-Gebal war kein kriegerischer Fürst: aber er sah
seine Leibwache gern schön geputzt, hörte seine Emirn gern von
Feldzügen und Belagerungen reden, und las die Oden nicht
ungern, worin ihn seine Poeten über die Cyrus und Alexander
erhoben, wenn er bei Gelegenheit eine Festung ihrem Commandanten
abgekauft, oder seine Truppen einen zweideutigen Sieg
über Feinde, die noch feiger, oder noch schlechter angeführt
waren als sie selbst, erhalten hatten. Es war eine von seinen
großen Maximen: ein guter Fürst müsse Frieden halten, so
lange die Ehre seiner Krone nicht schlechterdings erfordere, daß
er die Waffen ergreife. Aber das half seinen Unterthanen
wenig: er hatte nichtsdestoweniger immer Krieg. Denn der
Mann im Monde hätte mit dem Mann im Polarstern in
einen Zwist gerathen können; Schach-Gebal mit Hülfe seines
Itimadulet würde Mittel gefunden haben, die Ehre seiner
Krone dabei betroffen zu glauben.Niemals hat ein Fürst mehr weggeschenkt als Gebal.
Aber da er sich die Mühe nicht nehmen wollte, zu untersuchen,
oder nur eine Minute lang zu überlegen, wer an seine
Wohlthaten das meiste Recht haben möchte; so fielen sie
immer auf diejenigen, die zunächst um ihn waren, und zum
Unglück konnten sie gemeiniglich nicht schlechter fallen.Ueberhaupt liebte er den Aufwand. Sein Hof war unstreitig
der prächtigste in Asien. Er hatte die besten Tänzerinnen,
die besten Gaukler, die beten Jagdpferde, die besten
Köche, die witzigsten Hofnarren, die schönsten Pagen und
Sklavinnen, die größten Trabanten und die kleinsten Zwerge,
die jemals ein Sultan gehabt hat; und seine Akademie der
Wisenschaften war unter allen diejenige, worin man die sinnreichsten
Antrittsreden und die höflicheren Danksagungen hielt.
Es gehörte ohne Zweifel zu seinen rühmlichen Eigenschaften,
daß er alle schönen Künste liebte; aber es ist auch nicht zu
läugnen, daß er dieser Neigung mehr nachhing als mit dem
Besten seines Reiches bestehen konnte. Man will ausgerechnet
haben, daß er eine von seinen schönsten Provinzen zur Einöde
gemacht, uni eine gewisse Wildniß, welche allen Anstrengungen
der Kunst Trotz zu bieten schien, in eine bezauberte Gegend
zu verwandeln, und daß es ihm wenigstens hunderttausend
Menschen gekostet habe, um seine Gärten mit Statuen zu
bevölkern. Berge wurden versetzt, Flüsse abgeleitet, und
unzählige Hände von nützlichern Arbeiten weggenommen, um
einen !an auszuführen, wobei die Natur nicht zu Rathe
gezogen worden war. Die Fremden, welche dieses Wunder
der Welt anzuschauen kamen, reisten durch übelangebaute
und entvölkerte Provinzen, durch Städte, deren Mauern einzufallen
drohten, auf deren Gassen Gerippe von Pferden graseten,
und worin die Wohnungen den Ruinen einer ehemaligen
Stadt, und die Einwohner Gespenstern glichen, die in diesen
verödeten Gemäuern spukten. Aber wie angenehm wurden
diese Fremden auf einmal von dem Anblicke der künstlichen
Schöpfungen überrascht, welche Schach-Gebal, seinem Stolz
und den schönen Augen seiner Tschirkassierin zu Gefallen, wie
aus nichts hatte hervorgehen heißen! Ganze Gegenden, durch
welche sie gekommen waren, lagen verödet; aber hier glaubten
sie, in einem entzückenden Traum, in die Zaubergärten der
Peris versetzt zu seyn. Man konnte nichts Schlechteres sehen
als die Landstraßen, auf denen sie oft ihr Leben hatten wagen
müssen; aber wie reichlich wurde ihnen dieses Ungemach ersetzt!
Die Wege zu seinem Lustschlosse waren mit kleinen bunten
Steinen eingelegt.Bei allem diesem sprach Schach-Gebal gern von Oekonomie,
und die beste unter allen möglichen Einrichtungen des Finanzwesens
war eine Sache, worüber er seine ganze Regierung
durchraffinirte, und die ihm wirklich mehr kostete, als wenn
er den Stein der Weisen gesucht hätte. Eine neue Speculation
war der kürzeste Weg sich bei ihm in Gnade zu setzen;
auch bekam er deren binnen wenig Jahren so viele, daß sie
schichtenweise in seinem Cabinet aufgethürmt lagen, wo er
sich zuweilen die Zeit vertrieb, die Titel und die Vorberichte
davon zu überlesen. Alle Jahre wurde ein neues System
eingeführt, oder doch irgend eine nützliche Veränderung gemacht
(das ist, eine Veränderung, die wenigstens einigen, welche die
Hand dabei hatten, nützlich war), und die Früchte davon
zeigten sich augenscheinlich. Kein Monarch in der Welt hatte
mehr Einkünfte auf dem Papier und weniger Geld in der
Casse. Dieß kann, unter gewissen Bedingungen, das Meisterstück
einer weisen Administration seyn: aber in Schach-Gebals
seiner war es wohl ein Fehler; denn der größte Theil seiner
Unterthanen befand sich nicht desto besser dabei. Indessen war
er nicht dazu aufgelegt, durch seine Fehler klüger zu werden;
denn er betrog sich immer in den Ursachen. Der erste, der
mit einem neuen Project aufzog, beredete ihn er wisse es
besser als seine Vorgänger; und so nahm das Uebel immer
zu, ohne daß Gebal jemals dazu gelangen konnte die Quelle
davon zu entdecken.Wenn man diese Züge des Charakters und der Regierung
des Sultans Gebal zusammen nimmt, so könnte man auf die
Gedanken gerathen, das Glück seiner Unterthanen müsse, im
Ganzen betrachtet, nur sehr mittelmäßig gewesen seyn. In
der That ist dieß auch das Gelindeste, was man davon sagen
kann. Allein seine Unterthanen wurden mehr als zu sehr
dadurch gerochen, daß ihr Sultan bei aller seiner Herrlichkeit
nicht glücklicher war als der unzufriedenste unter ihnen.Diese Erfahrung war für ihn ein Problem, worüber er
oft in tiefes Nachsinnen gerieth, ohne jemals die Auflösung
davon finden zu können. Auf dem Wege, wo er sie suchte,
hätte er sie ewig vergebens suchen mögen. Denn der Einfall,
sie in sich selbst zu suchen, war gerade der einzige, der ihm
unter allen möglichen nie zu Sinne kam. Bald dacht' er, die
Schuld liege an seinen Omras, bald an seinem Mundkoche,
bald an seiner Favoritin; er schaffte sich andere Omras, andere
Köche und eine andere Favoritin an; aber das wollte alles
nicht helfen. Es fiel ihm ein, daß er einmal dieses oder jenes
habe thun wollen, welches bisher unterblieben war. Gut,
dacht' er, das muß es seyn! Er unternahm es, amüsirte sich
damit bis es fertig war, und —fand sich betrogen. Ursache
genug für einen Sultan, verdrießlich zu werden! Aber er hatte
deren noch andre, die einen weisern Mann als er war aus
dem Gleichgewichte hätten setzen können. Die Händel, die
ihm seine Priester machten, die Intriguen seines Serails, die
Zwistigkeiten seiner Minister, die Eifersucht seiner Sultaninnen,
das häufige Unglück seiner Waffen, der erschöpfte Zustand
seiner Finanzen, und (was noch schlimmer als dieß alles zu
seyn pflegt) das Mißvergnügen seines Volkes, welches zuweilen
in gefährliche Unruhen auszubrechen drohte, — alles dieß vereinigte
sich, ihm ein Leben zu verbittern, welches denen, die
es nur von ferne sahen, beneidenswürdig vorkam. Schach-Gebal
hatte mehr schlaflose Nächte als alle Tagelöhner seines
Reiches zusammen. Alle Zerstreuungen und Ergötzlichkeiten,
womit man diesem Uebel zu begegnen gesucht hatte, wollten
nichts mehr verfangen. Seine schönsten Sklavinnen, seine
besten Sänger, seine wunderthätigsten Luftspringer, seine Witzlinge,
und seine Affen selbst verloren ihre Mühe dabei.Endlich brachte eine Dame des Serails, eine erklärte Verehrerin
der großen Scheherezade, die Mährchen der Tausend
und Einen Nacht in Vorschlag. Aber Schach-Gebar hatte die
Gabe nicht (denn wirklich ist sie ein Geschenk der Natur und
keines ihrer schlechtesten), der wunderbaren Lampe des Schneiders
Aladdin Geschmack abzugewinnen, oder die weißen, blauen,
gelben und rothen Fische amüsant zu finden, welche sich, ohne
ein Wort zu sagen, in der Pfanne braten lassen, bis sie auf
einer Seite gar sind, aber, sobald man sie umkehrt, und eine
wunderschöne Dame, im beblümten Atlas von Aegyptischer
Fabrik gekleidet, mit großen diamantenen Ohrengehängen, mit
einem Halsbande von großen Perlen und mit rubinenreichen
goldnen Armbändern geschmückt, aus der Mauer hervorspringt,
die Fische mit einer Myrtenruthe berührt, und die Frage an
sie thut: Fische, Fische, thut ihr eure Schuldigkeit? alle zugleich
die Köpfe aus der Pfanne heben, das einfältigste Zeug von der
Welt antworten, und dann plötzlich zu Kohlen werden. Schach-Gebal,
anstatt dergleichen Historien, wie sein glorwürdiger
Aeltervater, mit gläubigem Erstaunen und innigstein Vergnügen
anzuhören, wurde so ungehalten darüber, daß man
mitten in der Erzählung aufhören mußte. Man versuchte es
also mit den Mährchen des Vesirs Moslem, in welchen unstreitig
ein großer Theil mehr Witz, und unendlichemal mehr Verstand
und Weisheit, unter dem Schein der äußersten Frivolität,
verborgen ist. Aber Schach-Gebal haßte die dunkeln
Stellen darin, nicht weil sie dunkel, sondern weil sie nicht
noch dunkler waren; denn er hatte wirklich zu viel gesunden
Geschmack, um an Unrath, so fein er auch zubereitet war,
Gefallen zu finden; und überhaupt däuchte ihm die mehr wollüstige
als zärtliche Fee Alles oder Nichts mit ihrer Pruderie
und mit ihren Experimenten, der Pedant Tacitürne mit seiner
Geometrie, der König Straus mit seiner albernen Politik und
mit seiner Barbierschüssel, und das ungeheure Mittelding von
Galanterie und Ziererei, die Königin der kristallnen Inseln
mit allem was sie sagte, that und nicht that, ganz unerträgliche
Geschöpfe. Er erklärte sich, daß er keine Erzählungen
wolle, wofern sie nicht, ohne darum weniger unterhaltend zu
seyn, sittlich und anständig wären: auch verlangte er, daß sie
wahr und aus beglaubten Urkunden gezogen seyn, und (was
er für eine wesentliche Eigenschaft der Glaubwürdigkeit hielt)
daß sie nichts Wunderbares enthalten sollten; denn davon war
er jederzeit ein erklärter Feind gewesen. Dieses brachte die
beiden Omras, deren wir vorhin als wohldenkender Männer
Erwähnung gethan haben, auf den Einfall, aus den merkwürdigsten
Begebenheiten eines ehmaligen benachbarten Reichs
eine Art von Geschichtbuch verfertigen zu lassen, woraus man
ihm, wenn er zu Bette gegangen wäre, vorlesen sollte, bis er
einschliefe oder nichts mehr hören wollte. Der Einfall schien
um so viel glücklicher zu seyn, als er Gelegenheiten herbeiführte,
dem Sultan mit guter Art Wahrheiten beizubringen,
die man, auch ohne Sultan zu seyn, sich nicht gern geradezu
sagen läßt.Man dachte also unverzüglich an die Ausführung: und da
man den besten Kopf von ganz Indostan (welches freilich in
Vergleichung mit Europäischen Köpfen nicht viel sagt) dazu
gebrauchte; so kam in kurzer Zeit dieses gegenwärtige Werk
zu Stande, welches Hiang:Fu-Tsee, ein wenig bekannter
Schriftsteller, in den letzten Jahren des Kaisers Tai-Tsu, unter
dem Namen des goldnen Spiegels ins Sinesische, —der ehrwürdige
Vater J. G. A. D. G. J. aus dem Sinesischen in sehr
mittelmäßiges Latein, und der gegenwärtige Herausgeber aus
einer Copie der Lateinischen Handschrift, in so gutes Deutsch,
als man im Jahre 1772 zu schreiben pflegte, überzutragen
würdig gefunden hat.Aus dem Vorberichte des Sinesischen Uebersetzers läßt
sich schließen, daß sein Buch eigentlich nur eine Art von Auszug
aus der Chronik der Könige von Scheschian ist, welche zur
Ergötzung und Einschläferung des Sultans Gebal verfertiget
worden war. Er verbirgt nicht, daß seine vornehmste Absicht
gewesen, den Prinzen aus dem Hause des Kaisers Tai-Tsu
damit zu dienen, denen es (wie er meint) unter dem Schein
eines Zeitvertreibs, Begriffe und Maximen einflößen könnte,
von deren Gebrauch oder Nichtgebrauch das Glück der Sinesischen
Provinzen größtentheils abhangen dürfte. So alt diese Wahrheiten
sind, sagt er, so scheint es doch, daß man sie nicht oft
genug wiederholen könne. Sie gleichen einer herrlichen Arznei,
welche aber so beschaffen ist, daß sie nur durch häufigen
Gebrauch wirken kann. Alles kommt darauf an, daß man immer
ein anderes Vehikel zu ersinnen wisse, damit sowohl Kranke
als Gesunde (denn sie kann diesen als Präservativ, wie jenen
als Arznei dienen) sie mit Vergnügen hinabschlingen mögen.Was die hier und da der Erzählung eingemischten Unterbrechungen
und Episoden, besonders die Anmerkungen des Sultans
Gebal betrifft, so versichert zwar Hiang-Fu-Tsee, er hätte
sie von guter Hand, und wäre völlig überzeugt; daß die letztern
wirklich von besagtem Sultan herrührten: allein dieß hindert
nicht, daß der geneigte Leser nicht davon sollte glauben dürfen
was ihm beliebt. Wenigstens scheinen sie dem Charakter Schach-Gebals
ziemlich gemäß; und eben daher würde es unbillig
seyn, zu verlangen, daß sie so sinnreich und unterhaltend seyn
sollten, als die Reflexionen Schach-Bahams des Weisen.—————
Die könige von Scheschian.1.Von Scheschian? rief Schach-Gebal: mir däucht, ich kenne
diesen Namen. Ist es nicht das Scheschian, wo der Hiof-Theles-Tanzai
König war, dessen verwünschten Schaumlöffel
ihr mir neulich zu verschlingen geben wolltet, wenn ich mich
nicht eben so stark dagegen gesträubt hätte, als der Großpriester
Sogrenuzio?Vermuthlich, Sire, sagte die schwarzaugige Tschirkassierin,
welche schon vor einiger Zeit aufgehört hatte jung zu seyn,
aber aus dem Verfall ihrer Reizungen unter andern eine sehr
angenehme Stimme davon gebracht hatte, und sich eine Angelegenheit
daraus machte, den Sultan noch immer so gut zu
amüsiren, als es die Umstände auf beiden Seiten zulassen
wollten. Ohne Zweifel, Sire, sagte sie, ist es eben dieses
Scheschian; denn es nöthigt uns nichts, deren zwei anzunehmen,
da wir uns mit dem Einen ganz wohl behelfen können;
welches, nach dem Berichte gewisser alter Erdbeschreiber, in
den Zeiten seines höchsten Wohlstandes beinahe so groß gewesen
seyn muß als das Reich Ihrer Majestät, und ostwärts —Die Geographie thut nichts zur Sache, fiej Schach-Gebal
ein, insofern du mir nur dafür gut seyn willst, Nurmahal,
daß da, wo deine Geschichte anfängt, die Zeit vorbei ist, da
die Welt von Feen beherrscht wurde. Denn ich erkläre mich
ein- für allemal, daß ich nichts von verunglückten Hochzeitnächten,
von alten Konkombern, von Maulwürfen, die in der
geziertesten Sprache von der Welt — nichts sagen, und kurz,
nichts von Liebeshändeln hören will, wie der witzigen Monstasche
und ihres faden Kormorans, der so schöne Epigrammen
macht und so schöne Räder schlägt. Mit Einem Worte, Nurmahal,
und es ist mein völliger Ernst, keine Neadarnen und
keinen Schaumlöffel!Ihre Majestät können sich darauf verlassen, versetzte Nurmahal,
daß die Feen nichts in dieser Geschichte zu thun haben
sollen; und was die Genien betrifft, so wissen Ihre Majestät,
daß man gewöhnlich sechs bis sieben Könige hinter einander
zählen kann, bis man auf einen stößt, der Anspruch an diesen
Namen zu machen hat.Auch keine Satyren, Madame, wenn ich bitten darf! Fangen
Sie Ihre Historie ohne Umschweife an; und Ihr (sagte er
zu einem jungen Mirza, der am Fuße seines Bettes zu sitzen
die Ehre hatte) gebt Acht wie oft ich gähne, sobald ich dreimal
gegähnt habe, so macht das Buch zu, und gute Nacht.——————
Bei irgend einem Volke (so fing die schöne Nurmahal zu
lesen an) die Geschichte seines ältesten Zustandes suchen, hieße
von jemand verlangen, daß er sich dessen erinnere, was ihm
in Mutterleibe oder im ersten Jahre seiner Kindheit begegnet
ist.Die Einwohner von Scheschian machen keine Ausnahme
von dieser Regel. Sie füllen, wie alle andern Völker in der
Welt, den Abgrund, der zwischen ihrem Ursprung und der
Epoche ihrer Geschichtskunde liegt, mit Fabeln aus; und diese
Fabeln sehen einander bei allen Völkern so ähnlich, als man es
von Geschöpfen vermuthen kann, die sich auf der ersten Staffel
der Menschheit befinden. Derjenige unter ihnen, der zuerst
die Entdeckung machte, daß eine Ananas besser schmecke als
eine Gurke, war ein Gott in den Augen seiner Nachkommen.Die alten Scheschianer glaubten, daß ein großer Affe sich
die Mühe genommen habe, ihren Vorältern die ersten Kenntnisse
von Bequemlichkeit, Künsten und geselliger Lebensart
beizubringen.Ein Affe? rief der Sultan: eure Scheschianer sind sehr
demüthig, den Affen diesen Vorzug über sich einzuräumen.Diejenigen, bei denen dieser Glaube aufkam, dachten
vermuthlich nicht so weit, erwiederte die schöne Nurmahal.Ohne Zweifel, sagte der Sultan: aber was ich wissen
möchte, ist gerade, was für Leute das waren, bei denen ein
solcher Glaube aufkommen konnte.Sire, davon sagt die Chronik nichts. Aber wenn es einer
Person meines Geschlechts erlaubt seyn könnte, über einen so
gelehrten Gegenstand eine Vermuthung zu wagen, so würde
ich sagen, daß mir nichts begreiflicher vorkommt. Kein Glaube
ist jemals so ungereimt gewesen, zu welchem nicht etwas Wahres
den Grund gelegt haben sollte. Konnte nicht ein Affe die
ältesten Scheschianer etwas gelehrt haben, wenn es auch nur
die Kunst auf einen Baum zu klettern und Nüsse aufzuknacken
gewesen wäre? Denn so leicht uns diese Künste jetzt scheinen,
so ist doch viel eher zu vermuthen, daß die Menschen sie den
Affen, als daß die Affen sie den Menschen abgelernt haben.Die schöne Sultanin philosophirt sehr richtig, sagte Doctor
Danischmend, derjenige von den Philosophen des Hofes, den
der Sultan am liebsten um sich leiden mochte, weil er in der
That eine der gutherzigsten Seelen in der Welt war, und der
daher die Gnade genoß, nebst dem vorerwähnten Mirza diesen
Vorlesungen beizuwohnen. Es ist nicht zu vermuthen, setzte
er hinzu, daß die ersten Menschen in Scheschian scharfsinniger
gewesen seyn sollten als Isanagi No Mikotto, einer von den
Japanischen Götterkönigen, von welchem ihre Geschichte versichert,
daß er die Kunst, mit seiner Gemahlin Psanami nach
der Weise der Sterblichen zu verfahren, von dem Vogel Isiatadakki
abgesehen habe.Schach-Gebal schüttelte, man weiß nicht warum, den Kopf
bei dieser Anmerkung; und Nurmahal, ohne den Einfall des
Philosophen Danischmend eines Erröthens zu würdigen, fuhr
also fort.In dem ersten Zeitpunkte, wo die Geschichte von Scheschian
zuverlässig zu werden anfängt, fand sich die Nation in
eine Menge kleiner Staaten zerstückelt, die von eben so vielen
kleinen Fürsten regiert wurden, so gut es gehen wollte. Alle
Augenblicke fiel es zweien oder dreien von diesen Potentaten
ein, den vierten mit einander auszurauben; wenn sie mit ihm
fertig waren, zerfielen sie über der Theilung unter sich selbst;
und dann pflegte der fünfte zu kommen, und sie auf einmal
zu vergleichen, indem er bis zu Austrag der Sache den Gegenstand
des Streits in Verwahrung nahm.Die Befehdungen dauerten, zum großen Nachtheile der
armen Scheschianer, so lange, bis etliche von den schwächsten
den Vorschlag thaten: daß sich die sämmtlichen Rajas, um
der allgemeinen Sicherheit willen, einem gemeinschaftlichen
Oberhaupte unterwerfen sollten. Die mächtigsten ließen sich
diesen Vorschlag belieben, weil jeder Hoffnung hatte, daß die
Wahl auf ihn selbst fallen würde. Aber kaum war diese entschieden:
so fand sich, daß man nicht das beste Mittel die Ruhe
herzustellen gewählt hatte.Der neue König war des Vorzugs würdig, den ihm die
Nation beigelegt hatte. Die Achtung für seine persönlichen
Verdienste unterstützte eine Zeit lang seine Bemühungen, und
Scheschian genoß einen Augenblick von Glückseligkeit, den er
dazu anwandte, Gesetze zu entwerfen, welche der große Kon-Fu-Tsee
nicht besser hätte machen können; Gesetze, denen, um
vollkommen zu seyn, nichts abging, als daß sie nicht (wie man
von den Bildsäulen eines gewissen alten Künstlers sagt) von
selbst gingen, das ist, daß es von der Willkür der Unterthanen
abhing, sie zu halten oder nicht zu halten. Freilich waren auf
die Uebertretung derjenigen, von deren Beobachtung die Ruhe
und der Wohlstand des Staats schlechterdings abhing, schwere
Strafen gesetzt: aber der König hatte keine Gewalt sie zu
vollziehen. Wenn einer von seinen Rajas zum Gehorsam gebracht
werden sollte, so mußte er einem andern auftragen,
den Raja dazu zu nöthigen; und auf diese Weise blieben
immer die gerechtesten Urtheile unvollzogen. Denn keine Krähe
hackt der andern die Augen aus, sagt der König Dagobert.Wer war dieser König Dagobert? fragte der Sultan den
Philosophen Danischmend.Danischmend hatte bei allen seinen vermeintlichen oder
wirklichen Vorzügen einen Fehler, der, so wenig er an sich
selbst zu bedeuten hat, in gewissen Umständen genug ist,
den besten Kopf zu Schanden zu machen. Niemals konnte
er eine Antwort auf eine Frage finden, auf die er sich nicht
versehen hatte. Dieser Fehler hätte ihm vielleicht noch
übersehen werden können; aber er vergrößerte ihn insgemein
durch einen andern, der in der That einem Manne von
seinem Geiste nicht zu verzeihen war. Fragte ihn, zum Exempel,
der Sultan etwas, das ihm unbekannt war; so stutzte er,
entfärbte sich, öffnete den Mund und staunte, als ob er sich
darauf besänne; man hoffte von Augenblick zu Augenblick, daß
er losdrücken würde, und man konnt' es ihm daher um so viel
weniger vergeben, wenn er endlich die Erwartung, worin man
so lange geschwebt hatte, mit einem armseligen "das weiß ich
nicht" betrog; weil er, wie man dachte, dieß eben sowohl im
ersten Augenblicke hätte sagen können. Dieß war nun gerade
der Fall, worin er sich itzt befand: kein Mensch in der Welt
war ihm unbekannter als der König Dagobert.Ich hatte Unrecht, eine solche Frage an einen Philosophen
zu thun, sagte der Sultan etwas mißvergnügt: laßt meinen
Kanzler kommen.Der Kanzler war ein großer dicker Mann, welcher unter
andern rühmlichen Eigenschaften gerade so viel Witz hatte, als
er brauchte, um auf jede Frage eine Antwort bereit zu halten.Herr Kanzler, wer war der König Dagobert? fragte der
Sultan.Sire, antwortete der Kanzler ganz ernsthaft, indem er
mit der rechten Hand seinen Wanst, und mit der linken seinen
Knebelbart strich, es war ein König, der vor Zeiten in einem
gewissen Lande regierte, das man auf keiner Indostanischen
Landkarte findet; vermuthlich weil es so klein war, daß man
nicht sagen konnte, welches die Nord- und welches die Südseite
davon sey.Sehr wohl, Herr Kanzler! Und was sagte der König
Dagobert?Meistens nichts, versetzte der Kanzler, wenn es nicht im
Schlafe geschah, welches ihm zuweilen in seinem Divan begegnete.
Sein Kanzler, der, wegen seines kurzen Gesichts,
nicht immer gewahr wurde, ob der König wachte oder schlummerte,
nahm etlichemal das, was er im Schlafe gesagt hatte,
für Befehle auf, und fertigte sie auf der Stelle aus; und, was
das Sonderbarste ist, die Geschichtschreiber versichern, daß diese
nämlichen Verordnungen unter allen, welche während seiner
Regierung herausgekommen, die klügeren gewesen seyen.Gute Nacht, Herr Kanzler, sagte Schach-Gebal.Man muß gestehen, dachte der Kanzler im Weggehen, daß
die Sultanen zuweilen wunderliche Fragen an die Leute thun.Es ist eine schöne Sache um einen sinnreichen Kanzler,
fuhr der Sultan fort, nachdem sich der seinige zurückgezogen
hatte. Ich weiß wohl, Nurmahal, ihr seyd ihm nie gewogen
gewesen; und wenn ich günstiger für ihn denke, so geschieht es
gewiß nicht weil ich ihn nicht kenne. Ich weiß, daß er, mit
aller abgezirkelten Formalität seiner ganzen Person, welche ein
lebendiger Inbegriff aller Gesetze, Ordonnanzen, alten Gewohnheiten
und neuen Mißbräuche meines Reichs ist, im Grunde doch
nur ein Intriguenmacher, ein falscher, unruhiger, unersättlicher,
rachgieriger Bube, und ein heimlicher Feind aller Leute ist, von
denen ihm sein Instinct sagt, daß sie mehr werth sind als er.
Ueberdieß weiß ich, daß er sich von einem schelmischen kleinen
Fakir regieren läßt, der ihm weiß gemacht hat, er besitze ein
Geheimniß, ihn sicher über die Brücke, die nicht breiter ist als
die Schärfe eines Scheermessers, hinüberzubringen. Aber wenn
er noch zehnmal schlimmer wäre als er ist, so müßt' ich ihm um
der Gabe willen hold seyn, die er hat, auf jede Frage, so unerwartet
und unbequem sie ihm seyn mag, eine Antwort aus
dem Aermel zu schütteln, die er euch mit einer so unverschämten
Ernsthaftigkeit für gut gibt, daß man, gern oder nicht, damit
zufrieden seyn muß. —Aber wir vergessen, dem König Dagobert
und meinem Kanzler zu Gefallen, den armen König von Scheschian,
und das ist nicht billig. Der gute Mann dauert mich;
wiewohl es in der That seine eigene Schuld ist, wenn ihm seine
Leute wie die Frösche dem König Klotz mitspielen. Wie konnt'
es ihm einfallen, auf solche Bedingungen König zu seyn?Ihre Hoheit, sagte Nurmahal, werden ihm diesen Einfall
vielleicht zu gute halten, wenn sie bedenken, daß die Nation
einen König haben wollte, und daß es, alles überlegt, doch immer
besser ist, dieser König selbst zu seyn, als es einem andern zu
überlassen. Er konnte doch immer mit einiger Wahrscheinlichkeit
hoffen, daß es ihm an Gelegenheit nicht fehlen würde, sein
Ansehen, so eingeschränkt es anfangs war, zu befestigen und
zu erweitern. Zudem war er ein Mann von mehr als gemeiner
Fähigkeit, sein eigenes Fürstenthum war eines der beträchtlichsten,
und an der Spitze der Partei, die ihn auf den Thron erhob,
konnt' er sich schmeicheln alles zu vermögen."Und dennoch schmeichelte er sich zu viel?"Wie hätt' es anders gehen können? versetzte die Sultanin.
Seine Anhänger erwarteten mehr Belohnungen als er geben
konnte. Ihre Forderungen hatten keine Gränzen. Er hielt sich
für berechtigt, Dienste und Unterwürfigkeit von denjenigen zu
erwarten, die ihn zum Könige gemacht hatten; und eben darum,
weil sie ihn zum Könige gemacht hatten, glaubten sie daß er
ihnen alles schuldig sei. Eine solche Verschiedenheit der Meinungen
mußte Folgen haben, die den König und das Volk gleich
unglücklich machten. Da er die einmal übernommene Rolle
gut spielen wollte, so mußt' er nothwendig mit seinen Rajas
zerfallen, die ihn lieber eine jede andere spielen gesehen hätten
als die Rolle eines Königs. Seine ganze Regierung war unruhig,
schwankend und voller Verwirrung. Aber unter seinen
Nachfolgern ging es noch schlimmer. Jeder neue Vortheil, den
die Rajas über ihre Könige erhielten, erhöhete ihren Uebermuth,
und vermehrte ihre Forderungen. Unter dem Vorwand, ihre
Freiheit (ein Ding, wovon sie niemals einen bestimmten Begriff
gehabt zu haben scheinen) und die Rechte der Nation (welche
niemals ins Klare gesetzt worden waren) gegen willkürliche
Anmaßungen sicher zu stellen, wurde das königliche Ansehen
nach und nach so eingeschränkt, daß es, wie die Fabel von einer
gewissen Nymphe sagt, allgemach zu einem bloßen Schatten abzehrte —— Hier gähnte der Sultan zum erstenmale —— Bis endlich selbst von diesem Schatten nichts als eine
leere Stimme übrig blieb, welche gerade noch so viel Kraft hatte,
nachzuhallen was ihr zugerufen wurde.Scheschian befand sich, so lange diese Periode dauerte, in
einem höchst elenden Zustande. Von mehr als dreihundert
kleinern und größern Bezirken, deren jeder seinen eigenen
Herrn hatte, sah der größte Theil einem Lande gleich, das kürzlich
von Hunger, Krieg, Pest und Wassersnoth verwüstet worden
war. Die Natur hatte da nichts von der lachenden Gestalt,
nichts von der reizenden Mannichfaltigkeit und dem einladenden
Ansehen von Ueberfluß und Glückseligkeit, womit sie die
Sinnen und das Herz in jedem Lande einnimmt, welches von
einem weisen Fürsten väterlich regiert wird.Hier klärte sich die Miene des Sultans auf einmal wieder
auf. Er dachte an seine Luftschlösser, an seine Zaubergärten, an die
schönen Gegenden, die er darin auf allen Seiten vor sich liegen
hatte, an die mosaisch eingelegten, und mit doppelten Reihen
von Citronenbäumen besetzten Wege, die ihn dahin führten;
und genoß etliche Augenblicke lang die Wollust der vollkommensten
Zufriedenheit mit sich selbst.Das war es nicht, was die beiden Omras wollten, daß
er dabei denken sollte! — Weiter, Nurmahal, sprach der vergnügte
Sultan.Allenthalben wurden die Augen eines Reisenden, der nicht
ohne alles Gefühl für den Zustand seiner Nebengeschöpfe war,
durch traurige Bilder des Mangels und der unbarmherzigsten
Unterdrückung beleidigt.Die kleinen Tyrannen, denen der König von Scheschian
neunzehn von zwanzig Theilen seiner Unterthanen Preis zu
geben genöthigt war, hatten in Absicht der Verwaltung ihrer
Ländereien eine Denkungsart, die derjenigen von gewissen
Wilden glich, von denen man sagt, daß sie, um der Frucht eines
Baumes habhaft zu werden, kein bequemeres Mittel kennen,
als den Baum umzufällen. Ihr erster Grundsatz schien zu
seyn, den gegenwärtigen Augenblick zum Vortheil ihrer ausschweifenden
Lüste auszunützen, ohne sich darum zu bekümmern,
was die natürlichen Folgen davon seyn möchten. Diese Herren
fanden nicht das Geringste weder in ihrem Kopfe noch in ihrem
Herzen, das der armen Menschheit bei ihnen das Wort geredet
hätte. In ihren Augen hatte das Volk keine Rechte, und der
Fürst keine Pflichten. Sie behandelten es als einen Haufen
belebter Maschinen, welche, so wie die übrigen Thiere, von der
Natur hervorgetrieben worden wären, für sie zu arbeiten, und
die keinen Anspruch an Ruhe, Gemächlichkeit und Vergnügen
zu machen hätten. So schwer es ist, sich die Möglichkeit einer
so unnatürlichen Denkungsart vorzustellen, so ist doch nichts
gewisser, als daß sie es dahin gebracht hatten, sich selbst als eine
Classe von höhern Wesen anzusehen, die, gleich den Göttern
Epikurs, kein Blut sondern nur gleichsam ein Blut in den
Adern rinnen hätten; denen die Natur zu willkürlichem Gebote
stehe; denen alles erlaubt sey, und an welche niemand etwas
zu fordern habe. Die Knechtschaft der Unglücklichen, die unter
ihrem Joche schmachteten, ging so weit, daß sie jeden Fall, wo
man ihnen durch eine besondere Ausnahme die allgemeinsten
Rechte der Menschheit angedeihen ließ, als eine unverdiente
Gnade ansehen mußten. Die Folgen einer so widersinnigen Verfassung
stellen sich von selbst dar. Eine allgemeine Muthlosigkeit
machten nach und nach alle Triebräder der Vervollkommnung
stille stehen; der Genie wurde im Keim erstickt, der Fleiß abgeschreckt,
und die Stelle der Leidenschaften, durch deren beseelenden
Hauch die Natur den Menschen entwickelt, und zum
Werkzeug ihrer großen Absichten macht, nahm fressender Gram
und betäubende Verzweiflung ein. Sklaven, welche keine Hoffnung
haben, anders als durch irgend einen seltnen Zufall, der
unter zehntausend kaum Einen trifft, sich aus ihrem Elend
empor zu winden, arbeiten nur insofern sie gezwungen werden,
und können nicht gezwungen werden irgend etwas gut zu machen.
Sie verlieren alles Gefühl der Würdigkeit ihrer Natur, alles
Gefühl des Edeln und Schönen, alles Bewußtseyn ihrer angebornen
Rechte —— Der Sultan gähnte hier zum zweitenmale —— und sinken in ihren Empfindungen und Sitten zu
dem Vieh herab, mit welchem sie genöthiget sind den nämlichen
Stall einzunehmen; ja, bei der Unmöglichkeit eines
bessern Zustandes, verlieren sie endlich selbst den Begriff eines
solchen Zustandes, und halten die Glückseligkeit für ein geheimnisvolles
Vorrecht der Götter und ihrer Herren, an
welches den mindesten Anspruch zu machen Gottlosigkeit und
Hochverrath wäre.Dieß war die tiefe Stufe von Abwürdigung und Elend,
auf welche die armen Bewohner von Scheschian herabgedrückt
wurden. Eine allgemeine Verwilderung würde sie in kurzem
wieder in den nämlichen Stand versetzt haben, aus welchem
der große Affe, ihrem angeerbten Wahn zufolge, ihre Stammeltern
gezogen hatte: in einen Stand, worin sie sich wenigstens
mit der Unmöglichkeit noch tiefer zu sinken, hätten trösten
können; wenn nicht eine unvermuthete Staatsveränderung —Hier machte der Mirza die schöne Nurmahal bemerken,
daß der Sultan unter den letzten Perioden dieser Vorlesung
eingeschlafen war.—————
2.Der Sultan hatte in vielen Wochen nicht so gut geschlafen
als auf die erste Vorlesung, womit er von der Sultanin
Nurmahal in der letzten Nacht unterhalten worden war:
und hätte der Page, der ihn zum Morgengebet zu wecken
pflegte, seine Zeit nicht so übel genommen, ihn mitten in
einem Traume von dem König Dagobert, dessen Ausgang zu
sehen er begierig war, zu unterbrechen; so würde Seine Hoheit
den ganzen Tag über bei der besten Laune von der Welt gewesen
seyn.Die schöne Nurmahal ermangelte also nicht, sich in der
folgenden Nacht zur gewöhnlichen Zeit wieder einzufinden, um
die zweite Probe mit ihrem Opiat zu machen, welches zum
ersten Male so wohl angeschlagen, und dabei den Vorzug hatte,
das unschädlichste unter allen zu seyn, die man hätte gebrauchen
können.Wir merken hier ein- für allemal an, daß diese Dame,
welche vermuthlich die Geschichte von Scheschian schon in ihrem
eigenen Cabinette gelesen hatte, und, wie man uns versichert,
eine Frau von Geist, Belesenheit und Einsicht war, sich im
Lesen nicht so genau an den Text gebunden hielt, um nicht
zuweilen die Erzählung abzukürzen, oder mit ihren eigenen
Reflexionen zu bereichern, oder sonst irgend eine Veränderung
im Schwung oder Ton derselben vorzunehmen, je nachdem ihr
die gegenwärtige Verfassung und Laune des Sultans den Wink
dazu gab. Man erwarte also, daß sie bald in ihrer eigenen
Person sprechen, bald ihren Autor reden lassen wird, ohne
daß wir nöthig finden, jedesmal besondere Anzeige zu thun,
wer die redende Person sey; ein Umstand, woran dem Leser
wenig gelegen ist, und den wir seiner eigenen Scharfsinnigkeit
ruhig überlassen können.Ihre Hoheit, fing sie an, erinnern sich des Zustandes,
worin wir die Scheschianer gestern verlassen haben. Er war so
verzweifelt, daß sie nur von einer Staatsveränderung einige
Erleichterung ihres Elends erwarten konnten. Die Gelegenheit
dazu konnte nicht lange ausbleiben. Ogul, der Kan einer
benachbarten Tatarischen Völkerschaft, ersah sich des Augenblicks,
da einige Fürsten aus wenig erheblichen Ursachen den
damaligen König vom Throne gestoßen hatten, und über die
Erwählung eines neuen sich unter sich selbst und mit den übrigen
so wenig vergleichen konnten, daß endlich beinahe so viel
Könige, als Scheschian Provinzen hatte, aufgeworfen wurden.
Da keiner von diesen Nebenbuhlern den andern neben sich dulden
wollte, so erfuhr dieses unglückliche Reich alle Drangsale
und Gräuel der Anarchie und Tyrannie zu gleicher Zeit: die
eine Hälfte der Nation wurde aufgerieben, und die andere
dahin gebracht, einen jeden, der sie, auf welche Art es auch
seyn möchte, von ihren Unterdrückern befreien wollte, für
ihren Schutzgott anzusehen. Viele, welche alles hoffen konnten,
weil sie nichts mehr zu verlieren hatten, schlugen sich auf die
Seite des Eroberers. Die minder mächtigen Rajas und
Großen des Reichs folgten ihrem Beispiel, und die übrigen
wurden um so leichter überwältiget, da ihre Uneinigkeit sie
verhinderte, mit Nachdruck gegen den gemeinschaftlichen Feind
zu arbeiten. Ogul-Kan wurde also in kurzer Zeit ruhiger
Besitzer des Scheschianischen Reiches. Das Volk, welches in
mehr als Einer Betrachtung bei dieser Staatsveränderung gewann,
dachte nicht daran, und konnte nicht daran denken,
seinem Befreier Bedingungen vorzuschreiben. Die ehmaligen
Großen, welche daran dachten, waren nicht mehr die Leute,
die sich eine solche Freiheit mit ihrem Ueberwinder hätten herausnehmen
dürfen, und mußten sich gefallen lassen, selbst das
Wenige, was ihnen von ihrer verlornen Größe gelassen wurde,
als eine Gnade aus seinen Händen zu empfangen. Die Verfassung
des neuen Reichs von Scheschian war also diejenige
einer unumschränkten Monarchie; das ist, das Reich hatte gar
keine Verfassung, sondern alles hing von der Willkür des Eroberers
ab, oder von dem Grade von Weisheit oder Thorheit,
Güte oder Verkehrtheit, Billigkeit oder Unbilligkeit, wozu
ihn Temperament, Umstände, Laune und Zufall von Tag zu
Tage bestimmen mochten.Zum Glücke für die Ueberwundnen war der König Ogul,
wie die meisten Tatarischen Eroberer, eine ganz gute Art von
Fürsten —Wenn es geschehen könnte ohne Sie zu unterbrechen, Madame,
sagte Schach-Gebal, so mochte ich wohl wissen, was
Sie mit Ihrer ganz guten Art von Fürsten sagen wollen?Sire, erwiederte die schöne Nurmahal, ich gestehe, daß
nichts Unbestimmteres ist als dieser Ausdruck. Das, was
man gewöhnlich eine ganze gute Art von Fürsten zu nennen
pflegt, dürfte wohl öfters eine sehr schlimme Art von Fürsten
seyn, aber so war es nicht in gegenwärtigem Falle. Ogul-Kan
hatte zwar einige beträchtliche Untugenden. Er war so
eifersüchtig auf seine willkürliche Gewalt, daß man gar leicht
das Unglück haben konnte ihn zu beleidigen; beleidigt war er
rachgierig, und in seiner Rache grausam. Außerdem hatte er
die schlimme Gewohnheit, alle schönen Frauen als sein Eigenthum
anzusehen; und, wenn er den Wein weniger geliebt
hätte, würde ihm sogar der berühmte Sultan Salomon in
diesem Stücke haben weichen müssen. Aber diese Fehler —Es sind sehr wesentliche Fehler, sagte Schach-Gebal —Ohne Zweifel, Sire, versetzte Nurmahal: aber wenige
Völker und Zeiten sind so glücklich, mit einem Fürsten beseligt
zu werden, an welchem selbst seine Fehler liebenswürdig
sind; wenn man anders Fehler nennen kann, was allein in
dem Uebermaß gewisser Vollkommenheiten seine Quelle hat —Kleine Schmeichlerin! sagte Schach-Gebal, indem er sie
sanft auf einen ihrer Arme klopfte, dessen schöne Form ihre
weiten zurückgeschlagenen Aermel sehen ließen; ein kleiner
Umstand, der die beste Vorlesung am Bette seiner Hoheit
hätte unnütz machen können, wenn Zeit und Gewohnheit
unsern Sultan nicht zu einem der vollkommensten Stoiker über
diesen Punkt gemacht hätten.Diese Fehler also (fuhr Nurmahal fort) wurden durch
einige sehr wichtige Tugenden vergütet. Ogul-Kan ließ sich
die Geschäfte der Regierung sehr angelegen seyn; er brachte
den Ackerbau in Ausnahme, stellte die zerstörten Städte wieder
her, legte neue an, lockte aus benachbarten Staaten die Künste
in die seinigen, suchte Talente und Verdienste auf, um sie zu
belohnen und Gebrauch von ihnen zu machen, ehrte die Tugend,
und konnte es zu gewissen Zeiten wohl leiden, wenn
man ihm die Wahrheit sagte.Diese letzte Eigenschaft versöhnt mich wieder mit euerm
Ogul, sagte der Sultan lächelnd. Wenn er den Wein weniger
geliebt hätte, so möchte er einen Platz unter den großen Männern
seiner Zeit verdient haben.Ogul-Kan besaß bei allen diesen guten Eigenschaften noch
eine, die unter den gehörigen Einschränkungen einem Fürsten
viel Ehre macht, wofern er unglücklich genug ist, ihrer vonnöthen
zu haben. Es begegnete ihm in den Aufwallungen
seiner Leidenschaften ziemlich oft, ungerecht und grausam zu
seyn: aber sobald das Uebel geschehen war, kam er wieder
zu sich selbst, und dann pflegte er sein Haupt nicht eher sanft
zu legen, bis er demjenigen, der dadurch gelitten, alle nur mögliche
Erstattung gethan hatte.Zum Exempel, wie pflegten es wohl Seine Majestät Ogul-Kan
zu halten, wenn Sie einem etwa ohne Ursache den Kopf
hatten abschlagen lassen? — fragte Danischmend. Besaßen
Sie vielleicht das Geheimniß der magischen Mundkügelchen,
womit der Prinz Telamir seinem Bruder und der schönen
Dely ihre Köpfe wieder aufsetzte. als er sie ihnen aus einem
Irrthum der Eifersucht abgeschlagen hatte?Wie begierig der Doctor nach diesem Anlaß schnappt, seine
Belesenheit in den Geistermährchen zu zeigen! flüsterte der
junge Mirza dem Sultan zu.Danischmend, sagte der Sultan, hat den kleinen Fehler,
die Freiheit unverschämt zu seyn, die ihm als einem Philosophen
zusteht, zuweilen zu mißbrauchen. Man muß es mit
diesen Herren so genau nicht nehmen. Aber meinen Freund
Ogul soll er ungehudelt lassen, wenn anders ein Philosoph eines
guten Rathes fähig ist.Mit Einem Worte fuhr Nurmahal fort, Ogul war bei
allen seinen Fehlern ein so ruhmwürdiger Fürst, daß selbst die
damaligen Bonzen in Scheschian in die Wette eiferten, Gutes
von ihm zu sagen. "Nichts mangelte ihm, um der beste unter
den Königen zu seyn, sagten sie, als daß er, aller Hoffnung ungeachtet,
die wir uns von ihm zu machen Ursache hatten, aus
der weir gegangen ist, ohne jemals dem großen Affen ein
Opfer gebracht zu haben."Wissen Sie auch, meine schöne Sultanin, sagte Schach-Gebal,
daß es nicht mehr bedarf, als was Sie uns eben zu
melden belieben, um Ihren Ogul auf die unwiederbringlichste
Weise mit mir zu veruneinigten? Beim Barte des Propheten!
der König, von welchem seine Bonzen in die Wette Gutes
reden, muß — ich mag nicht sagen was er seyn muß. Gehen
Sie, gehen Sie, Nurmahal, nichts mehr von Ihrem Ogul!
Er muß eine schwache, einfältige, leichtgläubige, hasenherzige
Seele gewesen seyn; das ist so klar wie der Tag. Seine
Bonzen haben ihn gelobt! Welche Demonstration im Euklides
beweist schärfer?Wenn es der Philosophie jemals erlaubt seyn könnte,
sagte Danischmend mit affectirtem Stottern; dem Könige der
Könige, meinem Herrn —Nun, Doctor, unterbrach ihn der Sultan, lass' hören, was
du uns im Namen deiner gebietenden Dame zu sagen hast.
Ich bin auf eine Impertinenz gefaßt. Nur heraus, aber nicht
gestottert, Herr Danischmend; oder ich klingle —Der beste Sultan bleibt doch immer Sultan, wie man
sieht. Diese Drohung, mit einer gewissen Miene begleitet,
welche wenigstens besorgen ließ, daß er fähig seyn könnte Ernst
daraus zu machen, war nicht sehr geschickt, dem armen Danischmend
Muth zu geben. Allein zu seinem Glück kannte er den
Sultan seinen Herrn. Ohne sich also schrecken zu lassen, sagte
er: die Philosophie, Sire, ist eine Unverschämte, wie Ihre
Hoheit zu sagen geruhet haben; denn sie bedenkt sich keinen
Augenblick, den Königen selbst Unrecht zu geben, wenn die
Könige Unrecht haben. Aber in gegenwärtigem Fall ist meine
demüthige Meinung, Ihre Hoheit und die Philosophie könnten
wohl beide Recht haben. Das Lob der Bonzen, welches in
Ihren Augen der größte Tadel ist, den sich Ogul zuziehen
konnte, war es unstreitig, wenn es von Herzen ging. Aber
dieß ist gerade die Frage; oder vielmehr, es ist keine Frage:
denn wie konnte es von Herzen gehen, da sie alles Gute,
was sie von ihm sagten, mit einem einzigen Aber wieder zurücknahmen?
Was halfen dem guten König Ogul alle seine Tugenden?
Ging er nicht aus der Welt, ohne dem großen Affen
geopfert zu haben? Ihre Hoheit kennen diese Herren zu gut,
um den ganzen Nachdruck eines solchen Vorwurfs nicht zu übersehen.Du gestehst also doch ein, erwiederte der Sultan, daß sie
ihn bis zum Himmel erhoben haben würden, wenn er sich
hätte entschließen können, den großen Affen zu opfern?Mit Ihrer Hoheit Erlaubniß, sagte Danischmend, das
gesteh' ich nicht ein. In diesem Falle würden sie leicht einen
andern Vorwand gefunden haben, ihr heuchlerisches Lob zu
entkräften. Ihre Hoheit wissen, daß es nur ein einziges Mittel
gibt, den aufrichtigen Beifall der Bonzen zu erlangen; und
Ogul (mit aller Ehrerbietung, die ich ihm schuldig bin, sey
es gesagt) scheint mir derjenige nicht zu seyn, den jemals der
Ehrgeiz geplagt hätte, eine so theure Waare zu kaufen.Wie, wenn ich meinen Iman kommen ließe, die Frage zu
entscheiden? sagte der Sultan.Sein Ausspruch läßt sich errathen, ohne daß man darum
mehr von der Kabbala zu verstehen nöthig hat als andre, versetzte
Danischmend. Er würde wider die Bonzen sprechen.
Wie sollten Bonzen bei einem Iman Recht haben können?Ich denke, Danischmend hat sich ganz erträglich aus der
Sache gezogen, sagte Schach-Gebal.Ihre Hoheit beweisen durch Ihre Abneigung vor den Bonzen,
daß Sie ein guter Muselmann sind, sprach die schöne
Nurmahal. Aber der Geschichte getreu zu bleiben, muß ich
sagen, daß die Bonzen, wenn sie Gutes von Ogul-Kan sprachen
hinlängliche Ursache dazu hatten. Es ist wahr, dieser Prinz
betrog eine vielleicht ausschweifende Hoffnung, die sie auf etwas
gegründet hatten, was vernünftigerweise keine Grundlage zu
einer solchen Hoffnung seyn konnte, "weil es bloß die Frucht
weiser Grundsätze der Regierung war." Aber die Achtung, die
er, diesen Grundsätzen zufolge, ihrem Orden bewies; der Schutz,
den sie von ihm genossen; und die behutsame Art. womit er in
allen Sachen zu verfahren pflegte, die den unvernünftigen aber
nun einmal eingeführten Dienst des großen Affen betrafen; —
berechtigten ihn allerdings, wo nicht zur Erkenntlichkeit, doch
wenigstens zu einigem Grade von Billigkeit auf Seite der Bonzen.
Und gesetzt auch, man wollte ihnen diese Tugenden nicht
gern ohne Beweis zugestehen: so ist doch zu vermuthen, daß sie
Klugheit genug hatten, aus Furcht zu thun, was gewöhnliche
Menschen aus einem edlern Beweggrunde gethan hätten.Unter dieser Rede der schönen Nurmahal entfuhr dem
Sultan ein Ton, der ein Mittelding zwischen Seufzen und
Gähnen war. Der Emir gab der Dame das abgeredete Zeichen,
und sie war im Begriff abzubrechen, als Schach-Gebal, der gerade
bei guter Laune war, durch einen Wink zu erkennen gab,
daß er ihrer Erzählung noch nicht überdrüssig sey.Ogul-Kan, fuhr sie fort, hatte etliche Nachfolger, welche
über die Schaubühne gingen, und wieder verschwanden, ohne
irgend etwas so Gutes oder so Böses gethan zu haben, daß es
die Aufmerksamkeit der Nachwelt zu verdienen schien. Man
nannte sie deßwegen in den Jahrbüchern von Scheschian die
namenlosen Könige; denn die Nation bekam so wenig Gelegenheit
ihre Namen zu hören, daß die wenigsten sagen konnten,
wie der regierende Sultan heiße. Wenn dieser Umstand der
Nachwelt einen nur sehr mittelmäßigen Begriff von den Verdiensten
dieser Prinzen gibt: so muß man doch gestehen, daß
ihre Zeitgenossen sich vielleicht nicht desto schlimmer dabei befanden.
Das Stillschweigen der Geschichte scheint wenigstens so
viel zu beweisen, daß Scheschian unter ihrer unberühmten Regierung
nicht unglücklich war; und nicht unglücklich seyn, ist wenigstens
ein sehr leidlicher Zustand —Nur kann er nicht lange dauern, sagte Danischmend: denn
dieser leidliche Zustand scheint mir bei einem ganzen Volke
eben das zu seyn, was bei einem einzelnen Menschen der
Mittelstand zwischen Krankheit und Gesundheit ist; eines von
beiden muß darauf erfolgen: entweder man wird wieder gesund,
oder man schmachtet sich zu Tode.Vielleicht würde dieß der Fall der Scheschianer gewesen
seyn, fuhr Nurmahal fort, wenn der letzte von diesen namenlosen
Königen nicht das Glück gehabt hätte, eine Geliebte zu
besitzen, durch welche seine Regierung eine der merkwürdigsten
und glänzendsten in der Geschichte dieses Reiches geworden ist.Vortrefflich! rief Schach-Gebal mit einer Grimasse: ich
liebe die Könige, welche die Erwähnung, so die Geschichte von
ihnen thut, ihren Maitressen zu danken haben!Ich muß nicht vergessen, Sire, sagte die schöne Nurmahal,
daß die Scheschianer in diesem Stück eine Gewohnheit haben,
worin sie, so viel ich weiß, von allen übrigen Völkern des Erdbodens
abgehen; eine Gewohnheit, welche die Zahl der namenlosen
Könige bei allen Nationen beträchtlich vermehren würde,
wenn sie allenthalben eingeführt wäre. Nichts, was unter der
Regierung eines Königs geschah, wurde dem Könige zugeschrieben,
wofern er es nicht selbst gethan hatte. Vortreffliche Gesetze
und Anstalten konnten gemacht, Schlachten gewonnen,
Provinzen erobert, oder (was wenigstens eben so gut ist) erhalten
und verbessert werden; ohne daß der Ruhm des Königs
den kleinsten Zuwachs dadurch erhielt. Alles was geschah,
Gutes oder Böses, wurde demjenigen zugeschrieben, der es gethan
hatte; und der König, der nichts gethan hatte, war und
blieb ein namenloser König, gesetzt auch, daß zu seiner Zeit die
größten Dinge in seinem Reiche geschehen wären.Nichts kann billiger seyn, sagte der Sultan. Jedem das
Seine! Einem Fürsten das Gute zuschreiben, das seine Minister
thun (ich nehme den Fall aus, wo sie bloß die Werkzeuge,
oder so zu sagen die Gliedmaßen sind, durch welche er, als die
Seele des ganzen Staatskörpers, wirket), wäre eben so viel,
als ihm ein Verdienst aus der Fruchtbarkeit seiner Länder zu
machen, weil er die Sonne scheinen und Regen fallen läßt.Nurmahal, Danischmend und der junge Mirza ertheilten
dieser Anmerkung ihren Beifall in vollem Maße, und mit aller
der Bewunderung, welche sie um so mehr verdiente, da sie
wirklich uneigennütziger war, als Schach-Gebal selbst sich vielleicht
schmeicheln mochte.Der gute König von Scheschian, fuhr Nurmahal in ihrer
Erzählung fort, der zu dieser in dem Munde eines großen
Monarchen so preiswürdigen Anmerkung Gelegenheit gegeben
hat, was auch sein Name gewesen seyn mag, verdient wenigstens
das Lob eines guten Geschmacks in der Wahl seiner
Günstlinge; denn die schöne Lili, seine Favoritin, war aus
allem, was eine Person unsers Geschlecht liebenswürdig machen
kann, zusammengesetzt. Und sollten ihr auch die Dichter,
Maler, Bildhauer und Schaumünzenmacher ihrer Zeit geschmeichelt
haben, so ist doch nicht zu läugnen, daß die Nation
Ursache hatte, ihr Andenken zu segnen. Niemals ist eine
größere Gönnerin der Künste gewesen, als die schöne Lili.
Sie führte den Seidenbau in Scheschian ein, und zog eine
Menge Persischer, Sinesischer und Indischer Künstler herbei,
welche durch ihren Vorschub alle Arten von Manufacturen zu
Stande brachten. Die Scheschianer lernten unter ihrer Regierung —
dieß ist der eigene Ausdruck der Geschichtschreiber —
Bequemlichkeiten und Wollüste kennen, von welchen die meisten
noch keinen Begriff gehabt hatten. Man glaubte ihr den Genuß
eines neuen und unendlichemal angenehmern Daseyns
zu danken zu haben. Sie brachte die Schätze in einen belebenden
Umlauf, die in den Schatzkammern der vorigen Könige,
wie die Leichen der Pharaonen in ihren Pyramiden, auf eine
unnützlich prahlerhafte Weise begraben lagen. Ihr Beispiel
reizte die Großen und Begüterten zur Nachahmung. Die
Hauptstadt bildete sich nach dem Hofe, und die Städte der
Provinzen nach der Hauptstadt. Erfindsamkeit und Fleiß bestrebten
sich in die Wette, den ganzen Staat in eine so lebhafte
als heilsame Thätigkeit zu setzen; denn Erfindsamkeit und
Fleiß war der gerade Weg zu Ueberfluß und Gemächlichkeit,
und wer wünscht nicht so angenehm zu leben als möglich? Die
wohlthätige Lili machte die Einwohner von Scheschian auch mit
den Reizungen der Musik und der Schauspiele bekannt; und
so nachtheilig in der Folge als diese Geschenke ihrem Wohlstande
wurden, so unläugbar ist es, daß sie Anfangs eine sehr
gute Wirkung thaten. So wie sich das Gefühl der Scheschianer
verfeinerte, so verschönerten sich auch zusehends ihre Sitten.
Man wurde geselliger, sanfter, geschmeidiger, man vertrug sich
besser, man lernte sich mit einander freuen, und fühlte sich
selbst desto glücklicher, je größer die Menge der Glücklichen
war, die man um sich sah, und so weiter; — denn es würde
sehr unnöthig seyn, Ihrer Hoheit alle die guten Wirkungen
des Geschmacks und der Künste vorzuzählen, von welchen Sie
selbst ein so großer Kenner und Beförderer sind. Freilich gab
es hier und da milzsüchtige, zur Freude untüchtig gewordne
Leute, die ein klägliches Geschrei über diese Neuerungen erhoben.
Welche Gräuel! riefen sie, indem sie ihre übel gekämmten
Köpfe mit Unglück weissagender Miene schüttelten. Was
werden die Früchte davon seyn? Diese Liebe zu Gemächlichkeiten
und Ergötzungen, dieser verfeinerte Geschmack, dieser
herrschende Hang zur Sinnlichkeit, wird die Nation zu Grunde
richten. Ueppige Feiertage werden den Gewinn der arbeitsamen
Tage, üppiger Aufwand den Ueberfluß der sparsamen
Mäßigkeit verzehren:: die Wollust wird den Müßiggang, der
Müßiggang die ganze verderbliche Brut der Laster herbeiziehen.
Die Reichen werden unersättlich werden, und bei aller Verfeinerung
ihrer Empfindungen sich kein Bedenken machen, von
dem Eigenthume der Armen, so viel sie nur können, in ihren
Strudel hineinzuziehen. Die Armen werden eben so wenig
gewissenhaft seyn, alles, so ungerecht und schändlich es immer
seyn mag, zu thun und zu leiden, wenn es nur ein Mittel
abgeben kann, sich in den beneideten Zustand der Reichen zu
schwingen. Ungeheuer von Lastern, unnatürliche Ausschweifungen,
Verrätherei, Giftmischerei und Vatermord werden
durch ihre Gewöhnlichkeit endlich das Abscheuliche verlieren,
das sie für die unverdorbene Menschheit haben; und nicht eher,
als bis die Nation unwiederbringlich verloren ist, wird man
gewahr werden, daß die schöne Lili die zauberische und geliebte
Urheberin unsers Verderbens war.Einige alte Leute, die im Laufe von sechzig oder siebzig
Jahren weislich genug gelebt hatten, um im Aller noch nicht
allem Antheil an den Freuden des Lebens entsagen zu müssen,
sahen die Sache aus einem andern Gesichtspunkt an. — Unsere
milzsüchtigen und nervenlosen Brüder haben nicht ganz
Unrecht, sagten sie: Ergötzungen und Wollüste können, als die
Würze des Lebens, durch übermäßigen Gebrauch nicht anders
als schädlich seyn. Die Natur hat sie zur Belohnung der Arbeit,
nicht zur Beschäftigung des Müßiggangs bestimmt. Gleichwohl
ist unläugbar, daß nicht die schone Lili, sondern die Natur
selbst, die Zaubrerin ist, die uns diesen göttlichen Nektar
darreicht, den sie mit eignen Händen für uns zubereitet hat,
und wovon etliche Tropfen genug sind, uns aller Mühseligkeiten
des Lebens vergessen zu machen. Oder ist es nicht die
Natur, die den Menschen von einem Grade der Entwicklung
zum andern fortführt, und, indem sie durch die Bedürfnisse
seine Einbildungskraft und durch die Einbildungskraft seine
Leidenschaften spielen macht, diese vermehrte Geselligkeit, dieses
verfeinerte Gefühl, diese Erhöhung seiner empfindenden
und thätigen Kräfte hervorbringt, wodurch der Kreis seiner
Vergnügungen erweitert, und seine Fähigkeit, des Daseyns
froh zu werden, mit seinen Begierden zugleich vermehrt wird?
Laßt uns also der Natur folgen; einer Führerin, die uns unmöglich
irre führen kann. Nicht sie, —unsre Ungeduld, unsre
Gierigkeit im Genießen, unsre Unachtsamkeit auf ihre Warnungen,
ist es, was uns auf Abwege verleitet. Jede höhere
Stufe, welche der Mensch betritt, erfordert eine andere Lebensordnung;
und eben darum, weil der große Haufe der Sterblichen
als unmündig anzusehen ist, und sich nicht selbst zu
regieren weiß, muß er dieses Amt einer gesetzgebenden Macht
überlassen, welche immer das Ganze übersehen, und ihren
Untergebenen, mit jeder merklichen Veränderung ihrer Umstände,
auch die darnach abgemessenen Verhaltungsregeln vorschreiben
soll. Es lebe die schöne Lili! Sie hat sich ein Recht
an unsre Dankbarkeit erworben, denn sie hat uns Gutes gethan.
Aber wenn sie sich nun auch gefallen lassen wollte, uns
eine so vollkommne Polizei zu geben, als wir bedürfen, wenn
uns ihre Geschenke nicht verderblich werden sollen: dann verdiente
sie, wenigstens so gut als der große Affe, daß wir ihr
Pagoden erbaueten!"Die schöne Lilie hüpfte auf dem blumichten Wege fort, auf
den eine wollüstige Einbildungskraft sie geleitet hatte, ohne
sich um die Drohungen der einen, noch um die Warnungen
der andern zu bekümmern. Sie genoß des Vergnügens, der
Gegenstand der Liebe und Anbetung einer ganzen Nation zu
seyn. Umflattert von Freuden und Liebesgöttern, goß sie überall,
so weit ihre Blicke reichten, süßes Vergessen aller Sorgen,
Entzücken und Wonne aus. Hierin schien sie ihre eigene vollkommenste
Befriedigung zu finden. Aber ihre Wohlthätigkeit
erstreckte sich nur auf den gegenwärtigen Augenblick. Ihre
Sinnesart theilte sich unvermerkt der ganzen Nation mit,
welches um so leichter geschehen mußte, da keine andre dem
Menschen natürlicher ist. Man genoß des Lebens, und niemand
dachte an die Zukunft.Ich liebe diese Lili, rief der Sultan in einem Anstoß von
Lebhaftigkeit, den man seit langer Zeit nicht an ihm bemerkt
hatte. Ich muß bekannter mit ihr werden. Gute Nacht,
Mirza und Danischmend! Nurmahal soll da bleiben, und mir
das Bildniß der schönen Lili machen.—————
3.Unstreitig war Vernunft in der Schutzrede, welche die
alten Knaben dem Vergnügen und der schönen Liii hielten, —
sagte der Sultan, als sich seine gewöhnliche Gesellschaft des
folgenden Abends in seinem Schlafzimmer versammelt hatte.
Aber ich gestehe, daß ich nicht recht begreife, was sie mit ihrer
Lebensordnung sagen wollen, oder was für eine Polizei das
seyn soll, wodurch allen den Uebeln vorgebeuget werden konnte,
womit uns die schwarzgelben Sittenlehrer so fürchterlich bedräut
haben. Die Sache liegt mir am Herzen. Ich denke,
ich habe alles Mögliche gethan, um meine Völker glücklich zu
machen; aber es sollte mir leid thun, wenn ich ihnen, wider
meine gute Absicht, ein gefährliches Geschenk gemacht hätte.(Diesen Kummer könnten sich Ihre Majestät ersparen,
dachte Danischmend —so leise als möglich.)Herr Danischmend — fuhr Schach.Gebal fort — man ist
kein Philosoph um nichts! Wie wär' es, wenn deine Weisheit
uns diese Sache ins Klare zu setzen belieben wollte?Sire, antwortete Danischmend, meine Weisheit ist zu
Ihrer Majestät Befehlen. Aber zuförderst bitte ich demüthig
um Erlaubniß, eine kleine Geschichte erzählen zu dürfen.Schach-Gebal nickte ein sultanisches Ja, und der Philosoph
fing also an:"Zu den Zeiten des Kalifen Harun Al Raschid — —"Ei, Herr Doctor, unterbrach ihn der Sultan, das fängt
verdächtig an! Sobald man diesen Kalifen nennen hört, kann
man sich nur gleich auf Genien und Verwandlungen gefaßt
halten, oder auf platte Historien von kleinen Bucklichten, schwatzhaften
Barbieren, und liederlichen Königssöhnchen, welche, um
eine lange Reihe begangener Thorheiten mit einem würdigen
Ende zu krönen, sich die Augenbrauen abscheren und Kalender
werden.Ich gestehe Ihrer Hoheit mit meinen Augenbrauen dafür,
sagte Danischmend, daß weder Bucklichte noch Kalenderin meiner
Erzählung vorkommen, und daß alles so natürlich darin zugehen
soll, als man es nur wünschen kann."Zu den Zeiten des besagten Kalifen also begab sich, daß
ein reicher Emir aus Yemen auf seiner Rückreise von Damask
das Unglück hatte, in den Gebirgen des felsigen Arabiens von
Räubern überfallen zu werden, welche die Unhöflichkeit hatten,
sein Gefolge niederzusäbeln, und, nachdem sie die schönen
Frauen, die er zum Staate mit sich führte, nebst allen Kostbarkeiten,
die er bei sich hatte, zu Handen genommen, sich so
schnell, als sie gekommen waren, wieder ins Gebirge zurückzogen.
Glücklicher Weise für den Emir war er gleich zu Anfang
des Gefechtes in Ohnmacht gefallen, ein Umstand, der
so viel wirkte, daß die Räuber sich begnügten, ihm seine schönen
Kleider auszuziehen, und ihn, ohne sich zu bekümmern ob
er wirklich todt sey, unter den Erschlagenen liegen zu lassen."Herr Danischmend, sagte der Sultan, nicht so umständlich!
Zur Sache, wenn ich bitten darf. Der Ton, worin du angefangen
hast, ist vollkommen der Ton meiner lieben Aeltermutter,
welche bekanntermaßen ihre eigenen Ursachen hatte,
warum sie ihre Mährchen in eine so unbarmherzige Lange zog."Um also Ihre Majestät nicht mit Nebenumständen aufzuhalten,
fuhr Danischmend fort, so kam der gute Emir wieder
zu sich selbst, und stellte sehr unangenehme Betrachtungen
an, da er sich in einem wilden unbekannten Gebirge auf einmal
ohne Zelten, ohne Geräthe, ohne seine Weiber und Verschnittene,
ohne Küche, und sogar ohne Kleider befand; er der von
dem ersten Augenblicke seines Lebens, dessen er sich erinnern
konnte, an allen ersinnlichen Gemächlichkeiten niemals einigen
Mangel gelitten hatte. Da es zu besserem Verständniß dieser
Geschichte wesentlich ist, daß Ihre Majestät sich eine lebhafte
Vorstellung von diesem Zustande des Emirs machen, so muß
ich mir die Freiheit nehmen, Sie zu bitten, sich an seinen Platz
zu setzen, und zu denken, wie Ihnen in einer so verzweifelten
Lage zu Muthe wäre?Herr Danischmend, sagte der Sultan ganz trocken, ich
habe gute Lust, mir diese Mühe zu ersparen, und mir dafür
von dir erzählen zu lassen, wie einem Erzähler zu Muthe sey,
dem ich für die Bemühung, mich gähnen zu machen, dreihundert
Prügel auf die Fußsohlen geben lasse.Dieser Anstoß von sultanischer Laune däuchte der schönen
Nurmahal so unbillig, daß sie den Sultan bat, den armen
Doctor nicht durch Drohungen zu schrecken, welche fähig wären,
den besten Erzähler in der Welt aus der Fassung zu
bringen. Aber Danischmend kannte die Weise seines Herrn.
Alles, warum ich Ihre Majestät bitte, sagte er, ist, die
Gnade zu haben, und mir die versprochenen dreihundert Prügel
nicht eher geben zu lassen, bis ich mit meiner Geschichte
fertig seyn werde; denn, in der That, sie ist so übel nicht,
als man sich nach ihrem Anfange vorstellen sollte.Gut, sagte der Sultan lachend, so erzähle denn nach deiner
eigenen Weise: ich verspreche dir, daß ich dich nicht wieder
unterbrechen will.Danischmend stand auf, warf sich vor dem Sultan zur
Erde, küßte den Saum seiner Bettdecke, um seine Dankbarkeit
für dieses gnädige Versprechen zu bezeugen, und fuhr
hierauf in seiner Erzählung also fort:"Von allen diesen Betrachtungen des Emirs (welche zu
verworren und unangenehm waren, als daß es rathsam seyn
könnte, sie Ihrer Majestät vorzulegen) war das Ende, daß
er sich entschließen mußte, eine Sache zu thun, die ihm aus
Mangel der Gewohnheit sehr hart ankam, nämlich seine Beine
in Bewegung zu setzen, und zu versuchen, ob er irgend einen
Weg aus dieser Wildniß finden möchte. Die Sonne neigte
sich schon stark, als er endlich mit unbeschreiblicher Mühe einen
Ort erreichte, wo das Gebirge sich öffnete, und ihm die
Aussicht in ein Thal zu genießen gab, welches seine Einbildung
selbst sich nicht reizender hätte schaffen können. Der Anblick
einiger wohl gebauten Wohnungen, die zwischen den Bäumen
aus dem schönsten Grün hervorstachen, ermunterte ihn seine
letzten Kräfte zusammen zu raffen, um diese Wohnungen wo
möglich noch vor Untergang der Sonne zu erreichen. In der
That war der ganze Weg, den er schon zurückgelegt und den
er noch vor sich hatte, nicht um zehn Schritte mehr, als was
ein junger Landmann alle Tage Morgens und Abends ohne
Murren unternimmt, um seinem Mädchen einen Kuß zu geben;
aber für die schlaffen Sehnen und marklosen Knochen
des Emirs war dieß eine ungeheure Arbeit. Er mußte sich
so oft niedersetzen, um wieder zu Athem zu kommen, daß es
finstre Nacht wurde, eh' er die Pforte der nächsten Wohnung
erreichte, die einer Art von ländlichem Palast ähnlich sah, aber
nur von Holze gebaut war. Ein angenehmes Getöse, aus
Gesang, Saitenspiel und andern Zeichen der Fröhlichkeit vermischt,
welches ihm schon von ferne aus diesen Wohnungen
entgegen kam, vermehrte die Verwundrung, worin er war,
alles dieß mitten in dem ödesten Gebirge zu finden. Da er
keine andre Belesenheit als in Geistermährchen hatte, so war
sein erster Gedanke, ob nicht alles, was er sah und hörte,
ein Werk der Zauberei sey. So furchtsam ihn dieser Gedanke
machte, so überwog doch endlich das Gefühl seiner Noth. Er
klopfte an, und bat einen Hausgenossen, welcher herauskam
um zu sehen was es gäbe, mit einer so wunderlichen Mischung
von Stolz und Demuth um die Nachtherberge, daß man ihn
vermuthlich abgewiesen hätte, wenn die Gastfreiheit ein weniger
heiliges Gesetz bei den Bewohnern dieser Gegend gewesen
wäre. Der Emir wurde mit freundlicher Miene in einen
kleinen Saal geführt, wo man ihn ersuchte, sich auf einen
unscheinbaren aber sehr weich gepolsterten Sofa niederzulassen.
In wenigen Augenblicken erschienen zwei schöne Jünglinge,
um ihn in ein Bad zu führen, wo er mit ihrer Beihülfe
gewaschen, beräuchert, und mit einem netten Anzuge
von dem feinsten baumwollenen Zeuge bekleidet wurde. Damit
ihm die Weile nicht zu lang würde, trat ein niedliches
Mädchen, so schön als er jemals in seinem Hause gehabt
hatte, mit seiner Theorbe in der Hand herein, setzte sich ihm
gegenüber, und sang ein Lied, aus dessen Inhalt er so viel
abnehmen konnte, daß man über die Ankunft eines so angenehmen
Gastes sehr erfreut sey. Er wußte immer weniger,
was er von der Sache denken sollte; aber die Gestalt und die
Stimme der jungen Dirne, die er eher für eine Perise, oder
gar für eine von den Huris des Paradieses zu halten versucht
war, ließen ihm keine Zeit zu sich selbst zu kommen.
Beides, nebst der freundlichen Aufnahme, die ihm widerfuhr,
wirkte so stark auf seine Sinne, daß er unvermerkt aller Ursachen
zur Traurigkeit und alles erlittenen Ungemachs vergaß,
und, durch eine sanfte Gewalt fortgezogen, sich den Eindrücken
überließ, die man auf ihn machen wollte."Wenn dieß die weiseste Entschließung war, die er in
seinen Umständen nehmen konnte, so muß man auch gestehen,
daß er sich sehr wohl dabei befand. Kaum war er angekleidet,
so erschien derjenige wieder, der ihn zuerst aufgenommen hatte,
und winkte ihm, ohne ein Wort zu sprechen, ihm zu folgen.
Der Emir kam in einen großen mit Wachslichtern stark erleuchteten
Saal, aus welchem ihm, so wie die Thür sich aufthat,
der angenehmste Wohlgeruch von frischen Nelken und
Pomeranzenblüthen entgegen wehte. Viele niedrige Tafeln,
um welche rings herum ein wohl gepolsterter Sofa sich zog,
standen mit feinem schneeweißen Leinen gedeckt, welches mit
einem breiten Saume von zierlichem Stickwerk eingefaßt war.
Die Mitte des Saals wimmelte von jüngern und ältern Personen
beiderlei Geschlechtes, die ihn mit einem offnen gutherzigen
Gesicht empfingen, und ihn insgesammt durch die edle
Schönheit ihrer Gestalt und Bildung, und durch einen über
ihr ganzes Wesen ausgegossenen Ausdruck von Güte und Fröhlichkeit
in die angenehmste Ueberraschung setzten. In einer
Ecke stand ein schöner Brunnen, wo eine Nymphe, an einem
mit Jasmin bewachsenen Felsenstücke auf Moos liegend,
aus ihrer Urne krystallhelles Wasser in ein Becken von schwarzem
Marmor goß. Der ganze Saal war mit großen Blumenkränzen
behangen, die von etlichen jungen Mädchen von Zeit
zu Zeit mit frischem Wasser angespritzt wurden. Alles dieß
zusammen genommen machte einen sehr angenehmen Anblick;
aber es war nicht das Schönste, was sich seinen Augen in
diesem bezauberten Orte darstellte. Ein ehrwürdiger Greis,
mit silberweißen Haaren, lag, in der Stellung einer gesunden
und vergnüglichen Ruhe nach der Arbeit, auf dem obersten
Platze des Sofa; ein Greis, wie der gute Emir weder
jemals einen gesehen, noch für möglich gehalten hatte, daß
es einen solchen geben könnte. Munterkeit des Geistes glänzte
aus seinen noch lebhaften Augen; achtzig Jahre eines glücklichen
Lebens hatten nur schwache Furchen auf seiner heiter ausgebreiteten
Stirne gezogen; und die Farbe der Gesundheit
blühte gleich einer späten herbstlichen Rose noch auf seinen
freundlichen Wangen. Dieß ist unser Vater, sagten einige
junge Personen, die den Emir umgaben, indem sie ihn an
der Hand zum Sitze des Alten hinführten."Der Alte stand nicht auf, machte auch keine Bewegung,
als ob er aufstehen wollte; aber er reichte ihm die Hand,
drückte des Emirs seine mit einer Kraft, welche diesen in Erstaunen
setzte, und hieß ihn sehr leutselig in seinem Hause
willkommen seyn. Aber gleichwohl (sagt mein Autor) sey in
dem ersten Blicke, den der Greis auf den Emir geworfen habe,
unter dem leutseligen Ausdruck der gastfreien Menschenfreundlichkeit
etwas gemischt gewesen, welches den Fremden betroffen
gemacht habe, ohne daß er sich selbst habe erklären können
wie ihm sey. Der Alte hieß ihn Platz an seiner Seite
nehmen —"Ich habe versprochen, dich nicht zu unterbrechen, Doctor,
sagte der Sultan: aber ich möchte doch wissen, was in dem
Blicke des Alten gemischt seyn konnte, daß es eine solche
Wirkung auf den Emir machte?"Gnädigster Herr, versetzte Danischmend, ich muß Ihrer
Majestät bekennen, daß ich diese Geschichte aus einem neuern
Griechischen Dichter genommen habe, der vermuthlich, nach
der Weise seiner Zunftgenossen, etwas von dem Seinigen zur
Wahrheit hinzu thut, um seine Gemälde interessanter zu machen.
Es war ein freundlicher Blick, sagt er, aber mit einem
kleinen Zusatze von etwas, das weder Verachtung noch Mitleiden,
sondern eine sanfte Mischung von beiden war. Es
war, fährt er fort, der Blick, mit welchem ein Freund der
Kunst die gestümmelte Bildsäule eines Praxiteles ansieht, mit
etwas von dem zürnenden Verdruß untermischt, womit dieser
Liebhaber den Gothen ansehen würde, der sie gestümmelt
hätte."Das Bild ist sein, und gibt viel zu denken, sagte Nurmahal.
Weiter, Danischmend, sagte der Sultan."Inzwischen wurde das Abendessen aufgetragen, wobei der
Emir eine neue Erfahrung machte, die ihm, der so wenig
gewohnt war über irgend etwas zu denken, die unbegreiflichste
Sache von der Welt zu seyn däuchte. Allein, eh' ich mich
hierüber erklären kann, seh' ich mich genöthigt, eine kleine
Abschweifung über den Charakter dieses Emirs zu machen, der
eine Hauptfigur in meiner Erzählung vorstellt, wiewohl es in
der That nur die Rolle eines Zuschauers ist. Er war von
seiner Jugend an dasjenige gewesen, was man einen ausgemachten
Wollüstling nennt; ein Mensch, der keinen andern
Zweck seines Daseyns kannte, als zu essen, zu trinken, sich
mit seinen Weibern zu ergötzen, und von so mühsamen Arbeiten
sich durch eine Ruhe, welche ungefähr die Hälfte von
Tag und Nacht wegnahm, zu erholen, um zu der nämlichen
Beschäftigung wieder aufzuwachen. Mit dieser groben Sinnlichkeit
verband er einen gewissen Stolz, der sehr geschickt
war, die nachtheiligen Wirkungen derselben zu beschleunigen.
Er setzte ihn darein, die schönsten Frauen, die besten Weine
und die gelehrtesten Köche von ganz Asien zu besitzen: aber
auch daran genügte ihm noch nicht; er beeiferte sich auch,
der größte Esser, der größte Trinker und der größte Held in
einer andern Art von Leibesübung zu seyn, worin er mit
Verdruß den Sperling und den Maulwurf für seine Meister
erkennen mußte. Wenn ein Mann das Unglück hat, bei dieser
verkehrten Art von Ehrgeiz alle Mittel zu Befriedigung desselben
zu besitzen, so wird man ihn bald genug dahin gebracht
sehen, zu Kanthariden und Betel, und andern solchen Zwangsmitteln,
seine Zuflucht zu nehmen. Aber die Natur ermangelt
nie, sich für die Beleidigungen, die man ihr zufügt, zu rächen,
und pflegt desto grausamer in ihrer Rache zu seyn, je weniger
Vorwand ihre Wohlthätigkeit uns zu Rechtfertigung unsrer
Ausschweifungen gelassen hat. Der Emir befand sich also,
mit dem reinsten Arabischen Blute und der stärksten Leibesbeschaffenheit,
in seinem dreißigsten Jahre zu dem elenden
Zustande heruntergebracht, der ein Mittelland zwischen Leben
und Sterben ist; gepeinigt durch Erinnerungen, welche sein
Vergnügen hätten erhöhen sollen, und verdammt zu ohnmächtigen
Versuchen, den Zorn der Natur durch die Geheimnisse
der Kunst zu versöhnen, denen er die Verlängerung seines
Daseyns zu danken hatte. Die gelehrten Köche, auf die er so
stolz war, hatten das Ihrige getreulich beigetragen, zu gleicher
Zeit seine Gesundheit zu zerstören, und die Werkzeuge seiner
Empfindung abzunützen. So wie die Schwierigkeit seinen
stumpfen Geschmack zu reizen zunahm, hatte sich ihr verderblicher
Eifer verdoppelt, sie durch die Macht ihrer Kunst zu besiegen.
Aber ihre Erfindungen hatten selten einen bessern
Erfolg, als ihn den erkünstelten Kitzel etlicher Augenblicke mit
langen Schmerzen bezahlen zu lassen."Unser Emir erstaunte, an der Tafel seines besagten
Wirthes die Eßlust wieder zu finden, die er Jahre lang vergebens
gesucht hatte. Zwei gleich ungewohnte Dinge, eine
Nüchternheit von vier und zwanzig Stunden, und die starke
Bewegung, die er sich hatte geben müssen, trugen ohne Zweifel
das meiste dazu bei, daß er an der Tafel der Günstlinge des
Propheten im Paradiese zu sitzen glaubte. Nicht als hätte die
Menge und Kostbarkeit der Speisen, oder eine sehr künstliche
Zubereitung das geringste dazu beigetragen; denn es war kein
größerer Ueberfluß da, als die Befriedigung des Bedürfnisses,
und die Sorge, dem Geschmack einige Wahl zu lassen, erforderte;
und an der Zubereitung hatte die Kunst nicht mehr
Antheil, als sie haben muß, um einen unverdorbenen Geschmack
ohne Nachtheil der Gesundheit zu vergnügen. Es ist wahr,
gewisse feine Kunstgriffe waren dabei beobachtet, die entweder
ihrer Einfalt wegen den gelehrten Köchen des Emirs unbekannt
geblieben waren, oder vielleicht eine Aufmerksamkeit erforderten,
wozu sich diese wichtigen Leute die Mühe nicht nehmen
mochten; indessen war es doch hauptsächlich bloß die natürliche
Güte der Speisen, und eine Zurichtung, an welcher Avicenna
selbst nichts auszusetzen gefunden hätte, was diese Mahlzeit
von den prächtigen und theuren Giftmischereien fürstlicher
Tafeln unterschied. Hingegen mußte sich der Emir gestehen,
daß der Wein, der vielleicht so alt war als der Wirth, und
die Früchte, womit die Mahlzeit beschlossen wurde, so vortrefflich
waren, als die Natur beides nur unter dem glücklichsten
Himmelsstriche hervorzubringen vermag."Ist alles dieß Zauberei? fragte sich der Emir alle Augenblicke;
und was für ein alter Mann ist dieß, der bei seinem schneeweißen
Bart eine so frische Farbe hat, und dem Essen und
Trinken so wohl schmeckt, als ob er erst itzt zu leben anfange? —
Er hatte alle Mühe von der Welt seine Verwunderung
zurückzuhalten; aber die angenehmen Gespräche, wozu
außer ihm selbst alle das Ihrige beitrugen, nebst der ungezwungenen
und einnehmenden Art, womit man ihm begegnete,
machten es unmöglich, die Gedanken, die in seinem Gehirne
herumtrieben, in einige Ordnung zu bringen."Koste diese Ananas, sagte der Alte zu ihm, indem er
ihm die vollkommenste Frucht dieser Art anbot, die er jemals
gesehen hatte. Der Emir kostete sie, und fand nicht Worte
genug, ihren feinen Geschmack und Wohlgeruch zu erheben.
Ich habe sie selbst mit eigener Hand gezogen, jagte der Alte.
Seitdem ich zu alt bin, meine Söhne und Enkel zu den Feldarbeiten
zu begleiten, beschäftige ich mich mit der Gärtnerei.
Sie verschafft mir den Grad von Bewegung und Arbeit, den
ich nöthig habe, um so gesund zu bleiben als du mich siehest;
und die frische Luft, mit den reinsten Düften der Blumen und
Blüthen bebalsamt, trägt vermuthlich auch das Ihrige dazu
bei. Der Emir hatte nichts hierauf zu antworten: aber das
Paar große Augen, die er an seinen Wirth machte, hätt' ich
sehen mögen! Der Alte pflegte gewöhnlich frisches Wasser, und
nach der Mahlzeit drei kleine Gläser Wein zu trinken: das
erste, sagte er lächelnd, hilft meinem alten Magen verdauen,
das andere ermuntert meine Lebensgeister, und das dritte
schläfert sie wieder ein. Der Emir (welcher kein Wasser trinken
konnte, und wenn es aus der Quelle der Jugend gewesen wäre)
machte dem Weine seines Writhes Ehre. Er ließ sich so oft
von einem Glase zum andern verleiten, bis er das Vermögen
verlor, zu unterscheiden ob er fühle oder sich nur einbilde, daß
er so munter sey als der Alte selbst."Nach der Tafel schlich sich der Mann mit den silbernen
Locken unbemerkt hinweg: und eine Weile darauf sagte einer
von seinen Söhnen: es ist eine Gewohnheit in unserm Hause,
alle Abende vor Schlafengehen eine halbe Stunde in dem
Schlafzimmer unsers Vaters zuzubringen. Ein Gast wird bei
uns nie als ein Fremder gehalten; willst du uns begleiten? —
Der Emir ließ es sich gefallen, und, um artig zu seyn, bat er
sich die Ehre aus, der ältesten unter den Frauen des Hauses
seinen schwachen Arm zu leihen."Ein Zimmer öffnete sich, welches dem Tempel des wollüstigen
Schlafs ähnlich sah. Verschiedene Blumentöpfe von
zierlichen Formen düfteten die lieblichsten Gerüche aus, und
einige Wachslichter, von grünen und rosenfarbnen Schirmen
verborgen, machten eine Art von Dämmerung, welche die
Augen zum sanften Entschlummern einlud. Gemalte Tapeten,
von der Hand eines Meisters, stellten Griechische Bilder des
Schlafes vor: hier den schönen Endymion, vom Silberglanz der
zärtlich auf ihn herabschauenden Luna beleuchtet; dort, von
einem einsamen Rosengebüsche verborgen, die Göttin der Liebe,
um deren sanft glühende Wangen und Lippen ein entzückender
Traum zu schweben schien; oder Amorn auf dem Schooß einer
Grazie schlummernd. Der Alte lag bereits auf seinem Ruhebette,
und drei angenehme Frauenzimmer schienen beschäftigt,
seinen Schlummer zu befördern. Eine, welche dem schönsten
Herbsttage glich, den man sehen kann, saß zu seinen Häupten,
und fächelte ihm mit einem Strauß von Rosen und Myrten
Kühlung zu; die andern beiden saßen weiter unten zu beiden
Seiten des Ruhebettes, diese mit einer Laute, jene mit einem
andern Instrumente, welches bloß die Singstimme zu begleiten
diente. Beide spielten und sangen, mit sanft gedämpftem Tone,
bald wechselsweise, bald zusammen, Lieder, aus denen Zufriedenheit
und ruhiges Vergnügen athmete; und die Lippen und
Stimmen der Sängerinnen waren solcher Lieder würdig. Das
Erstaunen des Emirs stieg auf den höchsten Grad. Unvermerkt
entschlummerte der glückliche Alte am Busen der herbstlichen
Schöne, und die übrige Gesellschaft, nachdem sie eine von seinen
sanft herabgesenkten Händen geküßt hatten, schlich sich in ehrerbietiger
Stille davon."Was für Leute das sind! hörte der Emir nicht auf sich
selbst zu sagen."Beim Eintritt in das Schlafzimmer, welches ihm selbst
angewiesen wurde, fand er die beiden Knaben wieder, die ihn
im Bade bedient hatten. Ihr Anblick erinnerte ihn an die
schöne Dirne, die ihn auf eine so reizende Art willkommen gesungen
hatte, und er konnte nicht mit sich selbst einig werden,
ob er sich über ihre Abwesenheit betrüben oder erfreuen sollte.
Er wurde ausgekleidet, und auf eine so weiche, so elastische,
so wollüstige Ottomane gebracht, als jemals von einem Emir
gedrückt worden seyn mag. Aber kaum hatten sich die Knaben
weggeschlichen, so trat die schöne Sängerin mit ihrer Theorbe im
Arm herein, einen Kranz von Rosenzweigen um ihre losgebundenen
Haare, die bis zur Erde herabflossen, und einen
Strauß von Rosen vor einem Busen, dessen Weiße die Augen
des Emirs blendete. Mit stillschweigendem Lächeln neigte sie
sich tief vor ihm, nahm von einem Armsessel neben seinem
Ruhebette Besitz, stimmte ihre Theorbe, und sang ihm mit
der angenehmsten Stimme von der Welt so zauberische Lieder
vor, daß der gute Emir, von ihrer Gestalt, von ihrer Stimme
und von dem achtzigjährigen Wein seines Alten berauscht, alles
vergaß, was ihn billig hätte erinnern sollen weise zu seyn. Die
schöne Sängerin hatte vermuthlich keinen Auftrag, in einem
Hause, worin alles glücklich war, einen Unglücklichen zu machen.
Aber ach! —"Ein Blick des Sultans, der vielleicht eine ganz andere
Bedeutung hatte als Danischmend sich einbildete, machte ihn
stutzen. "Sire," fuhr er nach einer kleinen Pause fort, um
nicht in den Fehler des Visirs Moslem zu fallen, begnüge ich
mich zu sagen, daß der Emir Ursache fand, sich von allen
Zaubrern und Feen der Welt verfolgt zu glauben. Beruhige
dich, sagte die schöne Sklavin mit einem Lächeln, in welches
mehr Mitleiden als Verachtung oder Unwillen gewischt war:
ich will dir ein Adagio vorspielen, auf welches du so gut
schlafen sollst, als der glücklichste aller Schäfer. Aber ihr Adagio
that das versprochene Wunder nicht. Der Emir konnte nicht
aufhören, sich selbst zu betrügen, bis endlich die Sklavin, welche
seinen Eigensinn wirklich unbillig fand, für besser hielt, sich
zurückzuziehen, indem sie ihm so wohl zu schlafen wünschte
als er könnte."Danischmend, ich bin mit deiner Erzählung zufrieden,
sagte der Sultan: morgen wollen wir die Fortsetzung davon
hören, und mein Schatzmeister soll Befehl erhalten, dir
dreihundert Bahamd'or auszuzahlen. Der Philosoph und der
junge Mirza zogen sich hierauf zurück, und die Pforte des geheiligten
Schlafgemaches wurde hinter ihnen zugeschlossen.—————
4.Den folgenden Abend setzte Danischmend auf Befehl des
Sultans seine Erzählung also fort:"Die Geschichte des Emirs und der schönen Sklavin blieb
nicht lange geheim, und dieser Prinz hatte die Ehre, der erste
Mann von seiner Art zu seyn, den man jemals in diesen
Gegenden gesehen hatte. Die Einwohner des Hauses, männliche
und weibliche, konnten gar nicht von ihrem Erstaunen
über ihn zurückkommen. Sie hatten gar keinen Begriff davon,
wie man das seyn könne, was er war. Das arme Geschöpf!
riefen sie alle mit einem Ton des Mitleidens, welcher
nicht sehr geschickt gewesen wäre sein Leid zu ergötzen. Wirklich
war der unglückliche Mann in seinem ganzen Leben nie
so übel mit sich selbst zufrieden gewesen, als in dieser nämlichen
Nacht. Die Vergleichung, die er zwischen sich selbst,
einem Greise von zwei und dreißig, und diesem silberlockigen
Jüngling von achtzig anstellte — begleitet von den Vorstellungen,
welche ihm die schöne Sklavin zurückgelaufen hatte,
war mehr als genugsam ihn zur Verzweiflung zu bringen.
Er biß die Lippen zusammen, schlug sich vor den Kopf, und
verfluchte in der Bitterkeit seines Herzens seinen Harem,
seinen Leibarzt, seine Köche, und die jungen Thoren, die ihn
durch Beispiel und Grundsätze aufgemuntert hatten, sein
Leben so eilfertig zu verschwenden. Erschöpft von ohnmächtiger
Wuth, und betäubt von einem Schwall quälender Gedanken,
die ihm das Gefühl seines Daseyns zur Marter machten,
schlummerte er endlich ein; und da er nach einigen Stunden
wieder erwachte, fehlte wenig, daß er nicht alles, was ihm
seit seinem letzten Schlafe begegnet war, für einen bloßen
Traum gehalten hätte. Wenigstens wandte er alle seine Kräfte
an, die Erinnerung an den unangenehmsten Theil seiner
Begegnisse zu unterdrücken; und in der Hoffnung, daß neue
Eindrücke ihm dazu am beförderlichsten seyn würden, öffnete
er ein Fenster, aus welchem er die Gärten vor sich liegen
sah, die sich von der Morgenseite um das Haus herum zogen.
Eine reine mit tausend erquickenden Düften erfrischte Luft
zerstreute die düstern Wolken, die noch um sein Gehirn hingen;
er fühlte sich gestärkt; dieses Gefühl fachte wieder einen
Funken von Hoffnung in seinem Busen an, und mit der
Hoffnung kehrt die Liebe zum Leben zurück. Indem er diese
Gärten betrachtete, und, seinem verwöhnten Geschmack am
Prächtigen und Erkünstelten zu Trotz, sich nicht erwehren
konnte, sie bei aller ihrer nützlichen Einfalt und anscheinenden
Wildheit schön zu finden, ward er den Alten gewahr, der,
halb von Gesträuchen bedeckt, sich mit kleinen Gärtnerarbeiten
beschäftigte, welche der Emir nie gewürdiget hatte,
sich einen Begriff davon zu erwerben. Die Begierde, alles
Befremdende und Wunderbare, das er in diesem Hause
gesehen, sich erklären zu lassen, bewog ihn, in die Gärten herab
zu steigen, um sich mit dem Alten in ein Gespräch einzulassen.
Nachdem er ihm für seine leutselige Aufnahme gedankt
hatte, fing er an, ihm seine Verwunderung darüber zu
bezeugen, daß ein Greis von seinen Jahren noch so gerade,
so geschäftig, so lebhaft und so fähig seyn könne, an den
Vergnügungen des Lebens Antheil zu nehmen. Wenn deine
silbernen Haare und dein eisgrauer Bart nicht von einem
hohen Alter zeugten, setzte er hinzu, so müßte man dich für
einen Mann von vierzig halten. Ich bitte dich, erkläre mir
dieses Räthsel. Was für ein Geheimniß besitzest du, welches
solche Wunder wirken kann?"Ich kann dir mein Geheimniß mit drei Worten sagen,
erwiederte der Alte lächelnd: Arbeit, Vergnügen und Ruhe,
jedes in kleinem Maße, zu gleichen Theilen vermischt, und
nach dem Winke der Natur abgewechselt, wirken dieses Wunder,
wie du es zu nennen beliebst, auf die begreiflichste Weise
von der Welt. Eine nicht unangenehme Mattigkeit ist der
Wink, den uns die Natur gibt, unsre Arbeit mit Ergötzungen
zu unterbrechen; und ein ähnlicher Wink erinnert uns, von
beiden auszuruhen. Die Arbeit unterhält den Geschmack an
den Vergnügungen der Natur, und das Vermögen sie zu
genießen; und nur derjenige, für den ihre reinen untadelhaften
Wollüste allen Reiz verloren haben, ist unglücklich genug,
bei erkünstelten eine Befriedigung zu suchen, welche sie ihm
nie gewähren werden. Lerne an mir, werther Fremdling,
wie glücklich der Gehorsam gegen die Natur macht. Sie belohnt
uns dafür mit dem Genuß ihrer besten Gaben. Mein
ganzes Leben ist eine lange selten unterbrochene Kette von
angenehmen Augenblicken gewesen; denn die Arbeit selbst, eine
unsern Kräften angemessene und von keinen verbitternden Umständen
begleitete Arbeit, ist mit einer Art von sanfter Wollust
verbunden, deren wohlthätige Einflüsse sich über unser ganzes
Wesen verbreiten. Aber um durch die Natur glücklich zu
seyn, muß man die größte ihrer Wohlthaten, die das Werkzeug
aller übrigen ist, die Empfindung, unverdorben erhalten
haben; und zum richtigen Empfinden ist richtig Denken eine
unentbehrliche Bedingniß."Der Alte sah seinem Gast an der Miene an, daß er
ihn nur mittelmäßig verstand. Ich werde dir vielleicht verständlicher
seyn, fuhr er fort, wenn ich dir die Geschichte
unsrer !einen Colonie erzähle; denn in jeder andern Wohnung,
wohin der Zufall dich in diesen Thälern hätte führen können,
würdest du alles ungefähr eben so gefunden haben wie bei
mir. Der Emir bezeugte, daß er ihm sehr gern zuhören wollte.
Er hatte ein so ermüdetes Ansehen, daß ihm der mitleidige
Alte den Vorschlag that, sich auf einen Sofa in einem mit
Citronenbäumen umpflanzten Gartensaale niederzulassen; wiewohl
ihm selbst ein Spaziergang unter den Bäumen angenehmer
gewesen wäre."Der Emir nahm dieß Anerbieten willig an, und während
eine schöne junge Sklavin sie mit dem besten Kaffee von Moka
bediente, fing der muntre Greis seine Erzählung also an:"Eine alte Ueberlieferung sagt uns, daß unsre Vorfahren
von Griechischer Abkunft gewesen, und durch einen Zufall, an
dessen Umständen dir nichts gelegen seyn kann, vor einigen
Jahrhunderten in diese Gebirge geworfen worden. Sie pflanzten
sich in diesen angenehmen Thälern an, welche die Natur
dazu bestimmt zu haben scheint, eine kleine Anzahl von
Glücklichen vor der Mißgunst und den ansteckenden Sitten der
übrigen Sterblichen zu verbergen. Hier lebten sie, in zufriedener
Einschränkung in den engen Kreis der Bedürfnisse der
Natur, dem Anschein nach so armselig, daß selbst die benachbarten
Beduinen sich um ihr Daseyn wenig zu bekümmern
schienen. Die Zeit löschte nach und nach den größten Theil
der Merkmale ihres Ursprungs aus; ihre Sprache verlor sich
in die Arabische; ihre Religion artete in einige abergläubische
Gebräuche aus, von welchen sie selbst keinen Grund anzugeben
wußten; und von den Künsten, die der Griechischen Nation
einen unverlierbaren Rang über alle übrigen gegeben haben,
blieb ihnen nur die Liebe zur Musik, und ein gewisser angeborner
Hang zum Schönen und zu geselligen Vergnügungen,
welcher die Grundlage abgab, worauf der weise Gesetzgeber
ihrer Nachkommen einen kleinen Staat von glückseligen Menschen
aufzuführen wußte. Begierig, die Schönheit der Formen
unter sich zu verewigen, machten sie sich zu einem Gesetze,
nur die schönsten unter den Töchtern des benachbarten
Yemen unter sich aufzunehmen; und dieser Gewohnheit (welche
unser Gesetzgeber würdig gefunden hat, ihr die Heiligkeit einer
unverletzlichen Pflicht zu geben) ist es ohne Zweifel beizumessen,
daß du in allen unsern Thälern keine Person weder von unserm
noch vom andern Geschlechte finden wirst, welche nicht jenseits
der Gebirge für eine seltene Schönheit gelten sollte."Zu den Zeiten meines Großvaters kam der vortreffliche
Mann, dem wir unsre dermalige Verfassung zu danken haben,
der zweite und eigentliche Stifter unsrer Nation, durch eine
Kette von Zufällen in diese Gegend. Wir wissen nichts, weder
von seiner Abkunft, noch von den Begebenheiten seines Lebens
vor dem Zeitpunkte, da er zu uns kam. Er schien damals
ein Mann von fünfzig Jahren zu seyn; er war lang, von
majestätischer Gestalt, und von so einnehmendem Bezeigen,
daß er in kurzer Zeit alle Herzen gewann. Er hatte so viel
Geld mit sich gebracht, daß es einem jeden in die Augen
fallen mußte, er habe keine andre Ursache unter uns zu leben,
als weil es ihm bei uns gefiel. Das Sanfte und Gefällige
seiner Sitten, die ungekünstelte Weisheit seiner Gespräche,
die Kenntnisse, die er von tausend nützlichen und angenehmen
Dingen hatte, verbunden mit einer Beredsamkeit, die auf
eine unwiderstehliche Art sich in die Seelen einstahl, gaben
ihm nach und nach ein unbegränzteres Ansehen unter uns,
als ein Monarch über seine angebornen Unterthanen zu haben
pflegt. Er fand unsre kleine Nation fähig, glücklich zu seyn;
und Menschen, sagte er zu sich selbst, welche etliche Jahrhunderte
sich an dem Unentbehrlichen begnügen lassen konnten,
verdienen es zu seyn, ich will sie glücklich machen. Er verbarg
sein Vorhaben eine geraume Zeit, weil er weislich glaubte,
daß er die ersten Eindrücke durch sein Beispiel machen müsse.
Er pflanzte sich unter uns an, lebte in seinem Hause so, wie
du uns hast leben gesehen, machte unsre Leute mit Bequemlichkeiten
und Vergnügungen bekannt, die ihre Begierden
reizen mußten, und kaum ward er gewahr, daß er diesen
Zweck erhalten habe, so legte er die Hand an seinen großen
Entwurf. Ein Freund, der ihn begleitet hatte und von allen
schönen Künsten in einem hohen Grade der Vollkommenheit
Meister war, half ihm die Ausführung beschleunigen. Viele
von unsern Jünglingen, nachdem sie die nöthige Vorbereitung
von ihnen erhalten hatten, arbeiteten unter ihrer Aufsicht mit
unbeschreiblicher Begeisterung. Wilde Gegenden wurden angebaut;
künstliche Wiesen und Gärten voll fruchttragender
Bäume blühten in Gegenden hervor, die mit Disteln und
Heidekraut bedeckt gewesen waren; und Felsen wurden mit
neugepflanzten Weinreben beschattet. Mitten auf einer kleinen
Anhöhe, die das schönste unsrer Thaler beherrscht, stieg ein
runder auf allen Seiten offner Tempel empor, in dessen Mitte
nichts als eine Estrade, um drei Stufen höher als der Fußboden,
und auf diesen drei Bilder von weißem Marmor zu
sehen waren; Bilder, die man ohne Liebe und sanftes Entzücken
nicht ansehen konnte. Ein Hain von Myrten zog sich
in einiger Entfernung um den kleinen Tempel und bedeckte
die ganze Anhöhe. Dieses letzte Werk war allen unsern Leuten
ein Räthsel, und Psammis (so nannte sich der wunderbare
Fremdling) verzog so lange, ihnen die Auflösung davon zu
geben, bis er merkte, daß alle die zärtliche Ehrerbietung, die
sie für ihn empfanden, nicht länger vermögend war, ihre
Ungeduld zurückzuhalten."Endlich führte er am Morgen eines schönen Tages, welcher
seitdem der heiligste unsrer festlichen Tage ist, eine Anzahl der
Unsrigen, die er als die geschicktesten zu seinem Vorhaben ausgewählt
hatte, auf die Anhöhe, setzte sich mit ihnen unter die
Myrten und gab ihnen zu erkennen: "Daß er in keiner andern
Absicht zu ihnen gekommen sey, als sie und ihre Nachkommen
glücklich zu machen; daß er keine andre Belohnung dafür erwarte,
als das Vergnügen, seine Absicht erreicht zu haben: und
daß er keine andre Bedingung von ihnen fordere, als ein feierliches
Gelübde, die Gesetze unverbrüchlich zu halten, die er ihnen
geben würde." Es würde zu weitläufig seyn, fuhr der Alte
fort, dir zu erzählen, was er sagte um seine Zuhörer zu überzeugen,
und was er that um sein angefangenes Werk auszuführen,
und ihm alle die Festigkeit zu geben, welche ein auf
die Natur gegründeter Entwurf durch weise Vorsicht erhalten
kann. Eine Probe seiner Sittenlehre, die den ersten Theil
seiner Gesetzgebung ausmacht, wird hinlänglich seyn, dir davon
einigen Begriff zu geben."Jeder von uns empfängt beim Antritt seines vierzehnten
Jahres, an dem Tage, da er in dem Tempel der Huldgöttinnen
das Gelübde thun muß, der Natur gemäß zu leben, einige
Täfelchen aus Ebenholz, auf welchen diese Sittenlehre mit
goldnen Buchstaben geschrieben ist. Wir tragen sie immer bei
uns, und sehen sie als ein Heiligthum und gleichsam als den
Talisman an, an welchen unsre Glückseligkeit gebunden ist.
Wer sich unterfinge andre Grundsätze einführen zu wollen,
würde als ein Vergifter unsrer Sitten und als ein Zerstörer
unsers Wohlstandes auf ewig aus unsern Gränzen verbannt
werden. Höre, wenn es dir gefällt, was ich dir davon vorlesen
will."—————
"Das Wesen der Wesen (so spricht Psammis im Eingange
seiner Gesetze), welches, unsichtbar unsern Augen und unbegreiflich
unserm Verstande, uns sein Daseyn nur durch Wohlthaten
zu empfinden gibt, bedarf unser nicht, und fordert keine andre
Erkenntlichkeit von uns, als daß wir uns glücklich machen
lassen."Die Natur, die zu unsrer allgemeinen Mutter und
Pflegerin von ihm bestellt ist, flößet uns mit den ersten Empfindungen
auch die Triebe ein, von deren Mäßigung und
Uebereinstimmung unsre Glückseligkeit abhängt. Ihre Stimme
ist es, die durch den Mund ihres Psammis mit euch redet,
seine Gesetze sind keine andern als die ihrigen."Sie will, daß ihr eures Daseyns froh werdet. Freude
ist der letzte Wunsch aller empfindenden Wesen: sie ist dem
Menschen, was Luft und Sonnenschein den Pflanzen ist.
Durch süßes Lächeln kündigt sie die erste Entwicklung der
Menschheit im Säugling an, und ihr Abschied ist der Vorbote
der Auflösung unsers Wesens. Liebe und gegenseitiges
Wohlwollen sind ihre reichsten und lautersten Quellen: Unschuld
des Herzens und der Sitten das sanfte Ufer, in welchem
sie dahin fließen."Diese wohlthätigen Ausflüsse der Gottheit sind es, was
ihr unter den Bildern vorgestellt sehet, denen euer gemeinschaftlicher
Tempel heilig ist. Betrachtet sie als Sinnbilder
der Liebe, der Unschuld und der Freude. So oft der Frühling
wieder kommt, so oft Ernte und Herbst angehen und geendigt
sind, und an jedem andern festlichen Tage versammelt euch in
dem Myrtenhaine, betreuer den Tempel mit Rosen, und
kränzet diese holden Bilder mit frischen Blumen; erneuert vor
ihnen das unverletzliche Gelübde, der Natur getreu zu bleiben;
umarmet einander unter diesen Gelübden, und die Jugend beschließe
das Fest, unter den frohen Augen der Alten, mit
Tänzen und Gesang. Die junge Schäferin, wenn ihr Herz
aus dem langen Traume der Kindheit zu erwachen beginnt,
schleiche sich einsam in den Myrtenhain, und opfre der Liebe
die ersten Seufzer, die ihren sanften Busen heben; die junge
Mutter, mit dem lächelnden Säugling im Arme, wandle oft
hierher, ihn zu den Füßen der holden Göttinnen in süßen
Schlummer zu singen."Höret mich, ihr Kinder der Natur! — denn diesen und
keinen andern Namen soll euer Volk künftig führen."Die Natur hat alle eure Sinne, hat jedes Fäserchen des
wundervollen Gewebes eures Wesens, hat euer Gehirn und
euer Herz zu Werkzeugen des Vergnügens gemacht. Konnte
sie euch vernehmlicher sagen, wozu sie euch geschaffen hat?"Wär' es möglich gewesen, euch des Vergnügens fähig
zu machen, ohne daß ihr auch des Schmerzes fähig seyn mußtet,
so — würde es geschehen seyn. Aber so viel möglich war, hat
sie dem Schmerz den Zugang zu euch verschlossen. So lang'
ihr ihren Gesetzen folget, wird er eure Wonne selten unterbrechen;
noch mehr, er wird euer Gefühl für jedes Vergnügen
schärfen, und dadurch zu einer Wohlthat werden; er wird in
euerm Leben seyn, was der Schatten in einer schönen sonnigen
Landschaft, was die Dissonanz in einer Symphonie, was das
Salz an euern Speisen ist."Alles Gute löset sich in Vergnügen auf, alles Böse in
Schmerz. Aber der höchste Schmerz ist das Gefühl, sich selbst
unglücklich gemacht zu haben —(hier holte der Emir einen
tiefen Seufzer) — und die höchste Lust, das heitre Zurücksehen
in ein wohl gebrauchtes, von keiner Reue bedecktes Leben."Niemals möge unter euch, ihr Kinder der Natur, das
Ungeheuer geboren werden, das eine Freude darin findet, andre
leiden zu sehen, oder unfähig ist, sich ihrer Freude zu erfreuen!
Nein, ein so unnatürliches Mißgeschöpf kann nicht zum Vorschein
kommen, wo Unschuld und Liebe sich vereinigen, den Geist der
Wonne über alles was athmet auszugießen. Freuet euch, meine
Kinder, eures Daseyns, eurer Menschheit; genießet, so viel möglich,
jeden Augenblick eures Lebens: aber vergesset nie, daß
ohne Mäßigung auch die natürlichsten Begierden zu Quellen
des Schmerzens, durch Uebermaß die reinste Wollust zu einem
Gifte wird, das den Keim eures künftigen Vergnügens zernaget.
Mäßigung und freiwillige Enthaltung ist das sicherste
Berwahrungsmittel gegen Ueberdruß und Erschlaffung. Mäßigung
ist Weisheit, und nur dem Weisen ist es gegönnt, den
Becher der reinen Wollust, den die Natur jedem Sterblichen
voll einschenkt, bis auf den letzten Tropfen auszuschlürfen. Der
Weise versagt sich zuweilen ein gegenwärtiges Vergnügen, nicht
weil er ein Feind der Freude ist, oder aus alberner Furcht vor
irgend einem gehässigen Dämon, der darüber zürnte, wenn
sich die Menschen freuen; sondern, um durch seine Enthaltung
sich auf die Zukunft zu einem desto vollkommnern Genusse des
Vergnügens auszusparen."Höret mich, ihr Kinder der Natur! Höret ihr unveränderliches
Gesetz! Ohne Arbeit ist keine Gesundheit der
Seele noch des Leibes, ohne diese keine Glückseligkeit möglich.
Die Natur will, daß ihr die Mittel zur Erhaltung und Versüßung
eures Daseyns als Früchte einer mäßigen Arbeit aus
ihrem Schooße ziehen sollet. Nichts als eine nach dem Grade
eurer Kräfte angenommene Arbeit wird euch die nothwendige
Bedingung alles Vergnügens, die Gesundheit, erhalten."Ein kranker oder kränkelnder Mensch ist in jeder Betrachtung
ein unglückliches Geschöpf. Alle Kräfte seines Wesens leiden
dadurch; ihr natürliches Verhältniß und Gleichgewicht wird
gestört, ihre Lebhaftigkeit geschwächt, ihre Richtung verändert.
Seine Sinne stellen ihm verfälschte Abdrücke der Gegenstände
dar; das Licht seines Geistes wird trübe; und sein Urtheil
von dem Werthe der Dinge verhält sich zum Urtheil eines
Gesunden, wie Sonnenschein zum düstern Schein der sterbenden
Lampe in einer Todtengruft."Von dem Augenblick an, — und o! möchte dann, wann
er kommt, die Sonne auf ewig für euch verlöschen! —von dem
Augenblick an, da Unmäßigkeit oder erkünstelte Wollüste die
Samen schleichender und schmerzvoller Krankheiten in euern
Adern verbreitet haben werden, verlieren die Gesetze des
Psammis ihre Kraft euch glücklich zu machen. Dann werfet
sie in die Flammen, ihr Unglückseligen! denn die Göttinnen
der Freude werden sich in Furien für euch verwandeln. Dann
kehret eilends in eine Welt zurück, wo ihr ungestraft euer
Daseyn verwünschen könnet, und wenigstens den armseligen
Trost genießet, überall Mitgenossen euers Elends zu sehen."Suchet niemals, meine Kinder, einen höhern Grad von
Kenntniß, als ich euch mitgetheilt habe. Ihr wißt genug,
wenn ihr gelernt habt, glücklich zu seyn."Gewöhnet euer Auge an die Schönheit der Natur; und
aus ihren mannichfaltig schönen Formen, ihren reichen Zusammensetzungen,
ihrer reizenden Farbengebung füllet eure
Phantasie mit Ideen des Schönen an. Bemühet euch, allen
Werken eurer Hände und eures Geistes den Stempel der
Natur, Einfalt und ungezwungene Zierlichkeit, einzudrücken.
Alles, was euch in euern Wohnungen umgibt, stelle euch ihre
Schönheiten vor, und erinnere euch, daß ihr ihre Kinder seyd!"Alle andern Werke der Natur scheinen nur spielende
Versuche und Vorübungen, wodurch sie sich zur Bildung ihres
Meisterstücks, des Menschen, vorbereitet. In ihm allein
scheint sie alles, was sie diesseits des Himmels vermag, vereiniget,
an ihm allein mit Wärme und verliebt in ihr eigenes
Werk gearbeitet zu haben. Aber sie hat es in unserer Gewalt
gelassen, es zu vollenden, oder zu verderben. "Warum
that sie das?" Ich weiß nichts davon; aber nach dem, was
sie gethan hat, müssen wir das bestimmen, was wir zu
thun haben. Jede harmonische Bewegung unsers Körpers,
jede sanfte Empfindung der Freude, der Liebe, der zärtlichen
Sympathie verschönert uns; jede allzu heftige oder unordentliche
Bewegung, jede ungestüme Leidenschaft, jede neidische
und übelthätige Gesinnung verzerrt unsre Gesichtszüge, vergiftet
unsern Blick, würdiget die schöne menschliche Gestalt
zur sichtbaren Aehnlichkeit mit irgend einer Ari von Vieh
herab. So lange Güte des Herzens und Fröhlichkeit die
Seele eurer Bewegungen bleiben, werdet ihr die schönsten
unter den Menschenkindern seyn.Das Ohr ist, nach dem Auge, der vollkommenste unsrer
Sinne. Gewöhnet es an kunstlose, aber seelenvolle Melodien,
aus welchen schöne Gefühle athmen, die das Herz in sanfte
Bebungen setzen, oder die einschlummernde Seele in süße
Träume wiegen. Freude, Liebe und Unschuld stimmen den
Menschen in Harmonie mit sich selbst, mit allen guten Menschen,
mit der ganzen Natur. So lange euch diese beseelen,
wird jede eurer Bewegungen, der gewöhnliche Ton eurer
Stimme, eure Sprache selbst wird Musik seyn."Psammis hat euch neue Quellen angenehmer Empfindungen
mitgetheilt: durch ihn genießet ihr, von der täglichen
Arbeit ermüdet, einer wollüstigen Ruhe; durch ihn ergötzen
liebliche Früchte, in diesen fremden Boden verpflanzet, euern
Gaumen; durch ihn begeistert euch der Wein zu höherer
Fröhlichkeit, zu offenherzigem Geschwätze und geistreichem
Scherz, ohne welche dem geselligen Gastmahle seine beste Würze
fehlt. In der Liebe, die ihr nur unter der niedrigen Gestalt
des Bedürfnisses kanntet, hat er euch die Seele des Lebens,
die Quelle der schönsten Begeisterung und der reinsten Wollust
des Herzens bekannt gemacht. O meine Kinder! welche Lust,
welches angenehme Gefühl sollt' ich euch versagen? Keines,
gewiß keines, das euch die Natur zugedacht hat! Ungleich
den schwülstigen Afterweisen, welche den Menschen zerstören
wollen, um — eitles lächerliches Bestreben! — einen Gott
aus seinen Trümmern hervorzuziehen! Ich empfehle euch
die Mäßigung; aber aus keinem andern Grunde, als weil sie
unentbehrlich ist, euch vor Schmerzen zu bewahren, und immer
zur Freude aufgelegt zu erhalten. Nicht aus Nachsicht
gegen die Schwachheit der Natur erlaub' ich — nein, aus
Gehorsam gegen ihre Gesetze befehl' ich euch, eure Sinne zu
ergötzen. Ich habe den betrüglichen Unterschied zwischen Nützlich
und Angenehm aufgehoben: ihr wisset, daß nichts den Namen
eines Vergnügens verdient, was mit dem Schmerz eines andern
oder mit später Reue bezahlt wird; und daß das Nützliche
nur nützlich ist, weil es uns vor Unlust bewahrt, oder
eine Quelle von Vergnügen ist. Ich habe den thörichten
Gegensatz der verschiedenen Arten der Lust vernichtet, und
eine ewige Eintracht zwischen ihnen hergestellt, indem ich euch
den natürlichen Antheil gelehrt habe, den das Herz an jeder
sinnlichen Lust, und die Sinne an jedem Vergnügen des Herzens
nehmen. Ich habe eure Freuden vermehrt, verfeinert,
veredelt — Was kann ich noch mehr thun?"Noch eines, und das wichtigste von allem. Lernet,
meine Kinder, die leichte Kunst, eure Glückseligkeit ins Unendliche
zu vermehren; das einzige Geheimniß, sie so nah als
möglich der Wonne der Götter, und wenn es erlaubt wäre so
kühn zu denken, der Wonne des Urhebers der Natur selbst
zu nähern!"Erstrecket euer Wohlwollen auf die ganze Natur; liebet
alles, was ihr allgemeinstes Geschenk, das Daseyn, mit euch
theilet!"Liebet einen jeden, in welchem ihr die ehrwürdigen
Kennzeichen der Menschheit erblicket, sollten es auch nur
ihre Ruinen seyn."Freuet euch mit jedem, der sich freuet; wischet die
Thränen der Reue von den Wangen der bestraften Thorheit,
und küsset aus den Augen der Unschuld die Thränen des
Mitleidens mit sich selbst."Vervielfachet euer Wesen, indem ihr euch gewöhnet, in
jedem Menschen das Bild euerer eigenen Natur, und in jedem
guten Menschen ein andres Selbst zu lieben."Schmecket, so oft ihr könnet, das reine göttliche Vergnügen,
andere glücklicher zu machen; — und du, Unglückseliger,
dem von diesem bloßen Gedanken das Herz nicht zu
wallen anfängt, fliehe, fliehe auf ewig aus den Wohnungen
der Kinder der Natur!"Schach-Gebal war über der Sittenlehre des weisen
Psammis unvermerkt so gut eingeschlafen, daß die schöne
Nurmahal für rathsam hielt, die Fortsezung der Geschichte
des Emirs auf die künftige Nacht auszusetzen.—————
5.Die Sittenlehre deines — wie heißt er? ist eine vortreffliche
Sittenlehre, sagte der Sultan zu Danischmenden: ich
habe gut auf sie geschlafen! Aber itzt würdest du mir, weil
ich noch keine Lust zu schlafen habe, einen Gefallen thun, wenn
du deine Erzählung ohne weitere Sittenlehre zu Ende bringen
wolltest.Danischmend antwortete wie es einem demüthigen Sklaven
zusteht, und setzte seine Erzählung also fort:"Dieses," sagte der Alte, indem er seine Täfelchen wieder
zusammenlegte, "sind die Grundsätze, nach welchen wir
leben. Wir ziehen sie, so zu sagen, mit der Milch unsrer
Mütter ein, und durch Beispiele und Gewohnheit müßten
sie uns zur andern Natur werden, wenn sie auch an sich
selbst der Natur nicht so ganz gemäß wären, als sie es sind.
Kannst du dich nun noch länger verwundern, daß ich in
einem Alter von achtzig Jahren fähig bin, meinen Antheil an
den Vergnügungen des Lebens zu nehmen? daß mein Herz
und meine Sinne noch jedem sanften Gefühl offen stehen,
meine Augen noch immer gern auf schönen Formen verweilen;
und daß, wenn auch die Natur meinem Alter Freuden
versagt, die ich weder verachte noch vermisse, ich zufrieden
bin, diejenigen zu genießen, welche sie mir gelassen
hat; kurz, daß der letzte Theil meines Lebens dem Abend
einer schönen Nacht ähnlich ist, und ich wenigstens in diesem
Stücke dem Weisen gleiche, der (um den Ausdruck unsers
Gesetzgebers zu wiederholen) den Becher der reinen Wollust
bis auf den letzten Tropfen ausschlürft; und, ich schwöre bei
diesem alles beleuchtenden Auge der Natur, unsrer allgemeinen
Mutter, daß ich mit dem letzten Athemzuge, wenn
ich anders noch die Kraft dazu habe, den letzten Tropfen davon
auf meinen Nagel sammeln und hinunter schlürfen will!"Der alte Mann sagte dieß mit einem so angenehm auflodernden
Feuer, daß der Emir darüber lächeln mußte; aber
es war zu viel Neid und Unmuth unter dieses Lächeln gemischt,
als daß sein Gesicht in den Augen einer Tochter der
Natur viel dabei gewonnen hätte."Den übrigen Theil unsrer Gesetzgebung, fuhr der Alte
fort, welcher unsre Polizei betrifft, werde ich dir am besten
durch eine Beschreibung unsrer Lebensart und unsrer Sitten
begreiflich machen. Unsre kleine Nation, welche ungefähr aus
fünfhundert Familien besteht, lebt in einer vollkommenen
Gleichheit; indem wir keines andern unterschiedes bedürfen,
als den die Natur selbst, die das Mannichfaltige liebt, unter
den Menschen macht. Die Liebe zu unsrer Verfassung, und
die Ehrerbietung gegen die Alten, welche wir als die Bewahrer
derselben ansehen, ist hinlänglich, Ordnung und Ruhe,
die Früchte übereinstimmender Grundsätze und Neigungen,
unter uns zu erhalten. Wir betrachten uns alle als eine
einzige Familie, und die kleinen Mißhelligkeiten, die unter
uns entstehen können, sind den Zänkereien der Verliebten
oder einem vorübergehenden Zwiste zärtlicher Geschwister ähnlich.
Unsre Festtage sind die einzigen Gerichtstage, die wir
kennen; unser ganzes Volk versammelt sich dann vor dem
Tempel der Huldgöttinnen, und unter ihren Augen werden
von unsern Aeltesten alle Händel beigelegt, und alle gemeinschaftlichen
Abredungen genommen."Wir nähren und bekleiden uns von unsern eigenen Producten,
und das Wenige, was uns abgeht, tauschen wir von
den benachbarten Beduinen gegen unsern Ueberfluß ein. Unsrer
Jugend überlassen wir die Sorge für die Heerden. Vom zwölften
bis zum zwanzigsten Jahre sind alle unsre Knaben Hirten,
alle unsre Mädchen Schäferinnen: denn der weise Psammis
urtheilte, daß dieses die natürlichste Beschäftigung für das
Alter der Begeisterung und der empfindsamen Liebe sey. Der
Ackerbau beschäftigt die Männer vom zwanzigsten bis zum
sechzigsten Jahre; und die Gärtnerei ist den Alten überlassen,
welche darin von den Jünglingen der mühsameren Arbeiten
überhoben werden. Der Seidenbau, die Verarbeitung der
Baumwolle und Seide, die Wartung der Blumen, und die
ganze innere Haushaltung gehört unsern Frauen und Töchtern
zu. Jede Familie lebt so lange beisammen, als die gemeinschaftliche
Wohnung sie fassen und das väterliche Gut sie ernähren
kann. Geht dieses nicht mehr an, so wird eine junge
Colonie errichtet, die sich in einem benachbarten Thale anpflanzt.
Denn die Araber (deren Schutz wir mit einem mäßigen
Tribut erkaufen, und welche die Natur in uns um so
mehr zu ehren scheinen, als es ihnen wenig nützen würde,
uns auszurotten) haben uns einen größern Umfang von Land
überlassen, als wir in etlichen Jahrhunderten bevölkern werden.
Unser Gesetzgeber urtheilte mit gutem Grunde, daß es
zu Erhaltung unsrer Verfassung nöthig sey, immer ein kleines
Volk zu bleiben. Er verordnete deßwegen, von Zeit zu
Zeit eine Prüfung mit unsern Jünglingen vorzunehmen, und
diejenigen, an denen sich ungewöhnliche Fähigkeiten, ein unruhiger
Geist, eine Anlage zu Ruhmbegierde, oder auch nur
ein bloßes Verlangen, die Welt zu sehen, äußern würde, von
uns zu thun, und jenseits der Gebirge in irgend eine Hauptstadt
von Aegypten, Syrien, Yemen oder Persien zu schicken,
wo sie leicht Gelegenheit finden würden, ihre Talente zu entwickeln
und ihr Glück zu machen, wie man bei diesen Völkern
zu reden pflegt. Wir verlieren auf diese Weise alle zehn
Jahre eine beträchtliche Anzahl von jungen Leuten; aber oft
begegnet es auch, daß sie, wenigstens im Alter, wieder kommen,
um das Ende ihres Lebens in der einzigen Freistätte, welche
die schöne Natur vielleicht auf dem ganzen Erdboden hat, zu
beschließen; und wenn sie eine sehr scharfe Art von Quarantäne
ausgehalten haben, und wir versichert sind, daß die Gesundheit
unsrer Seelen und Leiber nichts von ihnen zu besorgen
hat, werden sie mit Vergnügen aufgenommen. Verschiedene
von ihnen haben beträchtliche Reichthümer mit sich
gebracht, welche an einem unserm ganzen Volke bekannten
und offen stehenden Orte zu gemeinen Bedürfnissen auf künftige
Fälle aufbehalten werden, ohne daß jemand daran denken
sollte, sich etwas von demjenigen zueignen zu wollen, was
allen angehört. Unsre Kinder werden vom dritten bis zum
achten Jahre größtentheils sich selbst, das ist der Erziehung
der Natur überlassen. Vom achten bis zum zwölften empfangen
sie so viel Unterricht, als sie vonnöthen haben, um
als Mitglieder unsrer Gesellschaft glücklich zu seyn. Wenn
sie richtig genug empfinden und denken, um unsre Verfassung
für die beste aller möglichen zu halten, so sind sie gelehrt
genug. Jeder höhere Grad von Verfeinerung würde ihnen
unnütze seyn. Mit Antritt des vierzehnten Jahres empfängt
jeder angehende Jüngling die Gesetze des weisen Psammis;
er gelobet vor den Bildern der Huldgöttinnen, ihnen getreu
zu seyn; und dieses Gelübde wiederholt er im zwanzigsten, da
er mit dem Mädchen, welches er in seinem Hirtenstande geliebt
hat, vermählt wird. Denn die Liebe allein stiftet unsre
Heirathen. Im dreißigsten Jahr ist ein jeder verbunden, zu
seiner ersten Frau die zweite, und im vierzigsten die dritte
zu nehmen, wofern er nicht hinlängliche Ursachen dagegen
anführen kann, wovon wir kein Beispiel haben. Diese Vorsicht
war vonnöthen, weil die natürliche Proportion in der
Anzahl der Jünglinge und Mädchen durch Verschickung eines
Theils der ersten beträchtlich vermindert wird. Wir haben
Sklaven und Sklavinnen; aber mehr zum Vergnügen, als
um einen andern Nutzen von ihnen zu ziehen. Wir erkaufen
sie in ihrer ersten Jugend von den Beduinen; eine untadelige
Schönheit ist alles, worauf wir dabei sehen. Wir erziehen
sie wie unsre eigenen Kinder; sie genießen des Lebens so gut
als wir selbst; ihre Kinder sind frei, und sie selbst sind es
von dem Augenblicke an, da sie uns verlassen wollen. Sie
sind in nichts als in ihrer Kleidung von uns unterschieden,
welche zierlicher ist als die unsrige; und das einzige Vorrecht,
welches wir uns über sie herausnehmen, ist, daß sie uns bedienen,
wenn wir ruhen, und daß ihre vornehmste Beschäftigung
ist, uns Vergnügen zu machen."Alle unsre Vergnügungen sind natürlich und ungekünstelt;
und alle unsre Gemächlichkeiten tragen das Kennzeichen
der Einfalt und Mäßigung. Wir genießen die Seligkeit eines
ewigen Friedens, und einer Freiheit, die vielleicht für uns
allein ein Gut ist, weil wir ihren Mißbrauch nicht kennen.
Wir genießen die Wollust, welche die Natur mit der Befriedigung
der Bedürfnisse des Lebens, mit der Liebe, der Ruhe
nach der Arbeit, und mit allen geselligen Trieben verbunden
hat, vermuthlich in einem höhern Grade als die übrigen Sterblichen;
wir werden unsers Daseyns vollkommener und länger
froh; wir kennen die wenigsten von der unendlichen Menge
ihrer Plagen, und auch diese kaum dem Namen nach. Dafür
lassen wir ihnen gern ihre wirklichen oder eingebildeten Vorzüge,
ihre Pracht, ihre Schwelgerei, ihre langweiligen Zeitvertreibe,
ihre Geschäftigkeit einander beschwerlich zu seyn,
ihre Unzufriedenheit, ihre Laster und ihre Krankheiten. Sollten
wir sie um Künste beneiden, durch deren gränzenlose
Verfeinerung sie ihr Gefühl so lange verzärteln, bis sie nichts
mehr fühlen? oder um Wissenschaften, ohne welche wir uns
wohl genug befinden, um den heimlichen Neid des Gelehrtesten
unter ihnen zu erregen, wenn er uns kennen sollte?
Wir sind so weit entfernt von einem solchen Neide, daß jeder
Versuch, den einer von uns machen wollte, etwas an unsrer
Verfassung zu bessern, oder uns mit neuen Künsten und Bedürfnissen
zu bereichern, mit einer ewigen Verbannung bestrafen
würde. Ich selbst, setzte der Alte hinzu, habe einige
Jahre meines Lebens zugebracht, einen großen Theil des Erdbodens
zu durchwandern. Ich habe gesehen, beobachtet, verglichen.
Als ich dessen müde war, mit welchem Entzücken
dankte ich dem Himmel, daß ich einen kleinen Winkel des Erdbodens
wußte, wo es möglich war, ungeplagt glücklich zu seyn!
Mit welcher Sehnsucht flog ich zu den Wohnungen des Friedens
und der Unschuld zurück! — Es ist wahr, unser Volk
ist, in Vergleichung aller andern, ein Völkchen von ausgemachten
Wollüstigen; aber desto besser für uns! Sind wir
zu tadeln, daß wir uns nicht aus allen Kräften der Natur
entgegen setzen, die uns glücklich machen will?Hier endigte der Alte seine Rede. Weil die Sonne
schon hoch gestiegen war, führte er seinen Gast in eine bedeckte
Halle, welcher hohe dicht in einander verflochtene Castanienbäume
Schatten gaben. Kaum hatten sie hier auf einem
Sofa, der ringsherum lief, Platz genommen, so sah sich der
Alte von einer Menge schöner Enkel umgeben, die, wie schwärmende
Bienen, um ihn her wimmelten, ihn zu grüßen und an
seinen Liebkosungen Antheil zu haben. Die kleinsten wurden
von liebenswürdigen Müttern herbeigetragen, unter denen
keine war, die in ihrem einfachen und reizendnachlässigen Putz,
die weiten Aermel von ihren schneeweißen Armen zurückgeschlagen,
und ihren holdseligen Knaben an den leicht bedeckten
Busen gelehnt, nicht das schönste Bild einer Liebesgöttin dargestellt
hätte. Der Emir vergaß über diesem rührenden Anblick
eine Menge Fragen, die ihm unter der Erzählung seines
Wirthes aufgestoßen waren; und dieser überließ sich gänzlich
dem Vergnügen, sich an den Kindern seiner Kinder zu ergötzen.
Der Contrast des hohen Alters mit der Kindheit, durch die
sichtbare Verjüngerung des einen, und die liebkosende Zärtlichkeit
der andern, und durch eine Menge kleiner Schattirungen,
die sich besser empfinden als beschreiben lassen, gemildert; das
gesunde und fröhliche Aussehen dieses Greises, die Aufheiterung
seiner ehrwürdigen Stirne, das stille Entzücken, das sich beim
Anblick so vieler glücklichen Geschöpfe, in denen er sich selbst
vervielfacht sah, über alle seine Züge ausgoß; die liebreiche
Gefälligkeit, mit welcher er ihre beunruhigende Lebhaftigkeit
ertrug, oder womit er die kleinsten auf den Armen der schönen
Mütter mit seinen weißen Haaren spielen ließ; — alles zusammen
machte ein lebendiges Gemälde, dessen Anblick die
Güte der Moral des weisen Psammis besser bewies, als die
scharfsinnigsten Vernunftgründe hätten thun können. Der
Emir selbst, so sehr die ungestüme Herrschaft einer groben
Sinnlichkeit die sanftern und edlern Gefühle der Natur in
ihm erdrückt hatte, fühlte bei diesem Anblick sein verhärtetes
Herz weicher werden, und ein flüchtiger Schimmer von Vergnügen
fuhr über sein Gesicht hin; ein Vergnügen, gleich dem
himmlischen Lichtstrahl, der, plötzlich in den nachtvollen Abgrund
einfallend, den verdammten Seelen einen flüchtigen
Blick in die ewigen Wohnungen der Liebe und der Wonne gestatten
würde, um die Qual ihrer Verzweiflung vollkommen
zu machen."Die Urkunde, aus welcher ich diese Erzählung gezogen
habe, fuhr Danischmend fort, steht hier still; ohne uns von
dem Aufenthalte des Emirs bei diesen Glücklichen weitere
Nachrichten zu geben. Einige Scholiasten sagen, daß er in
voller Wuth über die trostlose Vergleichung ihres Zustandes
mit dem seinigen sich von einer Felsenspitze herabgestürzt habe.
Aber ein andrer, dessen Zeugniß ungleich mehr Gewicht hat,
versichert, daß er unmittelbar nach seinem Abschiede von den
Kindern der Natur in den Orden der Derwischen getreten
sey, und sich in der Folge, unter dem Namen Schek Kuban,
den Ruhm eines der größten Sittenlehrer in Yemen erworben
habe. Er unterschied sich, sagt man, besonders durch die
Lebhaftigkeit der Abschilderungen, die er von den unseligen
Folgen einer zügellosen Sinnlichkeit zu machen pflegte. Man
bewunderte die Stärke und Wahrheit seiner Gemälde, und
niemand, oder nur sehr wenige, welche die Gaben haben, zu
errathen was für ein Gesicht hinter jeder Maske steckt,
begriffen, warum er so gut malen konnte. Er hätte nützlich
seyn können, wenn er es dabei hätte bewenden lassen. Aber
Mißgunst und Verzweiflung erlaubten ihm nicht, in so bescheidenen
Schranken zu bleiben. Er warf sich zum erklärten Feinde
aller Freuden und Vergnügungen des Lebens auf. Ohne den
natürlichen und weisen Gebrauch derselben von dem sich selbst
strafenden Mißbrauche zu unterscheiden, schilderte er die Wollust
und die Freude als verderbliche Sirenen ab, die den armen
Wanderer durch die Süßigkeit ihrer Stimme herbeilocken, um
ihm das Mark aus den Beinen zu saugen, das Fleisch von
den Knochen zu nagen, und, wenn sie nichts mehr an ihm
finden, den Rest den Maden zur Speise hinzuwerfen. Er beschrieb
die Liebe zum Vergnügen als eine unersättliche Leidenschaft.
Hoffen, daß man sie werde in Schranken halten können,
sagte er, das wäre eben so weise, als wenn einer eine Hyäne
auf seinem Schooß erziehen wollte, in Hoffnung, sie zahm und
gutartig zu machen. Unter diesem Vorwande befahl er, alle
sinnlichen Neigungen auszurotten. Sogar die Vergnügungen
der Einbildungskraft hießen ihm gefährliche Fallstricke, und
die verfeinerte Wollust des Herzens und der Sinne ein künstlich
zubereitetes Gift, dessen Verfertiger mit ewigen Flammen
bestraft zu werden verdienten. Diese unbesonnene Sittenlehre,
die Frucht seiner verdorbenen Säfte, seines ausgetrockneten
Gehirns, und des immerwährenden Grams, in welchem seine
düstre Seele wohnte, predigte er so lange, bemühte sich so
sehr, sie durch tausend sophistische Schlüsse sich selbst wahr zu
machen, bis er es endlich so weit brachte, sich völlig davon
überzeugt zu glauben. Itzt bildete er sich ein, daß es lauter
Menschenliebe sey, was ihn anfeure, alle Leute zu eben so unglückseligen
Geschöpfen machen zu wollen, als er selbst war;
und nachdem seine Krankheit ihre höchste Stufe erreicht hatte,
endigte er damit, die Zerrüttung seiner Empfindungswerkzeuge
und Begriffe dem höchsten Wesen selbst beizulegen, und
den Schöpfer des Guten, dessen durch das Unermeßliche ausgebreitete
Kraft Leben und Wonne ist, als einen grämischen
Dämon abzuschildern, den die Freude seiner Geschöpfe beleidigt,
und dessen Zorn nur Enthaltung von allem Vergnügen,
nur Seufzer, Thränen und freiwillige Martern besänftigen
können.Es ließen sich noch viele merkwürdige Dinge von den Folgen
dieser menschenfeindlichen Sittenlehre sagen, und von dem
sinnreichen Gebrauche, welchen die Derwischen, Fakirn, Talapoinen,
Bonzen und Lamas in allen Theilen von Asien und
Indien davon zu machen gewußt haben. Aber ich würde doch
am Ende nur Dinge sagen, die dem Sultan meinem Herrn
und der ganzen Welt längst bekannt sind (wiewohl, ohne daß
die Welt sich dadurch besser zu befinden scheint), und es gibt
eine Zeit anzufangen und eine Zeit aufzuhören, sagt der
weise Zoroaster.Schach-Gebal war (wir wissen nicht warum) mit der Erzählung
des Philosophen Danischmend, besonders mit dem
Ende derselben, so wohl zufrieden, daß er sogleich Befehl gab,
ihm fünfhundert Bahamd'or aus seinem Schatze auszuzahlen.
Sobald, setzte er hinzu, die Stelle eines Oberaufsehers über
die Derwischen und Bonzen ledig wird, soll sie kein andrer
haben als Danischmend!Nicht von Ungefähr, sondern weil der Sultan von Nurmahal
voraus berichtet worden war, daß die Derwischen beim
Schlusse der Erzählung des Doctors übel wegkommen würden,
hatte der oberste Iman des Hofes Befehl erhalten, sich diese
Nacht beim Schlafengehen des Sultans einzufinden. Seine
Majestät ergötzten sich nicht wenig an dem Verdrusse, welchen
der Iman, wie Sie glaubten, über die Verwandlung des
Emirs in einen Derwischen empfinden würde. Aber vermuthlich
eben darum, weil der Iman, ohne daß er darum schlauer
als andre war, merken mußte, warum er die Ehre hätte da
zu seyn, beobachtete er sich selbst so genau, daß ihm nicht das
geringste Zeichen von Verdruß entwischte. Indessen konnt er
sich doch nicht erwehren die Anmerkung zu machen: "wofern
es auch (woran er doch billig zweifle) ein solches Völkchen in
der Welt gäbe, wie diese so genannten Kinder der Natur, so
glaube er doch, daß man besser thun würde, die Nachrichten
davon entweder gänzlich zu unterdrücken, oder wenigstens nicht
unter das Volk kommen zu lassen."Und aus was für Ursachen, wenn man Euer Ehrwürden
bitten darf? fragte der Sultan.Ich erstrecke diese meine Meinung, versetzte der Iman,
auf alle diese Schilderungen von, ich weiß nicht was für, idealischen
Menschen, die man unter dem angeblichen Scepter der
Natur ein sorgenfreies, aus lauter Wollust und angenehmen
Empfindungen zusammengewebtes Leben zubringen läßt. Je
unschuldiger und liebenswürdiger man ihre Sitten vorstellt,
desto schädlicher ist der Eindruck, den solche Erdichtungen auf
den größten Haufen machen werden. Aufrichtig zu reden
(fuhr er in einem sanft schleichenden Tone fort, der ausdrücklich
für seine wohlmeinende Miene gemacht war), ich kann
nicht absehen, was für einen Nutzen man davon erwartet;
oder wie man sich selbst verbergen kann, daß sie zu nichts
anderm dienen können, als einen Geist der Weichlichkeit in
der Welt auszugießen, der die Bürger des Staats von allen
mühsamen Anstrengungen und beschwerlichen Unternehmungen
abschreckt, und (indem er das Verlangen allgemein macht,
auch so glücklich zu seyn als diese angeblichen Günstlinge der
Natur, deren wollüstige Moral man uns für Weisheit gibt)
zuwege zu bringen, daß sich endlich niemand mehr willig finden
wird, das Feld zu bauen, harte Handarbeiten zu verrichten,
und sein Leben zur See oder gegen die Feinde des Staats zu
wagen. Ueberhaupt erfordert die Vervollkommnung eines jeden
Zweiges des politischen Wohlstandes Leute, die keine Arbeit
scheuen, und die mit hartnäckig anhaltendem Fleiße, dessen
keine weichliche Seele fähig ist, sich in die Wette beeifern, es
in einer gewissen Art von nützlichen Beschäftigungen zur Vollkommenheit
zu bringen. Ist es wohl jemals zu erwarten,
daß ein wollüstiger Kaufmann reich, ein wollüstiger Künstler
geschickt, oder ein wollüstiger Gelehrter groß werden könne?
Wird diese Anmerkung nicht wenigstens ganz gewiß von den
meisten gelten? Oder sollen wir etwan glauben, ein wollüstiger
Richter werde sein Amt desto pünktlicher und gewissenhafter
verwalten, oder ein weichlicher Feldherr aus dem Schooße
der Ueppigkeit desto tapferer hervorgehen, die Beschwerlichkeiten
eines Feldzuges desto besser ausdauern, und die Feinde des
Sultans unsers Herrn desto schneller und gewisser zu seinen
Füßen legen? — Sie sehen, Herr Danischmend, daß ich mich
der Waffen begeben kann, welche mir mein eigner Stand
gegen Sie an die Hand geben könnte.Während daß der Iman diese schöne Rede hielt, sang der
Sultan im Tone der langen Weile und mit halb geschlossnen
Augen, la Faridondäne la Faridondon, Dondäne Dondon Dondäne,
Dondäne Dondäne Dondon — denn er wußte sich etwas
damit, stark in Gassenhauern zu seyn. Nun, Doctor, rief er,
da der Iman fertig war, laß hören, was du diesen Gründen
entgegenzusetzen hast.Ich werde, versetzte Danischmend, mit Ihrer Majestät
Erlaubniß weiter nichts thun, als kürzlich zeigen, daß die
Gründe des Imans erstens zu viel, zweitens zu wenig, und
drittens gar nichts beweisen. Zu viel; denn alle seine Vorwürfe
treffen die Natur selbst eben so stark, als die Schilderungen
oder Erdichtungen, die ihm so gefährlich scheinen. Die
Grundsätze des weisen Psammis, die allgemeinen Wahrnehmungen
und Erfahrungen, auf welche seine Sittenlehre gebaut
ist, sind keine Erdichtungen. Wenn der Zustand, worein seine
Gesetzgebung die Einwohner der glücklichen Thäler setzte, unter
allen der Menschheit am angemessensten, wenn er derjenige
ist, worin sie am wenigsten leidet, am wenigsten Böses thut,
die Wohlthaten der Natur am wenigsten mißbraucht, und am
Ende ihres Laufes sich am wenigsten gereuen läßt, gelebt zu
haben, — wer kann dafür, oder wer hat ein Recht, etwas dawider
einzuwenden? Sind die angenehmen Empfindungen,
die uns die Natur von allen Seiten anbietet, etwa bloße Schaugerichte?
Sind es bloße Versuchungen, die uns in einer verdienstlichen
Enthaltung üben sollen? Wenn dieß ihre Absicht
gewesen ist, so muß man gestehen, daß die Natur wunderliche
Grillen hat. Kann man uns übel nehmen, wenn wir geneigter
sind, diejenigen, welche sie zur Thörin machen wollen, für grillenhafte
Leute anzusehen? Oder was wollen wir sagen, wenn
wir diese sonderbaren Sterblichen, die das Vergnügen in ganzem
Ernste für einen Fallstrick ihrer Tugend halten, zu Schlachtopfern
ihrer peinvollen Bemühung — die Hälfte ihres Wesens
zu zerstören — werden sehen? Werden sie mit ihrer verdorbenen
Galle, mit ihrer Schwermuth, mit ihrer ängstlichen
Furcht alle Augenblicke einen Mißtritt zu thun, kurz mit allen
den Gespenster, womit eine verwundete Einbildungskraft sich
umgeben sieht, geschickter seyn, ihre eigene Vollkommenheit und
das Beste der Gesellschaft zu befördern? Euer Ehrwürden,
welche sich in der Lage befinden, ein Tafelgenosse des Sultans
von Indien zu seyn, über die innerlichen Angelegenheiten von
fünf oder sechs der schönsten Damen in Dely die Aufsicht zu
führen, und alle Monate hundert Bahamd'or in Ihren Beutel
fallen zu lassen, welche zu erschwingen hundert arme Landleute
sich zu Gerippen arbeiten und hungern müssen, — stellen sich
vielleicht den Zustand eines armen Schelms, der von Brodkrumen
und Cisternenwasser lebt, und, damit die Schönheit
seine Sinne nicht verführen könne, sich die Augen an der Sonne
ausgebrannt hat, nicht ganz so unbehaglich vor, als ich schwören
wollte, daß er seyn muß. —Bravo, Danischmend! sagte der Sultan, mit halber
Stimme, und einem aufmunternden Winke, der dem Iman
nicht entging.Ich sage also (fuhr der Doctor fort), wenn die Absicht der
Natur nicht gewesen ist, uns durch schöne und ergötzende Gegenstände
in Fallen zu locken: so beweisen die Gründe des
Iman zu viel. Denn die reizendsten Schilderungen können
unmöglich auch nur die Hälfte der Wirkung hervorbringen,
welche die besagten Gegenstände selbst thun. Hatte hingegen
die Natur wohlgemeinte Absichten, welche nur durch Leichtsinn,
falschen Geschmack oder verderbte Grundsätze von den meisten
vereitelt werden: so ist es löblich und nützlich, sie durch solche
Schilderungen, wie diejenigen, die dem Iman zu mißfallen das
Unglück haben, auf den Pfad der Natur zurückzuführen, und
zu einem weisen Genuß ihrer Wohlthaten einzuladen.Zweitens beweisen seine Gründe zu wenig. Denn wenn
auch die ganze Welt mit Gemälden von glücklichen Inseln und
glücklichen Menschen angefüllt würde, so sind zehn an Eines zu
setzen, daß die Leidenschaften, welche zu allen Zeiten die Beweger
der sittlichen Welt waren, ihr Spiel nichtsdestoweniger
fortspielen werden. Die Begierde nach einem glücklichen Leben
wird, in jedem Staate, der auf die Ungleichheit gegründet ist,
die Begierde nach Reichthum, und der Reichthum die Begierde
nach Ansehen, Größe und willkürlicher Gewalt hervorbringen.
Diese Leidenschaften werden, je nachdem die Grundverfassung,
oder die zufällige Beschaffenheit der Staatsverwaltung, sie
mehr oder weniger begünstiget, eine Menge Talente ausbrüten;
und das Verlangen nach dem angenehmsten Genusse des Lebens,
von welchem der Iman eine allgemeine Unthätigkeit besorgt,
wird gerade das Gegentheil wirken: es wird uns emsige Leute,
Erfinder, Verbesserer, Virtuosen und Helden geben, so viel
und vielleicht mehr, als wir vonnöthen haben. Die idealischen
Schilderungen der Wollüste der Sinne, der Einbildungskraft
und des Herzens werden also, vermöge der Natur der Sache,
den großen Zweck mächtig befördern helfen, der Sr. Ehrwürden
so sehr am Herzen liegt. Man wird sich, wie ich gar nicht
zweifle, so lange man sich an solchen Gemälden ergötzt, in
diese glücklichen Inseln, Schäferwelten, oder wie man sie nennen
will, hineinwünschen, wo das angenehmste Leben so wenig
kostet; aber man wird des Wünschens bald überdrüssig seyn;
und — ohne zu hoffen, daß man unversehens einen schönen
Muschelwagen mit sechs geflügelten Einhörnern vor seiner
Thüre finden werde, um den Wünscher in die idealischen Welten
überzuführen —wird man sich gefallen lassen, diejenigen Mittel
um glücklich zu leben anzuwenden, die in unsrer Gewalt sind,
und in die Verfassung der Welt eingreifen, worin wir uns befinden.
Die Schlüsse des Imans beweisen also zu viel und zu
wenig, und folglich —gar nichts, welches das dritte war, was
ich zeigen wollte. Doch, wir wollen den schlimmsten Fall setzen,
der sich als eine Folge der Dichtungen oder Schilderungen,
wovon die Rede ist, denken läßt: gesetzt, daß sie die Wirkung
hätten, alle Völker, die zwischen dem Ganges und Indus wohnen,
zum Entschluß zu bringen, ihrer bisherigen Lebensart zu
entsagen — (wiewohl viel eher zu besorgen ist, daß mein
Emir-Derwisch ganz Indostan zu seiner fanatischen Sittenlehre,
als daß Psammis nur die kleinste Provinz davon zu
der seinigen bekehren werde) — aber setzen wir immer den
Fall; wie groß meinen Euer Ehrwürden, daß der Schade seyn
würde? Psammis hätte alsdann zu Stande gebracht, woran
die Weisen aller Völker seit einigen tausend Jahren mit sehr
mittelmäßigem Erfolge gearbeitet haben; oder suchen diese
Herren etwas andres, als die Menschen glücklicher zu machen?In der That, sagte der Sultan lachend, ich und der
Iman mit seinen Brüdern würden bei einer solchen Verwandlung
am meisten zu verlieren haben.Die Gefahr scheint größer als sie ist, sagte Nurmahal:
sechzig Millionen Menschen, wenn gleich ihr Gesetzgeber der
Engel Jesrad selber wäre, würden nicht zehn Jahre ohne
Sultan und ohne Iman aushalten können.Das hoffen wir auch, sagte der Sultan. Indessen bleibt
es bei dem, was ich dir versprochen habe, Danischmend. Hier,
Iman, sehen Euer Ehrwürden den ernannten Nachfolger des
Oberaufsehers über die Derwischen.Die Wahl macht der Weisheit Ihrer Majestät Ehre,
versetzte der Iman mit einer Miene, welche ziemlich deutlich
das Gegentheil sagte.Es kommt einem Sklaven nicht zu, einen andern Wunsch
zu hegen, als den Willen seines Herrn, sagte Danischmend;
aber wenn ich Ihre Majestät um irgend ein andres Dienstchen,
wie schlecht es auch wäre, bitten dürfte —Kein Wort mehr, fiel ihm Schach-Gebal ein: Danischmend
ist der Mann, und gute Nacht!—————
6.Des folgenden Abends erinnerte der junge Mirza, daß
Danischmend noch die Anwendung seiner Erzählung schuldig sey.Ihr erinnert mich zu rechter Zeit, Mirza, sprach der
Sultan. Er sollte über etwas seine Meinung sagen, und statt
dessen erzählt' er uns ein Mährchen, oder eine Historie, die so
gut als ein Mährchen ist. Was war es, Danischmend?Sire, die Rede war von einer gewissen Polizei, welche vonnöthen
gewesen wäre, damit der Luxus, den die Sultanin Lili
in Scheschian einführte, keinen sonderlichen Schaden thun
könnte. Ich bat mir die Erlaubniß aus, die Geschichte des
Emirs erzählen zu dürfen —"Gut; und ich merke ungefähr, was du damit wolltest.
Du schildert uns ein kleines Völkchen von vier- oder fünfhundert
Familien, die (Dank der Sittenlehre des weisen Psammis, die
mich so gut einschläferte!) sich gute Tage machen, gut essen
und trinken, sich von schönen Mädchen in den Schlaf singen
lassen, und bei allem dem die unschuldigsten und glücklichsten
Leute von der Welt sind. Das alles war recht schön zu hören:
aber deine Meinung ist doch nicht, daß die Gesetzgebung des
weisen Psammis für eine Nation, die aus vielen Millionen
Familien besteht, brauchbar seyn könnte?"Ich danke Ihrer Majestät demüthigst für die Gerechtigkeit,
die Sie meiner Vernunft angedeihen lassen, erwiederte Danischmend.
Die Geschichte des Emirs und der Kinder der
Natur sollte in der That nur so viel darthun: daß es ganz
verschiedene Sachen seyen, ein kleines von der übrigen Welt
abgeschnittenes Volk und eine große Nation, welche in Verbindung
mit zwanzig andern lebt, glücklich zu machen. Zwar ist
die Glückseligkeit bei dieser sowohl als bei jenem das Resultat
eines der Natur gemäßen Lebens. Aber eben darum muß der
Unterschied in der Hauptsumme des Guten und Bösen verhältnißweise
desto größer seyn, je weiter ein Volk von der
Natur entfernt, und je weniger ihm möglich ist, sich mit den
bloßen Naturgesetzen zu behelfen. Weder Psammis noch Confucius,
noch alle zwölf Imans, die ächten Nachfolger unsers
Propheten selbst, hätten eine Gesetzgebung erfinden können,
wodurch alle Angehörigen eines großen Staats so frei, ruhig,
unschuldig und angenehm leben könnten, als die sogenannten
Kinder der Natur. Die Ursachen fallen in die Augen. Dieser
Zusammenfluß von besondern Umständen, welche zu den nothwendigen
Bedingungen des Wohlstandes der letztern gehören,
läßt sich bei keinem großen Volke denken. Bei diesem sind
Freiheit und allgemeine Sicherheit unverträgliche Dinge; und
die Gleichheit bringt unzählige Collisionen und Zwistigkeiten
hervor, welche durch das Recht der Stärke entschieden werden;
der Stärkere unterwirft sich den Schwächern, der Schlaue den
Einfältigen, und so hört die Gleichheit auf. Ebenso unmöglich
ist es, daß ein großes Volk die Vortheile der Künste, die
das Leben verschönern und angenehmer machen, genießen
könnte, ohne auch die Uebel zu erfahren, welche den Mißbrauch
derselben begleiten. Ein sehr kleines Volk kann durch Gesinnungen
und Sitten in den Schranken der Mäßigung und des Mittelstandes
erhalten werden, woran seine Glückseligkeit gebunden
ist. Aber ein großes Volk hat Leidenschaften vonnöthen, um
in die starke und anhaltende Bewegung gesetzt zu werden,
welche zu seinem politischen Leben erfordert wird. Alles, was
der weiseste Gesetzgeber dabei thun kann, ist, den Schaden zu
verhüten, welchen das Uebermaß oder der unordentliche Lauf
dieser Leidenschaften dem ganzen Staate zuziehen könnte. Einzelne
Glieder mögen immer das Opfer ihrer eigenen Thorheit
werden; das ist ihre Sache. Der Gesetzgeber kann es nicht
verhindern; denn dieß müßte durch Mittel geschehen, wodurch
größere Uebel veranlaßt würden, um kleinere zu verhüten.
Aus diesen Betrachtungen halte ich eine Polizei, durch welche
der Luxus einer großen Nation ganz unschädlich werden sollte,
für eine eben so große Chimäre, als das Project des Philosophen
Fanfaraschin, welcher vor ungefähr hundert Jahren
zwanzig Quartbände schrieb, um Anweisung zu geben, wie man
alle Menschenkinder auf dem festen Land und auf den Inseln
des Meeres zu Weisen und Virtuosen bilden könne; — ein
Project, wovon die Idee schimmernd, die Unternehmung rühmlich,
aber die Ausführung — unmöglich war, und, gegen die
Absicht des guten Fanfaraschin, einige schlimme Folgen hatte,
an die er nicht gedacht zu haben schien, und die desto schädlicher
waren, weil eine lange Zeit niemand merkte, woher das
Uebel kam.Zum Exempel? sagte Schach-Gebal.Unter andern diese, daß unter fünfhundert jungen Leuten,
die nach seiner Methode gebildet wurden, sich zum wenigsten
hundertundfünfzig fromme, discrete, schleichende, gleißnerische
Schurken bildeten, welche ausgelernte Meister in der Kunst
waren, ihre Leidenschaften zu verbergen, ihre schlimmen
Neigungen in schöne Masken zu verstummen, die Unverständigen
durch eine lauter Tugend und Religion tönende Phraseologie
zu täuschen, mit Einem Worte, unter dem Schein der pünktlichsten
Moralität mehr Gutes zu verhindern und mehr Böses
auszuüben, als sie hätten thun können, wenn man sie ihrem
Naturell und den Umständen überlassen hätte. — Ferner,
daß aus den besagten fünfhundert ungefähr dreihundert herauskamen,
welche, wie abgerichtete Hunde und Affen, alle Künste
machten, die man sie gelehrt hatte, auf den Wink gingen,
alles wieder von sich geben konnten, was ihnen eingegossen
worden war, über nichts ihre eigene Empfindung zu Rathe
zogen, an nichts zweifelten was man ihnen für wahr gegeben
hatte, kurz, in allen Stücken die Affen des weisen Fanfaraschin
vorstellten; welches (ich getraue mir es zu behaupten)
gerade wider die Absicht der Natur war. Denn diese will,
daß ein jeder Mensch seine eigene Person spiele! Es war
an Einem Fanfaraschin genug; und dreihundert Personen,
welche das gewesen wären, wozu ihre natürliche Anlage sie
bestimmte, wären, so schlecht sie auch immer hätten seyn
mögen, doch noch immer besser gewesen als dreihundert Fanfaraschin,
zumal da unter diesen dreihundert wenigstens
zwei hundertundneunzig mißlungene Fanfaraschin waren.
Ferner — —Ich habe genug, fiel ihm der Sultan ein: wann lebte
dieser Fanfaraschin?Zu den Zeiten Schach-Dolka's, Ihrer Majestät Urahnherrns,
glorreichsten Andenkens — —La Faridondäne La Faridondon. —brummte der Sultan:
aber wir kommen aus dem Zusammenhang, Danischmend; was
war es, was du sagen wolltest, wenn dir der weise Fanfaraschin
nicht zur Unzeit in die Zähne gekommen wäre?"Daß, wenn gleich nicht gänzlich zu verhindern sey, daß
der Luxus einem großen Volke nichts Böses thun sollte, die
Geschichte des Emirs und der Kinder der Natur uns dennoch
ein paar Grundmaximen an die Hand geben könnte, durch
deren Beobachtung die schöne Lili wenigstens den größten Theil
des Uebels, welches ihr die Unglück weissagenden Alten angekrähet
hatten, zu verhüten fähig gewesen wäre. Hätte diese
liebenswürdige Dame meine Wenigkeit zu Rathe ziehen können,
so würde ich mir die Freiheit genommen haben, ihr diese Antwort
zu geben:"Bei Auflösung aller Fragen, von welcher Art sie seyn
mögen, däucht mir die natürlichste und einfältigste Methode
gerade die beste. Diese Maxime gilt vornehmlich, wenn von
politischen Aufgaben die Rede ist, wo ganz unfehlbar die verwickelten
und weitläufigen Auflösungen noch unbrauchbarer
sind als bei allen andern. Die Frage ist: "was sollen wir
thun, damit die äußerste Verfeinerung der Künste, des Geschmacks,
der Leidenschaften, der Sitten und der Lebensart,
mit Einem Worte, der Luxus, einer großen Nation so wenig
als möglich schade?" — Die Natur, Madame, zeigt uns gegen
jedes Uebel, dem sie uns unterwürfig gemacht hat, auch ein
zulängliches Mittel. Sollte es in diesem Fall anders seyn?
Ich denke, nein. Wenn wir den größten und nützlichsten, folglich
den wichtigsten Theil der Nation vor der Ansteckung bewahren
können, so haben wir sehr viel, und in der That alles
gethan, was man von einer weisen Regierung fordern kann.
Zu gutem Glücke ist nichts Leichteres. Der größte Theil der
Nation von Scheschian ist derjenige, der zum Ackerbau und zur
Landwirthschaft bestimmt ist. Die Natur selbst, in deren
Schooß erlebt, erleichtert uns die Mühe unendlich; wir haben
beinahe nichts zu thun, als ihr nicht vorsetzlich entgegenzuarbeiten.
Lassen Sie diese guten Leute ihres Daseyns froh werden.
Geben Sie nicht zu, daß sich alle übrigen Stände unter
unzähligen Vorwänden vereinigen, sie auszurauben und zu
unterdrücken, daß das unerträgliche Geschlecht der Pächter und
Einzieher der königlichen Einkünfte, daß Beamte, Richter,
Procuratoren, und Sachwalter, Edelleute, Bonzen und Bettler,
so unbescheiden und unbarmherzig an ihnen saugen, bis
ihnen nur die Haut auf den Knochen übrig bleibt. Lassen Sie
dieser unentbehrlichsten und unschuldigsten Classe von Menschen
so viel von den Früchten ihrer Arbeit, daß sie mit frohem Muth
arbeiten, daß sie Zeit zur Ruhe, Zeit zu ihren ländlichen Festen
und Ergötzungen übrig haben. Wenn allzu großer Ueberfluß
auch diesem Stande, wie allen übrigen, schädlich ist, so lassen
Sie uns nicht vergessen, daß zu wenige oder ungesunde Nahrung,
daß Mangel an aller Gemächlichkeit, daß Nacktheit,
Kummer und Elend ihm ungleich verderblicher sind. Stimmen
wir immer die Glückseligkeit unsers Landvolkes um etliche
Grade tiefer herab als die Glückseligkeit der Kinder der Natur
war; aber lassen wir ihnen so viel, daß es ihnen, ohne alles
natürliche Gefühl verloren zu haben, möglich sey mit ihrem
Zustande zufrieden zu seyn. Unter uns gesagt, schöne Lili,
das sind wir ihnen schuldig, in einem unendlichemal verbindlichern
Grade schuldig, als wir es sind unsre Spielschulden zu
bezahlen. Aber wenn dieß auch nicht wäre, so sind wir es
dem Staate, dem ganzen Scheschian schuldig. Denn es gibt
kein anderes Mittel (ich fordre alle Ihre Staatskünstler, Goldmacher
und Projectmacher heraus, mir ein andres zu nennen),
den allgemeinen Wohlstand eines großen Reiches auf einen
festen Grund zu setzen, als dieses. Wenn das Landvolk Ursache
hat zufrieden zu seyn, so verlassen Sie sich wegen des Uebrigen
auf die Zauberei der Natur. Sie hat für unverdorbene Sinne
Reizungen, deren Macht unsern ausgearteten unbegreiflich ist.
Der Landmann zieht die angenehmen Gefühle, womit sie seine
Arbeiten theils verwebet, theils belohnet, darum mit nicht
desto weniger Wollust in sich hinein, weil er ihnen keinen Namen
geben, oder sie nicht so zierlich beschreiben kann, wie
unsre Dichter, die sie vielleicht nur durch die Anstrengung ihrer
Einbildungskraft kennen. Welche Behaglichkeit gießt, indem er
an die Arbeit geht, ein schöner Morgen, und die aufgehende
Sonne über alle seine Glieder aus! Wie erquickt ihn ein frischer,
mit den Düften abgemähter Kräuter und Feldblumen
durchwürzter Wind! Wie angenehm ist ihm der Schatten eines
Baumes in der glühenden Mittagshitze! Wo ist der Reiche,
der die theuersten Weine mit der Hälfte der Wollust in sich
schlürfe, wie der lechzende Schnitter seinen Krug mit steuerlicher
Milch? Versuchen Sie es einmal, schöne Lili, führen
Sie diesen gesunden, kernhaften, wohlgebildeten jungen Bauer,
diesen ächten Sohn der Natur, mitten an den Hof; zeigen
Sie ihm alle Ihre Herrlichkeiten, Ihre Pracht, Ihre Feste,
Ihre Schauspiele; aber verbergen Sie ihm auch den ewigen
Zwang, den Ueberdruß, die lange Weile, die Gefahren dieser
blendenden Maskerade nicht; — wie bange wird ihm ums
Herz seyn, bis er wieder in seiner Hütte ist! und mit welcher
Ungeduld wird er von Ergötzlichkeiten, die ihm beschwerlicher
seyn werden als die mühseligste Arbeit, zu seinen Schnitterfesten,
zu seiner Weinlese und zu seinen Reihentänzen zurückfliegen!
Wie selig wird er in Vergleichung mit dem unsrigen
seinen Zustand preisen! Sie sehen, schöne Lili, wie wenig das
Glück der zwei besten Drittheile von Scheschians Einwohnern
dem Sultan unserm Herrn kosten wird. Ich verlange nichts
für sie, als Sicherheit bei ihrem Eigenthum, und Schutz vor
Unterdrückung, die Natur hat alles Uebrige auf sich genommen. —
"Gut, sagen Sie, was werden wir damit gegen die
Folgen des Luxus gewinnen?" — Sehr viel. Es ist schon
viel, wenn wir vier Millionen von sechsen vor der Ansteckung
verwahrt haben. Aber dieß ist noch nicht alles. Die Vortheile
davon werden sich auf mehr als Eine Weise auch über den angesteckten
Theil verbreiten. Von Zeit zu Zeit werden unsre
Großen, werden die reichen und üppigen Bewohner der Hauptstädte,
von Ueberdruß, langer Weile, und von der Nothwendigkeit,
eine abgenutzte Gesundheit auszubessern, aufs Land
geführt werden; unvermerkt werden sie Geschmack an den einfältigen,
aber mit der menschlichen Natur so fein zusammengestimmten
Freuden des Landlebens gewinnen; unvermerkt
werden sie eine Menge von Vorurtheilen und die dicke Haut
der Fühllosigkeit, die sich gleichsam um ihr Herz gezogen hatte,
abstreifen; sie werden sich mit neuen Bildern und nützlichen
Wahrnehmungen bereichert sehen, richtiger empfinden, und
besseres Blut machen: und so klein auch der Antheil an diesen
Vortheilen seyn mag, den die meisten mit sich nehmen, so
werden sie doch immer besser in die Stadt zurückkommen, als
sie abgegangen sind. Noch mehr. Die Natur ist fruchtbar.
Das Landvolk, sobald es nach seiner Weise glücklich ist, vermehrt
sich ins Unendliche. Das Land wird eine unerschöpfliche
Quelle, woraus die Städte (und bei Gelegenheit vielleicht
auch der Adel) mit gesundem frischem Blute wieder angeschwellt
werden, welches den Staat in immerwährender Jugend und
Stärke erhält. Aus den jungen Schwärmen, welche diese Bienenstöcke
ausstoßen, werden sich die übrigen Stände ergänzen,
und so werden die Verheerungen, die der Luxus anrichtet,
beinahe unmerklich bleiben. Dieß, schöne Lili, würd' ich sagen,
ist mein erstes Hausmittel. Das andre — —Ich mag den Herrn Danischmend ganz gern phantasiren
hören, sagte Schach-Gebal, aber bei allem dem, wenn er sich,
was den zweiten und alle folgenden Punkte betrifft, so kurz
als möglich aus der Sache ziehen wollte, so würde mir ein
Gefallen geschehen.Sire, versetzte Danischmend, was ich noch zu sagen hatte,
betrifft bloß die moralischen Giftmischer. Ich finde deren
zwei Gattungen in der Welt. Zur einen rechne ich die
üppigen Sittenlehrer, deren Seele bloß in ihrem Blute ist,
die den wesentlichen Vorzug des Menschen vor dem Thiere
mißkennen, und das höchste Gut gefunden zu haben glaubten,
wenn sie den Maulwürfen und Meerschweinchen keinen Vorzug
eingestehen müßten; zur andern diese gravitätischen Zwitter
von Schwärmerei und Heuchelei, welche, unter dem Vorwande,
die menschliche Natur von ihren Schwachheiten zu befreien,
ihre Grundzüge auskratzen, und ihre einfältig schöne Form
am einen Orte stümmeln am andern recken und aufblasen,
um eine Mißgeburt aus ihr zu machen, für die man keinen
Namen finden kann. Beide sind als Störer der geheiligten
Gesetze der Natur, und als Verderber des schönsten unter
allen ihren Werken anzusehen: und wenn ihre verderblichen
Bemühungen sich mit den natürlichen Folgen und Einflüssen
des Luxus bei einem Volke vereinigen, wie und wem sollt'
es möglich seyn, dieses Volk zwischen so gefährlichen Klippen
unbeschädigt durchzuführen? —Welche von besagten beiden
Arten von Vergiftern die schädlichste sey, ist eine Aufgabe,
die vielleicht nicht unwürdig wäre, von der Akademie Ihrer
Majestät entschieden zu werden. Aber, wenn wahr ist, was
man bemerkt haben will, daß sich jene gemeiniglich in diese
verwandeln, so könnte man auf den Gedanken kommen, die
Denkungsart der letztern aus einem höhern Grade von Verderbniß
der Natur zu erklären. Doch, wie dem auch sey, die
Frage ist, wie wir diesen schädlichen Geschöpfen ihr Gift benehmen
wollen? Ich vermuthe, daß jene in einem wohl
policirten Arbeitshause, bei mäßiger Kost und einem Spinnrade
richtiger philosophiren lernen sollten. Aber was die
zweite Gattung betrifft — es sey nun, daß sie es, wie der
Derwisch Kuban, so weit gebracht haben, ihre fieberischen
Träume für Wahrheit zu halten, oder daß sie nur gewissen
Aerzten gleichen, welche die Leute krank machen, um sich ihre
Heilung als ein Verdienst anrechnen zu können, — so weiß
ich der schönen Lili keinen andern Rath zu geben, als diese
wackern Leute nach ihren eigenen Grundsätzen zu behandeln.
Wir sind aus der Welt ausgegangen, sagen sie: gut, man
nehme sie beim Worte: Man messe zu einer jeden Derwischerei
und Bonzerei so viel Land, als sie zu ihrem Unterhalte vonnöthen
haben, ziehe eine hohe Mauer rings umher, und —
um der Welt alle Gelegenheit abzuschneiden sie in dem edlen
Werke ihrer Entkörperung zu stören — maure man alles sogleich
und eben zu, daß niemand, wer einmal darin ist, wieder
heraus könne: so ist allem Bösen vorgebogen, und jedermann
kann zufrieden seyn.Weißt du wohl, Danischmend, sagte der Sultan, daß ich
gute Lust habe, deinen Vorschlag, wenigstens was die Bonzen
betrifft, ins Werk zu setzen? Es ist wie du sagst; niemand
kann was dagegen einzuwenden haben. Ich selbst und meine
Unterthanen gewinnen etliche Millionen Taels dabei, die man
besser anwenden könnte; und die Bonzen hätten vollkommene
Muße, Pagoden zu werden, wie und wann sie wollten.Es war glücklich für die Bonzen, oder vielmehr für den
Sultan selbst, daß dergleichen Einfälle bei ihm keine Folgen
hatten; denn er würde vermuthlich in der Ausführung einige
Schwierigkeiten gefunden haben.—————
7.Um die gewöhnliche Zeit fuhr die Sultanin Nurmahal
in ihrer Erzählung der Geschichte von Scheschian also fort:Da die schöne Lili nicht so glücklich war, den weisen
Danischmend zum Rathgeber zu haben, so erfolgte nach und
nach, was die Mißvergnügten und Milzsüchtigen von den
Folgen ihrer schimmernden Regierung geweissagt hatten; und
die Gegner des Luxus hatten nun den Triumph, sich in ihren
schallreichen Declamationen auf die Erfahrung berufen zu können.
Indessen wurde doch das Uebel erst unter der folgenden
Regierung sichtbar, welche überhaupt eine der merkwürdigsten
ist, die wir aus den Jahrbüchern von Scheschian kennen lernen,
weil sie ein erstaunliches Beispiel abgibt, wie viel Böses unter
einem gutherzigen Fürsten geschehen kann.Azor, ein Sohn der schönen Lili, bestieg nach dem Tode
seines namenlosen Vaters den Thron unter den glücklichsten
Vorbedeutungen. Er war der schönste junge Prinz seiner
Zeiten, einnehmend in seinem Bezeigen, sanft von Gemüthsart,
geneigt, Vergnügen zu machen, und sich denjenigen völlig
zu überlassen, welche die Werkzeuge des seinigen waren. Das
Volk, gewohnt von allem nach dem Eindrucke, der auf seine
Sinne gemacht wird, zu urtheilen, erwartete von der Regierung
eines so guten Prinzen goldene Zeiten, und hatte
Unrecht; es betete ihn zum voraus deßwegen an, und hatte
Unrecht; es hassete und verachtete ihn zwanzig Jahre hernach
eben so unmäßig, als es ihn geliebt hatte, und hatte sehr
Unrecht.Sie erregen meine Neugier, sagte der Sultan: lassen
Sie hören, warum die Scheschianer immer Unrecht hatten;
Unrecht, wenn sie ihren König liebten, und Unrecht, wenn sie
ihn haßten; aber vergessen Sie nicht, daß ich kein Liebhaber
von Wortspielen bin.Die Neugier Ihrer Majestät soll befriediget werden, versetzte
Nurmahal, wenn ich anders meine Geschichte lebhaft
genug werde erzählen können, um Ihre Aufmerksamkeit zu
unterhalten.Ich danke für das Compliment, das Sie der Gründlichkeit
meines Geistes machen, sagte der Sultan: aber zur
Sache!Der junge Azor war wie die meisten Menschen (Prinzen
oder nicht) mit einer Anlage geboren, aus welcher, unter den
bildenden Händen eines Weisen, ein vortrefflicher Privatmann,
und vielleicht sogar ein guter König, hätte hervorkommen
mögen. Freilich war er keiner von diesen mächtigen und
seltnen Geistern, die sich selbst bilden; die mitten unter einer
rohen oder verderbten Nation, in einem unglücklichen Zeitalter,
ohne einen andern Anführer oder Gehülfen als ihren
eigenen Genius, die Wege der Unsterblichkeit gehen, durch die
natürliche Erhabenheit und Scharfsicht ihres Geistes den
ganzen Umkreis der menschlichen Angelegenheiten übersehen;
und, kurz, die großen Grundregeln einer weisen Regierung in
ihrem eigenen Verstande, so wie in ihrem Herzen das Urbild
jeder königlichen Tugend finden.Allergnädigster Herr, sagte Danischmend, ich bitte um
Vergebung; aber es ist mir unmöglich, die schöne Nurmahal
nicht zu unterbrechen. Der Verfasser, aus dem sie diese
prächtige Periode entlehnt hat, glaubte vermuthlich etwas sehr
Schönes gesagt zu haben; aber es ist bloßer Schall. Es gibt
keine so wundervollen Menschen, als er uns bereden will;
und Prinzen sind, bei allen ihren Vortheilen vor uns andern,
im Grunde doch, wie man sagen möchte, nur eine Art von —
Menschen. Um der menschlichen Natur und dem guten Sultan
Azor das gebührende Recht angedeihen zu lassen, wollen wir
lieber ohne alle Wörterpracht heraus sagen: "Er befand sich
nicht in den glücklichen Umständen, welche sich vereinigen
müssen, um aus einem jungen Prinzen von der besten Anlage
einen vortrefflichen Fürsten zu bilden." So war es in der
That; und ich bin erbötig, im Nothfall gegen die ganze
Akademie von Dely zu behaupten: "daß von Erschaffung der
Welt an (welches schon lange seyn mag) kein einziger großer
Mann gelebt hat, der sich ohne Anführer, ohne Beispiel
und ohne Gehülfen bloß durch die Stärke seines eigenen Genius
gebildet hätte."Ich danke dem Philosophen Danischmend im Namen aller
Sultanen, meiner guten Brüder, für eine so tröstliche Anmerkung,
sagte der Sultan lächelnd. Allen den Schmeichlern,
die mir tausendmal das Gegentheil gesagt haben, zu Trotz,
glaube ich, daß er Recht hat; und wenn ich nicht besorgte,
mir einige schale Complimente zuzuziehen, so wollt' ich noch
hinzusetzen, daß ich sehr daran zweifle, ob jemals einer von
uns nur bald so gut gewesen ist, als er unter günstigern
Umständen hätte seyn können.Es schwebte dem naseweisen Danischmend auf der Zunge,
zu sagen: oder nur halb so gut, als er unter den Umständen
seyn konnte, worin er sich wirklich befand. Aber zu seinem
Glücke besann er sich noch, "daß die Wahrheit, die man einem
Großen sagt, niemals beleidigen soll," und daß es wirklich
sehr ede! an dem Sultan war, aus eigener Bewegung so viel
einzugestehen, als er schon eingestanden hatte. Er begnügte
sich also, der schönen Nurmahal die preiswürdige Demuth
seines Herrn rühmen zu helfen, und die Sultanin setzte die
Erzählung also fort:Die Erziehung des Prinzen Azor war mehr vernachlässiget
worden, als man es von den Einsichten der schönen Lili, seiner
Mutter, hätte erwarten sollen. Diese Dame hatte in
der Wahl desjenigen, dem sie den vornehmsten Theil seiner
Bildung anvertraute, einen kleinen Trugschluß gemacht, der
für ihren Sohn, und für die Völker, deren Schicksal einst
von seiner Art zu denken abhangen sollte, von großen Folgen
war. Sie glaubte, ein Mann, der die Gabe hatte, ihr besser
als irgend ein anderer die Zeit zu vertreiben, und der überdieß
die niedlichsten kleinen Verse machte, müsse nothwendig
auch die Gabe haben, einen König zu bilden. Der Prinz bekam
also einen schönen Geist zum Hofmeister, der nichts vergaß,
um seinen Witz zu schärfen und seinen Geschmack zu verfeinern.
Azor lernte die Schönheiten der Dichter empfinden,
Schönen aus Tragödien declamiren, den gemeinsten Dingen
sinnreiche Wendungen geben, und zwanzig andre solche Künste,
welche zur Auszierung gehören, und ihren Werth haben, wenn
sie der Schmuck wesentlicher Vollkommenheiten sind. Der Prinz
stellte sich auf die edelste und angenehmste Art in einer Gesellschaft
dar, er sagte witzige und verbindliche Sachen, er kleidete
sich mit dem besten Geschmack, und urtheilte besser als
jemand von allem, was in dem Gebiete des Schönen liegt.
Er blies die Flöte, malte ganz artig, und tanzte zum Bezaubern.
Seine Feinde (denn bei aller seiner Liebenswürdigkeit
fehlte es ihm nicht an Feinden) sagten ihm sogar nach, daß
er in der Schwärmerei seiner ersten Leidenschaft für eine Dame
des Hofes —Verse gemacht habe; Verse, welche ihm die Ungelegenheit
zugezogen hätten, von den Poeten seiner Zeit einhellig
zu ihrem Schutzgott gewählt, und im Eingange ihrer
Gedichte oder in schallreichen Zueignungsschriften mit hungriger
Beredsamkeit um seinen mächtigen Beistand und — eine Mittagsmahlzeit
angerufen zu werden.Eh' ich weiter fortgehe, Sire, muß ich eines Umstandes
erwähnen, der in verschiedene Theile der Geschichte von Scheschian
einigen Einfluß hat, und einen Zweig der Sitten betrifft,
worin die Bewohner dieses Landes von den meisten Völkern
in Asien unterschieden sind. Das weibliche Geschlecht genoß
bei ihnen von alten Zeiten her aller der Freiheit, in deren
Besitz es bei den abendländischen Völkern ist; und unter der
Sultanin Lili, welche sich eine Angelegenheit daraus gemacht
hatte, die schönsten und vollkommensten Personen ihres Geschlechtes
aus dem ganzen Scheschian um sich der zu versammeln,
war der Hof, aus einer finstern Werkstätte der öffentlichen
Geschäfte ein Schauplatz der angenehmsten Bezauberungen
der Liebe und des Vergnügens geworden.Der junge Prinz konnte nicht fehlen, sich in dieser Schule
gar bald zu demjenigen auszubilden, was die Damen seines
Hofes einen liebenswürdigen Mann nannten. Sie beeiferten
sich in die Wette, das Werk seiner Erziehung zur Vollkommenheit
zu bringen; und es ist zu vermuthen, daß ihre
Absagten dabei nicht so ganz uneigennützig waren , als sie sich
das Ansehen gaben. Azor befand sich eben in der Verlegenheit.
sein Herz unter so vielen reizvollen Gegenständen eine Wahl
treffen zu lassen, als ihm der Tod des Königs, seines Vaters,
eine Krone aufsetzte, von deren Werth er ziemlich romantische
Begriffe haben mußte, weil sie (wie er zu einer jungen
Schönen seines Hofes zu sagen beliebte) nur insofern einigen
Preis in seinen Augen habe, als er sie, zugleich mit seinem
Herzen, zu den Füßen dieser kleinen Zaubrerin legen
könne. Man kann aus dieser Probe sicher schließen, wie gut
er in den Pflichten, die mit dieser Krone verbunden waren,
müsse unterrichtet gewesen seyn.In der That waren diese Pflichten für Personen, welche
einen so angenehmen Gebrauch von ihrem Leben zu machen
wußten, als man es an dem Hofe zu Scheschian gewohnt
war, allzu beschwerlich, als daß nicht ein jedes, das man damit
beladen wollte, geeilet haben sollte, sich einer so mühsamen
Bürde so bald nur immer möglich wieder auf die Schultern
einer andern Person zu entledigen. Der junge König überließ
den größten Theil davon seiner Mutter; seine Mutter ihrem
Günstlinge; der Günstling seinem ersten Secretär; der erste
Secretär seiner Maitresse; die Maitresse einem Bonzen, welcher,
unter dem Vorwand an ihrer Seele zu arbeiten, Gelegenheit
fand, sich sehr tief in die Angelegenheiten der Welt
zu mischen, und endlich eine große Rolle zu spielen, ohne einen
andern Beruf dazu zu haben, als einen lächerlichen Ehrgeiz
und die Neigung zum Ränkeschmieden, die damals ein
unterscheidendes Merkmal der Personen seines Standes in
Scheschian war. Natürlicher Weise konnte diese Einrichtung
der Sachen von keiner langen Dauer seyn. Das System änderte
sich, so wie die geheimen und unermüdeten Bewegungen
der Regiersucht und des Eigennutzes eine Verwechselung der
Personen veranlaßte. Es begegnete also, zum Beispiel, daß
die besagten Pflichten zwischen der Königin-Mutter und einer
Maitresse des Königs getheilt wurden; die Maitresse übertrug
alsdann ihren Antheil an ihre erste Kammerfrau; diese an
ihren Liebhaber; der Liebhaber an seinen vertrautesten Diener,
und so fort; und was man von allen diesen Veränderungen
am gewissesten sagen konnte, war, daß der Staat gemeiniglich
mehr dabei verlor als gewann.Ich bin zwar bereits über zwanzig Jahre Sultan, sagte
hier Schach-Gebal lächelnd: aber ich möchte doch bei dieser
Gelegenheit gerne von dir hören, Danischmend, was ihr andern
weisen Leute unter den Pflichten eines Königs versteht.Sire, versetzte Danischmend, ich habe dazu nichts anders
vonnöthen, als alles das Rühmliche, was Ihre Majestät gethan
haben, in allgemeine Sätze zu verwandeln — —Keine Complimente, ein für allemal! sagte der Sultan.
Eure Gedanken von der Sache, mit Vorbehalt meiner Freiheit
davon zu denken was mir belieben wird!Sire, versetzte der Philosoph, die Pflichten eines Königs,
sagt man, sind:"Einem jeden sein Recht widerfahren zu lassen, und alle
Ungerechtigkeiten, die er nicht verhindern kann, zu bestrafen;Die tauglichsten Personen zu den öffentlichen Ehrenstellen
und Aemtern zu befördern;"Die Verdienste zu belohnen;"Die Staatseinkünfte weislich anzuwenden;"Und seinen Völkern sowohl innerliche Ruhe als Sicherheit
vor auswärtigen Feinden zu verschaffen."Insofern alle diese Pflichten wirklich erfüllt werden (setzt
man hinzu), kann es dem Staate gleichgültig seyn, ob sie der
König durch sich selbst oder durch andere ausübet; genug, daß
er der erste Beweger aller Triebfedern desselben ist. Indessen
hat es doch zu allen Zeiten Fürsten gegeben, welche durch ihr
Beispiel diese Pflichten um ein Namhaftes erschwert haben.
Sie glaubten, ihrem Amte nicht anders genug thun zu können,
als indem sie, mit Hülfe der Weisesten und Besten ihres
Volkes, selbst an dem allgemeinen Wohlstande arbeiteten. Sie
strebten hierin nach Erreichung eines gewissen Ideals, welches
sie sich in ihrem Geiste entworfen hatten, und glaubten nicht
eher glücklich zu seyn, bis sie sich selbst mit einem hohen
Grade von Gewißheit sagen könnten: "Nun ist unter allen
den Myriaden oder Millionen, deren Glück mir anvertraut
ist, kein einziger, der durch meine Schuld, durch irgend eine
meiner Leidenschaften, oder nur durch meine Nachlässigkeit
unglücklich wäre." Sie begriffen unter dem Umfang ihrer
Pflichten — eine auf die Grundregeln der Natur und die Bedürfnisse
und Umstände ihres Staats gebaute Gesezgebung;
eine väterliche unmittelbare Fürsorge für die Pflanzschulen des
Staats; eine zur möglichsten Vollkommenheit gebrachte Polizei;
eine gerechte Schätzung und thätige Beförderung der
Wissenschaften und der Künste, welche die Sitten und das
Leben verschönern. Sie ließen sich nicht daran genügen, gleich
den alten Königen Persiens, Augen und Ohren zu bestellen,
die in ihrem Namen sehen und hören sollten: sie hielten es
für ihre Schuldigkeit, mit ihren eigenen Augen zu sehen, und
damit sie recht sehen könnten, von allem, was ihrem Urtheil
unterworfen wurde, sich die nöthigen Kenntnisse zu erwerben;
einen jeden selbst anzuhören; jeden Entwurf einer Verbesserung
oder nützlichen Unternehmung selbst zu prüfen; die Ausführung
durch ihre eigene Gegenwart zu beleben; alles Gute, das sie
thun konnten, wirklich zu thun; alles Böse, das sie verhindern
konnten, wirklich zu verhindern; kurz, sie begriffen so viele
und mühsame Arbeiten unter dem, was sie ihre Pflicht nannten,
daß nur eine heroische Tugend vermögend seyn kann, einen
Sterblichen zu Annehmung einer Krone, unter solchen Bedingungen,
zu bewegen, wenn es anders in seiner Willkür steht,
sie anzunehmen oder auszuschlagen.Vergiß nicht, Danischmend, sagte der Sultan, nachdem
er zweimal hintereinander gegähnt hatte, mir morgen bei
meinem Aufstehen ein Verzeichniß der sämmtlichen Morgen-
und Abendländischen Könige vorzulegen, auf welche du in
dieser Beschreibung gezielt hast.Das Gedächtniß Ihrer Majestät wird durch die Zahl
nicht überladen werden, versetzte Danischmend.Das dacht' ich wohl, sprach der Sultan: aber desto besser!
ich liebe eine ausgesuchte Gesellschaft. — Um Vergebung,
Nurmahal, Sie sollen heute nicht wieder unterbrochen werden.Sire, fuhr die Dame fort, es ist bei dieser Bewandtniß
leicht zu erachten, wie gut die Pflichten des königlichen Amtes
unter der Regierung des liebenswürdigen Azors versehen
wurden. Er selbst konnte keine Kenntniß davon haben. Er
wußte zwar in der äußersten Vollkommenheit, was zur Anordnung
eines prächtigen Festes gehörte, welches er einer Geliebten
geben wollte: aber wie hätte er wissen können, was zu
Anordnung eines großen Staates, zu Besorgung seiner Bedürfnisse,
zu Befestigung seiner Sicherheit, zur Bewirkung
seines allgemeinen Wohlstandes erfordert wird? Die Natur
bildet (ordentlicher Weise wenigstens) keine Fürsten; dieß ist
ein Werk der Kunst, und ohne Zweifel ihr höchstes und vollkommenstes
Werk; aber man hatte sich begnügt, den guten
Azor zu einem liebenswürdigen Edelmanne zu bilden. Da er
also genöthiget war, seine wichtigsten Geschäfte andern zu
übertragen, und da es unmöglich ist, ohne die Kenntnisse,
welche ihm mangelten, eine gute Wahl zu treffen; wie konnte
sich Azor, jung und unerfahren wie er war, anders helfen,
als sie denjenigen zu überlassen, von denen er am günstigsten
dachte, weil sie die meiste Gewalt über sein Herz hatten?
Zum Unglück befanden sich diese in den nämlichen Umständen,
wie er selbst. Sie behielten also nur den leichtesten und
angenehmsten Theil davon, die Ausübung einer willkürlichen
Gewalt, für sich selbst, und überließen das übrige wieder an
andere; und so geschah es sehr oft, daß die wichtigsten Angelegenheiten
das Schicksal hatten, nach dem Gutachten eines
unwissenden Bonzen, oder eines Kammerdieners, oder einer
jungen grillenhaften Schönen, oder (welches mehr als Einmal
geschehen seyn soll) durch den Einfall eines — Hofnarren,
entschieden zu werden.Die Folgen dieser Staatsverwaltung waren so betrübt,
als man sich vorstellen kann. Die wichtigsten Stellen wurden
nach und nach mit untauglichen Personen besetzt; die Gerechtigkeit
ward anfangs heimlich verhandelt, und zuletzt öffentlich
feil geboten; unter ihrem Namen triumphirte die Chicane;
die öffentlichen Einkünfte wurden verschwendet, und die Forderungen
unersättlicher Günstlinge unter die Rubrik der
Staatsbedürfnisse gebracht. Alle die höhern und mühseligern
Pflichten der Regierung, deren Ausübung mit keinem unmittelbaren
Privatvortheil verknüpft war, wurden vernachlässigt.
Das Laster, welches sich den Schutz der Großen zu verschaffen
wußte, blieb unbestraft; ja es wurde nicht selten unter dem
Titel des Verdienstes und durch Belohnung aufgemuntert.
In der That wird man wenig Regierungen finden, wo die
Verdienste so häufig und so übermäßig belohnt worden wären
als in dieser. Aber man wunderte sich eine lange Zeit, wie
es zugehe, daß sich diese Verdienste immer nur bei den Angehörigen
oder Freunden der Günstlinge fanden; man wunderte
sich noch mehr, wie es zugehe, daß die Nation durch
lauter Leute von Verdiensten zu Grunde gerichtet werde; und
nur eine kleine Anzahl von speculativen Leuten begriff, daß in
allem diesem gar nichts sey, worüber man sich zu wundern
habe.Da der Sultan hier zum drittenmale gähnte, so wurde
die Vorlesung durch einen geschickten Uebergang zu einem angenehmern
Gegenstande abgebrochen, wovon es dem Sinesischen
Autor nicht beliebt hat uns Nachricht zu ertheilen.8.Inzwischen lebte der junge König Azor einige Jahre so
glücklich, als Jugend, blühende Gesundheit und unumschränkte
Macht einen Sterblichen machen können, der seine Glückseligkeit
in einer immerwährenden Berauschung der Seele, in
den ausgesuchtesten Wollüsten der Sinne, der Einbildung und
des Herzens findet. Azor liebte das Vergnügen über alles;
aber sein edles und gefühlvolles Herz liebte auch es auszubreiten,
und wenn er sich selbst glücklich fühlte, so wollte er,
so weit als sein Gesichtskreis sich erstreckte, lauter Glückliche
um sich sehen.Drei oder vier Jahre gingen auf diese Weise in einer
ununterbrochenen Kette von Festen und Ergötzungen vorüber,
in welchen Witz und Kunst alle ihre Kräfte zusammen setzten,
die kleine Anzahl angenehmer Rührungen, deren die sparsame
Natur den Menschen fähig gemacht hat, ins Unendliche zu
verändern, zu vervielfältigen, zu vermischen, zu erhöhen, und
durch tausend geschickt verborgene Handgriffe diese angenehmen
Täuschungen hervorzubringen, die den Ueberdruß betrügen,
und die Seele in einem Wirbel von Freuden so schnell herumdrehen,
daß ihr nicht so viel Macht über sich selbst bleibt,
Betrachtungen über das, was in ihr vorgeht, und über den
Werth der Gegenstände, in deren angenehmer Gewalt sie ist,
anzustellen. Man glaubt, neue Sinne zum Gefühl des Vergnügens
zu bekommen, mit jedem Tage zu einem neuen
wollüstigern Daseyn hervor zu gehen; und man wird nicht eher
gewahr, daß man sich unter einer Art von Bezauberung und
außerhalb des angewiesenen Kreises der natürlichen Wirksamkeit
befindet, bis Erschöpfung der Lebensgeister, Erschlaffung
der Sinne, oder noch empfindlichere Folgen einer wollüstigen
Unmäßigkeit, die Seele aus ihrem süßen Taumel wecken, um
sie dem Gefühl einer unerträglichen Leerheit und einer Reihe
unangenehmer Betrachtungen zu überliefern, welche auf den
Weg der Weisheit führen könnten, wenn die Gewohnheit uns
nicht bald wieder mit mechanischer Gewalt zu eben diesen
Gegenständen und Vergnügungen zurückzöge, deren betrügliche
Beschaffenheit wir vergebens erfahren haben, weil sie sich nur
unter einer neuen Gestalt zeigen dürfen, damit wir uns aufs
neue von ihnen betrügen lassen.Madame, sagte der Sultan, pflegt man das, was Sie
uns eben itzt mit dem melodiösesten Accent von der Welt vorgelesen
haben, nicht eine Tirade zu nennen? Was es auch für
einen Namen haben mag, so erkläre ich hiermit, daß ich nur
ein sehr mittelmäßiger Liebhaber davon bin. Ich bin zwar der
Moral nie so gram gewesen, als mein werther Oheim Schach-Baham,
glorreichen Gedächtnisses: aber gleichwohl werden Sie
mich verbinden, wenn Sie künftig alle Declamationen dieser
Art, denen Ihr Autor aus einem Naturfehler ziemlich häufig
unterworfen zu seyn scheint, ohne die mindeste Furcht, daß ich
etwas dabei verlieren möchte, überhüpfen werden. Ich kann
nichts in diesem Geschmacke lesen oder hören, ohne daß ich
stracks meinen Iman mit seinen aufgezogenen Augenbrauen
und blasenden Backen vor mir stehen sehe. Es ist unangenehm,
daß unsre Schriftsteller noch immer den rechten Ton so gern
verfehlen, und uns aufgedunsene Perioden, worin irgend ein
alltäglicher Gedanke in einem Gothischen Putz von schallenden
Worten und rednerischen Figuren strotzt, für Philosophie
verkaufen wollen.Nurmahal, nachdem sie vor diesem schlimmen Geschmacke
sich sorgfältig zu hüten versprochen hatte, setzte ihre Erzählung
also fort:Es war ein Unglück für Scheschian, daß die reizende
Xerika, auf welche die erste Neigung des jungen Königs fiel,
von derjenigen Art von Seelen war, welche die Natur ausdrücklich
für die Liebe und für sie allein gebildet zu haben
scheint. Das Herz Azors, wär' er auch ein bloßer Schäfer
gewesen, war das einzige, was einen Werth in ihren Augen
hatte; sie war lauter Empfindung, aber nur für ihn; ihn
glücklich zu machen war ihr einziger Wunsch, ihr einziger
Stolz, ihr einziger Gedanke. Auch war er's, so lange die
Bezauberung der ersten Liebe dauern kann, in einem so hohen
Grade, daß, wenn er in irgend einer einsamen Laube zu
ihren Füßen lag, und mit dem Kopf auf ihren Schooß zurückgelehnt
seine gierigen Blicke in ihren in Liebe schwimmenden
Augen weiden ließ, der gute König seiner Krone und aller
Kronen des Erdbodens, mit allen davon abhängenden Rechten
und Pflichten, so gänzlich vergaß, als ob diese Laube die ganze
Welt, und Xerika nebst ihm selbst die einzigen Bewohner derselben
gewesen wären. Die Geschäfte der Regierung, und
dasjenige, was man die Austheilung der Gnaden nannte, befanden
sich also in den Händen eines Günstlings der Sultanin
Lili, durch welchen sie wieder stufenweise in so viele andere
Hände gespielt wurden, daß (wenn man den geheimen Nachrichten
von dieser Regierung glauben darf) sogar Komödianten
und Tänzerinnen zu gewissen Zeiten wichtige Personen auf
dem Staatstheater von Scheschian vorgestellt haben sollen.Um Vergebung, daß ich Sie schon wieder unterbrechen
muß, sagte der Sultan: was war das, was man an
diesem so wohleingerichteten Hof die Austheilung der Gnaden
nannte?Sire, antwortete Nurmahal, es war schon unter den
vorigen Regierungen unvermerkt zur Gewohnheit geworden,
alle Arten von Aemtern und Bedienungen, mit welchen Ansehen,
Gewalt und Einkünfte verbunden waren, nach Gunst
und Gefallen auszutheilen. Man pflegte daher die Besetzung
einer solchen Stelle eine Gnade zu nennen. Nach und nach
erweiterte sich die Bedeutung des Wortes, und es kam zuletzt
so weit, daß aller Begriff von Verdienst dadurch verdrängt,
und sogar ein Künzler oder Kaufmann, welcher für gelieferte
Arbeit oder Waaren eine Forderung zu machen hatte, seine
Bezahlung, nach tausend mühseligen Weitläuftigkeiten und
Verzögerungen, durch geheime Ränke und mit Aufopferung
eines beträchtlichen Theils der Forderung, als eine Gnade
nachzusuchen genöthiget wurde. Es gab zwar schon damals
Leute, welche behaupteten: "Ein König von Scheschian habe
so viel zu thun, einem jeden das Seine zu geben, daß ihm
wenig oder keine Gnaden zu ertheilen übrig blieben; jede
Ehrenstelle oder Bedienung erfordere gewisse Talente und Tugenden,
und müsse also mit demjenigen besetzt werden, welcher
die größten Proben gegeben habe, daß er diese Talente und
diese Tugenden besitze; ja, der König sey nicht einmal berechtiget,
die Pensionen, welche aus dem öffentlichen Schatze bewilliget
würden, als Gnaden anzusehen, weil der öffentliche
Schatz zu Bestreitung derjenigen Ausgaben geheiliget seyn
müsse, welche die Ausübung des königlichen Amtes nothwendig
macht; kurz, der König habe keine Gnaden auszutheilen
als aus seinem eigenen Beutel; und alles Gute, was er als
König thue, fließe aus einer eben so verbindlichen Schuldigkeit
ab, als diejenige sey, vermöge welcher die Unterthanen
ihm Ehrfurcht und Gehorsam zu beweisen, und nach Verhältniß
ihres Vermögens ihren Antheil zu den Einkünften der
Krone beizutragen schuldig seyen." —Allein diejenigen, welche
dergleichen Sätze vorbrachten, hätten eben so wohl gethan sie
für sich selbst zu behalten; denn sie wurden nicht gehört, und
der Hof erhielt sich im Besitze, alles, was er that, so sehr aus
Gnade zu thun, daß, wie gesagt, das Wort Verdienst in seiner
eigentlichen Bedeutung zu den verhaßten Wörtern herabsank,
welche aus der Sprache der besten Gesellschaft verbannt waren;
und daß es niemals anders gebraucht wurde, als, um diejenigen
Eigenschaften oder Verhältnisse zu bezeichnen, wodurch
man das Glück hatte, den Personen, welche Gnaden austheilen
konnten, angenehm zu seyn. In den ersten Jahren der
Regierung des Königs Azor hingen die meisten Gnaden von
der Amme der Königin Lili, von der Persischen Tänzerin,
welche den Vertrauten des obersten Visirs gefesselt hatte, und
von einem gewissen Bonzen ab, der mit großem Eifer arbeitete,
diese Tänzerin von der Religion der Feueranbeter, in
welcher sie geboren war, zu der seinigen zu bekehren. Es gab
also während dieser Zeit ordentlicher Weise nur dreierlei Arten
von Verdiensten, oder Wegen Gnaden zu erhalten: das Verdienst
sie bezahlen zu können, eine vielversprechende Figur
(denn die Tänzerin war sehr uneigennützig), und das Verdienst
der Dummheit.Azor, dessen Hof in dieser Zeit den Glanz der prächtigsten
in Asien auslöschte, welcher jährlich dreihundert und fünfundsechzig
Feste gab, und im Besitz der liebenswürdigen Xerika
der glücklichste unter allen Unsterblichen zu seyn glaubte —
(denn wie hätte er auf einer so hohen Stufe von Glückseligkeit
nicht vergessen sollen, daß ihn seine Mutter sterblich geboren?) —
Azor wußte nichts davon, daß seine Provinzen mit
raubgierigen Statthaltern besetzt, seine Gerichtsstellen an unwissende
und leichtsinnige Gecken verhandelt, und die Verwaltung
der Kroneinkünfte, mittelst gewisser geheimer Verträge
an Leute überlassen wurde, die das Arcanum besaßen, an jeder
Million, welche sie für den König einzogen, den zehnten Theil
für sich selbst zu gewinnen; eine Kunst, die in der Folge zu
einer solchen Vollkommenheit getrieben worden ist, daß die
ersten Meister kaum den Namen von Anfängern verdienten.
Der gutherzige Azor glaubte, daß seine Völker glücklich wären,
weil er es selbst war, weil er sie glücklich zu sehen wünschte,
und weil er gewohnt war, alle seine Wünsche erfüllt zu sehen.
Ueberdieß hatte er so wenig Begriffe von den Erfordernissen
der Regierungskunst, daß man nicht ohne Grund vermuthet,
er habe sich mit eben der Zuversicht darauf verlassen, daß der
Staat ohne sein Zuthun aufs beste besorgt werden würde, mit
welcher er sich darauf verlassen konnte, daß die Sonne alle
Tage auf- und untergehen, die Jahrszeiten wie gewöhnlich
auf einander folgen, und in allen dreien Reichen der Natur
alles geschehen würde was sich gebührt, ohne daß Seine Hoheit
sich im mindesten darum zu bekümmern hatte.Der Ueberfluß, welchen Fleiß und Handelschaft noch immer
über den größten Theil des Reichs verbreiteten, nebst
den immerwährenden Lustbarkeiten, die bei Hofe und in den
Hauptstädten herrschten, machten die Folgen einer so übel besorgten
Staatsverwaltung eine Zeit lang im Ganzen unmerklich.
Wie leicht werden zehentausend unterdrückte Bürger
unter einer großen, geschäftigen, muthvollen und von Entwürfen
einer schimmernden Glückseligkeit schwellenden Nation übersehen!
Und wie sollte das stumme Seufzen, oder selbst das
laute Geschrei dieser zerstreuten Unglücklichen, vor dem noch
lautern Getümmel der allgemeinen Emsigkeit und Fröhlichkeit
gehört worden seyn, oder sich den Weg zum Ohre des mitleidigen
Azors haben öffnen können?Aber eine Veränderung des Systems, worin damals die
Staaten des östlichen und mitternächtlichen Theils von Asien
verbunden waren, eine Veränderung, wobei der Hof von Scheschian
unmöglich gleichgültig bleiben konnte, gab dem jungen
Könige Gelegenheit wahrzunehmen, daß seine Geschäfte sehr
übel besorgt wurden. Man hatte die Zeit und das Geld, die
auf die Zurüstungen zu einem unvermeidlichen Kriege verwendet
werden sollten, mit Lustbarkeiten und unnützen Unterhandlungen
zugebracht, und die Feinde waren im Begriff in
die Gränzen des Reiches einzudringen, als man erst gewahr
wurde, daß es sich nicht einmal im Vertheidigungsstande befand.
Zum Unglück war auch die königliche Casse so erschöpft,
daß Azor sich genöthiget fand, seine Zuflucht zu den Cassen
seiner Finanzaufseher und Oberpachter zu nehmen, in welchen
eine Fülle herrschte, die mit der Leerheit der königlichen vermuthlich
einerlei Ursache hatte. Das Murren der Nation,
welche zu Bestreitung der Kriegsunkosten mit gedoppelten Auflagen
belegt wurde, und gleichwohl ihre Beschützung in so
schwachen Händen sah, nahm täglich zu; die Feinde bemächtigten
sich einer Provinz nach der andern; und der König wußte
noch immer nichts von dem eigentlichen Zustande der Sachen,
als Alabanda (eine Dame des Hofes, die schon seit geraumer
Zeit an einem Entwurf arbeitete, die zärtliche und unthätige
Xerika zu verdrängen) sich eines günstigen Augenblicks bemächtigte,
und zum erstenmale Eindruck auf das Herz Azors
machte, indem sie sich das Ansehen gab, von einem lebhaften
Eifer für seine Ruhe und für die Glorie seiner Regierung beseelt
zu seyn. Diese Frau vereinigte alle die Reizungen in
ihrer Person, welche das Herz eines Prinzen wie Azor zu
fesseln fähig waren; eine blendende und untadelhafte Schönheit
mit der Blüthe der Jugend, und den angenehmsten Witz
mit tausend liebreizenden Grazien. Sie war unwiderstehlich,
wenn sie sich vorgesetzt hatte es zu seyn; und Azor konnte
von dem ersten Augenblick an, da die Gleichgültigkeit, worin
Xerika seine Sinne zu lassen anfing, ihm erlaubte ihre Nebenbuhlerin
mit Aufmerksamkeit anzusehen, sich nicht genug wundern,
wie er so lange von einem so vollkommnen Gegenstande
habe ungerührt bleiben können. Die zärtliche Xerika hatte in
dem Könige nur Azorn geliebt; Alabanda liebte in Azorn nur
den König. Zwanzig andre taugten eben so gut oder besser
ihre wollüstige Sinnesart zu vergnügen: aber ihre Eitelkeit
konnte nur durch eine unumschränkte Gewalt über das ganze
Scheschian befriediget werden; und der Plan, den sie zu diesem
Ende machte, bewies ihre Klugheit Sie entdeckte Azorn, wie
übel der Staat unter der Regentschaft seiner Mutter verwaltet
werden sey, und überredete ihn, die Zügel der Regierung
künftig selbst zu führen. Der Staatsrath und die obersten
Kronbedienungen wurden also mit Creaturen der schönen
Alabanda besetzt: und da nichts Unbeständigeres seyn konnte
als die Gunst dieser Dame, so veränderte sich der Divan unter
ihrer Regierung so oft als ihr Kopfputz oder als die Farben
ihres Anzugs, durch deren täglichen Wechsel sie bewies, daß
ihre Schönheit in jedem Lichte sich selbst gleich bleibe, und über
alles triumphire, was neben ihr glänzen wolle.Der König wunderte sich sehr, da er eine Bürde, die er
sich so schwer vorgestellt hatte, so leicht fand. Es kostete ihm
nur einen Wink, oder höchstens ein bloßes Ja zu allem was
ihm die schöne Alabanda in eigener Person oder durch ihre
Werkzeuge vorschlug. Nichts konnte bequemer seyn; aber
Scheschian befand sich auch um nichts besser bei einer Regierung,
die dem Könige so leicht gemacht wurde.Gleich zu Anfang des vorerwähnten Krieges hatte sich der
Günstling der Sultanin Mutter, in dessen Händen damals
die höchste Gewalt lag, genöthiget gesehen, die Anführung der
Kriegsheere einem erfahrnen Feldherrn zu übergeben, der zu
alt war, um bei dem neuen Hofe in Ansehen zu stehen. Seine
Figur, seine Manieren, sein Ton, seine Art sich zu kleiden,
und sein Charakter hatten schon lange aufgehört nach der Mode
zu seyn; aber seine Talente, seine Liebe zum Vaterlande und
seine Erfahrung waren Eigenschaften, deren Werth allgemein
anerkannt zu werden pflegt, sobald die Zeit kommt, wo man
ihrer vonnöthen hat. Die dringende Gefahr entschuldigte den
Minister, daß er von einem Grundgesetze des Hofes abgehen,
und einen so wichtigen Posten einem Manne auftragen mußte,
der aus einer andern Welt war, und nichts als —persönliche
Verdienste hatte.Die guten Anstalten, welche der alte Feldherr machte,
und die beträchtlichen Vortheile, die er in kurzer Zeit über die
Feinde erhielt, ließen einen glücklichen Fortgang des Feldzuges
hoffen. Aber kaum hatte sich Alabanda des Königs und der
Regierung bemächtiget, so wurde der alte Mann, unter dem
Vorwande, daß er nicht Feuer genug habe, zurückberufen, und ein
sehr artiger junger Herr an seine Stelle geschickt, welcher unstreitig
der beste Tänzer am ganzen Hofe war. Er hatte sich
durch dieses Talent, und durch die Gabe kleine satyrische Verschen
über die Damen zu verfertigen, denen die stolze Alabanda
nicht erlauben wollte liebenswürdig zu seyn, bei der Favoritin
in Achtung gesetzt; und weil seine Finanzen sich damals in
der niedrigsten Ebbe befanden, so hatte er sich den Posten eines
Oberfeldherrn, als ein Mittel wieder zu Casse zu kommen,
von ihr ausgebeten. Die Feinde gewannen mehr dabei, als
wenn sie drei Siege über den alten General erhalten hätten.
Der Unwille des Adels, der Armee und des Volkes tiber die
unleidlichen Fehler, die dieser eben so unwissende als eigensinnige
und raubgierige Heerführer beging, stieg endlich zu
einem so hohen Grade, daß sich Alabanda genöthigt sah, den
Tänzer zurückzuberufen; welcher, nachdem er einige Millionen
gewonnen, und dem Reiche für zehnmal so viel Schaden zugezogen,
so hoffärtig und mit solchem Geräusche nach Hofe
zurückkam, als ob er die herrlichsten Thaten verrichtet hätte.
Auch empfing er die Krone von Pfauenschwänzen, ein Ehrenzeichen,
welches die Großen des Reichs von den niedrigern
Classen des Adels unterschied, aus der eigenen Hand seines
Königs, und tanzte bei dem ersten großen Ball, der bei Gelegenheit
eines von seinem Nachfolger erhaltenen Sieges dem
Hofe gegeben wurde, mit so außerordentlichem Beifalle, daß
es nur auf ihn ankam, so viel Herzen zu erobern als er wollte
oder behaupten konnte.Die Vortheile, die der neue Feldherr über den Feind erhielt,
versprachen einen glänzenden Ausgang der Sachen. Aber
die Ehre des schönen Tänzers, der durch die Krone von Pfauenschwänzen,
und die Beute, die er den Scheschianern abgenommen
hatte, eine wichtige Person im Reiche geworden war,
machte es nothwendig, einem so gefährlichen Nachfolger in Zeiten
Einhalt zu thun. Weil der König itzt durch sich selbst regierte,
so fand man, es schicke sich schlechterdings nicht, daß
der Feldherr irgend einen Schritt von Wichtigkeit ohne ausdrücklichen
Befehl vom Hofe sollte unternehmen dürfen. Er
erhielt also, auf seine Anfrage, den Befehl zu einem Treffen
gerade zu der Zeit, da die Gelegenheit es mit Vortheil zu
liefern vorüber war; er mußte sich ostwärts ziehen, wenn die
gegenwärtige Lage ihn westwärts rief, oder einen Posten verlassen,
da die Umstände unumgänglich erforderten ihn zu besetzen.
Außer diesem wußte man ihm so viele andre Hindernisse
in den Weg zu legen, daß dei Heldenmuth eines Alexanders
darüber hätte ermüden mögen. Bald fehlte es ihm an
Truppen, bald an Geld, bald an Proviant, bald an Kriegsvorrath,
bald an allem. Gleichwohl überwand er alle diese
Schwierigkeiten durch die Hülfsmittel, die er in seinem Genie
und in seiner Ruhmbegierde fand, und er war im Begriffe,
durch einen entscheidenden Streich den Krieg auf die rühmlichste
Weise zu Ende zu bringen, als er die Nachricht erhielt
—daß der Friede bereits geschlossen sey.Wenn die Bedingungen dieses Friedens dem König Azor
wenig Ehre brachten, so mußte man doch gestehen, daß sie
seinen Ministern desto vortheilhafter waren; denn jede Bedingung
wurde ihnen mit hunderttausend Unzen Silbers bezahlt.
Scheschian verlor zwar dadurch eine seiner besten Provinzen;
aber die schöne Alabanda gewann einen diamantnen
Gürtel, der eine kleine Provinz werth war. Azor hatte den
Vortheil, mit der Geographie seines Reichs so wenig bekannt
zu seyn, daß er nichts verloren zu haben glaubte. Man versicherte
ihn, die Provinz, die er abtrat, koste mehr zu erhalten
als sie werth sey; und alle Hofbonzen und Hofpoeten wurden
dazu gedungen, die uneigennützige Großmuth des Königs
und sein väterliches Mitleiden mit seinem Volke in die Wette
zu preisen, und zu einer Heldentugend zu erheben, welche die
Thaten der größten Eroberer verfinstre.Nach diesen Proben von eurem guten König Azor zu urtheilen,
sprach der Sultan, ist das gelindeste, was man von
ihm sagen kann, daß er zu einem sehr schwachen Herzen einen
noch schwächern Kopf gehabt haben müsse. Ich meines Orts
gestehe, daß ein Fürst, der seinen Namen zu den Uebelthaten
seiner Lieblinge herleiht, ein verächtliches Geschöpf in meinen
Augen ist; und ich sehe gar nicht, warum man ihm die Ehre
erweisen soll, ihn gut zu nennen, wenn seine Völker bei aller
seiner Güte sich nicht besser befinden, als sie thun würden,
wenn er ein Tyrann wäre.Sire, erwiederte die schöne Nurmahal, erlauben Sie mir
zu sagen, daß Sie ein wenig zu strenge mit dem guten König
Azor verfahren. Er war wirklich einer der liebenswürdigsten
Prinzen seiner Zeit. Es mangelte ihm weder an Geist noch
an Geschmack, und man hat eine Menge kleiner Anekdoten
von ihm, welche das edelste und gütigste Herz beweisen. Eine
unglückliche Erziehung —Um Vergebung, Madame, fiel ihr der Sultan in die Rede:
ich wollte nicht gern, daß man den Fürsten diese Entschuldigung
gelten ließe. Die Erziehung der Personen, die zum Throne
geboren werden, ist selten so gut als es zu wünschen wäre;
und nach Ihrem Grundsatze hätten immer fünf und neunzig
von hundert meinesgleichen ein Privilegium, so übel zu regieren,
als es ihren Weibern, ihren Bedienten und dem Zufall
belieben möchte. Soll ich euch sagen, wie ich selbst erzogen
worden bin? Beim Barte des Propheten! wenn jemals ein
Sultan berechtigt war keinen Menschenverstand zu haben, so
bin ich's. Weil wir hier unter uns sind, so will ich mir doch
das Vergnügen machen, euch ein Kapitel oder zwei aus der
Geschichte meiner Jugend zu erzählen.Mein Oheim Schach-Baham — Friede sey mit seinem
Staube! —vertraute meine Erziehung einem seiner Verschnittenen
an, unter dessen Aufsicht ein gewisser Fakir, der löblichen
Gewohnheit zufolge, mich so gelehrt machen sollte, als
Schach-Baham glaubte, daß der Sohn des jüngern Bruders
eines regierenden Sultans zu seyn nöthig habe. Ich erinnere
mich noch so lebhaft als ob es erst heute geschehen wäre, wie
vergnügt der gute Oheim Baham war, als ich es in der Mathemathik
und Physik so weit gebracht hatte, den Mechanismus
der bewundernswürdigen Erfindung seines Freundes, des
Königs Straus, den fliegenden Drachen, mit Hülfe einer
Menge fürchterlicher Kunstwörter, von denen er nichts verband,
erklären zu können. Er beschenkte mich in der Freude
seines Herzens mit einer zierlich ausgeschnittenen papiernen
Gans in rosenfarbem Domino, von seiner eignen Arbeit, außer
einem großen Korb voll Zuckerwerk, den ich. sobald es
möglich war zu entwischen, zu den Füßen meiner kleinen Maitreffe,
einer jungen Sklavin der Sultanin, meiner Tante,
niederlegte. Im übrigen war die Theorie des papiernen Drachen
der höchste Gipfel, den ich damals in der Erkenntniß der
Natur- und Kunstlehre erstieg; denn der Fakir Salamalek,
mein verdienstvoller Lehrer, war aufrichtig genug, zu gestehen,
die Erforschung der Natur sey keine Sache für einen Mann
wie er. Aber dafür wußte er sich desto mehr mit meiner
Stärke in der Geschichte. Ich zählte alle morgenländischen
Könige von Schjan-Ben-Schjan, der einige tausend Jahre
vor Sultan Adam, dem ersten Menschen, regierte, bis auf
den glorwürdigen Schach-Baham, meinen Oheim, an den
Fingern her; ich nannte die Namen aller Frauen und Beischläferinnen
des Propheten Salomo, und wußte eine Menge
schöner Historien von Königen, die in allem, was sie unternahmen,
überaus glücklich gewesen waren, weil sie schöne
Moskeen gebaut, und schöne Stiftungen zum Unterhalt frommer
Derwischen, welche Tag und Nacht nichts zu thun hatten
als den Koran zu lesen, gestiftet hatten. Nach diesem Theile
meiner Gelehrsamkeit könnt ihr euch vorstellen, was für eine
Moral und Staatswissenschaft das war, was mir der ehrliche
Salamalek unter diesem Titel beizubringen suchte. Die arme
Seele! Das muß ich ihm nachrühmen: er ließ sich's so angelegen
seyn, daß ihm oft der Schweiß in großen Tropfen auf
der Stirne hing. Denn die Geister aller Einwohner von
Indostan bis ins tausendste Glied würden als Anklager gegen
mich aufstehen, sagte er, wenn ich diesen wichtigsten Theil der
Erziehung eines Prinzen, der dem Throne so nahe ist, vernachlässigte.
Seine Absicht war gut, wie ihr sehet; und wenn
seine Begriffe nicht eben so gut waren, lag die Schuld an ihm?
Warum hatte Schach-Baham einen Fakir bestellt, seinen Bruderssohn
Moral und Politik zu lehren? —Nach Salamaleks
Meinung war der größte und beste aller Sultanen derjenige,
der seine fünf Gebete und seine gesetzmäßigen Waschungen mit
der pünktlichsten Genauigkeit verrichtete, sich alle Tage seines
Lebens vom Wein enthielt, die meisten Derwischereien stiftete,
und wenigstens den zehnten Theil seiner Einkünfte unter die
Armen austheilte. Er hatte keinen andern Begriff von der
Wohlthätigkeit eines Fürsten; und wenn man ihn über diesen
Artikel predigen hörte, so hatte ein König nichts zu thun, als
seine arbeitsamen Unterthanen zu Bettlern zu machen, um den
müßigen gute Tage zu verschaffen; eine Methode, die er
vermuthlich deßwegen so vortrefflich fand, weil auf diese Weise
Bettelei und Reichthum unaufhörlich circuliren, und es einem
Fürsten nie an Mitteln und Gelegenheit zur Wohlthätigkeit
fehlen kann, ohne daß es ihm die kleinste Mühe kostet. Diesen
feinen Begriffen zufolge war mein Fakir ein erklärter Feind
des Luxus, und behauptete in vollkommnern Ernste: daß es
einem Staat unendliche Mal besser wäre, wenn die Hälfte der
Nation ihre Tage, auf Unkosten der andern, mit Müßiggehen
zubrächte, als mit den verderblichen Künsten, welche die Ueppigkeit
beförderten. Die ganze Politik des ehrlichen Mannes war
von diesem Schlage. Der gerechteste und gottgefälligste Krieg,
sagte er, ist ein Krieg, den man unternimmt, die Feinde des
Propheten zu vertilgen, und das Islamische Gesetz aus Erden
auszubreiten; und er nannte mir verschiedene Prinzen, welche
sichtbarlich gestraft worden wären, weil sie Juden, Christen,
Gebern und Banianen in ihre Staaten aufgenommen, und
einem jeden Freiheit gelassen hätten, das höchste Wesen nach
seiner eigenen Ueberzeugung zu verehren. Die Philosophie und
die schönen Künste verachtete er als eitles Spielwerk und profane
Erfindungen der alten Heiden; und er schalt mit vielem
Eifer auf die Ueppigkeit der Abassiden, durch deren sträfliche
Neugier und verkehrten Geschmack diese Gräuel sich unter die
Rechtgläubigen eingeschlichen hätten. Wer den Koran und die
Auslegungen der zwölf Imans wohl inne hat, pflegte er zu
sagen, der allein ist ein wahrer Weiser! Alle diese Theorien
der Sittenlehre und Staatswissenschaft, welche man auf
die Natur zu gründen vorgibt, sind Blendwerke der bösen Geister,
und verdammt sey derjenige (rief er mit glühenden Wangen
und feurigen Augen), der die Seelen der Muselmannen
mit diesem Gift ansteckt! Er pflegte oft mit Entzücken von
Amru Ben Alas, dem Feldherrn des Kalifen Omar, zu sprechen,
der die berühmte Büchersammlung zu Alexandria zum
Einheizen in die öffentlichen Bäder hatte vertheilen lassen, weil,
wie er meinte, alle diese Bücher zu nichts Besserm taugten,
falls nichts darin enthalten wäre als was man im Koran kürzer
und besser gegeben fände, und des Feuers schuldig wären, wofern
sie etwas andres enthielten als der Koran. Das waren
goldne Zeiten! rief er mit einer andächtigen Verzerrung seines
plumpen Gesichts. Das waren die Zeiten, wo die Angelegenheiten
des Islamismus blühten! wo die Ungläubigen unter
ihre Füße getreten wurden, und das Gesetz des Propheten sich
mit einer wunderthätigen Schnelligkeit über den Erdboden ausbreitete! —
Urtheilet aus diesen Proben, fuhr der Sultan
fort, ob mein Fakir seine Schuldigkeit besser hätte thun können,
wenn ihm mein Oheim Baham aufgetragen hätte, mich zu einem
Fakir zu bilden! Glücklicherweise für mich (und für Indostan,
denke ich) war unter den Sklaven, die mir zur Bedienung gegeben
waren, ein junger Cyprier, der Genie und Erziehung
hatte, und die Begriffe und Maximen meines Fakirs, die ihm
äußerst ungereimt vorkamen, auf eine so feine Art zu verspotten
wußte, daß es ihm sehr wenig Mühe kostete, die Spuren auszulöschen,
die sie vielleicht in meinem Gemüthe hätten lassen
können. Da er überdieß die Geschicklichkeit und den guten
Willen hatte, mir in meinen kleinen Liebesnöthen Dienste zu
thun, so bemächtigte er sich meines Vertrauens in einem so
hohen Grade, daß ich ihn wie die Hälfte meiner Seele liebte.
Wir spielten dem alten Verschnittenen und dem weisen Fakir
tausend Streiche, auf deren Erfindung und Ausführung wir
uns nicht wenig einbildeten. Gleichwohl konnten wir es nicht
so fein machen, daß wir nicht dann und wann über der That
ertappt und mit großer Feierlichkeit bei dem Sultan verklagt
worden wären. Aber Schach--Baham, wiewohl er den Eifer
meiner Vorgesetzten lobte, konnte doch selten dahin gebracht
werden, unsern jugendlichen Muthwillen züchtigen zu lassen.
Er lachte gemeiniglich so herzlich über die Erzählung, die ihm
der Fakir in einem kläglichen Ton und mit tragischen Gebärden
davon machte, daß er sich die Seiten mit beiden Händen halten
mußte; und am Ende mußte sich der ehrliche Fakir mit seinem
gewöhnlichen Sprüchworte, Jugend hat nicht Tugend, zufrieden
stellen lassen. Ich erinnere mich noch ganz wohl, pflegte er
mit einer schlauen Miene hinzuzusetzen, daß ich es in Gebals
Alter nicht besser machte. Ich war immer ein loser Vogel;
der Fakir, mein Hofmeister, Gott tröste seine Seele! hatte
seine liebe Noth mit mir, und die Kammerjungfern der Sultanin,
meiner Mutter, konnten nicht genug auf ihrer Hut seyn.
Gebal ist ein aufgeweckter Kopf; er wird wohl klug werden,
wenn er ausgetobt hat, —und was dergleichen Sprüche mehr
waren, an welchem der gute Oheim niemals Mangel hatte. —
Was dünkt Ihnen nun von meiner Erziehung, Madame? Finden
Sie nicht, daß ich unter den Händen eines alten mürrischen
Negers, eines Fakirs, der mir so gute Grundsätze beibrachte,
eines leichtfertigen jungen Cypriers, etlicher muthwilliger
Kammermädchen. und eines Oheims wie Sultan Baham, vortrefflich
vorbereitet werden mußte, dem Thron von Indien
Ehre zu machen?Sire, sagte Nurmahal lächelnd, wenn es mir erlaubt ist,
meine Meinung so frei zu sagen, so glaube ich, daß gerade
diese Umstände sich vortrefflich zusammenschickten, einen Genie,
wie der Ihrige war, zu entwickeln. Wenn es wahr ist, daß
lebhafte junge Leute gemeiniglich einen unwiderstehlichen Trieb
in sich finden, immer das Widerspiel von dem, was ihre Hofmeister
sagen, zu thun, wie konnte man Ihnen einen schicklichern
Hofmeister wünschen, als den Fakir Salamalek? Die
artigen Kammermädchen der Sultanin waren schlechterdings
unentbehrlich, die Federn Ihrer Einbildungskraft spielen zu
machen, und eine sehr nachtheilige Stagnation Ihres Herzens,
die bei einer so pedantischen Erziehung zu besorgen war, zu
verhüten. Der junge Cyprier mag wohl vielleicht der strengen
Sittenlehre Ihres Fakirs das Gegengewicht zuweilen mehr als
nöthig war gehalten haben; aber wenn er Ihnen auch zu nichts
gedient hätte, als den Unterricht dieses albernen Mentors unschädlich
zu machen, so war das schon sehr viel. Allein ich bin
gewiß, daß er Ihnen einen noch wichtigern Dienst erwies.
Seine Spötteleien über die Grundsätze des Fakirs kamen Ihrer
eigenen Vernunft zu Hülfe, und befestigten Sie auf die natürlichste
Weise von der Welt in den entgegengesetzten; und es
kann nicht fehlen, man hat ein Großes gewonnen, um klug
zu werden, wenn man über die Thorheit lachen gelernt hat.
Ueberdieß mußte das Beispiel Schach-Bahams und seiner drei
Vorgänger — —O, was dieß betrifft, Madame, fiel ihr der Sultan lachend
ins Wort, da haben Sie Recht! Drei oder vier solche Vorgänger
sind eine unvergleichliche Schule für einen Nachfolger,
der sie in ihrem gehörigen Lichte zu betrachten weiß. — Aber
genug für heute von Königen und Staatsangelegenheiten; ich
bin lange nicht so aufgelegt gewesen zu vergessen, daß ich die
Ehre habe Sultan zu seyn. Schicken Sie mir etliche von
ihren Odalisken, Nurmahal; ich will versuchen, ob ich mich
nicht eben so gut in den Schlaf singen lassen kann, als der
alte Weißbart, von dem uns Danischmend letzthin so wunderreiche
Dinge vorleyerte.—————
9.Die kleine Ergötzlichkeit, welche sich Schach-Gebal mit den
Odalisken seiner Favoritin zu machen geruht hatte, leistete mehr
als er davon erwartete. Anstatt ihn einzuschläfern, gelang es
einer von diesen jungen Nymphen, seine schlafsüchtige Einbildungskraft
zu erwecken, und ihm eine Art von einem Mittelding
zwischen Leidenschaft und Geschmack einzuflößen, wovon
Anfang, Mittel und Ende, nach der Berechnung des Philosophen
Danischmend, drei Tage, einundzwanzig Stunden und
sechszehn Minuten dauerte.Wenn die kürzesten Narrheiten die besten sind, so muß
man zur Ehre dieses Sultans sagen, daß er in diesem Stücke
nicht unwürdig war, ein Muster aller Herren seines Standes,
welche nicht selbst Muster sind, zu seyn. Doch, um seiner
Weisheit nicht zu viel zu schmeicheln, — die Wahrheit von der
Sache war, daß die kleine Sängerin weder genug Geist, noch
der Sultan Begierden genug hatte, seinem Geschmack für sie
eine längere Dauer zu geben. Er fand sich also nach wenigen
Tagen geneigt, die Versammlungen seiner kleinen Akademie,
welche durch diese Abwechselung von Zeitvertreib unterbrochen
worden war, wieder zu erneuern; und die Erzählung der Geschichte
des Königs Azor wurde, auf seinen Befehl, von der gefälligen
Nurmahal folgendermaßen fortgesetzt.Wenn der Sultan Azor eine Handlung von ächter königlicher
Großmuth zu thun glaubte, indem er seinen Feinden gerade
in dem Augenblicke wo sich das Glück für seine Waffen
zu entscheiden anfing, nicht nur Friede, sondern noch eine von
seinen besten Provinzen dazu schenkte: so kann man doch nicht
in Abrede seyn, daß die Begierde, seiner geliebten Alabanda
(einer Eroberung, die ihn für den Verlust von zwanzig Provinzen
schadlos gehalten hätte) desto ungestörter zu genießen,
die wahre wiewohl geheime Triebfeder seiner Großmuth war.
Wenigstens bewies der Gebrauch, den man von einem so
theuer erkauften Frieden machte, daß die Vortheile seines
Volkes schwerlich dabei in Betrachtung gezogen worden waren.
Denn man dachte weder daran, das Reich auf künftige Fälle
in bessere Verfassung zu setzen, noch die Provinzen wieder herzustellen,
die durch den König entvölkert und verwüstet worden
waren. Azor theilte die Geschäfte der Regierung unter einige
Geschöpfe der schönen Alabanda, welche ihn beredeten, daß er
selbst regiere, indem er von dieser Zaubrerin und ihren Mitschuldigen
unumschränkt regiert wurde. Prächtige Feste und
immer abwechselnde Lustbarkeiten, über deren Erfindung sich
alle witzigen Köpfe von Scheschian elendiglich erschöpften, verschlangen
unermeßliche Summen, wovon der zehnte Theil
hinlänglich gewesen wäre, die zerstörten Städte wieder aufzubauen,
und jedes traurige Denkmal der Verwüstung in den
Gegenden, welche der Schauplatz des Krieges gewesen waren,
auszulöschen. Zehntausend in die äußerste Noth heruntergebrachte
Familien hatten durch die Unkosten einer einzigen
Geburtsfeier wieder glücklich gemacht, und in eine dem gemeinen
Wesen nützliche Thätigkeit gesetzt werden können: aber
weil sich niemand fand, der dem Sultan einen solchen Vorschlag
gethan hätte, — weil die schöne Alabanda weit über
die Schwachheit erhaben war, irgend einen neuen Triumph
ihrer gränzenlosen Eitelkeit dem Mitleiden oder der Wollust
Gutes zu thun aufzuopfern — wie hätte Azor, bei aller seiner
natürlichen Gutherzigkeit, auf einen solchen Gedanken
verfallen sollen? — Er, der keinen Begriff von dem innern
Zustande seines Reiches, keine Fertigkeit über irgend etwas
als über die unmittelbaren Gegenstände seines Vergnügens
zu denken, und am allerwenigsten den mindesten anschauenden
Begriff von dem Elend hatte, welchem abzuhelfen sein großer
Beruf war! Er hätte in einer unkennbaren Verkleidung, allein,
oder nur von einem oder zwei rechtschaffenen Männern begleitet,
sich von den prächtigen Straßen, die zu seinen Lustschlössern
führten, entfernen, und in die entlegeneren Theile seines Reichs,
in die Hütten der Landleute oder unter die Trümmer kleiner
Städte, deren blühender Stand in muthloses Elend verwandelt
war, sich hineinwagen müssen, um die Unglücklichen kennen zu
lernen, die nach seiner Hülfe seufzeten. Wie unendlich viel
Gutes würde eine einzige solche Reise seinen Völkern gethan
haben! Aber — —Mirza, sagte Schach-Gebal in einem plötzlichen Anstoß
von empfindsamer Laune zu seinem Günstlinge, vergiß nicht,
dich morgen früh mit Pferden für mich, dich selbst und
Danischmenden an der westlichen Pforte des Gartens bereit
zu halten. Wir müssen eine solche Lustreise mit einander
machen. Aber mit euerm Leben sollt ihr mir alle drei für
das Geheimniß stehen! Weiter, Nurmabal!Sire, der gute Sultan Azor ließ sich nichts von einer
solchen Luftreise träumen, wie diejenige, wozu Ihre Majestät
sich mit einem so rühmlichen Feuer entschlossen haben.
Wenn er reisete, so geschah es in Begleitung seines ganzen
Hofstaats, und mit einem Pomp, der das Bild eines triumphirenden
Heerzuges eines Weltbezwingers darstellte. Der
Aufwand einer einzigen solchen Reise verzehrte die jährlichen
Einkünfte einer ganzen Provinz: und da eine verderbliche
alte Gewohnheit die Landleute nöthigte, die Kamele, Pferde,
und Wagen unentgeltlich herzugeben, welche das Gepäcke des
Königs und seines Gefolgs fortzuschaffen erfordert wurden,
so that dieser einzige Umstand den Gegenden, durch welche
der Zug ging, einen beinahe eben so empfindlichen Schaden als
ein feindlicher Ueberfall. Im übrigen vergaßen die immer
wachsamen Günstlinge des Sultans und seiner Gebieterin
nicht, dafür zu sorgen, daß die königlichen Augen nirgends
durch den Anblick des Mangels, der Nacktheit und des Elends
beleidigt werden möchten. Die Mirzas, durch deren Gebiete
die Reise ging, stellten, um sich dem Hofe gefällig zu machen,
lange zuvor Zurüstungen an, ihren Oberherrn auf eine glänzende
Art zu empfangen, oder ihn im Vorübergehen mit
dem Anblick ländlicher Feste und Scenen von Fröhlichkeit
zu ergötzen, welche dem guten Fürsten die betrügliche Freude
machten, die geringsten seiner Unterthanen für glücklich
zu halten.Bald fange ich an Mitleiden mit euerm Azor zu haben,
sagte Schach-Gebal. Ein König muß ein Gott seyn, oder
er muß betrogen werden, wenn alle seine Leute die Abrede
mit einander genommen haben, ihn zu betrügen.Bei allem diesem, fuhr Nurmahal fort, hatte Scheschian,
im Ganzen berachtet, mehr als jemals das Ansehen eines
in seiner vollen Blüthe stehenden Reiches. Die Natur hatte
seine meisten Provinzen mit ihren reichsten Gaben überschüttet.
Fleiß und Handlung belebten die größern Städte, und die
Künste stiegen zum Gipfel der Vollkommenheit hinan. Alabanda
trat nicht bloß in die Fußstapfen der schönen Lili; sie
war zu stolz eine bloße Nachahmerin zu seyn, sie wollte die
Ehre haben zu erschaffen.Da sie gewohnt war den Sultan auf die Jagd zu begleiten,
so geschah es einsmals, daß sie sich mit ihm in eine
von diesen wilden Gegenden verirrte, welche die Natur so
gänzlich verwahrloset hat, daß nichts als der magische Stab
einer Fee mächtig genug scheint, sie zur Schönheit umzubilden.
Welch eine Gegend, rief Alabanda mit einer Art
von Entzücken aus, um einen Gedanken darin auszuführen,
der die Regierung meines Sultans auf ewig glänzend und
unnachahmlich machen würde! Welch eine Gegend, um
sie zu einem Sitze der Liebesgötter, zu einem Inbegriff
aller Bezauberungen der Sinne und der Einbildung umzuschaffen! —
Azor sah die Zaubrerin Alabanda mit Erstaunen
an: aber er war selbst zu sehr ein Freund des Wunderbaren;
und wenn er es auch weniger gewesen wäre, so liebte
er die schöne Alabanda viel zu zärtlich, um ihre angenehmen
Gedanken durch Einwürfe zu unterbrechen. Er überließ ihr
also die Ausführung eines Einfalls, der an Ausschweifung
vielleicht niemals seinesgleichen gehabt hat. In wenigen Tagen
war sie mit ihrem Entwurfe fertig, und itzt wurden
Millionen Hände aufgeboten ihn auszuführen. Seit den
Zeiten der stolzen Könige von Ninive und Memphis hatte
man kein ähnliches Werk unternehmen gesehen. Doch was
waren die Aegyptischen Pyramiden, oder die Mauern des
alten Babylon gegen die Schöpfungen der Göttin Alabanda?
Gebirge wurden geebnet; unersteigliche Felsen hier gesprengt,
dort zu Palästen, kleinen Tempeln, Grotten und reizenden
Einsiedeleien, oder zu großen stufenweise sich erhebenden Terrassen
ausgehauen, und in Gärten, Alleen, Blumenstücke
und Lustwäldchen verwandelt. Entlegene Flüsse wurden in
diese aus dem Nichts hervorgehende Zauberwelt geleitet, und
durch erstaunliche Wasserkünste gezwungen, die Gärten und
Haine, welche Alabanda in die Luft gepflanzt hatte, mit
springenden Brunnen und Wasserfällen, unter tausendfachen
Gestalten und Verwandlungen, zu beleben. Mitten unter
allen diesen mannichfaltigen Schöpfungen erhob sich ein wahrer
Feenpalast; Marmor, Jaspis und Porphyr waren die geringsten
Materien, woraus er zusammengesetzt war, und alle Manufacturer
von Indien, Sina und Japan wurden zu seiner
Ausschmückung erschöpft. Die Gärten, die ihn umgaben,
prangten mit den schönsten Gewächsen des ganzen Erdbodens,
welche mit so guter Ordnung ausgetheilt waren, daß man mit
jeder höhern Terrasse, die man bestieg, sich in ein anderes
Klima versetzt glaubte. Die schönsten und seltensten Vögel
aller Welttheile bewohnten diesen wundervollen Ort, den sie
mit ihren mannichfaltigen Stimmen und mit natürlichen
oder gelernten Gesängen belebten. Und in der Mitte einer
unzähligen Menge kleiner Lustwälder, über welche dieses Zauberschloß
herrschte, beherbergte ein künstlicher Ocean alle Arten
von Wassergeschöpfen; ein großer See, dessen über Marmor
rollende Wellen man oft mit einer Flotte von kleinen vergoldeten
Schiffen bedeckt sah, welche an Zierlichkeit und schimmernder
Ausschmückung dasjenige zurückließen, worin Kleopatra
den Herrn der einen Hälfte der Welt zum ersten male
bezauberte. Die Beschreibung, welche Alabanda von den
Wundern dieses nach ihrem Namen genannten Ortes verfertigen
ließ, machte etliche große Bände aus, und die billigste
Berechnung alles dessen, was diese Wunder gekostet hatten,
überstieg zweimal die jährlichen Einkünfte des ganzen Scheschianischen
Reiches, welches in der That eine ungeheure
Summe war. Unzählige Fremde wurden durch die Neugier
herbeigezogen, sie zu sehen; aber der Vortheil, den das Land
von ihnen zog, war nur ein geringer Ersatz des vielfältigen
Schadens, den es durch die Ausschweifungen der schönen
Alabanda erlitten hatte. Eine unendliche Menge von Landleuten
waren dem Feldbau entrissen worden, um als Tagelöhner
an der Beschleunigung eines Werkes zu arbeiten,
welches ihr ungeduldiger Stolz unter ihren Blicken wachsen
sehen wollte. Einige Provinzen befanden sich dadurch in Unordnung
und Mangel versetzt; der Preis der Lebensmittel
stieg übermäßig; der öffentliche Schatz war erschöpft, die Einnahme
des folgenden Jahres beträchtlich vermindert, und
das Reich mit einer ungeheuren Schuld beladen, wovon der
größte Theil fremde Länder bereicherte; weil der eckle Geschmack
der launenhaften Alabanda nichts Einheimisches schön genug
fand, ungeachtet alle Künste in Scheschian blüheten.Zum Unglück für die Nation war diese Favoritin kaum
mit Ausführung eines solchen Werkes fertig, als ihre unerschöpfliche
Einbildungskraft schon über der Idee eines andern
brütete, welches durch die gränzenlose Gefälligkeit ihres Liebhabers
eben so schnell und mit eben so wenig Rücksicht auf
die Umstände des Staats zur Wirklichkeit gebracht wurde.
Schon im zweiten Sommer, den sie mit dem Könige zu Alabanda
zubrachte, bemerkte sie, daß die Gebäude zu weitläufig,
die Gärten zu verworren und überladen, und mit Einem
Worte das Ganze eine Art von Carricatur sey, wo die Natur
von der Kunst verschlungen werde, und das ermüdete Auge
in einer unübersehbaren Mannichfaltigkeit sich verliere. Dieser
weisen Beobachtung zufolge wurde in einer der anmuthigsten
Gegenden des ganzen Reichs ein andrer Lustsitz angelegt, in
dessen kleinerem Umfange die schöne Alabanda, mit Hülfe
einiger poetischen Köpfe des Hofes, bemüht war, die Natur,
über alle mühsamen Bestrebungen der Kunst triumphiren zu
lassen. Die Natur zeigte sich da mit allen ihren eigenthümlichen
Reizungen, in dem leichten Gewand einer Nymphe,
oder in der reizenden Unordnung einer Schönen, die von
ihrem Liebhaber überrascht zu werden hofft. Man konnte
sich wirklich keinen angenehmern Ort träumen lassen; aber es
kostete so viel, der schönen Natur diesen Sieg über ihre Nebenbuhlerin
zu verschaffen, daß man sich genöthigt sah einen
Vorwand zu ersinnen, um die Unterthanen mit einer neuen
Steuer zu belegen. Auf solche Weise wurde Scheschian nach
und nach mit den herrlichsten Denkmälern der üppigen Erfindamkeit
dieser Favoritin angefüllt. Die Unternehmer dieser
Werke und einige Künstler, welche weniger wegen ihres vorzüglichen
Talents als durch Empfehlungen und Hofränke angestellt
wurden, fanden unstreitig ihre Rechnung dabei. Etliche
Poeten, die um den zehnten Theil der Einkünfte eines Hofküchenschreibers
gedungen waren, über alles, was der Hof
that oder gethan haben wollte, Oden zu machen, posaunten
und leyerten von Wundern und goldenen Zeiten. Aber die
Provinzen sanken zusehends in einen kläglichen Stand von Entkräftung
und Verfall herab, und die Nation hatte sehr große
Hoffnung, in kurzem einem Virtuosen zu gleichen, der, durch
einen kleinen Verstoß gegen die Rechenkunst, in einem sehr
zierlichen neu gebauten Palast, mitten unter einer herrlichen
Sammlung von Gemälden, Statuen und Alterthümern —
verhungert.Nurmahal hielt bei diesem Absatz ein wenig ein, weil sie
gewahr wurde, daß der Sultan in Gedanken vertieft schien:
als dieser sich auf einmal mit einer auffahrenden Bewegung
an Danischmenden wandte. Glaubst du nicht, Danischmend,
fragte ihn Schach-Gebal, daß die Sultanen, meine Mitbrüder,
sehr vieles, was sie thun, unterlagen würden, wenn sie einen
Freund hätten, der ehrlich genug wäre, ihnen die Wahrheit
zu sagen?Vielleicht, antwortete Danischmend mit einem kaum merklichen
Achselzucken. — Vielleicht auch nicht, — murmelte er
hinten nach.Und warum nicht? fragte der Sultan.Sire, sagte der Philosoph, wollen Ihre Majestät schlechterdings,
daß ich Ihnen die Wahrheit sagen soll?Das bedurfte, nach der Anmerkung die ich eben machte,
keiner Frage, sprach der Sultan."So sage ich, daß wenigstens Drei gegen Eins zu wetten
ist, daß die meisten Sultane weder mehr noch weniger thun
würden als ihnen beliebt, wenn sie gleich den Confucius oder
Zoroaster selbst zum Freunde hätten. Denn, —gesetzt, zum
Exempel, der König Azor hätte einen solchen Freund gehabt,
so wäre es allezeit darauf angekommen, ob dieser den rechten
Augenblick zu seiner Vorstellung gewählt hätte. Denn der
geringste Umstand, ein kleiner Nebel, es sey nun in der Luft
oder im Gehirne Seiner Hoheit, oder eine kleine Blähung in
dem Magen Seiner Hoheit, ein kurzer Wortstreit, den Sie
kurz zuvor mit Ihrer Maitresse gehabt, ein Traum oder sonst
eine Kleinigkeit, die Ihren Schlummer beunruhigte, die
schlimme Laune Ihres Affen, oder die Unpäßlichkeit eines
Ihrer großen Hunde, — ein einziger von tausend Umständen
von dieser Wichtigkeit wäre hinlänglich gewesen, die Wirkung
der besten Vorstellung zu vernichten. Doch, gesetzt der Freund
hätte den günstigen Augenblick ergriffen: wie leicht konnte es
ihm, bei aller Redlichkeit seiner Absicht, in dem entscheidenden
Moment an der Geschicklichkeit, oder an dem Glücke
fehlen, seiner Vorstellung die rechte Wendung zu geben! Wie
leicht hätte ein einziges Wort, das ihm entschlüpft wäre,
alles wieder verderben können, was zwanzig glückliche Vorstellungen
gut gemacht hatten! Und dennoch, setzen wir abermal,
es sey ihm gelungen den verlangten Eindruck auf seinen
Herrn zu machen: wie bald wär' es geschehen gewesen, daß
dieser Eindruck. eine Viertelstunde darauf, durch eine Gegenvorstellung
eines andern wohlmeinenden Dieners, — oder
durch einen einzigen Blick, im Nothfalle durch ein einziges
kleines erkünsteltes Thränchen einer geliebten Alabanda, wieder
ausgelöscht worden wäre! — Ich stelle mir z. B. vor, die
schöne Alabanda träte gerade zur nämlichen Zeit in das Cabinet
ihres Sultans, da der vorbesagte Freund es verlassen hätte;
der Freund, dem wir Muth und Eifer genug leihen wollen,
gegen irgend eine neue kostbare Grille, wovon die Phantasie
der schönen Favoritin kürzlich entbunden worden, im Namen
des gemeinen Besten Vorstellungen zu thun.Ich komme (sagt sie mit einem Ausdruck von Vergnügen,
der über ihr ganzes Gesicht einen glänzenden Reiz verbreitet),
ich komme Ihrer Majestät einige Zeichnungen vorzulegen,
und zu vernehmen, welche davon Ihren Beifall hat, um zum
Modell des neuen Amphitheaters, wovon wir neulich sprachen,
genommen zu werden."Lassen Sie sehen, Madame, sagt der Sultan mit einem
Frost, den er ihr und sich selbst gern verbergen möchte."Sie sind wirklich alle schön; aber wie finden Sie diese?
Ich gestehe, daß ich sie vorziehen würde, wenn ich zu wählen
hätte. Man kann nichts Größeres, nichts Prächtigeres denken.
Die Ausführung würde der Zeiten Ihrer Majestät würdig
seyn, welche durch so viele unnachahmliche Werke ein Wunder
des spätesten Weltalters bleiben werden."Aber, meine liebste Sultanin —(Hier heftete Alabanda einen aufmerksamen Blick, vermischt
mit einem kleinen Zusatz von Erstaunen, auf den Sultan).Ich habe Mühe —"Was fehlt Ihnen, mein liebster Sultan? Sie sehen
nicht völlig so aufgeheitert aus als Sie mich diesen Morgen
verließen."Ich kann es nicht von mir erhalten, Ihnen meine Ungeneigtheit
zu etwas, das Ihnen Vergnügen macht, zu erkennen
zu geben; und doch —"Ich verstehe Sie nicht, Sire: erklären Sie sich. Kann
ich unglücklich genug seyn etwas zu wünschen, das Ihnen unangenehm
ist?"Ungütige Alabanda: : würde ich wohl einen Augenblick anstehen,
die ganze Welt zu Ihren Füßen zu legen, wenn ich
Herr davon wäre?"Vergeben Sie meiner Zärtlichkeit den Anfang eines
schüchternen Zweifels," ruft die Dame mit einer liebkosenden
Stimme, und mit einem von diesen Zauberblicken, deren
Wirkung ein Liebhaber in allen Atomen seines Wesens fühlt,
— indem sie ihre schönen Hände sanft auf seine Schultern
drückt.Der Sultan — wir wollen ihn, mit Ihrer Majestät Erlaubniß,
so tapfer seyn lassen als nur immer möglich ist —
machte eine Bewegung, als ob er sich ihren Liebkosungen, aus
einem Gefühl sie nicht zu verdienen, entziehen wolle, sieht sie
unschlüssig an, und arbeitet mit einiger Verlegenheit endlich
ein zweites Aber heraus —"Aber, meine Schönste, wie viel
meinen Sie wird die Ausführung dieses Entwurfs kosten?"Eine Kleinigkeit, Sire; zwei oder höchstens drei Millionen
Unzen Silbers."Man versichert mich, daß die Ausführung des geringsten
Plans ungleich höher zu stehen kommen würde; und ich gestehe
Ihnen, daß verschiedene dringende Bedürfnisse meiner Provinzen — —"Dringende Bedürfnisse? — ruft die Dame in einem
traurigen und erstaunten Tone. Ist's möglich, daß jemand so
übelgesinnt seyn kann, die Ruhe meines geliebten Sultans
mit so ungetreuen Berichten zu vergiften? Alle Provinzen Ihres
großen Reichs sind glücklich, und haben keinen andern Wunsch
als ewig von dem besten der Könige beherrschet zu bleiben.
Und gesetzt der Staat hätte außerordentliche Bedürfnisse; können
Sie zweifeln, daß Ihre Schatzkammer nicht reich genug sey,
sie zu bestreiten, ohne daß man vonnöthen habe, an einer kleinen
Summe zu sparen, die zum Vergnügen Ihrer Majestät und
zur Verschönerung der Hauptstadt Ihres Reichs angewendet
werden soll?"Aber, — liebste Alabanda, wie viel Tausend könnte ich
mit dieser Kleinigkeit, wenn Sie ja etliche Millionen eine
Kleinigkeit nennen wollen, glücklich machen?"Vergeben Sie mir, liebster Sultan — aber ich kann
mich kaum von meinem Erstaunen erholen. Es gibt, wie ich
sehe, Leute, die sich kein Bedenken machen Ihre Gütigkeit zu
mißbrauchen. Wer kann Ihnen gesagt haben, daß ein König
Millionen verschenken müsse, um müßige Bettler oder bettelhafte
Müßiggänger glücklich zu machen? Doch ich merke wohl
was unter der Decke liegt: nicht die Unkosten, nur die Verwendung
derselben ist gewissen Leuten anstößig. Es mag seyn!
Wir wollen das Amphitheater fahren lassen. Ein schönes Stift
für ein paar hundert blaue Bonzen — —"Wir wollen gar nicht bauen, Alabanda!"Ich bin sehr unglücklich heute nichts sagen zu können,
das den Beifall Ihrer Majestät zu erhalten würdig wäre."Wie reizbar Sie sind, Alabanda!"Nicht reizbar, aber gerührt, da mir auf einmal ein trauriges
Licht aufgeht. Ach! Azor, wozu diese Verstellung? wozu diese
Umschweife? Warum entdecken Sie mir nicht lieber auf einmal
mein ganzes Unglück?"Sie setzen mich in Erstaunen, Alabanda: wo nehmen Sie
diese Einfälle her, meine Schönste?"Wie kalt! Wär' es Ihnen möglich so wenig bei der Angst,
die Sie in meinen Augen lesen, zu empfinden, wenn meine
Besorgnisse nicht allzuwohl gegründet waren? Ach Azor! —"
(Hier läßt sie sich in eine trostlose Lage auf den Sofa fallen)
"Ach! ich bin das elendeste unter allen Geschöpfen! Ich habe
Ihr Herz verloren. Eine andre glücklichere —" Hier verliert
sie ihre Stimme, Thränen rollen aus ihren schmachtenden
Augen, ihr schöner Busen athmet schwer und pocht mit verdoppelten
Schlägen. Der bestürzte, gerührte, allzuschwache
Azor vergißt auf einmal alle Vorstellungen und Berechnungen
seines Freundes; er sieht nichts als seine Alabanda in Thränen.
Er eili mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Welche Vorstellungen,
welche Berechnungen sollten gegen diese Blicke, diese
Thränen, diesen Busen aushalten können? Er wirft sich zu
ihren Füßen, sagt und thut alles, was ein schwärmender Liebhaber
sagen und thun kann, um eine zweifelnde Geliebte zu
beruhigen. Nun sind nicht nur sechs, sechshundert Millionen
sind itzt eine Kleinigkeit in seinen Augen — Kurz, die angenehmste
Aussöhnung erfolgt (nach keiner längern Weigerung,
als die Dame nöthig glaubt um den Werth davon zu erhöhen)
auf diesen kleinen Sturm: Alabanda befestiget sich in dem
Herzen des zärtlichen Sultans; das Amphitheater wird gebaut,
und der arme Freund (nach einer eben so langen Weigerung
auf Seiten seines königlichen Freundes) wie billig aufgeopfert,
um die Thränen zu rächen, welche durch seine Schuld die
schönsten Augen der Welt trübe gemacht haben."Was sagen Sie zu diesem neuen Talent unsers Freundes
Danischmend? fragte Schach-Gebal die schöne Nurmahal mit
einem angenommenen Erstaunen. —In der That, erwiederte
sie, er hat keine unfeine Gabe, Komödien aus dem Stegreife
zu spielen; und wenn mir erlaubt wäre einen Vorschlag zu
thun, so wär' es, ihn anstatt zum Oberaufseher über die
Derwischen, zum Oberaufseher über die Schauspiele in Dely
zu machen.Es kann beides sehr wohl mit einander gehen, erwiederte
der Sultan: man muß die Talente des Mannes nicht unbenützt
lassen; er mag es sich selbst beimessen, wenn man viel von ihm
fordert. Aber im ganzen Ernste, Danischmend, die Erzählung
von den Ausschweifungen, wozu die Prinzessin Alabanda euern
armen Azor verleitete, hat mich auf einen Gedanken gebracht,
der, wie ich hoffe, den Beifall deiner Philosophie erhalten wird.
Mir fiel ein, daß ich meinen Unterthanen ein beträchtliches Geschenk
machen könnte, wenn ich drei oder vier meiner entbehrlichsten
Lustschlösser niederreißen, und die ungeheuern Gärten,
Lustwälder und Jagdbezirke, die dazu gehören, zum Anbauen
unter sie austheilen ließe.Sire, sagte Danischmend mit lachenden Augen (denn er
hatte, bei aller seiner Philosophie zu viel Lebensart, um dem
Trieb zum Lachen, der ihn anwandelte, freien Lauf zu lassen),
der bloße Gedanke, würde dem Herzen Ihrer Majestät unendlich
viel Ehre machen, wenn er auch unausgeführt bliebe;
welches —Nein, nein, fiel ihm der Sultan ins Wort, das soll er
nicht! Er soll ausgeführt werden; ; denn was nützt ein Gedanke,
der eine bloße Speculation bleibt? Ich bekümmere mich
wenig darum, ob er mir viel oder wenig Ehre macht: aber
ich liebe meine Unterthanen; ich stelle mir die Freude vor, die
ich einigen tausend Haushaltungen dadurch machen könnte,
und, ich bekenne euch meine Schwachheit aufrichtig, ich kann
dieser Vorstellung nicht widerstehen.Liebenswürdige Schwachheit, rief die schöne Nurmahal,
indem sie eine von den Händen Seiner Majestät an ihre
Tippen drückte.Die Frage ist nur, fuhr der Sultan fort, welche von den
vielen, aus denen ich wählen kann, aufgeopfert werden sollen?
In der That ist keines, das nicht seine eigenen Schönheiten
hat. — Doch, das werden wir heute nicht ausmachen. Gute
Nacht, meine Kinder! —Danischmend, die erste Komödie, die
in meiner Gegenwart aufgeführt wird, soll von deiner Erfindung
seyn!Der junge Mirza, welcher den Auftrag hatte, sich morgen
mit Anbruch des Tages bereit zu halten, um den Sultan auf
seiner geheimen Reise zu begleiten, brachte diese Nacht bei
einer kleinen Maitresse zu, die er in einem sehr artigen kleinen
Hause in einer von den Vorstädten von Dely unterhielt. Hier
wurde ihm die Zeit so kurz, daß er erst einzuschlafen anfing,
als er wieder hätte erwachen sollen. Kurz, er vergaß den
Auftrag des Sultans so gänzlich, als ob niemals die Rede
davon gewesen wäre; und es war glücklich für ihn, daß sich
der Sultan eben so wenig daran erinnerte. In der That pflegte
Se. Hoheit so viele Einfälle dieser Art zu haben, daß es
lächerlich gewesen wäre, Ernst daraus machen zu wollen.
Gleichwohl würde der letzte Einfall, mit dem er einschlief,
Folgen gehabt haben, wenn Schach-Gebal mit sich selbst und
mit seinen geheimen Rathgebern hätte einig werden können,
auf welche von seinen Lustschlössern das Verdammungsurtheil
fallen sollte. Man sprach so lange von der Sache, bis man
endlich nichts mehr zu sagen hatte, und da hörte man auf
davon zu sprechen. Alles blieb wie zuvor; Schach-Gebal hatte
nichtsdestoweniger das Vergnügen, seinem Herzen mit der
großmüthigen Freigebigkeit Ehre zu machen, die er in Gedanken
ausgeübt hatte.—————
10.Die erfindsame Phantasie und die verschwenderische Gemüthsart
der schönen Alabanda (fuhr Narmahal fort) würde
allein schon hinlänglich gewesen seyn, die Einkünfte des Scheschianischen
Reiches, so hoch sie sich auch beliefen, zu erschöpfen.
Aber die obersten Staatsbedienten, die Finanzaufseher und
das ganze zahlreiche Geschlecht der Günstlinge (denn jeder
Günstling hat wieder die seinigen) verschlangen zur nämlichen
Zeit so beträchtliche Summen, daß selbst die Verdoppelung der
ehmaligen Abgaben (welche von den Zeiten des Krieges her, gegen
das königliche Wort, noch immer fortdauerte) zu Bestreitung
eines so ungeheuern Aufwandes unzulänglich war. Man sah
sich also gezwungen, unter allerlei Vorwand alle Jahre neue
Auflagen zu machen. Und da die Regierung um nichts weniger
besorgt war, als den arbeitsamen und nützlichen, das ist,
den armen Theil der Nation, der dadurch am meisten gedrückt
wurde, durch die nöthige Aufmunterung und Unterstützung in
den Stand zu setzen, so viel von seinem Erwerbe abzugeben:
so mußten die Folgen einer so unweisen Staatswirthschaft in
wenigen Jahren merklich genug seyn, um jeden, der nur einigermaßen
das Ganze zu übersehen fähig war, mit schwermüthigen
Ahnungen von dem nahen Untergange des Staates zu
erfüllen.Was diejenigen, denen das gemeine Wohl zu Herzen ging,
am empfindlichsten beleidigte, war die Gleichgültigkeit des Hofes
bei solchen Zufällen, wodurch ganze Provinzen in den kläglichsten
Nothstand gesetzt wurden. In einigen richtete, zum Exempel,
das Austreten gewisser Flüsse von Zeit zu Zeit die schrecklichsten
Verwüstungen an. In andern hatte der Mißwachs, aus
Mangel gehöriger Vorsorge und Polizei, Hunger und Seuchen
veranlaßt, wodurch ganze Gegenden zum Grabe ihrer elenden
Bewohner wurden. Die Hälfte der Unkosten, welche man
während dieser öffentlichen Noth auf die gewöhnlichen und auf
außerordentliche Hoflustbarbeiten verwendete, wäre hinlänglich
gewesen, allem diesem Elende zuvorzukommen; einem Elende,
dessen bloßen Anblick die verzärtelten Sinne und die wollüstige
Einbildungskraft des Sultans und seiner Gebieterin nicht
eine Minute lang zu ertragen fähig gewesen wären. Aber
weder Azor noch Alabanda wußten, daß diese hunderttausend
Unzen Silbers, die an einem einzigen Feste in muthwilliger
Ueppigkeit verschwendet wurden, den Werth des Brodes ausmachten,
welches an eben diesem Tage zweimalhunderttausend
Familien hätte sättigen sollen, wenn es nicht mit einer unmenschlichen
Hartherzigkeit diesen von Arbeit, Kummer und Dürftigkeit
entkräfteten Menschen, und ihren vor Hunger weinenden
Kindern, aus dem Munde gerissen worden wäre, um von
demjenigen, der sich ihren allgemeinen Vater nennen ließ, in
Sardanapalischen Gastmählern verzehrt, und unter die Genossen
und Werkzeuge seiner tyrannischen Ausschweifungen vertheilt
zu werden.Dieß ist ein so abscheulicher Gedanke, rief Schach-Gebal,
daß ich lieber heute noch in die Kutte eines Derwischen kriechen,
oder, wie ein gewisser König, sieben Jahre lang ein
Ochse seyn und Gras fressen, als länger Sultan bleiben wollte,
wenn ich Ursache hätte zu glauben, daß ich mich in diesem Falle
befinden könnte.Nach einer so nachdrucksvollen Erklärung würde es nicht
nur sehr unhöflich, sondern wirklich grausam gewesen seyn,
dem guten Sultan zu entdecken, daß er sich schon oft in diesem
Falle befunden habe. Man versicherte ihn also einhellig des
Gegentheiles, mit dem gebührenden Dank für diese abermalige
Probe seiner Menschlichkeit, und Nurmahal fuhr fort.Der gute König Azor war weit entfernt, den elenden
Zustand seiner Provinzen auch nur von ferne zu argwohnen.
Seine Visire hatten die sorgfältigsten Maßregeln genommen,
daß die Klagen des Volkes nicht zu seinen Ohren dringen
konnten. Er sah sich von lauter glücklichen oder glücklich scheinenden
Leuten umgeben. Seine Hauptstadt stellte einen Inbegriff
der Pracht und der Reichthümer der ganzen Welt, die
umliegenden Gegenden ein Land der Bezauberung, und selbst
die Hütten des Landvolkes das Bild des Ueberflusses und der
Freude dar. Ströme von Gold und Silber flossen aus allen
Provinzen seines Reiches der Hauptstadt zu; aber, anstatt in
tausend schlängelnden Bächen wieder zurückzukehren, und durch
einen regelmäßigen Umlauf alle Gliedmaßen des großen Staatskörpers
in lebhafter Munterkeit zu erhalten, verloren sie sich
dort in einer unzähligen Menge kleiner durcheinander laufender
Canäle, oder stürzten sich in bodenlose Schlünde, oder
verdünsteten in die Luft. Der größte Theil von dem, was
ehmals der Reichthum der Nation gewesen war, circulirte itzt
unter einer kleinen Anzahl, bei welcher es so schnell im Kreise
herumgetrieben wurde, so oft und auf so mannichfaltige Art
seine Form ändern mußte, daß die Masse selbst durch eine
unmerkliche Abnahme sich zuletzt auf eine sehr merkliche Weise
vermindert befand. Aber lange zuvor, ehe man sich entschließen
konnte es gewahr zu werden, fiel der schlechte Zustand des
Reiches einem jeden in die Augen, welcher Gelegenheit hatte
es von einem Ende zum andern zu durchreisen. Die Größe
des Elends der Provinzen verhielt sich wie ihre Entfernung
von der Hauptstadt. Hunger und Nacktheit nahm mit jeder
Tagreise zu; mit jedem neuen Morgen zeigte sich das Land
schlechter angebaut, weniger bevölkert, weniger gesittet, und
mehr mit Zeichen des Mangels und der Unterdrückung angefüllt;
bis man endlich nichts als ungeheure Wüsten vor sich sah,
von welchen der Sultan keinen andern Vortheil bezog, als die
Hoffnung, einen auswärtigen Feind durch ihren bloßen Anblick
abzuschrecken, oder ihn wenigstens unfehlbar durch Hunger
aufzureiben, eh' es ihm möglich wäre ins Innere des Reiches
einzudringen.Um das Unglück von Scheschian vollständig zu machen,
spielten die abgöttischen Priester dieses Landes zu Azors Zeiten
eine Art von tragikomischem Possenspiele, welches einen äußerst
nachtheiligen Einfluß auf den Geist, die Sitten und die äußerlichen
Umstände der Nation hatte.Bei diesen Worten wachte die Aufmerksamkeit des Sultans,
welcher beinahe eingeschlummert war, auf einmal auf;
er stützte sich auf den linken Arm, und sah der schönen
Nurmahal mit allen Zeichen der ungeduldigen Erwartung
ins Gesicht.Ihre Hoheit werden sich nicht betrogen finden, sagte die
Dame, wenn Sie Begebenheiten erwarten, welche auch dann
noch überraschen, wenn man sich auf das Außerordentlichste
gefaßt gemacht hat.Ich erwarte nichts andres, sagte der Sultan: und eben
deßwegen bin ich so begierig mehr davon zu wissen, daß ich
voraussetze, eure Erzählung wird mich dießmal um den Schlaf
bringen, den sie mir befördern sollte. Ich habe die blauen
Bonzen nicht überhört, deren die Dame Alabanda in ihrer
Unterredung mit dem guten Manne Azor erwähnte. Ich
wollte Danischmenden nicht aus dem Zusammenhange bringen;
aber itzt, da ihr selbst auf diesen Gegenstand kommt, hoffe
ich genauer mit den blauen Bonzen bekannt zu werden.Das einzige, warum ich Ihre Hoheit vorher bitten muß,
versetzte Nurmahal, ist, daß es mir erlaubt werde, mein
Amt bei dieser Erzählung an Danischmenden zu überlassen,
welchen die Stärke, die er in diesem Theile der alten Geschichte
besitzt, fähig macht, Ihre Neubegierde auf die vollkommenste
Weise zu befriedigen.Von Herzen gern, sagte der Sultan: und, was noch
mehr ist, er soll die Erlaubniß haben, so umständlich zu seyn
als es ihm beliebt; denn ich erwarte Begebenheiten, wovon
auch die kleinsten Züge einem denkenden Kopfe nicht gleichgültig
sind.Danischmend hatte keine Ursachen anzuführen, welche
hinlänglich gewesen wären, die Ablehnung dieses Auftrages zu
rechtfertigen. Er unterzog sich also demselben mit guter Art,
und, nach einer kleinen Pause, fing er seine Erzählung folgendermaßen
an.Wiewohl, nach meinem Begriffe, die schlechteste Regierungsform
und die schlechteste Religion immer besser ist als
gar keine: so gestehe ich doch so willig als irgend jemand, daß
eine Nation, wie groß auch ihre Vortheile in andern Stücken
seyn möchten, unmöglich zu einem gewissen Grade von Vollkommenheit
sich erheben könne, wenn sie das Unglück hat,
einer ungereimten Verfassung oder unvernünftigen Religion
unterworfen zu seyn. Das letzte war der Fall, worin sich die
Einwohner von Scheschian seit undenklichen Zeiten befanden.
Die Verblendung dieses Volkes über eine Sache von solcher
Wichtigkeit würde allen Glauben übersteigen, wenn uns die
Geschichte der Welt, in ältern und neuern Zeiten, nicht so
viele abgöttische Völker bekannt machte, welche sich eben so
handgreiflich haben hintergehen lassen als die Scheschianer.
Die alten Aegyptier stellen uns hierin ein Beispiel dar, welches
alle andern überflüssig macht. Das Erstaunen bindet uns die
Zunge, und die Gedanken stehen still, wenn wir hören, daß
ein so weises Volk fähig war, Affen, Katzen, Kälbern, Krokodilen
und Meerzwiebeln, mit allen Verzückungen einer
fanatischen Ehrfurcht, als göttlichen Wesen, oder wenigstens
als sichtbaren Bildern göttlicher Wesen, zu begegnen. Ich
weiß nicht, ob etwas demüthigender für die Menschheit seyn
kann, als die Gewißheit, worin wir sind, daß nichts so Unsinniges
und Lächerliches erträumt werden kann, welches nicht
zu irgend einer Zeit oder auf irgend einem Theile des Erdenrundes
von einer beträchtlichen Anzahl von Menschen für
wahr, ernsthaft und ehrwürdig wäre angesehen worden. Das
Schlimmste ist, daß wir selbst, bei aller Verachtung, womit
wir fremde Thorheiten anzusehen gewohnt sind, große Ursache
haben zu glauben, daß wir an ihrem Platze nicht weiser gewesen
seyn würden. Erziehung, Beispiel, Gewohnheit und
Nationalstolz würden sich bei uns so gut als bei jenen vereiniget
haben, unsre Vernunft zu fesseln, und dasjenige, was
wir itzt, mit so gutem Grunde, Unsinn nennen, zum Gegenstand
unsrer wärmsten Verehrung zu erheben. Gleich den
Aegyptiern würden wir das Unvermögen, uns irgend einen
gesunden Begriff davon zu machen, ein heiliges Dunkel genannt
haben, in welches sterblichen Augen nicht erlaubt sey
einzudringen. Kurz, in den Zeiten der alten Beherrscher des
Nils, zu Memphis oder Pelusium geboren, würden wir gern
oder ungern Katzen, Krokodile und Meerzwiebeln angebetet
haben so gut als jene; und dieß zu eben der Zeit, da uns
nichts so widersinnig gedäucht hätte, als einen Mohren, in
demuthsvoller Stellung und mit allen Zeichen eines andächtigen
Vertrauens in seinen Gesichtsmuskeln, einen Elephantenzahn
oder das Horn eines Ziegenbocks in seiner Noth anrufen zu
sehen.Dieser kleine Eingang, Sire, hat mir nöthig geschienen,
unser Urtheil über den Aberglauben der Scheschianer zu mildern,
und, in Betrachtung der Schwachheiten der menschlichen
Natur, uns zu einer Nachsicht zu vermögen, ohne welche
wenige Erdebewohner ihren Anspruch auf den Titel vernünftiger
Wesen behaupten könnten.Herr Danischmend, sagte der Sultan, was geschehen ist,
ist geschehen: wir wollen es dabei bewenden lassen; wiewohl
ihr euch, alles wohl überlegt, diese Dissertation hättet ersparen
können. Denn am Ende haben wir doch nichts weiter
daraus gelernt, als daß alle Köpfe unter dem Monde zu
Zeiten ein wenig mondsüchtig sind, und daß keine Krähe der
andern die Augen aushacken soll, wie König Dagobert sagte.
Also nichts mehr hiervon, und zur Sache!Diesem Befehl zufolge fuhr der Doctor also fort — ——————
Der Herausgeber an die Leser.Lücken, geneigte Leser, sind in allen Arten der menschlichen
Kenntnisse, besonders in Geschichtserzählungen, eine
allzu gewöhnliche Sache, als daß es euch befremden sollte, hier
in der Erzählung des sogenannten Philosophen Danischmend
eine Lücke, und zwar, wie wir nicht bergen, eine beträchtliche
Lücke zu finden.Diese Lücke ist nicht etwan von der Art derjenigen,
welche von den Gelehrten Hiatus Manuscriptis genannt zu
werden pflegen. Die Handschrift, aus welcher wir die Geschichte
von Scheschian gezogen haben, liegt vollständig vor
uns, und es kam bloß auf uns an, ob wir sie so vollständig,
als der Lateinische Uebersetzer sie geliefert, mittheilen wollten
oder nicht.Vielleicht betrügen wir die Neugierde vieler Leser gerade
da, wo sie am wenigsten geneigt sind, es uns zu vergeben.
Und wirklich hätten wir kein Bedenken tragen sollen, die
Geschichte der Religion des alten Scheschians, und der Veränderungen,
welche sich unter einigen Königen mit ihr zugetragen,
der Welt ohne Lücken vorzulegen, wenn uns das Beispiel
des Lateinischen Uebersezers, und die Gründe, womit
er sein Verfahren beschönigt hat, hinlänglich geschienen hätten,
die Nachfolge desselben zu rechtfertigen.Er behauptete nämlich: "Die weisesten Manner wären
von jeher der Meinung gewesen, daß es einer von den wichtigsten
Diensten, welche man der wahren Religion leisten könne,
sey, wenn man dem Aberglauben und der Tartüfferei (ihren
schädlichsten Feinden, weil sie die Maske ihrer Freunde tragen)
diese Maske abziehe, und sie in ihrer natürlichen Ungestalt
darstelle. Bloß aus diesem Grunde hätten gelehrte und ehrwürdige
Schriftsteller aus den ältern Zeiten des Christenthums,
ein Lactantius, ein Arnobius, ein Augustinus u, a.,
sich eine ernstliche Angelegenheit daraus gemacht, die Ausschweifungen
und Betrügereien der heidnischen Priesterschaft
(sogar nicht ohne Gefahr durch Bekanntmachung der ärgerlichsten
Gräuel schwachen Gemüthern anstößig zu werden) an
das helleste Licht hervor zu ziehen. Sie hätten diese Gefahr
als ein kleines, zufälliges und ungewisses Uebel angesehen
welches gegen den großen Nutzen, den sie der Gottseligkeit
und der Tugend von jener Entlarvung der religiösen Betrügerei
versprochen, in keine Betrachtung komme. Es ist wahr
setzt er hinzu), Leser, welche mehr Witz als Unterscheidungskraft
besitzen, könnten Aehnlichkeiten, und boshafte Leute
Anspielungen zu finden glauben, wo keine sind; aber wenn
uns diese Besorgniß aufhalten sollte, welche Geschichte würde
man schreiben dürfen? Eine jede wohlgeschriebene Geschichte
kann, in einem gewissen Sinne, als eine Satyre betrachtet
werden; und ich fordere den weisesten und unschuldigsten
unter allen Sterblichen heraus, uns ein aufrichtiges Gemälde
der Gesetze, Sitten, Meinungen und Gebräuche, von welchem
Lande in der Welt er will, und sollte es Cappadocia, Pontus
oder Mysia seyn, zu liefern, welches nicht voller Anspielungen
zu seyn scheinen sollte."Diese und andre Gründe des Lateinischen Uebersetzers
hätten uns vielleicht zu einer andern Zeit überzeugen, und
bewegen können seinem Beispiele zu folgen. Aber in den
Tagen, worin wir leben, kann die Behutsamkeit in Dingen
dieser Art kaum zu weit getrieben werden. Der kleinste Anlaß,
den wir wissentlich dem Leichtsinn und Muthwillen unsrer
Zeiten gegeben hätten, durch die schalkhaften Wendungen, die
auch der mittelmäßigste Witz in seiner Gewalt hat, unsrer
Erzählung einen unächten Sinn anzudichten, würde in unsern
Augen alle guten Eindrücke überwiegen, welche wir uns, ohne
übertriebene Erwartungen zu hegen, von dieser Geschichte der
Könige in Scheschian versprechen. Nichts ist in unsern Tagen
überflüssiger als Feldzüge gegen Aberglauben und Tartüfferei.
Es sind Zeiten gewesen (kein Vernünftiger wird es läugnen),
wo man sich durch Kämpfe mit diesen Feinden der Religion
und der bürgerlichen Gesellschaft Verdienste machen konnte.
Aber sie sind nicht mehr. Andre, in ihren Folgen ungleich
mehr verderbliche Ausschweifungen, Geringschätzung der Religion
und Ruchlosigkeit, gewinnen unvermerkt immer mehr
Grund; die ehrwürdige Grundfeste der Ordnung und der Ruhe
der menschlichen Gesellschaft wird untergraben, und unter dem
Vorwande, einem Uebel, welches größtentheils eingebildet ist,
zu steuern, arbeitet der zügellose Witz, in den Mantel der
Philosophie eingehüllt, der menschlichen Natur ihre beste
Stütze, und der Tugend ihre wirksamste Triebfeder zu entziehen.
In einem solchen Zeitpunkte können diejenigen,
welche es mit der Menschheit wohl meinen, nicht zu vorsichtig
seyn; und bloß aus dieser Betrachtung haben wir geglaubt,
der Welt einen größern Dienst durch die Unterdrückung der
besondern Umstände der Religionsgeschichte von Scheschian als
durch die Mittheilung derselben zu erweisen.Damit aber gleichwohl der Zusammenhang des Ganzen
nichts dadurch verliere, haben wir für nöthig gehalten, dem
Leser einen Auszug aus der Erzählung des Philosophen
Danischmend mitzutheilen, welcher ihn in den Stand setzen
möge, von dem schlechten Zustande der alten Scheschianischen
Verfassung über diesen Punkt, von den Verdiensten, welche
sich der Sultan Ogul um sie erworben, und von dem Zwiespalt,
der das Reich zu Azors Zeiten erschütterte, sich wenigstens
einen allgemeinen Begriff zu machen.—————
Nach dem Beispiele der Aegyptier, und andrer abgöttischen
Völker, verehrten die Scheschianer einen Affen als den
besondern Schutzgott ihrer Nation; und, wie alle Asiatischen
Länder, wimmelte Scheschian von Bonzen, deren hauptsächlichste
Beschäftigung war, das verblendete Volk in der gröbsten
Verfinsterung des natürlichen Lichtes und in einem ihnen
allein nützlichen Aberglauben zu unterhalten. Unter den verschiedenen
Gattungen derselben, welche Danischmend schildert,
begnügen wir uns, nur zweier zu erwähnen, deren Institut
uns Europäern unglaublich scheinen müßte, wenn wir nicht
aus der Sammlung der sogenannten Lettres édifiantes, und
aus der Compilation des P. Du Halde benachrichtiget wären,
daß sie wenigstens von der einen Gattung noch heutiges Tages
eine zahlreiche Nachkommenschaft in der Tartarei und in
Sina erhalten hat. Die ersten, sagt Danischmend, nannten
sich Ya-faou, oder Nachahmer des Affen, und unterschieden sich
von den übrigen Bonzen durch eine scheinbare Strenge, ein
unreinliches Aussehen, eine große Fertigkeit sich in Begeisterung
zu setzen, und eine Ungewißheit, welche nahe an die thierische
gränzte. Wenn man den Feinden dieser Ya-faou glauben dürfte,
so war kein Laster, welches sie unter dem Mantel von Sackleinwand,
womit sie ihre Blöße deckten, nicht ungestraft ausgeübt
haben sollten. Man beschuldigte sie der Betrügerei, der
Ränkesucht, der Unmäßigkeit und einer ungezähmten Lüsternheit
nach dem Eigenthume der Scheschianer; Untugenden, welche
sie, wie man sagte, unter einer Maske von Einfalt, Redlichkeit
und Verachtung der irdischen Dinge künstlich zu verbergen
wußten. Sie nähren, sagte man, unter dem Scheine
der tiefsten Demuth den unausstehlichsten Stolz; sie sind rachgierig
und grausam bei dem Ansehen einer unüberwindlichen
Sanftmuth, und allgemeine Feinde der Menschen mit der
Miene der Unschuld und Gutherzigkeit. Diese Beschuldigungen
sind zu hart (fährt Danischmend fort), als daß es billig wäre
ihnen einen unbedingten Glauben beizumessen. Aber dieß ist
unläugbar, daß die Unnüzlichkeit der Ya-faou der geringste
Vorwurf war, der ihnen gemacht werden konnte. Sie hatten
allem, was man Vernunft, Wissenschaft, Witz, Geschmack
und Verfeinerung nennt, einen unversöhnlichen Krieg angekündigt;
und ihren unermüdeten Bemühungen war es vornehmlich
zuzuschreiben, daß Scheschian in so vielen Jahrhunderten
nicht die mindeste Bestrebung zeigte, sich aus dem Wust
einer die Menschheit entehrenden Barbarei empor zu arbeiten.
In Betrachtung der nachtheiligen Folgen einer solchen Thätigkeit,
hätte man Ursache gehabt, sich ihnen noch verbunden zu
achten, wenn sie sich hätten begnügen wollen, ganz und gar
müßig zu seyn. Gleichwohl war auch in diesem Falle die
Last sie zu füttern keine Kleinigkeit. Denn man rechnete zu
Sultan Azors Zeiten über zwölfmalhunderttausend Ya-faou,
und sie waren überhaupt Leute von vortrefflichem Appetit. ——
Es ist etwas Unbegreifliches, daß diese Nachahmer des Affen zu
gleicher Zeit der Gegenstand der lebhaftesten Ehrfurcht und der
öffentlichsten Verachtung waren. Man trug sich mit einer unendlichen
Menge lächerlicher Erzählungen in Prose und Versen,
worin man sich mit ihren Sitten und selbst mit ihrem Stande
die größten Freiheiten nahm; man sprach und schrieb und sang
auf öffentlicher Straße von ihnen als von dem verworfensten
Auskehricht des menschlichen Geschlechtes; man beschuldigte sie
ungescheut aller Uebelthaten, wozu ihre herumschweifende Lebensart
ihnen selbst Gelegenheit und ihren Feinden Vorwand
gab. Kurz, derjenige würde lächerlich geworden seyn, der in
guter Gesellschaft ihren Namen mit dem geringsten Zeichen von
Achtung ausgesprochen hätte; und alles dieß zu eben der Zeit,
da noch eine Menge von Leuten den Staub für heilig ansahen,
in welchen ein Ya-faou seine Füße gesetzt hatte; da das gemeine
Volk sich mit sklavischer Folgsamkeit in allen seinen Geschäften
von ihnen regieren ließ, und viele nichts Angelegeneres
hatten, als dafür zu sorgen, daß alles was von ihrem Vermögen
nicht schon bei ihren Lebzeiten von diesen würdigen
Leuten aufgegessen worden war, ihnen wenigstens nach ihrem
Tode nicht entgehen möchte.Ich kann nicht umhin (fährt Danischmend fort) noch einer
Gattung von privilegirten Müßiggängern zu erwähnen, deren
Institut, so seltsam es auch beim ersten Anblicke scheint, aus
einem gewissen Gesichtspunkt betrachtet, etwas Gemeinnütziges
hatte, wodurch es sich über die übrigen Gattungen der Ya-faou
erhob. Man nannte sie scherzweise die Fruchtbringenden;
allein sie selbst legten sich, wegen der Unabhängigkeit, von
welcher sie Profession machten, den stolzen Namen Kamfalu,
Könige der Meinungen, bei. Ungeachtet ein altes Vorurtheil
ihnen einen Theil der Vorrechte und des Ansehens der Ya-faou
beilegte, so scheinen sie doch mehr eine Secte von Freigeistern
als wirkliche Bonzen gewesen zu seyn, und in ihren Grundsätzen
sowohl als in ihrer Lebensart vieles mit den Cynikern
der alten Griechen, mit den Anhängern des Lao-Kiun in Sina
und mit unsern Kalendern gemein gehabt zu haben. Sie
lebten zwar auch auf Unkosten des Volkes wie die Ya-faou;
aber sie bezahlten gleichsam dafür mit einer Menge kleiner
Talente, wodurch sie sich angenehm und beinahe unentbehrlich
zu machen wußten. Sie belustigten die Großen mit ihrem
Witze, und sich selbst mit der Leichtgläubigkeit des Volkes.
Die Freiheit, die ihnen ihr Orden gab über alles zu spotten,
und ein unerschöpflicher Vorrath von muthwilligen Erzählungen
und Anekdoten, verschaffte ihnen Zutritt in der schönen Welt;
und so groß ist die Macht eines eingewurzelten Vorurtheils,
daß der Morgenbesuch eines Kamfalu bei einer schönen Frau
als eine Sache die nichts zu bedeuten habe, angesehen wurde.
Aber die Kamfalu kannten den Werth ihrer Vorrechte zu gut,
um sich allein auf die vornehme Welt einzuschränken: und
wenn sie sich bei der Dame beliebt machten, indem sie ihrem
Schooßhunde liebkoseten und über ihre Nebenbuhlerin lasterten,
so schmeichelten sie sich bei der jungen Bäurin durch ein
sympathetisches Mittel, sich der Treue ihres Mannes zu versichern,
ein, oder indem sie ihr aus der Hand weissagten, daß
sie fünf- oder sechsmal Wittwe zu werden Hoffnung habe.
Sie waren im Besitz von einer Menge bewährter Hausmittel
gegen alle Zufälle, welche Menschen und Vieh zustoßen können;
sie schlichteten die kleinen Streitigkeiten zwischen Eheleuten,
Verwandten und Nachbarn; und es gab wenig Heirathen
unter dem Volke, die nicht ein Kamfalu gestiftet hatte.
Eine von den Regeln ihres Ordens, die keine Ausnahme zuließ,
war, kein Mitglied in denselben aufzunehmen, welches sich
nicht durch eine fechtermäßige Gestalt und eine blühende
Gesundheit zu dieser Ehre legitimiren konnte. Aber was ihnen
am meisten Ansehen und Vortheile verschaffte, war der Ruf,
ein besonderes Geheimniß wider die Unfruchtbarkeit zu besitzen.
Man versichert, daß in den Zeiten, da die aufs höchste gestiegenen
Ausschweifungen ihre schädlichen Folgen zum Nachtheil
der Bevölkerung am stärksten geäußert, die edelsten Geschlechter
von Scheschian die Erhaltung ihres Stammes lediglich dem
geheimen Mittel der Kamfalu zu danken gehabt hätten. Ein
Verdienst, wodurch sie, nach dem Urtheile der Staatskundigen,
sich ein so starkes Recht an die öffentliche Dankbarkeit erwarben,
daß selbst der große Sultan Tifan, da er alle Arten von herumschweifenden
Bonzen gänzlich aufhob, die einzigen Fruchtbringenden,
als Leute die dem Staate wichtige Dienste geleistet
hätten, bei ihrem alten Vorrecht erhielt, auf Kosten ihrer
freiwilligen Wohlthäter müßig zu gehen.Ich finde, sagte Schach-Gebal, diese Achtung des Sultan
Tifan für die Verdienste der Fruchtbringenden um so lobenswürdiger,
da ich versichert bin, daß die Erben, womit der
Adel von Scheschian durch ihre Vermittelung versehen wurde,
stärkere Sennen und frischeres Blut in die Familien brachten,
und also tüchtig wurden, die Stammväter einer markigern Nachkommenschaft
zu werden. Indessen sollte mich's wundern, wenn
die Ya-faou nicht aus dem nämlichen Grund einiges Recht an
die Nachsicht des Königs Tifan gehabt hätten.Sire, versetzte Danischmend, das herbe und abschreckende
Aussehen, welches diese letztern sich gaben, scheint ihnen
größtentheils die Gelegenheit, sich um die höhern Classen des
Staats verdient zu machen, abgeschnitten zu haben. Vermuthlich
fehlte es ihnen an gutem Willen nicht; aber da sie
aus der feinen Welt gänzlich ausgeschlossen waren, sahen sie
sich genöthiget, ihn bei den geringern Classen gelten zu machen,
wo ihr Beistand, wenigstens in Rücksicht auf den Staat,
gänzlich in Verlust ging, folglich nichts Verdienstliches haben
konnte.Nachdem Danischmend von den verschiedenen Gattungen
und Arten der Scheschianischen Bonzen, von ihren Grundsätzen,
von ihrem Götzendienste, von ihrer vorgegebenen
Zauberkunst, von dem Orakel der großen Pagoden und besonders
von den Mitteln, wodurch sie sich eine beinahe unumschränkte
Gewalt über die Köpfe und über die Beutel der
Scheschianer zu erwerben gewußt, umständliche Nachricht gegeben;
läßt er sich in eine weitläuftige und für jeden andern
als den Sultan Gebal tödtlich langweilige Erzählung gewisser
Streitigkeiten ein, welche um sehr unerheblicher Dinge willen
unter diesen Bonzen entstanden seyn, und durch die unvorsichtige
Theilnehmung des Hofes an denselben Gelegenheit
gegeben haben sollen, daß die Nation sich in verschiedene Parteien
zerspaltet, aus deren heftigem Zusammenstoß endlich
einer der wüthendsten Bürgerkriege, wovon man jemals ein
Beispiel gesehen, entstanden sey. Der gänzliche Untergang
des Staats würde unvermeidlich gewesen seyn, wenn nicht
glücklicherweise für dieses bethörte Volk Ogul-Kan dazwischen
gekommen, und durch seine Eroberung die tobenden Bonzen
genöthiget hätte, ihrer Privathändel zu vergessen, um auf
ihre gemeinschaftliche Erhaltung bedacht zu seyn.Gut (ruft hier Schach-Gebal aus), hier erwartete ich
meinen guten Bruder Ogul-Kan. Ich bin sehr begierig zu
hören, was er zu den Streitigkeiten der Scheschianischen
Bonzenschaft gesagt haben mag. Denn bei aller Achtung, die
ich für seine übrigen Verdienste hege, wird er mir nicht übel
nehmen, wenn ich mir ihn als einen sehr mittelmäßigen
Metaphysiker vorstelle.Sire (versetzte Danischmend), der bloße Menschenverstand,
von welchem er sich in dieser Sache leiten ließ, führte ihn
sicherer, als die subtile Dialektik vielleicht hätte thun können.
Die Tatarische Horde, deren Anführer er war, hatte von
ihren Vorältern eine sehr einfältige Religion geerbt. Sie
kannten weder Tempel noch Priester. Sie verehrten einen
unsichtbaren Herrn des Himmels, von welchem sie glaubten,
daß er die guten Menschen liebe und die bösen —
nicht hasse, sondern besser mache. Sie hielten es für unrecht
ein Bild von ihm machen zu wollen. Denn (sagten
sie in ihrer Einfalt) wenn man auch den großen Berg Kantel
selbst zu seinem Bilde aushauen wollte, so würde dieß dennoch
nur eine kindische Vorstellung von der Größe eines Monarchen
geben, der die Sonne in der einen Hand und den Mond in
der andern hält. Diesem Begriffe zufolge begnügten sie sich,
in jedem Hause eine schwarze Tafel an der Wand hängen zu
haben, worauf mit goldnen Buchstaben geschrieben stand:
Ehre sey dem Herrn des Himmels! Vor dieser Tafel pflegten
sie täglich etwas Räuchwerk anzuzünden; sie baten dabei den
Herrn des Himmels, daß er sie an Leib und Seele gesund
erhalten möchte; und hierin bestand ihr ganzer Gottesdienst.
Es war also nicht wohl anders möglich, als daß sie die Religion
von Scheschian zugleich mit Verachtung und mit Abscheu
ansehen mußten; und Ogul-Kan konnte mit allem seinem
Ansehen nicht verhindern, daß nicht in der ersten Hitze eine
große Anzahl von Pagoden zerstört worden wäre. Dieser
Prinz scheint zwar selbst kein Freund des Aberglaubens gewesen
zu seyn; aber er war ein zu vernünftiger Mann, um
zu fordern, daß seine neuen Unterthanen auf einmal eben so
vernünftig seyn sollten wie er. Er wußte, daß die Gewalt
eines Monarchen sich nicht über Gewissen und Einbildung
erstreckt; er wußte auch, wie gefährlich es ist, eine noch unbefestigte
Regierung mit Unternehmungen gegen die eingeführte
Religion anzufangen. Er bezeigte sich also sehr billig,
ja sogar günstig gegen die Priesterschaft von Scheschian; erklärte
sich öffentlich, daß er sie bei ihren Gerechtsamen und
Vortheilen schützen und nichts gegen ihre Religion unternehme
wolle; und hielt, was er versprochen hatte.Kaum fingen die Bonzen wieder an, der Ruhe zu genießen,
welche sie der Regierung dieses weisen und guten
Königs zu danken hatten, so erinnerten sie sich auch ihrer
ehmaligen Streitigkeiten wieder; und auf einmal wurde wieder
von allen Seiten zum Treffen geblasen. Aber hier hörte die
Gefälligkeit des Sultans Ogul auf. Er ließ ein Edict ausgehen,
worin einem jeden erlaubt wurde, seine Meinung über
die Gegenstände des Streites mit Bescheidenheit bekannt zu
machen; aber er verbot zugleich alle Bitterkeit, und alle Anzüglichkeit
im Disputiren; und um seinem Verbote den gehörigen
Nachdruck zu geben, setzte er die Strafe von zweihundert
Streichen auf die Fußsohlen darauf, wenn sich jemand,
wer er auch wäre, gelüsten ließe, einen andern seiner Meinungen
wegen zu schimpfen oder zu verdammen. "Meinungen
über Dinge, welche ihren Besitzer zu keinem schlimmern
Manne machen, sind weder Staatssachen noch Verbrechen."
sagte er: "ich werde mich niemals damit abgeben,. sie zu untersuchen,
und noch weniger mich bereden lassen, sie zu bestrafen.
Gedanken und Träume sollen in meinem Reiche frei seyn;
und man soll keinem Menschen verwehren, seinen Traum zu
erzählen, oder seine Meinung zu sagen, wenn er jemand
findet, der ihm zuhören will. Das einzige Mittel, Grillen
und Meinungen unschädlich zu machen, ist, wenn man ihnen
Luft läßt. Laßt die Bonzen in Scheschian, so lange sie
wollen, untersuchen, ob ihr großer Affe ein Genus oder ein
Orang-Outang gewesen, ob er zu Wasser oder zu Lande in
Scheschian angekommen, oder ob er aus dem Schweif eines
Kometen herabgefallen sey; so lange die Untersuchung eine
Privatsache bleibt, und der Streit mit Bescheidenheit geführt
wird, kann die Ruhe des gemeinen Wesens nichts davon zu
besorgen haben. Aber Ogul-Kan dürfte sich nur verleiten
lassen, aus solchen Streitfragen eine Staatsangelegenheit zu
machen, wenn in wenig Jahren das ganze Reich in Feuer
stehen sollte."So dachte der weise Ogul (fährt Danischmend fort), und
verdient Ehrensäulen dafür, daß er so dachte. Aber diese
Politik war nicht nach dem Geschmacke der Bonzen. Sie
ließen es darauf ankommen, ob er den Uebertretern des Gesetzes
sein Versprechen halten würde. Ogul hielt sein Versprechen
pünktlich. Ein Ya-faou, der die Meinungen eines
gewissen Tulpan, welche vor der Eroberung viele Bewegungen
verursacht hatten, öffentlich mit größter Heftigkeit bestritt,
und die Anhänger derselben für unwürdig erklärte von
Sonne und Mond beschienen zu werden, empfing auf dem
größten Marktplatze der Stadt Scheschian die ganze Summe
der zweihundert Prügel auf die Fußsohlen, ohne daß Einer
daran fehlte; und da sein Geschrei und seine Aufhetzungen
einen Aufruhr unter dem Pöbel verursachten, ließ Ogul-Kan
die Schuldigen, an der Zahl zweitausend, von seiner Tatarischen
Leibwache umringen, und den fünfzigsten Mann von
ihnen, ohne Ansehen der Person, an die kahl gemachten Aeste
eines hohen Eichbaums aufhängen, der im äußersten Vorhofe
der großen Pagode stand. Diese Justizpflege war ein wenig
Tatarisch, aber sie brachte ein großes Gut hervor; denn sie
machte die Bonzen verträglich. Das Volk schrie über Tyrannei;
Sultan Ogul kehrte sich nicht daran; und in kurzem erkannte
die Nation mit Dankbarkeit, daß er sie durch eine wohl
angebrachte Strenge von einem großen Uebel befreiet hatte.Von der Zeit an, da die Bonzen in ihren Streitschriften
nicht mehr schimpfen, und durch geheime oder öffentliche
Beschuldigungen ihren Gegnern keinen Schaden mehr zufügen
durften, verloren sie auch die Leidenschaft zum Grübeln und
Streiten, wovon sie seit geraumer Zeit besessen gewesen waren.
Sie fingen an gewahr zu werden, daß sie sich dadurch bei
Vernünftigen nur lächerlich machten, und glaubten weiser zu
handeln, wenn sie ihren Witz anwendeten, die Religion von
Scheschian mit dem gesunden Menschenverstande ihrer neuen
Gebieter auszusöhnen. Diesem löblichen Vorsatze zufolge
geschah es, daß sie, indem sie sich bemühten, ihre Grundsätze in
das vortheilhafteste Licht zu stellen, unvermerkt auf einen
ziemlich einförmigen Lehrbegriff geriethen, der den Tatarn
immer einleuchtender wurde: und da die Kamfalu zu gleicher
Zeit mit gutem Erfolg an der Bekehrung der Tatarischen
Schönen arbeiteten, so fand sich nach wenigen Jahren, daß
die Eroberer (den König und einige seiner Vertrauten ausgenommen)
die Religion des Landes angenommen hatten, ohne
daß man recht sagen konnte, wie es zugegangen war. Aber
es fand sich auch zugleich, daß die Wallfahrten nach der großen
Pagode merklich abnahmen. Es entstand aus der Vermischung
des Scheschianischen Aberglaubens init dem groben
Tatarischen Menschenverstand eine Art von Mittelding, welches
zwar keine neue Religion vorstellte, aber doch unvermerkt
in dem Nationalgeiste, in den Vorurtheilen, Gewohnheiten
und Sitten von Scheschian eine Veränderung hervorbrachte,
welche mit einigem Grund ein Schritt zur Verbesserung genannt
werden konnte. Was vermuthlich das meiste dazu beitrug,
war die Freiheit, sich auf die Wissenschaften und schönen
Künste zu legen, welche Ogul-Kan allen seinen Unterthanen
ertheilte. Denn vormals war dieß, wie bei den Aegyptiern,
ein ausschließendes Vorrecht der Priesterschaft gewesen. In
einem Zeitlaufe von vierzig bis fünfzig Jahren wurden die
graubärtigen Bonzen gewahr, daß sie sich in einer neuen Welt
befanden, welche nicht mehr so leicht zu behandeln war als die
alte. Die Mährchen, womit sie sonst die Fragen der Neugierigen
gestillt hatten, wurden nicht mehr so befriedigend gefunden
als ehmals. Die Untersuchungen über den Grund
dessen, was die Menschen wahr nennen, über die Natur, den
Zweck und die wesentlichen Rechte der politischen Gesellschaft,
und über andre Dinge von dieser Wichtigkeit, welche immer
häufiger angestellt wurden, hatten die Folge, daß vieles, was
man für wahr gehalten hatte, falsch befunden wurde. Und
wenn man Gegenständen, die vor einer aufgeklärten Vernunft
keine Gnade finden konnten, noch immer einen Rest von Ehrerbietung
bewies, so war sie derjenigen gleich, womit man
ein altes Gemälde aus den Kinderjahren der Kunst anzusehen
pflegt: man schätzt es nicht weil es gut, sondern weil es
alt ist.Es war von den Bonzen nicht zu erwarten, daß sie eine
so wichtige Veränderung mit Gleichgültigkeit ansehen sollten.
Auch thaten sie ihr Möglichstes, dem sichtbaren Schaden zu
wehren, den die Ausbreitung der Vernunft und der Menschlichkeit
ihnen selbst und ihren Pagoden zufügte. Aber da sie
merkten, daß die letzten Anstrengungen ihrer Kunst nur den
Triumph ihrer Gegnerin zu zieren dienten: so schmiegten sie
sich endlich unter ihr Schicksal, und betrugen sich ungefähr so,
wie eine handelnde Nation, welche sich genöthiget sieht, gewisse
Zweige von Gewerbe, wiewohl mit augenscheinlichem Verluste,
bloß deßwegen fortzuführen, um nicht die Handlung selbst zu
verlieren, und der Hoffnung entsagen zu müssen, durch irgend
eine günstige Wendung der Umstände sich vielleicht dereinst
ihres Schadens wieder zu erholen.Indessen war eine von den heilsamen Folgen dieser Revolution
in dem Nationalgeiste von Scheschian, daß die Bonzen
selbst sich angelegen seyn ließen, an persönlichen Verdiensten
wieder zu gewinnen, was sie auf einer andern Seite verloren
hatten. Danischmend führt hiervon viel besonders an, unterläßt
aber gleichwohl nicht, die Anmerkung zu machen: sie
hätten bei allem dem nicht recht verbergen können, daß es
ihnen lieber gewesen wäre, der Nothwendigkeit, so viele Verdienste
zu haben, überhoben zu seyn. Sie belauerten, sagt
er, mit der scharfsichtigsten Aufmerksamkeit jede Gelegenheit
und jedes Mittel, ihren großen Zweck mit wenigern Unkosten
zu befördern; und glücklicher Weise für sie spielte der leichtsinnige
Muthwille, womit einige die Freiheit der damaligen
Zeiten zu mißbrauchen anfingen, ihnen Waren in die Hände,
welche sie unter dem scheinbarsten Vorwande, gegen ihre unversöhnlichen
Feinde, Witz und Vernunft, gebrauchen konnten.Danischmend beginnt seine Erzählung von diesem Aufstand
der Bonzen gegen die Usurpation einer tyrannischen Philosophie
mit einer allgemeinen Betrachtung, welche nicht so viel benützt
wird, als sie es zu verdienen scheint. Dasjenige, sagt er,
was in allen sittlichen Dingen die Gränzen des Schönen und
des Häßlichen, des Guten und des Bösen, des Rechts und
des Unrechts bestimmt, ist eine allzu feine Linie, als daß sie
nicht alle Augenblicke von der Unwissenheit und dem Leichtsinn
übersehen, oder von den Leidenschaften übersprungen werden
sollte. Daher eine Quelle von Uebeln, welche man nicht verstopfen
darf, auch wenn man es könnte, — der häufige Mißbrauch
von Dingen, wovon der rechte Gebrauch der menschlichen
Gesellschaft nützlich ist, und welchem abzuhelfen man
bisher noch keine andern Mittel erfunden hat, als solche, die
dem Dienst gleichen, den der gutherzige Bär in der Fabel
seinem Freunde, dem Eremiten erweis't, da er, um eine
Fliege von der Nase seines schlafenden Freundes zu verjagen,
einen Stein ergreift, und auf einen Wurf die Fliege und den
Eremiten tödtet.Die Scheschianer geben uns hiervon ein merkwürdiges
Beispiel. Sie waren unvermerkt klüger geworden als ihre
Vorfahren. Ihre Begriffe von der wahren Beschaffenheit der
Dinge, von ihrem Verhältniß gegen die Menschen, und von
dem sehr wesentlichen Unterschiede zwischen den Gegenständen
und den Vorstellungen, die man sich davon macht, klärten sich
je länger je mehr auf. Die Vortheile dieser glücklichen Veränderung
verbreiteten sich über das ganze Reich, wiewohl sie
nur von scharfsichtigen Beobachtern bemerkt wurden. Aber die
Nachtheile, die damit verbunden waren, wahrzunehmen, dazu
reichte das Gesicht des blödesten Kopfes hin. So lange die
Nation dumm war, konnte sie nicht mißbrauchen —was sie
nicht hatte. Damals war die Quelle alles Uebels, daß sie ihre
Vernunft gar nicht zu gebrauchen wußte. Itzt, da die Scheschianer,
wie junge Vögel, die Schwingen ihres Geistes zu
versuchen anfingen, begegnete es oft, daß sie zu hoch fliegen
wollten und fielen, oder daß sie sich unvorsichtig in Oerter
wagten, wo sie sich in verborgenen Schlingen verwickelten.
Kurz, diejenigen, die entweder mehr Witz hatten als andre,
oder doch dafür angesehen seyn wollten mehr zu haben, fühlten
nicht sobald die Freiheit, in welche Ogul-Kan ihre Vernunft
gesetzt hatte, als sie schon anfingen sie häufig zu mißbrauchen.
Es war wohl bei den wenigsten so böse gemeint
als es ihnen ausgelegt wurde. Wie leicht war es, in der
hüpfenden Freude, die einem Menschen natürlich ist, der nach
einer langen Gefangenschaft wieder freie Luft athmet und sich
seiner Füße wieder nach eigenem Gefallen bedienen darf, wie
leicht war es da, die vorerwähnte Linie zu überhüpfen, und
vor lauter Freude —nicht mehr dumm zu seyn, ein wenig
närrisch zu werden! Man hatte den Aberglauben als ein großes
Uebel kennen gelernt; man bildete sich ein, sich nicht weit
genug davon verlaufen zu können, und verlief sich also in den
entgegengesetzten Abweg. Indessen war dieß allerdings kein
geringes Uebel, und verdiente die Aufmerksamkeit der Vorsteher
des Staats um so mehr, da es von den höheren Classen
unvermerkt auch zu den niedrigern überging.Hier fiel der Sultan Danischmenden in die Rede. Du
berührst, sagte er ihm, einen Punkt, über den ich schon lange
gewünscht habe, etwas Gewisses bei mir selbst festsetzen zu
können. Es ist, wie du wohl bemerkt hast, nicht rathsam die
Quelle von solchen Uebels zu verstopfen, die aus dem Mißbrauch
einer Sache entstehen, wovon der Gebrauch gut ist.
Und gleichwohl ist das Uebel, von dem du sprichst, von einer
so gefährlichen Art, daß man schlechterdings genöthigt ist seinem
Fortgange zu steuern. Ich möchte wohl hören, was du
mir in diesem Falle zu thun rathen wolltest."Sire (antwortete Danischmend), die Frage, worüber ich
meine Meinung sagen soll, hätte vorlängst besser als zwanzig
andre verdient von unsrer Akademie zu einer Preisfrage gemacht
zu werden. Ich unterstehe mich nicht zu sagen, daß ich
die Auflösung davon gefunden habe, und mir däucht, diejenigen,
welche sie so leicht finden, möchten sich wohl nie die
Mühe genommen haben, ihre Tiefe zu erforschen. Doch vielleicht
ist sie eine von den Fragen, deren Auflösung gar nicht
einmal möglich ist, oder, welche sich wenigstens nicht anders
als durch einen kühnen Schnitt auflösen lassen. Der Fall dünkt
mich dieser zu seyn: wir befinden uns zwischen zwei Uebeln,
wovon wir schlechterdings genöthigt sind eines zu wählen; es
fragt sich also, welches wir wählen sollen?"Hier, däucht mich, kann zuversichtlich als ein unstreitiger
Grundsatz angenommen werden, daß in einem solchen
Falle, wenn das eine Uebel einen unendlichen und unheilbaren
Schaden thut, das andere hingegen unter gewissen Bedingungen
ins Unendliche vermindert werden kann, nothwendig das
letztere gewählt werden müsse."Dieß vorausgesetzt kommen hier zwei Uebel in Betrachtung:
der Schade, der aus dem Mißbrauch der Vernunft
und des Witzes, wenn ihnen völlige Freiheit gelassen wird,
entspringen kann und wird; und derjenige, der daher entstehen
muß, wenn diese Freiheit durch irgend eine Art von Zwangsmitteln
eingeschränkt wird. Nun sage ich: den Gebrauch der
Vernunft und des Witzes in einem Staat einschränken, ist
eben so viel, als Unwissenheit und Dummheit mit allen ihren
Wirkungen und Folgen in dem besagten Staate verewigen,
falls sich die Nation noch in einem barbarischen Zustande befindet;
oder, wenn sie sich bereits zu einem gewissen Grade der
Erleuchtung emporgehoben hat, sie in Gefahr setzen, von Stufe
zu Stufe wieder in diese Barbarei zurückzusinken, die den Menschen
zu den übrigen Thieren herabwürdiget, ja gewissermaßen
unter sie erniedriget. Denn, wie soll diese Gränzlinie, in
welche man Vernunft und Witz einschränken will, gezogen werden?
Wer soll sie bestimmen? Was für Regeln sollen dazu
festgesetzt werden? Wer soll Richter seyn, ob diese Regeln in
jedem vorkommenden Falle beobachtet oder überschritten werden?
Wodurch will man verhindern, daß der Richter nicht
seine eigene Denkungsart, seine Vorurtheile, seinen persönlichen
Geschmack, vielleicht auch seine Leidenschaften und besondern
Absichten, zur Richtschnur oder zum Beweggrunde seiner
Urtheile mache? Wird die Vernunft und der Witz der
Nation nicht dadurch von dem Grade der Erkenntniß oder Unwissenheit,
der Redlichkeit oder Unlauterkeit des Richters,
oder von der ungereimten Voraussetzung, daß ihn seine Weisheit
und Rechtschaffenheit nie verlassen werde, abhängig gemacht?
Wenn wir denken dürfen, warum sollten wir nicht
über Alles denken dürfen? Und ist denken nicht etwas andres
als nachsprechen? Kann man denken ohne zu untersuchen?
oder untersuchen ohne zu zweifeln? Und wenn sich dieses
Recht zu zweifeln bis man untersucht hat, und zu untersuchen
eh' man irgend ein Urtheil faßt, nicht auf alle Gegenstände
erstreckt; wenn man annehmen wollte, daß es solche gebe,
welche man nicht untersuchen dürfe, weil schädliche Folgen daher
entspringen könnten: würde die Nation nicht immer in
Gefahr schweben, daß es ihren Obern einmal einfallen könnte,
die Untersuchung alles dessen für schädlich zu erklären, was
sie bloß ihres eigenen Vortheils wegen nicht untersucht haben
wollten? Die Jahrbücher des menschlichen Geschlechts belehren
uns, daß unsre Obern zuweilen Tyrannen gewesen sind,
oder wenigstens schwach genug, sich von irrigen Meinungen
und von Leidenschaften, eigenen oder fremden, beherrschen zu
lassen. Auf welchem seichten Grunde würde demnach die öffentliche
Glückseligkeit stehen, wenn es von der Willkür etlicher
weniger Sterblichen abhinge, die großen Triebfedern des allgemeinen
Besten der Menschheit, Vernunft und Tugend, nach
ihren besondern Begriffen und Absichten einzuschränken?"Was ich von der Vernunft gesagt habe, gilt in seiner
Art auch von dem Witze, dessen wichtigster Gebrauch ist, alles,
was in den Meinungen, Leidenschaften und Handlungen der
Menschen mit der gesunden Vernunft und dem allgemeinen
Gefühl des Wahren und Schönen einen Mißlaut macht, das
ist, alles, was ungereimt ist, als belachenswürdig darzustellen.
Jede Einschränkung dieses Gebrauchs ist ein Freiheitsbrief
für die Thorheit, und ein stillschweigendes Geständniß,
daß es ehrwürdige Narrheiten gebe. Unvermerkt würden sich
noch andre Thorheiten hinter diese verstecken; denn ihre Familie
ist zahlreich, und manche sehen einander so ähnlich, daß
es sehr leicht ist eine für die andere anzusehen. Was anders
würde also aus der Einschränkung der Vernunft und des
Witzes erfolgen, als daß, unter dem bleiernen Scepter der
Dummheit, Aberglaube und Schwärmerei, Tyrannei über
Seelen und Leiber, Verfinsterung der Vernunft, Verderbniß
des Herzens, Ungeschliffenheit der Sitten, und zuletzt allgemeine
Barbarei und Wildheit die Oberhand gewinnen
würden?"Und dieß würde nicht etwa bloß eine zufällige Folge,
es würde die nothwendige und unvermeidliche Wirkung davon
seyn, wenn man den freien Lauf der Vernunft und des Witzes
hemmen, und es in die Gewalt einzelner Personen geben
wollte, den Zügel, womit man sie gefesselt hätte, nach ihrem
Gutbefinden anzuziehen oder nachzulassen."Nun lassen Sie uns auf der andern Seite sehen, ob
der Schaden, welchen man von dieser Freiheit zu besorgen
hat, so beträchtlich ist, daß er gegen den Schaden ihrer Unterdrückung
in Betrachtung kommen kann; und ob er nicht
vielmehr unter gewissen Bedingungen sich nach und nach ins
Unendliche vermindern muß?"Es ist wahr, die Freiheit der Vernunft, des Witzes,
der Einbildungskraft, und dessen was man Laune nennt,
kann und wird zuweilen mißbraucht werden, um Weisheit
und Tugend selbst in ein falsches Licht zu stellen, und vielleicht
die ehrwürdigsten Gegenstände, um unwesentlicher Gebrechen
willen, lächerlich zu machen. Man hat überdies einige Beispiele,
daß etwas ungereimt Scheinendes bei anwachsender Einsicht
wahr befunden worden, und also aufgehört hat ungereimt
zu seyn. Es ist also möglich, daß die Freiheit, welche dem
Muthwillen des Witzes gelassen würde, den Fortgang der
Wahrheit selbst aufhalten könnte. Aber alle diese Uebel, so
groß man sie auch immer sich einbilden mag, sind zufällig und
selten; der Nachtheil, den sie der menschlichen Gesellschaft
bringen können, wird durch tausend entgegenwirkende Ursachen
theils verhütet, theils unmerklich gemacht, und, was das
wichtigste ist, er muß, vermöge der Natur der Sache, immer
abnehmen, Der Krieg zwischen Vernunft und Witz, und
ihren ewigen Feinden Unverstand und Dummheit, ist ein Uebel
wie alle andern Kriege. Er bringt zwar zufälligerweise allerlei
schädliche Ausbrüche hervor, und es sind immer viele, die
auf diese oder jene Weise darunter leiden: aber er ist ein nothwendiges
Uebel, welches durch seine Folgen das größte Gut
befördert. Jede neue Eroberung, die von jenen über diese
gemacht wird, schwächt den Feind, befestigt die rechtmäßige
Oberherrschaft, und beschleuniget den Anbruch jener glückseligen
Zeiten, deren Unmöglichkeit noch niemand bewiesen hat, und
welche (wenn es auch unwahrscheinlich wäre, daß sie jemals
kommen würden) dennoch das große Ziel aller Freunde der
Menschheit seyn müssen: der Zeiten, wo Polizei, Religion
und Sitten, Vernunft, Witz und Geschmack einträchtig zusammen
wirken werden, die menschliche Gattung glücklich zu
machen."Danischmend, mein Freund (sagte der Sultan, als der
Doctor mit seiner Rede fertig war), alles, was du uns hier
gesagt hast, mag sehr gut seyn, wenn von einem Staat in
Utopien die Rede ist, den du mit idealischen Menschen nach
Belieben besetzen und regieren kannst, wie es dir gefällt. Aber
die Rede ist, mit Erlaubniß deiner Philosophie, nicht von dem,
was der menschlichen Gesellschaft überhaupt, sondern von dem,
was diesem oder jenem besondern Staate gut ist; und da
wirst du vermuthlich zugeben, daß sich kein wirklicher Staat,
mit Menschen von Fleiss und Blut besetzt, denken lasse, dessen
Bewohner die Vortheile, die sie darin genießen, nicht mit
Aufopferung eines Theiles ihrer natürlichen Rechte erkaufen
müßten. Du hast uns sehr schon bewiesen, daß es zum Besten
der menschlichen Gesellschaft gereiche, wenn der Vernunft und
dem Witze, folglich — weil du keinen Richter erkennen willst,
der in jedem besondern Falle entscheide, was Vernunft und
Witz sey — auch der Unvernunft und dem Aberwitze volle Freiheit
gelassen werde: aber alle deine Gründe sollen mich nicht
hindern, dem ersten, der sich die Freiheit nehmen wollte,
meine Völker durch seine Schriften zum Mißvergnügen und
zur Empörung zu reizen, die Ohren abschneiden zu lassen; oder
den ersten Philosophen, der sich gelüsten lassen wird, das Gesetz
unsers Propheten für ein Werk des Betrugs zu erklären,
mit fünfhundert Streichen auf die Fußsohlen zu belohnen.
Darauf kannst du dich verlassen. Ich bin der Mann, mein
Wort so genau zu halten als Ogul-Kan.Sire, erwiederte Danischmend ganz ruhig, meine Meinung
ging nur wider solche Anordnungen, die es von der
Einsicht und Willkür einzelner Personen abhängig machen, wie
klug oder wie dumm eine Nation seyn soll. Indessen, und
bis die Akademie oder irgend ein anderer Adept Mittel, dem
Mißbrauche der Freiheit zu wehren, welche der Freiheit selbst
unnachtheilig sind, ausfindig gemacht haben wird, möchte wohl
schwerlich zu verhindern seyn, daß das Wort Mißbrauch nicht
immer zweideutig bleiben sollte; und also wird (mit Ausnahme
weniger besonderer und seltener Fälle, worüber dem Landesherrn
zu erkennen obliegt) doch immer das sicherte seyn,
lieber einige Ausschweifungen zu übersehen, als uns durch
eine gar zu strenge Regelmäßigkeit in Gefahr zu setzen, des
edelsten Vorrechts der Menschheit verlustiget zu werden.Wenn mir erlaubt ist (fuhr Danischmend fort), die Anwendung
der vorgelegten Frage auf die Priester von Scheschian zu
machen, so däucht mich, daß nur ein mißverstandenes Interesse
diese Bonzen verleiten konnte, die Freiheit, welche Ogul-Kan
seinen Unterthanen zugestanden hatte, so gefährlich zu finden.
Der Staat und die Religion von Scheschian konnten nicht
anders als bei dieser Freiheit gewinnen. Ja die Bonzen selbst
würden dabei gewonnen haben. Sie würden anfänglich aus
Nothwendigkeit, hernach aus Gewohnheit, zuletzt vielleicht aus
Neigung und Wahl, sich immer weiter von allem demjenigen
entfernt haben, was sie einem gerechten Tadel unterwürfig
gemacht hatte. Frei von dem Vorwurf einer unbändigen Begierde
zu herrschen und die Güter ihrer Mitbürger an sich zu
ziehen, geziert mit jeder Tugend ihres Standes, würde die
Hochachtung ihres persönlichen Werthes sich mit der Würde
ihres Amtes vereiniget haben, sie durch die allgemeine Zuneigung
besser als durch Strafgebote vor unbilligen Mißhandlungen
sicher zu stellen. Denn ich unterstehe mich zu behaupten,
daß es kein Volk auf Erden gibt, welches nicht
geneigt seyn sollte, einen weisen und tugendhaften Mann
eben dadurch, daß er ein Priester ist, doppelt ehrwürdig
zu finden. Allein die Bonzen von Scheschian hatten das
Unglück, diese Betrachtung nicht zu machen. Die Verbesserung
oder Abstellung alles dessen, was dem gesunden
Menschenverstand an ihren Begriffen, Maximen und Sitten
anstößig seyn mußte, war unstreitig der geradeste Weg, sich
dem öffentlichen Tadel zu entziehen; aber es war auch der beschwerlichste.
Lieber wollten sie durch tausend schleichende
Wendungen und niedrige Kunstgriffe diejenigen zu unterdrücken
suchen, von deren Fähigkeiten und Einsichten sie sich, auch ohne
besondere Ursache, aus einer Art von Instinct, fürchteten;
und die Sicherheit der Scheschianischen Religion diente ihnen
bloß zum Vorwande, ihre Rachsucht an einem jeden auszulassen,
der gegen ihre offenbarsten Ungereimtheiten und gröbsten Mißbräuche
etwas einzuwenden hatte. Sie ließen keine Gelegenheit
entschlüpfen, in Gesellschaften, oder unter vier Augen, sonderlich
bei Personen von Stand und Ansehen, zu verstehen zu
geben, daß solche Leute in billigem Verdachte ständen, weder
an den großen Affen noch an den allgemeinen Schutzgeist (wie
sie das höchste Wesen nannten) zu glauben. Gestanden sie
auch einigen derselben Talente zu, so bedauerten sie doch zugleich
in einem seufzenden Tone, daß diese Talente nicht besser
angewendet würden, und beklagten die Gefahr der Nation,
wenn solchen Leuten gestattet würde, ihr süßes Gift in unbehutsame
Seelen fallen zu lassen. Durch dergleichen Künste gelang
es ihnen bei allen, welche sich mit angeerbten Begriffen behalfen,
das ist, bei dem größten Theile der Nation, sich im Besitz eines
gewissen Einflusses zu erhalten, der vielleicht nur desto tiefere
Wurzeln schlug, weil sie ihn der sanften Gewalt einschmeichelnder
Ueberredungen, und tausend seinen Ränken, womit sie
die Gemüther zu umspinnen wußten, zu danken hatten. Sie
genossen unter einigen schwachen Regierungen das Vergnügen,
von Zeit zu Zeit kleine Verfolgungen gegen Witz und Vernunft
zu erregen: und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Barbarei,
welche unter Ogul-Kan in die Schlupflöcher der Ya-faou hatte
flüchten müssen, mit schnellen Schritten zurückgekommen wäre,
sich des Hofes und der Paläste der Großen und Reichen wieder
zu bemächtigen, wenn die Regierung der schönen Lili nicht zu
gutem Glücke der Nation einen andern Schwung gegeben
hatte.Man muß gestehen, jagte Schach-Gebal, die Bonzen von
Scheschian haben keine sonderliche Ursache, sich Danischmenden
für das Denkmal, das er ihnen stiftet, verbunden zu halten.Sire, erwiederte der Doctor, wenigstens werden mir Ihre
Hoheit glauben, daß ich keine Bewegursachen haben kann, sie
anders abzuschildern als sie waren. Die Wahrheiten, die ich
sage, können niemand Schaden thun; aber sie können, wofern
Ihre Hoheit erlauben, die Geschichte von Scheschian bekannt
zu machen, noch den spätesten Zeitaltern als ein Spiegel nützlich
werden. Ich halte diese Art von Spiegeln für eine sehr gute
Erfindung; denn am Ende ist doch einem jeden daran gelegen,
zu wissen wie er aussieht; und so achtsam man auch auf sich
selbst ist, so gibt es doch immer einige Flecken wegzuwischen,
oder einige kleine Unordnungen an seiner Person zu verbessern.
Wer sich keiner größern Gebrechen bewußt ist, darf
getrost hineinsehen; und wer hineinguckt, und über den Spiegel,
oder über die Fabrik, worin er gegossen worden, schilt, von dem
getraue ich mir zu behaupten, daß es ihm sehr an —Klugheit
fehlen müsse.Wenn du die Einwilligung meines Imans erhalten kannst,
versetzte der Sultan, so sollst du nicht zu klagen haben, daß
ich deiner Spiegelfabrik hinderlich sey. Ich bin immer ein
Beförderer der Fabriken gewesen.Nach der gewöhnlichen Unterbrechung fährt Danischmend,
auf Befehl des Sultans, fort, sich den Weg zu den Handeln
zu bahnen, welche unter dem Sultan Azor zwischen den Bonzen
in Scheschian ausbrachen, und das Unglück des Reichs vollständig
machten."Die Gestalt, sagt er, welche der Nationalgeist von
Scheschian unter der Regierung der Königin Lili annahm, war
dem System und den Absichten der Bonzen nicht sehr vortheilhaft.
Der Aberglaube, auf den ihr vormaliges Ansehen gegründet
war, setzt eine gewisse Verfinsterung der Seele als
eine nothwendige Bedingung voraus, und nimmt also in der
nämlichen Gradation ab, in welcher die Aufklärung eines Volkes
zunimmt. Witz, Geschmack, Geselligkeit, Verfeinerung der
Empfindung und der Sitten, sind seine natürlichen Feinde;
ihre gegenseitige Antipathie ist unversöhnlich; und entweder
gelingt es ihm sie zu unterdrücken, oder sie unterdrücken ihn.
Die Bonzen von Scheschian sahen sich dem letztern Falle so nah,
daß sie endlich, wie es scheint, an der Erhaltung ihres vormaligen
Systems zu verzweifeln anfingen. Ein jeder war nun
bloß darauf bedacht, anstatt für die gemeine Sache, für sich
selbst zu arbeiten, und von seinen eigenen Talenten, körperlichen
oder geistigen, so viel Vortheil zu ziehen, als er Gelegenheit
dazu hatte."In dieser Lage befanden sich die Sachen, als im zehnten
Jahre der Regierung Azors ein Ya-faou, der sich durch seine
Bemühungen um die Scheschianischen Alterthümer hervorgethan,
mit einer Entdeckung auftrat, welche, so wenig sie auch
beim ersten Anblick zu bedeuten schien, durch ihre Folgen das
ganze Reich in Verwirrung setzte. Er hatte nämlich gefunden,
oder glaubte gefunden zu haben, daß der Name des großen
Affen aus den ältesten Denkmälern der Nation niemals Tsai-Faou
(wie er seit einigen Jahrhunderten geschrieben und ausgesprochen
wurde), sondern allezeit Tsao-Faou geschrieben war.
Da nun Tsai in der Scheschianischen Sprache allezeit feuerfarben,
Tsao hingegen, vermöge eines mit großer Gelehrsamkeit
von ihm geführten Beweises, von jeder blau bedeutet
hatte: so ergab sich der Schluß von selbst, daß der Name des
blauen Affen eigentlich der wahre, uralte und charakteristische
Name der Schutzgottheit ihres Landes sey."Gorgorix (so nannte sich der Ya-faou), welcher, nach
Art aller Alterthumsforscher, eine ungemessene Freude über
diesen Fund hatte, der ihm Gelegenheit gab, Dissertationen zu
schreiben, worin er seinen in vielen Jahren mühsam gesammelten
Vorrath ron Collectaneen, Lesarten, Verbesserungen, Ergänzungen,
Muthmaßungen, Zeitrechnungen, etymologischen Untersuchungen,
und dergleichen, anbringen konnte, —glaubte sich
nicht genug beschleunigen zu können, der Welt eine so wichtige
Entdeckung mitzutheilen. Wirklich hatten ihn die Untersuchungen,
die er bei dieser Gelegenheit anstellen mußte, auf
die Spur so vieler andrer antiquarischer und grammatischer
Entdeckungen gebracht, und eine jede derselben hatte ihm zu
so vielen gelehrten und äußerst interessanten Digressionen Anlaß
gegeben, daß, ungeachtet des Titels seines Buchs, dasjenige,
was darin den blauen und feuerfarbnen Affen betraf, kaum
den zwanzigsten Theil davon ausmachte. Seine Absicht scheint
anfangs nichts weniger gewesen zu seyn, als Neuerungen in
der Religion seines Landes anzuspinnen; und vielleicht würde
die Sache ohne Folgen geblieben seyn, wenn seine Schüler
und Freunde weniger eifrig gewesen wären, die Entdeckung
des großen Gorgorix (wie sie ihn nannten) in allen Zeitungen
und Journalen von Scheschian als Dinge von der verdienstlichsten
Wichtigkeit anzupreisen. Durch die unbescheidenen Bemühungen
dieser Leute geschah es denn, daß sein Buch endlich
die öffentliche Aufmerksamkeit rege machte. Verschiedene Bonzen,
welche den Ruhm des großen Gorgorix mit schelen Augen ansahen,
traten mit kritischen Beleuchtungen seines Buches hervor,
worin es ihnen nicht sowohl darum zu thun war, zu ergründen,
ob Gorgorix Recht oder Unrecht habe, als der Welt zu zeigen,
daß sie zum wenigsten einen eben so großen Vorrath von Collectaneen
besäßen, und noch scharfsinnigere und gelehrtere Ergänzungen,
Verbesserungen, Muthmaßungen, Zeitrechnungen
und Wortableitungen zu machen wüßten als Gorgorix. Bald
gesellten sich auch einige Ya-faou zu ihnen, welche die Entdeckung
dieses Antiquars aus einem ganz andern Gesichtspunkt
ansahen, und über die Gottlosigkeit und Gefährlichkeit dieser
Neuerung ein mächtiges Geschrei erhoben. Da es weder
diesen noch jenen an Freunden mangelte, die aus mancherlei
Ursachen und Absichten öffentlich ihre Partei ergriffen, so wurde
der Streit immer hitziger und allgemeiner. Die Liebe zum
Neuen zog den größten Theil der jungen Bonzen und Ya-faou
auf die Seite des blauen Affen, und Gorgorix sah sich
in kurzem an der Spitze eines ansehnlichen Theils der Nation."Nun bekam er Muth, dasjenige, was er anfangs in
einem bescheidenen und problematischen Tone vorgebracht hatte,
mit dem herrischen Anstand eines gelehrten Dictators vorzutragen,
und allen, welche die Bündigkeit seines Beweises
nicht so einleuchtend fanden als er selbst, mit einer Verachtung
zu begegnen, die seinen Gegnern unerträglich war. Man
muß entweder ein Dummkopf seyn, sagte er, wenn man die
Wahrheit meiner Entdeckungen nicht einsehen kann, oder sehr
boshaft, wenn man sie nicht sehen will. Diese unter den Gelehrten
zu Scheschian sehr gewöhnliche Art zu disputiren,
hatte auch hier ihre gewöhnliche Wirkung. Die Gemüther
der Streitenden wurden immer mehr erbittert; die Streitfragen
selbst vermehrten sich täglich durch die Wuth einander
nichts einzugestehen; und eine Menge von Leuten erklärte sich
mit der größten Hitze für die eine oder die andere Partei, ohne
untersucht zu haben, wer Recht habe, oder zu einer solchen
Untersuchung geschickt zu seyn."Unvermerkt verwandelte sich diese Fehde aus einem Wortkrieg
in einen weit aussehenden Religionsstreit, und jede Partei
wandte alles an, sich zu vergrößern: als Kalaf, ein junger Bonze,
welcher Mittel gefunden hatte sich bei Hofe in einiges Ansehen
zu setzen, das bisher noch zweifelhafte Uebergewicht durch seinen
Beitritt auf die Seite des Gorgorix zog. Nicht, als ob er sich
im geringsten für die Sache selbst interessirt hätte; denn er hatte
sich nie die Mühe genommen, das Buch dieses Ya-faou zu
lesen; und niemand in der Welt bekümmerte sich weniger als
er, ob der große Affe blau, grün oder pomeranzengelb sey. Aber
Kalaf war ehrgeizig; er hatte ein Auge auf die Würde eines
Oberbonzen der Hauptstadt Scheschian, welche in kurzem ledig
werden mußte, und der blaue Affe konnte ihm zu einem Vorhaben
beförderlich seyn, wozu er sich in dem ordentlichen Laufe
der Dinge wenig Hoffnung zu machen hatte. Sein gutes Glück
hatte ihn zu dem Amte erhoben, eine Persische Tänzerin, deren
rühmliche Fesseln der Vertraute des ersten Günstlings der
Sultanin Lili trug, von der Religion der Gebern, worin sie
erzogen war, zu der Scheschianischen, für welche ihr Liebhaber
sich ungemein beeiferte, zu bekehren. Da die Tänzerin große
Ansprüche an Witz machte, so war dieß eben kein leichter Auftrag.
Allein Kalaf war ein liebenswürdiger Mann, wenigstens
in den Augen einer Tänzerin; er fand Mittel sich vor allen
Dingen ihres Herzens zu bemeistern, nicht zweifelnd, wenn
er einmal dieses gewonnen hätte, würde sich ihr Kopf nicht
lange gegen seine Gründe halten können. Er wußte ihrer
Eitelkeit so gut zu schonen, und die Augenblicke, welche seiner
Unternehmung am günstigsten waren, so geschickt zu wählen,
daß die Tänzerin endlich gestehen mußte, daß er sie überzeugt
habe: aber sie erklärte sich zu gleicher Zeit, wenn sie ja genöthigt
würde, sich den großen Mithras unter dem Bilde eines
Affen vorzustellen, so sollte es doch schlechterdings kein andrer
als ein blauer seyn; denn blau war ihre Lieblingsfarbe. Kalaf,
zu klug, durch eine unzeitige Unbiegsamkeit in einem Punkte,
woran ihm so wenig gelegen war, sich der Frucht so vieler mühsamen
Nachtwachen zu berauben, und scharfsinnig genug, um
beim ersten Blicke zu sehen, was man aus einer Sache machen
kann, versicherte sie, daß er selbst immer geneigt gewesen sey,
sich für den blauen Affen zu erklären, und daß er itzt um so eifriger
für ihn arbeiten würde, da er das günstige Vorurtheil seiner
schönen Neubekehrten für nichts Geringeres als die Wirkung
eines übernatürlichen Einflusses halten könne. Von dieser
Stunde an hatte Gorgorix keinen stärkern Verfechter als den
Bonzen Kalaf. Der Vertraute des Günstlings, welcher es
unmöglich fand, seiner Tänzerin etwas abzuschlagen, war der
erste unter den Hofleuten, der für die neue Meinung gewonnen
wurde. Der Vertraute gewann den Günstling, der Günstling
die Sultanin, die Sultanin den König ihren Sohn, und das
Beispiel des Königs den ganzen Hof."Die erste große Folge dieses glücklichen Fortgangs war,
daß Kalaf bald darauf zur erledigten Würde eines Oberbonzen
der Stadt Scheschian befördert wurde."Huktus, ein Bonze von edler Geburt und großem Ansehen,
hatte sich zu dieser Würde die meiste Hoffnung gemacht, und
alles angewandt sie zu erlangen. Unter andern Umständen
wurde Kalaf kein furchtbarer Nebenbuhler für ihn gewesen seyn;
aber Kalaf hatte sich einen Augenblick zu nutze gemacht, da die
Persische Tänzerin alles vermochte. Es ist wahr, es kostete
ihm Mühe, sie zu einer kleinen Gefälligkeit gegen den Günstling
der Königin zu überreden; und die ärgerliche Chronik sagte
sogar, daß er in seinem eigenen Hause Gelegenheit dazu gemacht
habe. Ein Beweggrund dieser Art konnte wohl dem Günstling
hinreichend scheinen, Kalaffen, der keine andern als die Verdienste
eines geschmeidigen Höflings aufzuweisen hatte, vor
dem Bonzen Huktus, für den die Wünsche des ganzen Volkes
sprachen, den Vorzug zu geben; nur war er nicht hinlänglich,
diesen Vorzug vor den Augen der Nation zu rechtfertigen.
Huktus verbarg seinen Unmuth unter dem Scheine der vollkommensten
Gleichgültigkeit; aber sein Herz kochte Rache.
Die Streitigkeiten über Tsai und Tsao, an welchen er bisher
aus Klugheit wenig Antheil genommen hatte, schienen ihm
Gelegenheit darzubieten, diese Rache unter einem scheinbaren
Vorwand auszuüben. Kalaf hatte sich an die Spitze der Partei
der Blauen gestellt: Huktus bedachte sich also nicht lange, sich
öffentlich für die Feuerfarbnen zu erklären. Der größte Theil
der ältern Bonzen und Ya-faou war auf seiner Seite; und
da sich bald darauf auch diejenigen unter den Großen von
Scheschian, die mit der Regierung der Sultanin Lili nicht
zufrieden waren, zu ihnen schlugen, so machten sie eine Gegenpartei
aus, deren Absichten, Maßregeln und Bewegungen
ernsthaft genug wurden, um den Staat mit gefährlichen Unruhen
zu bedräuen.Hier läßt sich Danischmend in eine umständliche Entwicklung
der verschiedenen Vortheile, Nebenabsichten und Leidenschaften
ein, welche die eigentlichen Triebräder der öffentlichen
Handlungen beider Parteien waren, und, wenn anders seine
Erzählung zuverläßig ist, einen Beweis abgeben könnten, daß
die Kunst, das Interesse der Religion und des Staats zum
Deckmantel unedler Leidenschaften und eigennütziger Forderungen
zu machen, nicht unter diejenigen gehöre, an deren Erfindung
oder Vervollkommnung die Neuern einen gerechten Anspruch
zu machen hätten."Bisher (so fährt er fort) hatte sich der geringere Theil
der Scheschianischen Nation in die Händel der Blauen und
Feuerfarbnen (wie man die Parteien zu nennen anfing) wenig
eingemischet, oder es waren doch nur wenige in ihren angeerbten
Begriffen von dem großen Affen irre gemacht worden.
Die meisten begnügten sich, über die Neuerungen des Gorgorix
und seiner Freunde den Kopf zu schütteln, und zu beklagen,
daß eine so ausgemachte Sache, als der Name und die Farbe
ihrer Schutzgotthert wäre, vorwitzigen Untersuchungen ausgestellt
werden sollte. Aber Kalaf, dessen ungezähmter Ehrgeiz
einen vollständigen Triumph verlangte, ruhete nicht, bis er
auch den größern Theil des gemeinen Volkes von der Blauheit
des großen Affen überzeugte. Was ihm die erwünschteste
Gelegenheit dazu gab, war eine prächtige Pagode von blauem
Porcellan mit goldnen Verzierungen, welche auf Veranstaltung
der Sultanin Lili dem Tsao-Faou zu Ehren aufgeführt wurde.
Der Eifer dieser Dame, der Nachwelt ein so schönes Denkmal
ihrer Liebe für die Künste zu hinterlassen, verwandelte sich
unvermerkt in einen Eifer für die Sache des blauen Affen
selbst. Das Volk, unter dessen Augen dieser schöne Tempel
emporstieg, wurde von den Anhängern Kalafs in räthselhaften
Ausdrücken vorbereitet, außerordentliche Dinge zu erwarten.
Die Blauen ließen in ihrem Gesicht und Ton eine große
Zuversichtlichkeit sehen, ohne sich über die Ursache derselben zu
erklären; und Huktus mit seinem Anhang zitterte ohne zu
wissen wovor."Endlich kam der Tag, welchem beide Parteien, jene mit
ungeduldigem Verlangen, diese mit unruhiger Erwartung eines
gegen sie geschmiedeten Anschlags, entgegen sahen; der Tag,
da die blaue Pagode eingeweiht werden sollte. Sobald die
Sonne aufgegangen war, führte Kalaf das versammelte Volk
in einen nahe bei der Hauptstadt gelegenen Wald, der seit
undenklichen Zeiten dem großen Affen heilig gewesen war.
Mitten in diesem Walde war ein großer runder Platz, und
in der Mitte des Platzes eine Art von Thron aufgerichtet,
welchen Kalaf bestieg, um diese berühmte Anrede an das Volk
zu halten, von welcher die Geschichtsschreiber seiner Partei versichern,
daß sie niemals ihresgleichen gehabt habe. Kalaf
sagte so erhabene und unbegreifliche Dinge; es strahlte eine so
ungewöhnliche Begeisterung aus seinem ganzen Wesen; der
majestätische Ton seiner Stimme, die Ueberzeugung, womit er
sprach, die Figuren, wovon er Gebrauch machte, der Strom
seiner Worte rissen die Zuhörer mit solcher Gewalt dahin,
daß man ihm Beifall geben mußte, ohne das geringste von
allem, was er gesprochen, begriffen zu haben. Die vornehmste
Absicht seiner Rede war, das Volk in Erstaunen und in ein
zitterndes Erwarten irgend einer wundervollen Entwicklung zu
setzen. Niemals hatte ein Redner die Zauberkraft des Galimathias
besser studirt als Kalaf. Die Wirkung davon starrte
ihm aus jedem Aug' entgegen; und um sie auf den höchsten
Grad zu treiben, endigte er seine Rede mit einer feierlichen
Apostrophe an den großen Affen, den er beschwor, sein Volk
aus der Ungewißheit zu reißen, und durch irgend ein sichtbares
Wunder zu zeigen, unter welcher Farbe ihm ihre Verehrung
am angenehmsten sey."Kaum hatte Kalaf die letzten Worte ausgesprochen, so
sah man auf einmal den Baum, an dessen Stamm der Thron
des Oberbonzen befestigt war, in Flammen eingehüllt; und
unter Blitz und Donner stieg vor den bestürzten Augen eines
unzähligen Volkes ein großer blauer Affe herab, und setzte
sich mit einer so majestätischen Miene auf dem Throne zurechte,
daß die Hoffnung Kalafs selbst durch die Geschicklichkeit seines
Zöglings übertroffen wurde."Dieser Streich war, wie man leicht denken kann,
entscheidend. Der hartnäckigste Anhänger des feuerfarbnen Affen
sah sich gezwungen, dem Zeugniß seiner Sinne gewonnen zu
geben. Sogar die Freidenker, welche bei diesem Schauspiele
zugegen waren, wurden von dem allgemeinen Schwall mit
fortgerissen, und die wenigen, die ihrer Vernunft noch mächtig
genug blieben, um durch ein so grobes Blendwerk hindurchzusehen,
waren aus kluger Furcht die eifrigsten, der Gottheit
des blauen Affen zuzujauchzen. Er wurde mit einem alle
Einbildung übersteigenden Triumph in seinen neuen Tempel
eingeführt; und der König Azor selbst, der sich aus bloßer
Gefälligkeit gegen die Launen seiner Mutter für die Meinung
des Blauen erklärt hatte, konnte sich nicht erwehren, die Sultanin
an der Spitze des ganzen Hofes zu begleiten, und das
erste feierliche Opfer mit seiner Gegenwart zu zieren."So schrecklich die Nachricht von dieser Begebenheit dem
Bonzen Huktus und seinen Freunden war, so zeigte er doch
in diesem entscheidenden Augenblicke, daß es ihm nicht an der
wichtigsten Eigenschaft mangle, die zum Haupt einer Partei
erfordert wird. Außer vielen andern wohl ausgesonnenen
Maßregeln, in deren Erzählung wir Danischmenden nicht folgen
können, ließ er sich vornehmlich angelegen seyn, den Eindruck,
welchen Kalaf mit seinem blauen Affen auf den unaufgeklärten
Theil der Nation gemacht hatte, von Grund aus zu vernichten.
Seine Anhänger beschuldigten diesen Oberbonzen öffentlich der
Zauberei, und eines geheimen Verständnisses mit den bösen
Geistern. Dieß war in der That ein Einfall, der seinem Erfinder
Huktus Ehre macht. Hätten die Feuerfarbnen sich
begnügt, dem Volke begreiflich zu machen, daß Kalaf ein
Betrüger sey, so würden sie ihm wenig dadurch geschadet haben:
denn wie schwach ist die Wirkung der Vernunft gegen Schwärmerei
und Aberglauben! Aber dreist versichern, daß er die
bösen Geister mit in seine Verschwörung gegen den Tsai-Faou
gezogen habe, dieß hieß ihm wirklich einen gefährlichen Streich
beibringen. Eine solche Anklage hat Wahrscheinlichkeit in den
Augen des gemeinen Volkes: sie zog seine Neigung zum Wunderbaren
auf Huktus Seite; sie gab Gelegenheit zu einer unendlichen
Menge unglaublicher Erzählungen, welche man,
mitten unter der Versicherung, daß sie unglaublich wären,
begierig ausbreitete, mit selbst erfundenen Umständen glaublicher
zu machen beflissen war, und zuletzt wirklich glaubte.
Kurz, Huktus erhielt dadurch seine Absicht so vollkommen,
daß der Pöbel in den meisten Provinzen des Reichs entschlossen
war, es eher auf das Aeußerste ankommen zu lassen,
als dem Glauben seiner Voreltern und dem feuerfarbnen Affen
untreu zu werden.Vermuthlich (fährt Danischmend fort) hätte Kalaf am
weisesten gehandelt, wenn er diese Beschuldigungen mit kalter
Verachtung angesehen, und durch eine zwar standhafte, aber
ruhige und langsame Fortführung seines Plans, die Hindernisse,
die er in den Vorurtheilen der halben Nation fand,
zu besiegen gesucht hätte. Aber sein Hochmuth und seine
Hitze vertrugen sich mit keinen so gelinden Maßnehmungen.
Stolz auf seine Gewalt über den Geist der Sultanin Lili,
welche damals noch das Steuerruder führte, und verwegen
gemacht durch den schwärmerischen Eifer eines zahlreichen Anhangs,
glaubte er stark genug zu seyn, die Widerspänstigen
durch Zwangsmittel zu unterwerfen. Eine königliche Verordnung,
wovon er der Urheber war, erklärte alle diejenigen für
Aufrührer, welche sich weigern würden, dem blauen Affen zu
huldigen. Die Bildnisse des Tsai-Faou wurden aus allen
Pagoden weggeschafft, und mit andern von blauem Porcellan
ersetzt, wovon in den Vorhöfen der blauen Pagode eine schöne
Fabrik zum Vortheil derselben angelegt war. Alle Pagoden
wurden mit Bonzen von Kalafs Anhang besetzt, und diejenigen
abgedankt, welche lieber ihren Einkünften als dem
feuerfarbnen Affen entsagen wollten. Diese Gewaltthätigkeiten
hatten den Erfolg, den ein weiserer Mann als Kalaf ihm
vorhergesagt hatte, ohne Glauben zu finden. Tausend persönliche
Beleidigungen, wodurch die Feuerfarbnen täglich zur
Rache gereizt wurden; der Uebermuth, womit die Blauen,
als die siegreiche Partei, mit ihren feuerfarbnen Mitbürgern
verfuhren, und die öffentliche Verfolgung, welche zuletzt über
die letztern verhängt wurde, erschöpften endlich ihre Geduld.
Ganze Provinzen ergriffen die Waffen, und kündigten Azorn
den Gehorsam auf, wofern er seinen Unterthanen nicht zum
wenigsten die Wahl lassen würde, ob sie blau oder feuerfarben
seyn wollten."Zum Glück für das Reich Scheschian erfolgte um eben
diese Zeit eine Veränderung bei Hofe, wodurch Lili von der
Staatsverwaltung entfernt, und die schöne Alabanda, eine
heimliche Gönnerin der Feuerfarbnen, die Vertraute oder
vielmehr die unumschränkte Beherrscherin des Sultans Azor
wurde. Dieser günstige Umstand machte den Feuerfarbnen
Luft, und verhütete den gänzlichen Ausbruch eines allgemeinen
Bürgerkrieges. Alabanda hatte zwar große Lust, ihren
Freunden eine vollständige Rache an den Blauen zu verschaffen;
aber Kalafs Anhang war zu groß, und der Ausgang eines
Bürgerkrieges zu ungewiß, als daß ein solcher Anschlag bei
den Häuptern der Feuerfarbnen selbst Eingang gefunden hätte.
Man begnügte sich also, auf beiden Seiten einen Vertrag zu
Stande zu bringen, wodurch die Sachen in eine Art von
Gleichgewicht gesetzt wurden. Indessen zeigte sich in der
Folge, daß der Alterthumsforscher Gorgorix der Nation durch
seine Entdeckung eine Wunde geschlagen hatte, welche zwar
zugeschlossen, aber nicht von Grund aus geheilt werden konnte.
Das immerwährende Gezänke der Bonzen; der Abscheu, welcher
natürlicherweise beide Parteien gegen einander erfüllen mußte,
wenn sie dem Gegenstand ihrer Verehrung von der andern
Partei mit Verachtung begegnen sahen; die Beeifrung sogar
in den gleichgültigsten Dingen sich von einander zu unterscheiden:
alles vereinigte sich, die Blauen und Feuerfarbnen
mit einem unauslöschlichen Hasse gegen einander zu entzünden;
mit einem Hasse, der nicht nur das zarte Gewebe der feinern
Bande der Natur zerriß, sondern stark genug war, um von
Zeit zu Zeit selbst die gröbern Fesseln der bürgerlichen Verhältnisse
zu zerbrechen. Er glich einem schleichenden Gifte,
welches die ganze Masse des politischen Körpers ansteckte,
und alle andern Gebrechen und Zufälle desselben bösartiger
machte, als sie an sich selbst gewesen wären. Bei jeder
Veranlassung brach das gährende Uebel bald in diesem bald
in jenem Theile des Reiches aus: und da der Hof weder
mächtig genug war, eine von den Parteien gänzlich zu unterdrücken,
noch weise genug, ein genaues Gleichgewicht zwischen
ihnen zu erhalten, so drückte und verfolgte immer eine die
andre wechselsweise, je nachdem sie in einer Provinz oder
bei Hofe selbst die Oberhand hatte; und das Unglück der
Nation wurde durch diese neue Classe von Beschwerden, wie
chimärisch auch die erste Quelle derselben war, so vollkommen
gemacht, daß die Scheschianer sich endlich zum zweitenmale
in der unseligen Lage befanden, das Ende ihres Elendes nur
von einer gewaltsamen Staatsveränderung zu erwarten."Unter den Anmerkungen, womit der Sultan Gebal diese
Erzählung etlichemal unterbrach, hat uns nur Eine wichtig
genug geschienen, bemerkt zu werden. Er zweifelt nämlich,
wie es möglich gewesen, daß eine Nation, die man uns
(wenigstens von den Zeiten des Sultans Ogul an) in einem
Zustande von Aufklärung und Verfeinerung vorstellt, dumm
genug habe seyn können, sich zum Opfer eines so albernen
antiquarischen Streites machen zu lassen?Die Auflösung, welche Danischmend von diesem Problem
gibt, verdient wenigstens gehört zu werden. Es ist wirklich
eine klägliche Sache, spricht er, Geschöpfe unsrer Gattung
ihres besten Vorzugs vor den übrigen Thieren auf eine so
demüthigende Art beraubt zu sehen. Und gleichwohl habe
ich bisher von den Scheschianern nichts gesagt, was nicht,
unter gewissen Voraussetzungen, so glaublich wäre als irgend
eine andre natürliche Begebenheit. Diese Voraussetzungen
sind zum Exempel —"daß kein gewöhnlicheres Phänomen in
der Welt ist, als Leute mit Vernunft rasen zu sehen; oder
auch, zu sehen, daß sie bei tausend Gelegenheiten vernünftig,
und in einer einzigen Sache unsinnig sind; — daß man zu
allen Zeiten und auf allen Theilen dieses Erdenrundes sehr
alberne Meinungen und sehr unsinnige Gebräuche im Schwange
gesehen hat; —daß der Aberglaube, wenn er in Zeiten der
Unwissenheit und der rohen Einfalt sich des Gehirns eines
Volkes bemächtiget, und etliche Jahrhunderte Zeit gehabt hat,
sich festzusetzen, durch eine stufenweise zunehmende Aufheiterung
zwar geschwächt, aber schwerlich anders als nach Verfluß
eines langen Zeitraums, und durch eine ununterbrochene
Fortdauer der Ursachen, welche seinen Untergang befördern,
so gänzlich vernichtet werden kann, daß die Ueberbleibsel davon
nicht zuweilen in Gährung gerathen, und wunderliche, auch
wohl bösartige Zufälle veranlassen sollten." Ueberdieß, fährt
er fort, würde mir nichts leichter seyn, als einen jeden Theil
meiner Erzählung durch historische Beispiele dessen, was unter
den abgöttischen Völkern des Erdbodens, und zum Theil unter
den Moslemim selbst, vorgegangen ist, zu erläutern. Ich
sehe nicht, warum die Scheschianer wegen ihrer Verehrung
eines feuerfarbnen Affen mehr Vorwürfe verdienen sollten,
als die weisen Aegyptier wegen der Anbetung des Stiers Apis,
und so vieler andrer Thiere, worunter auch Affen und Meerkatzen
waren; und der Streit über die Frage, ob der große
Affe blau oder feuerfarben sey, scheint mir jenen wohl werth
zu seyn, den die Stadt Oryrynchus mit der Stadt Kynopolis,
ihrer Nachbarin, über die Gottheit des Anubis und ich weiß
nicht was für eines Meerfisches mit spitziger Schnauze, aus
dem Geschlechte der Rochen, geführt haben soll, wenn wir
einem der weisesten Männer des alten Gräciens glauben
dürfen. Dieser Fisch, welcher der Schutzgott der Oryrynchiten
war, wurde von den Kynopoliten als ein bloßer Fisch behandelt,
und also ohne Bedenken gegessen. Die Einwohner
von Oryrynchtus, die dieß natürlicher Weise sehr übel nahmen,
glaubten ihren Gott nicht besser rächen zu können, als indem
sie an den Hunden, welche zu Kynopolis heilig waren und auf
gemeiner Stadt Unkosten unterhalten wurden, das Wiedervergeltungsrecht
ausübten. Es entstand darüber ein so blutiger
Krieg zwischen diesen beiden Aegyptischen Städten, daß die
Römer sich endlich genöthigt sahen, die Wüthenden mit Gewalt
aus einander zu reißen. Im übrigen läßt sich vermuthen,
daß der denkende Theil der Nation, das ist (nach der billigsten
Berechnung) unter tausend Einer, den ganzen Streit eben
so ungereimt gefunden haben werde als wir. Hingegen ist
nicht weniger zu glauben, daß die meisten von diesem tausendsteln
Theile sich darum nicht weniger für einen von beiden
Affen interessirten. Es ist mit einem alten Aberglauben eben
so wie mit andern alten und unvernünftigen Gewohnheiten
beschaffen. Man sieht die Thorheit davon ein, man lacht
darüber; man beweist sich selbst mit vielen Gründen, daß es
Mißbräuche sind: aber gleichwohl beobachtet man sie nicht
allein um der alten Gewohnheit willen; sondern man rechnet
es noch demjenigen als ein Verbrechen an, der sich die Freiheit
nehmen wollte, davon abzugehen. Privatvortheile und Leidenschaften
können wohl gar die Ursache seyn, daß wir solche
Mißbräuche, bei der völligsten Ueberzeugung, daß es Mißbräuche
sind, mit Eifer und Hitze verfechten. Man unterscheidet in
solchen Fällen Theorie und Ausübung. Man behauptet einen
nützlichen Mißbrauch, und lacht bei sich selbst der Thoren,
welche betrogen zu werden verdienen, weil sie betrogen
werden wollen.Wir schließen diesen Auszug mit den eigenen Worten
des weisen Danischmend, und mit einer Betrachtung, die
wir von Herzen unterschreiben. "Die Ränke und Kunstgriffe,
spricht er, welche von beiden Parteien angewandt wurden,
einander zu schwächen und zu unterdrücken — einander
wechselsweise das Vertrauen des Königs und das Ruder des
Staates aus den Händen zu winden — oder sich dem Hofe
furchtbar zu machen, und allen seinen Unternehmungen, unter
dem Vorwande des gemeinen Besten, unübersteigliche Hindernisse
in den Weg zu legen; — die Künste, welche gebraucht
wurden, tausend streitende Privatvortheile mit dem Interesse
der Parteien in einen wirklichen oder doch anscheinenden Zusammenhang
zu bringen; — der schändliche Mißbrauch, den
man zu Beförderung aller dieser Absichten mit den ehrwürdigen
Namen der Religion, des königlichen Ansehens und des allgemeinen
Besten trieb; — die unzähligen Auftritte von Ungerechtigkeit,
Betrug, Verrätherei, Undankbarkeit, Raubsucht,
Giftmischerei u. s. w., welche unter diesen ehrwürdiges Masken
gespielt wurden: alles dieß würde überflüssigen Stoff zu einem
ungeheuren Geschichtbuche geben, welches zu lesen nur die
größten Verbrecher verdammt zu werden verdienen könnten.
Unglücklicherweise ist die Geschichte der policirten Völker, wenn
man ihre Kriege (einen andern Schauplatz von Abscheulichkeiten)
abrechnet, beinahe nichts anders als dieß. Für einen
Menschen, der an den Schicksalen seiner Gattung wahren
Antheil nimmt, ist es Pein, bei diesen ekelhaften und grauenvollen
Gemälden zu verweilen. Das Herz des Menschenfreundes
schauert vor ihnen zurück. Aengstlich sieht er sich
nach Scenen von Unschuld und Ruhe, nach den Hütten der
Weisen und Tugendhaften, nach Menschen, die dieses Namens
würdig sind, um; und wenn er in den Jahrbüchern des
menschlichen Geschlechtes nicht findet, was ihn befriedigen
kann, flüchtet er lieber in erdichtete Welten, zu schönen
Ideen, welche, so wenig auch ihr Urbild unter dem Monde
zu suchen seyn mag, immer Wirklichkeit genug für sein Herz
haben, weil sie ihn (wenigstens so lange, bis er durch Bedürfnisse
oder unangenehme Gefühle in diese Welt zurückgezogen
wird) in einen angenehmen Traum von Glückseligkeit
versetzen, — oder, richtiger zu reden, weil sie ihn mit dem
innigsten Gefühle durchdringen, daß nur die Augenblicke,
worin wir weise und gut sind, nur die Augenblicke, die wir
der Ausübung einer edlen Handlung, oder der Betrachtung
der Natur und der Erforschung ihres großen Plans, ihrer
weisen Gesetze und ihrer wohlthätigen Absichten, — oder der
Freundschaft und Liebe, und dem weisen Genusse der schuldlosen
Freuden des Lebens widmen, —daß nur diese Augenblicke
gezählt zu werden verdienen, wenn die Frage ist, wie
lange wir gelebt haben."Der Sinesische Herausgeber dieser wahrhaften Geschichte
sagt uns, daß der Sultan über dem letzten Theil der Rede
des weisen Danischmend eingeschlafen, und dieser also genöthiget
worden sey, mit weiterem Moralisiren einzuhalten; ein
Umstand, der uns, wie er vermuthet, verschiedene schöne
Betrachtungen entzogen hat, welche der Indostanische Philosoph
über diesen Theil der Geschichte von Scheschian noch gemacht
haben könnte.Des folgenden Abends befahl ihm der Sultan, über den
Rest der Regierung des unglücklichen Azors so schnell als nur
immer möglich seyn würde hinwegzuglitschen. Es gibt (sprach
er) gewisse Leute, die gar zu dumm sind, wie sogar mein
guter Oheim Schach-Baham irgendwo angemerkt hat, und gewiß
ist dieser Azor einer aus dieser Classe. Man kann nicht
bald genug mit ihm fertig seyn.—————
11.Danischmend setzte also die Geschichte der Regierung
Azors folgendermaßen fort:Die kläglichste unter allen den Schwachheiten, welche den
Ruhm des guten Königs Azor verdunkeln, war seinem Alter
aufbehalten; eine Schwachheit, welche desto verführerischer ist,
weil sie einer Tugend ähnlich sieht; desto schädlicher, weil sie
Böses aus guter Absicht thut, und desto schwerer zu vermeiden,
da selbst der weiseste aller Morgenländischen Könige nicht weise
genug war, sich ihrer zu erwehren.Dieß nennt man, denke ich, ein Räthsel, sagte Schach-Gebal.
Ich bilde mir eben nicht ein, in der Kunst Räthsel aufzulösen
dem Sultan, dessen du eben erwähntes, gleich zu kommen:
aber dießmal wollt' ich doch rathen, daß die Schwachheit
des großen Azors, die du uns noch aufbehalten hast, entweder
Bigotterie ist, oder doch etwas, das ihr sehr ähnlich sieht. Hab'
ich es getroffen, Doctor?Zum Erstaunen, erwiederte Danischmend, indem er in
seinen Ton und in seine Gesichtsmuskeln alle die Bewunderung
brachte, die er der Scharfsinnigkeit seines gebietenden Herrn
schuldig war. Es waren nun zwanzig Jahre, fuhr er fort,
seitdem die schöne Alabanda eine unbegränzte Gewalt über das
Herz, über den hof und über die Schatzkammer des Sultans
von Scheschian usurpirte. Gewohnheit und Sättigung hatten
ihre Bezauberung endlich aufgelöst; und Alabanda sah die Zeit
kommen, wo sie sich in der traurigen Nothwendigkeit befand,
zuzugeben, entweder daß Azor aufgehört habe empfindlich, oder
daß sie selbst aufgehört habe reizend zu seyn.Als ob nicht beides zugleich hätte Platz haben können,
sagt die schöne Nurmahal.Wenigstens, versetzte der Doctor, war es natürlicher an
ihr, das erste zu glauben.Und an Azorn das andre, sagte der Sultan mit einem
spitzfindigen Lächeln.Wie dem auch seyn mochte, fuhr Danischmend fort, die
gute Dame beging den Fehler, einen Zufall, den man nach
Verfluß von zwanzig Jahren einen von den natürlichsten in
der Welt nennen kann, für eine unerträgliche Beleidigung anzusehen.
So unbillig dieß scheinen mag, so unbesonnen war
es, den guten Sultan, welcher wirklich ganz unschuldig an der
Sache war, so oft er lange Weile hatte (und dieß war sehr oft),
mit Vorwürfen von Untreue und Undankbarkeit, und mit allen
tragikomischen Wirkungen der Eifersucht und bösen Laune zu
verfolgen. Denn was konnte sie anders von einem solchen Betragen
erwarten, als — gerade das, was wirklich erfolgte?
nämlich, daß er die alte Abgöttin seiner Seele, die er seit geraumer
Zeit kaum noch liebenswürdig fand, in kurzem unerträglich
finden mußte. Von diesem Augenblick an hatte die
Regierung der schönen Alabanda ihr Ziel erreicht. Azor suchte
nun im Wechsel eine Glückseligkeit, an welche sein Herz gewöhnt
war: er zerstreute sich dadurch eine Zeit lang; aber die
Befriedigung fand er nicht, die ein reizbares Herz von den
Sinnen, oder von den launischen Einfällen einer herumflatternden
Phantasie vergebens erwartet. Er wurde also dieser
Wanderungen des Herzens um so viel eher überdrüssig, da ihn
Lili und Alabanda angewöhnt hatten, von weiblichen Köpfen,
aber von den feinsten und witzigsten weiblichen Köpfen, regiert
zu werden.Die Freiheit, worin die gefälligen Schönen seines Hofes
ihn wider seinen und ihren Willen ließen, machte ihm sein
Daseyn zur beschwerlicheren Last. Mehr als Einmal versuchte
er's, die schöne Alabanda wieder so reizend und zauberisch zu
finden, als sie es gewesen war: aber der unglückliche Erfolg
seiner Bemühungen überzeugte ihn zuletzt, daß sie wirklich aufgehört
haben müsse, es zu seyn; und wozu konnt' es ihm helfen,
das Unmögliche bewerkstelligen zu wollen?In dieser Verfassung befand sich Azor, als es der Persischen
Tänzerin, deren bereits in dieser Geschichte Erwähnung
geschehen ist, gelang, ihn die Erfahrung machen zu lassen, daß
er den ganzen Cirkel der Thorheiten, zu welchen ihn die Schwäche
seines Herzens fähig machte, noch nicht durchlaufen habe.
Diese Creatur hatte durch ihre Reizungen und durch die Freigebigkeit
ihrer Verehrer Mittel gefunden, die Flecken ihres
vormaligen Standes auszulöschen, und nach und nach sich bis
zum Rang einer Vertrauten der Sultanin Alabanda emporzuschwingen.
In dieser Stellung fand Gulnaze (so hieß die
verwandelte Tänzerin) häufige Gelegenheiten, die Reizungen
ihres Witzes und ihrer äußerst angenehmen Unterhaltung vor
den Augen des Sultans auszulegen; Reizungen des Geistes,
welche mächtig genug waren, in ihrer Gesellschaft vergessen zu
machen, daß ihre ersten Liebhaber bereits ehrwürdige Graubärte
vorstellten. Nicht als ob sie nicht noch immer liebenswürdig
gewesen wäre; aber, nachdem sie sich einmal unter der
Maske der Freundschaft in Azors Herz hineingestohlen, würde
sie es auch mit der Hälfte ihrer noch übrigen Annehmlichkeiten
in den Augen eines so reizbaren Potentaten gewesen seyn.
Kurz, Azor, der ohne sie die lange Weile, die ihm Alabanda
und alle andern Schönen seines Hofes verursachten, unausstehlich
gefunden haben würde, machte auf einmal die Entdeckung,
daß er nicht ohne Guönaze leben könne. Unvermerkt hatte sie
sich aller Zugänge seines Herzens bemächtiget: und eben so
unmerklich wurde sie aus einer Vertrauten die unumschränkteste
Beherrscherin seiner Neigungen. Keine ihrer Vorgängerinnen
hatte so viel Gewalt über ihn gehabt:: aber keine
hatte ihn auch so wenig fühlen lassen, daß er Fesseln trug. Alabanda
hatte ihn durch die Zauberkraft ihrer Reizungen beherrscht:
Gulnaze regierte ihn durch die volkommene Kenntniß
der schwachen Seite seines Kopfes und seines Herzens. Was
Wunder, daß ihre Herrschaft vollständig und dauerhaft war!Wohl angemerkt, Danischmend! flüsterte Nurmahal
lächelnd.Finden Sie das? sagte der Sultan, indem er ihr auf die
Schulter klopfte.Der Eifer, den Gulnaze vor mehr als zwanzig Jahren,
da ihr Einfluß nur noch mittelbar war, für die Sache des
blauen Affen gezeigt hatte, verdoppelte sich itzt, da das königliche
Ansehen in ihren Händen lag. Die Blauen faßten neuen
Muth und glaubten zu den ausschweifendsten Hoffnungen berechtiget
zu seyn. Was die Neigung der Favoritin zu der
neuen Secte am stärksten unterhielt, war der schlaue Einfall,
den ein Ya-faou von den Freunden des Oberbonzen Kalafs gehabt
hatte, eine Art von religiösen Festen zu erfinden, wobei
die Sinne zum Behuf einer fanatischen Andacht auf die angenehmste
Weise unterhalten wurden. Die Einführung derselben
war der letzte tödtliche Streich, welchen Kalaf den Feuerfarbnen
beibrachte, deren Andachtsübungen mehr Finstres und
Schreiendes als Angenehmes oder Herzrührendes hatten. Die
Anzahl der Blauen vermehrte sich nun täglich; Azor selbst fand
immer mehr Geschmack an den Andachten seiner Geliebten,
und es währte nicht lange, so fielen alle andren Arten von Ergötzungen.
Man lud einander auf eine Partie in der blauen
Pagode ein, wie vormals zu einer Lustreise aufs Land oder zu
einem Maskenball. Unvermerkt wurde ein gewisser Schnitt
von Devotion ein unterscheidendes Merkmal der Hofleute, und
jedermann, wer an Erziehung und Lebensart Anspruch machte,
bestrebte sich sie zu copiren, so gut er konnte. Wäre dieß die
schlimmste Wirkung des Einflusses der schönen und devoten
Gulnaze gewesen, so hätte man Ursache gehabt von Glück zu
sagen, die Erheiterung des Scheschianischen Aberglaubens
möchte den Uebergang zu einer gründlichen Verbesserung vielmehr
befördert als gehindert haben. Aber die Lebhaftigkeit
ihrer Leidenschaften erlaubte ihr nicht der Zeit zu überlassen,
was sie durch Zwangsmittel in einem Augenblicke zu bewerkstelligen
hoffte. Nicht zufrieden, die Feuerfarbnen so weit
heruntergebracht zu haben, daß sie sich glücklich genug schätzten,
wenn sie nur geduldet wurden, that sie dem Tsao-Faou ein
feierliches Gelübde, nicht eher zu ruhen, bis sie Scheschian von
allen Anhängern seines Nebenbuhlers gereiniget haben würde.
Ein königlicher Befehl diente zum Vorwand, alle, welche sich
weigerten, dem blauen Affen zu opfern, als ungehorsame, und
bei dem geringsten Widerstand als Aufrührer, mit einer Härte
zu bestrafen, welche endlich den Blauen selbst anstößig wurde.
Grausamkeiten, wovor der Menschlichkeit grauet, und wovon
zu wünschen wäre, daß sie ohne Beispiele seyn möchten, wurden,
ohne Azors Wissen, in seinem Namen ausgeübt, und sind
das Einzige, was die letzten Jahre seiner Regierung der Vergessenheit
entzogen hat; bis er endlich, beladen mit dem allgemeinen
Hasse seines Volkes, zu spät für seinen Ruhm vom
Schauplatz abtrat. Ein denkwürdiges Beispiel, daß ein Fürst
mit allen Eigenschaften eines liebenswürdigen Privatmannes,
mit wenig Lastern und vielen Tugenden, durch den bloßen
Mangel fürstlicher Eigenschaften so viel Böses stiften kann, als
der gräulichste Tyrann. Azor war weder ehrgeizig, noch begierig
nach dem Eigenthum seiner Unterthanen, weder launisch, noch
hartherzig, noch grausam. Weit entfernt zu verlangen, daß
seine unüberlegtesten Einfälle für Gesetze und Göttersprüche
gelten sollten, oder, wie viele seines Standes, sich einzubilden,
daß Scheschian bloß um seinetwillen aus dem Chaos hervorgegangen
sey, und seine Unterthanen für eben so viele Sklaven
anzusehen, deren Glück oder Unglück, Seyn oder Nichtseyn, nur
insofern, als es sich auf seinen Vortheil beziehe, in Betrachtung
komme, — war er der leutseligste, der mitleidigste und
wohlthätigste Fürst seiner Zeit. Unwissenheit in den Pflichten
seines Standes, Unwissenheit in der Kunst zu regieren, wollüstige
Trägheit, und allzu großes Vertrauen zu seinen Günstlingen,
die er als seine Wohlthäter ansah, weil sie ihm die Last der
Regierung abnahmen, Fehler der Erziehung, Schwachheiten des
Herzens und des Temperaments, nicht Laster waren es, die
ihm die Liebe seiner Völker und die Hochachtung der Nachwelt
entzogen haben. Seine größten Fehler waren, daß er mit
eignen Augen bloß durch fremde sah; daß seine Ohren nur angenehme
Dinge hören wollten; daß er nur sprach, was man
ihm auf die Zunge legte, und wenn er auch, entweder durch
die natürliche Schärfe seines Geistes, oder durch die Bemühungen
irgend eines ehrlichen Narren, der seinen Kopf
wagte ihm die Augen zu öffnen, zuweilen eine gute Entschließung
faßte —zu viel Mißtrauen gegen seine eigenen Einsichten und
zu viel Gefälligkeit für seine Günstlinge hatte, um seiner Entschließung
treu zu bleiben. Indessen muß man gestehen, daß
auch das Schicksal nicht ohne alle Schuld an den Fehlern seiner
Regierung war. Die Gebrechen und Untugenden Azors
würden wenig geschadet haben, wenn es lauter weise und tugendhafte
Personen um ihn her versammelt hätte. Er würde solche
Leute, wenn sie übrigens eben so witzig und unterhaltend gewesen
wären als seine Günstlinge, eben so werth gehalten haben,
sich ihnen eben so gänzlich überlassen haben, und Scheschian
würde glücklich gewesen seyn. Aber freilich zeigt uns die Geschichte
des ganzen Erdkreises kein einziges Beispiel, daß ein
schwacher und unthätiger Fürst durch einen Schlag mit einer
Zauberruthe, bei seinem Erwachen auf einmal von lauter Walsinghams
und Sullys umgeben gewesen wäre, und wir sind
wohl nicht berechtigt, ein solches Wunder vom Schicksal zu erwarten.—————
Anmerkungen.Zueignungsschrift. Seite XIII. Z. 10. Con-Fu-Tse — bekannter
unter dem Namen Confuzius, geboren in der Chinesischen Provinz
Chan tong 551 v. Ch. und gest. 478, wird nicht mit Unrecht
als der Chinesische Sokrates gerühmt. Sein Zeitgenosse war Lao-Kium
oder Lao-Kung, der Stifter der Secte Tao. Er lehrte: froh zu leben
und glücklich zu werden, sey die Hauptangelegenheit des Menschen, und
die Benutzung des gegenwärtigen Augenblicks, ohne auf Vergangenheit
und Zukunft zu sehen, das Geschäft des Lebens. Da aber Uebel unvermeidlich
wären, auch Krankheit und Tod der Menschen Loos zu seyn
schiene, so bot er ihnen den Trank des unsterblichen Lebens an. Dieß
war nicht etwa eine Philosophie, sondern ein Elixir, welches er aus
Mischungen aller drei Naturreiche bereitete. Er fügte hinzu: wer diesen
Trank genossen, der habe auch das Vermögen, sich hin zu versetzen,
wohin er wolle. — Der Mann war also ein Charlatan.Einleitung. S. 1. Die ganze Einleitung setzt Kenntniß der
Personale der Tausend und Einen Nacht und der Feenmährchen des jüngern
Crebillon voraus, an welche der Dichter stillschweigend seine Erwählung
anschließt, ohne in Geist, Ton und Zweck Aehnlichkeit mit ihnen
zu haben.S. 1. Z. 1. Schach Riar — ist der bekannte Held in Tausend
und Einer Nacht, welcher an jedem Morgen die gestern genommene Gemahlin,
aus Besorgniß einer möglichen Untreue, erdrosseln ließ. Die
schöne und kluge Scheherezade, Tochter seines Großveziers, bot sich ihm
selbst zur Gemahlin an, und hielt nicht nur, durch ihr Talent Mährchen
zu erzählen, ihre Hinrichtung tausend Morgen lang auf, sondern bewirkte
auch, daß der blutdürstige Schach Riar ihr am tausend und ersten
Morgen erklärte, sie solle leben, und der Freude genießen, die Erretterin
ihres Geschlechts zu seyn.Niemand wird wohl die nachfolgende Genealogie für eine wirkliche
halten; denn wenn er auch Schach Riar in dem Sassaniden Scheheriar
wieder finden wollte, so würde er sich doch vergebens bemühen, die übrigen
zu entdecken. Diese Schachs oder Sultane verdanken ihre Verwandtschaft
nur den Mährchen, und Schach-Lolo der Sohn Schach
Riars, und Vater Schach Bahams, dankt Wielanden hauptsächlich
sein Daseyn. Wenigstens ist die Erzählung, welche wir unter diesem
Namen von Wieland besitzen, aus Tausend und Einer Nacht entlehnt,
wo der Sultan, von dem die Erzählung handelt, keinen Namen hat.
Alle übrigen Lolos, z. B. in Tausend und Einem Tag, haben mit
diesem nichts gemein. Schach Baham aber, so wie das Reich Scheschian
selbst und andere Personen, deren gleich im Anfange dieser Geschichte
gedacht wird, sind von der Erfindung des jüngern Crebillon,
dessen Sofa durch die Einführung und Charakterzeichnung des Schach
Baham auch denen ein Interesse eingeflößt hat, die das Werk selbst, halb
aus moralischen, halb aus ästhetischen Gründen, verurtheilten.Da Schach Baham bei Wieland eine bekannte Person, die sie doch
den wenigsten Lesern ist, öfters vorkommt, so hielt der Herausgeber
diese Anmerkung für so nöthiger, weil er Bd. 12. in der Anmerkung zu
Stanze 79, Ges. 2. des Idris das Unglück gehabt hat, Schach Baham
mit Schach Riar zu verwechseln, welchen Irrthum er hiemit angezeigt
und verbessert haben will. Er glaubt damit das Beste gethan zu haben,
was zu seiner Entschuldigung dienen kann.S. 2. Z. 25. Stiftungen Schach Lolo's — Ein gewisser
Persischer Autor geräth bei Erwähnung dieser Stiftungen Schach Lolo's
in eine seltsame Aufwallung. Kann man, ruft er aus, sich selbst im
heißesten Fieber einfallen lassen, solche Stiftungen zu machen? Es gehört
doch wohl zum Wesen einer Stiftung, daß sie dem Staate nützlich
sey? Sultan Lolo's Stiftungen mußten gerade die entgegengesetzte Wirkung
thun. Hätte er seine Derwischen und seine Katzen ihrem Schicksal
überlassen, so ist Hundert an Eins zu setzen, jene hätten arbeiten müssen,
und diese Ratten gefangen, und so hätten beide dem Staat Dienste
gethan. Welch ein Einfall, sie fett zu machen, da sie müßig gingen!
Gleichwohl was die Katzen betrifft, möcht' es noch hingehen; ihr Fett ist
doch zu etwas nütze. Aber Derwischenfett! Was soll man mit Derwischenfett
anfangen? | Geschichte der Thorheit 364. Theil, S. 538. | S. 6. Z. 13. Schach Dolka — brachte es durch unermüdeten
Fleiß u. s. w. — Wir können nicht umhin, die Anmerkung
zu machen, daß die Neigung sich zu beschäftigen und ein anhaltender
Fleiß unter die seltensten und schätzbarsten schätzbarsten Tugenden gehören, die ein
großer Herr besitzen kann. Nur um dieser willen verdient, unsers Erachtens,
Schach Dolka einen Platz unter den besten Fürsten, die jemals
den Thron gezieret haben. Was hätte er erst verdient, wenn er diesen
unverdrossenen Fleiß auf die Ausübung seiner königlichen Pflichten zu
verwenden hätte geruhen wollen? — Seiner königlichen Pflichten? —
Gegen wen? Wo hätte Schach Dolka hernehmen sollen, daß ein König
Pflichten habe? Anm. des Lat. Uebers.S. 8. Z. 9. Pilpai — s. Bd. 3.S. 13. Z. 15. Peris — s. die Abhandlung über romantische
Poesie Bd. 12.—————
Statt der übrigen Anmerkungen zu dieser Einleitung will ich hier
eine Erklärung der häufig vorkommenden orientalischen Namen in alphabetischer
Ordnung geben, wodurch jede weitere Nachweisung erspart wird.Braminen heißen die Priester in Indien, nach Brama, dem
ältesten der Götter in der Indischen Dreieinigkeit. Man unterscheidet
in ihrem Leben vier verschiedene Stände (Brahmakari, Grahasta, Vanaprasta
und Bhikschu.) Der erste Stand ist der des Schülers, wo er in
dem Hause eines älteren Braminen, unter anderen, in Erfüllung der
heiligen Gebräuche geübt wird, und so lange bleibt, bis er die Vedas
(heiligen Bücher) vollständig erlernt hat. Nun tritt er in den Hausvaterstand,
worin er sich täglich beschäftigt mit Lesen der Schrift, Feierung
der fünf großen Sakramente und mehreren Opfern. Er kann von
Almosen oder Ackerbau leben, und, wenn sein Sohn erwachsen ist, in
den dritten Stand übertreten, den des Einsiedlers, der in einem Wald
oder einsamen Ort nur sein Feuer- und Opfergeräth mitnimmt. Haar
und Nägel läßt er wachsen, lebt nur von grünen Kräutern, Wurzeln
und Früchten, soll sich eine vollkommene Herrschaft über seine Sinnen
erwerben, und seine Gedanken immer auf das höchste Wesen richten.
In den vierten Stand, den des Sanyassi, nimmt er nur seinen Wassertopf
und seinen Stab mit in seine Abgeschiedenheit, läßt jedes irdische
Verlangen, ja die Sprache selbst zurück. Er hat keine Wohnung, in
den höchsten Geist vertieft, ohne Gesellschafter als seine eigne Seele,
die sich lediglich beschäftigt mit den Wanderungen der menschlichen
Seelen, ihrem Hinabsturz in die Finsterniß, und dem untheilbaren
Wesen des höchsten Geistes. Durch Verachtung des Lebens und gänzliche
Gleichgültigkeit gegen die Schmerzen, behaupten sie, komme man hier
schon in den Zustand der Wonne.Derwisch heißt im Persischen und Türkischen ein Armer, wie im
Arabischen Fakir. Man bezeichnet mit diesem Namen muselmännische
und Indische Mönche verschiedener Art, die sich von einander durch Kleider
von verschiedener Form und Farbe unterscheiden. Der Persische Dichter
Saadi, der selbst ein Derwisch war, sagt, das Aeußere eines Derwisch
bestehe in einem zerrissenen Rock und übel gekämmten Haaren, sein Inneres
aber in einem lebhaften, aufmerksamen Geist und Ertödtung der
Begierden des Fleisches. Daß es viele darin nicht sonderlich weit gebraut
haben müssen, um daß es ihnen kein rechter Ernst darum ist,
ersieht man aus Saadi selbst. Man kann sie, sowohl nach dem Geist
ihrer Stiftung als ihrer Entartung, mit den Cynikern vergleichen, und
hat ihnen auch zehn Eigenschaften von dem Hunde zugeschrieben.Divan, höchster Staatsrath an orienialischen Höfen. Andere Bedeutungen,
welche dieß Wort noch hat, kommen hier nicht vor.Fakir, in mehreren Ländern, besonders in den ehemaligen Staaten
des Gross-Moguls, eben das, was anderwärts Derwisch.Huris, die Mädchen in Muhameds Paradies, aus dem reinsten
Moschus erschaffen, von glänzender Gestalt und ewigblühender Jugend.
Jeder Rechtgläubige erhält deren 77, die Evangelisten, Khalifen und
Heiligen eine weit größere Anzahl. Ein Augenblick des Vergnügens
dehnt sich zu einem Zeitraum von tausend Jahren aus, und die Genußfähigkeit
wird hundertfältig vermehrt.Iman (Imam), im Allgemeinen die Person, die dem Gottesdienst
in jeder Moschee vorsteht, vorzugsweise das geistliche und weltliche Oberhaupt
der Muslimin. Ueber das Recht zu dieser Oberstelle ist unter den
Moslemin nicht weniger gestritten worden als über die Ansprüche des
Papstes unter den Christen. Sultans und Khalifen haben sich dieser
Oberstelle bemächtigt. Die Perser behaupten die Rechtmäßigkeit dieser
Oberstelle nach der Abfolge von Ali, und in diesem Sinne wird von
zwölf Imams gesprochen, deren Abfolge von Ali gewiß ist.Itimadulet. Allgemeiner Name der ersten Minister der Indostanischen
Könige der Zeiten, wovon hier die Rede ist.Kalender, eine Art von Derwischen in der Türkei und Persien,
die aber in noch schlechterem Ansehen stehen. Besonders wegen Völlerei,
Ausschweifung und betrüglicher Habsucht stehen sie in bösem Rufe.Lamas heißen die Tibetanischen Priester, deren Oberhaupt der
Dalai-Lama, die geistliche und weltliche Macht in sich vereinigt. Sein
Reich ist ein Kirchenstaat, und er unserm Papste zu vergleichen. Er
stirbt nicht, denn die Gottheit wechselt nur mit den Körpern derselben.Mandarinen pflegt man in Europa die Staatsdiener des Chinesischen
Reiches zu nennen, die bei den Eingebornen Quoan heißen.
Es gibt deren zwei Arten, Civil- und Kriegs-Staatsdiener, deren jede
wieder in verschiedene Classen eingetheilt sind.Mirza (zusammengezogen aus Emir Sadeh) ist der Titel für hohe
Hofchargen bei den Tatarn.Mollah heißen in der Türkei die Oberrichter in Paschaliks (Provinzen)
oder Sandschaks (Kreisen). Unter ihnen stehen die Kadis (Stadt-Ort-Richter.Odalisken (Odas), heißen die Frauen des Sultans im Serail.Omra, die Großen am Hofe des Moguls.Pagoden, s. Bd. 3.Rajah (Radschah), Titel der Fürsten in Indien, die von den alten
Königen vor Eroberung der Mongoln abstammen. Nach jener Eroberung
wurden sie meist Vasallen des Gross-Moguls; seit dessen Reich zerfiel,
sind viele wieder freie Fürsten, andere aber Vasallen der engländisch-ostindischen
Compagnie.Santon, Einsiedler unter den Türken und Mauren; meist Blöd-
oder gar Wahnsinnige, die entweder ganz nackt einhergehen, oder mit
Federn und Lumpen phantastisch behängt sind. Sie führen ein unstetes
Leben und kommen nicht selten in Städte, wo sie, besonders von Weibern,
als Heilige verehrt werden. Auch sie scheinen das Geheimniß gegen
Unfruchtbarkeit zu haben, und von demselben um so mehr Gebrauch
zu machen, da nicht bloß die Frauen, sondern auch die Männer sich
dazu Glück wünschen.Talapoinen, Priester, hauptsächlich in den benachbarten Ländern
Indiens, Siam, Laos und Pegu. Einige leben in Wäldern, andere
in Städten als eine Art von Mönchen. Sie leben von Almosen, aber
nicht kärglich, da man sie für Zauberer hält. Die Lehre des Fo scheint
sich bei ihnen am reinsten erhalten zu haben, und eben diese macht sie
zu Verwandten der Bonzen.1.S. 20. Z. 1. Scheschian; Tanzai; Schaumlöffel; Sogrenuzio
u. a. — s. die Anmerkung zur Einleitung. Außer dem erwähnten
Sofa, muß man sich hiebei noch an zwei andere Werke des
jüngeren Crebillon erinnern, nämlich an dessen Tanzai et Naedarne und
den Ecumoire (Schaumlöffel), Werke, welche die Franzosen selbst ouvrages
plus que libres nennen. Die Fee Moustache (gegen Marivaux gerichtet)
gehört demselben Schriftsteller an. Wie Wieland über alle diese
Schriften urtheilt, besagt die Einleitung. Wenn dort von dunkeln
Stellen darin die Rede ist, so bezieht sich dieß wohl darauf, daß Crebillon
wegen Tanzai und Neadarne in die Bastille gesetzt ward, weil
man die Originale der geschilderten Personen in Paris finden und erkennen
wollte.S. 20. Z. 18. So groß als das Reich Ihrer Majestät
— Die Wahrheit ist, daß es weit größer war; aber die schöne Tschirnkassierin
hatte zu viel Lebensart, um dem Sultan eine solche Unhöflichkeit
zu sagen. Beinahe so groß ist alles, was man in dergleichen Fällen
wagen darf.Anm. des Sines. Uebersetzers.S. 22, Z. 12. Die alten Scheschianer glaubten, daß
ein großer Affe u. s. w. — Man könnte aus diesem Umstand auf
einige Verwandtschaft der Scheschianer mit den Tibetanern schließen,
denn diese letzten behaupten, daß ihr Gott Cenresi mit der Göttin Kadroma
in Gestalt wilder Affen unsre Urväter erzeugt hätte.S. 23. Z. 13. Isanagi No Mikotto — war der siebente der
sieben himmlischen Geister, die in der Urzeit Japan nach einander beherrschten.
Seine Gemahlin war Jsanami No Mikotto. Bis auf diese
hatten bloß geistige Wesen existirt; sie aber wurden von dem Beispiel
des Vogels Intadaki oder Sekire, Steinschlager, zuerst zu einer nicht
geistigen Vereinigung gereizt und auf diese Weise die Erzeuger unsers
Geschlechtes. S. Kämpfer Beschreibung les Japan. Reiches Th. 1.
Cap. 7. §. 112.S. 25. Z. 2. Der König Dagobert — Die schone Nurmahal
oder ihre Chronik irrt sich in der Person. Wenn sie sich die
Mühe hätte geben wollen, den ehrlichen Gregor von Tours selbst nachzuschlagen,
so würde sie im sechsten Buche (wir erinnern uns nicht in
welchem Kapitel) gefunden haben, daß es der König Chilperich war;
wiewohl man gestehen muß, daß ihr, und dem Sultan Gebal, und
dem ganzen Indien, Dagobert und Chilperich völlig gleich viel seyn konnten.
Anm. des Lat. Uebers.S. 27. Z. 10. Die Brücke, die nicht breiter als ein
Scheermesser ist — Schon in der Religion Zoroasters ist die Rede
von einer schmalen Brücke (Tschinavad), welche in das Paradies leite:
an ihr stehen die Engel des Gerichts, die einen jeden prüfen und seine
Thaten wägen. Auch die Juden reden von solch einer Brücke, die nicht
breiter als ein Faden sey; Muhamed aber schilderte sie (al Siràt) seiner
als ein Haar, schärfer als die Schneide eines Schwertes und zu jeder
Seite mit Dornen und Stacheln besetzt. Ueber sie geht ein jeder nach
dem großen Tage des Gerichts, der Fromme mit wunderbarer Schnelligkeit
gleich dem Blitz oder Winde.S. 27. Z. 21. Wie die Frösche dem König Klotz —
S. Phädrus Fabeln Bd. 1. Fab. 2.S. 31. Z. 4 — 10. Eine allgemeine Muthlosigkeit
— — nahm — Verzweiflung ein — Hier, sagt der Sinesische
Uebersezer, habe ich eine Anmerkung des indischen Herausgebers dieses
Werkes gefunden, die ich mich nicht entschließen kann auszulassen, ungeachtet
meine Leser keinen unmittelbaren Gebrauch davon machen können.
Ich wünschte, sind die Worte des Indiers, daß alle unsre Großen und
Edeln dieser Periode (von den Worten Eine allgemeine u. s. w. bis zu
Verzweiflung ein) die Ehre anthun möchten, sich derselben zu Prüfung
der Fakiren, denen sie ihre Sohne anvertrauen wollen, zu bedienen.
Sie haben dazu weiter nichts nöthig, als dem Fakir die Periode vorzulegen,
und sich eine Erklärung derselben, die Entwicklung der darin
enthaltnen Begriffe und Sätze von ihm auszubitten. Allenfalls könnten
sie, um ihrer Sache desto gewisser zu seyn, einen Philosophen von unverdächtigen
Einsichten mit zu dieser Prüfung ziehen. Versteht der Fakir
die Periode: nun, so sey es denn! Versteht er sie nicht oder räsonnirt
er darüber wie ein Truthahn: so können sich Ew. Excellenzen, Gnaden,
Hoch- und Wohlgeboren u. s. w. darauf verlassen, daß er ein vortreffliches
Subject ist, wenn Ihre Absicht dahin geht, daß Ihr Sohn nicht
zu gescheidt werden solle.2.S. 36. Z. 14. Wenn er den Wein weniger geliebt
hätte — Es bedarf kaum der Anmerkung, daß Schach-Gebal der
nüchternste Sultan seines Jahrhunderts und ein tödtlicher Feind der
Trunkenheit an andern war. Seine Feinde haben nicht unterlassen,
auch von dieser Tugend, welche sie ihm nicht absprechen konnten, wenigstens
den Werth zu verringern, indem sie ihr alles raubten, was sie
hätte verdienstlich machen können. Aber wir finden nicht nöthig, die Wirkung
ihrer Bosheit durch Anführung ihrer unartigen Vermuthungen
fortzupflanzen. Der arme Schach-Gebal besaß nicht so viel Tugenden,
daß es billig seyn könnte, ihm auch die wenigen, die er besaß, zweifelhaft
machen zu wollen. Anm. des Sines. Uebers.S. 38. Z. 23. Das Lob der Bonzen — von Herzen
ging — Gewissen sinnreichen Köpfen zum Besten müssen wir hier eine
dreifache Anmerkung machen: nämlich erstens, daß die Worte Bonze,
Fakir und Derwisch, so oft sie in dieser Geschichte vorkommen, allezeit
in der engsten Bedeutung genommen werden, und weiter nichts bedeuten,
als Bonzen, Fakirn und Derwischen, zweitens, daß Danischmend
hier nicht von allem Verdacht einer schmeichlerischen Gefälligkeit gegen
die unbillige Denkungsart eines Herrn freigesprochen werden könne; und
drittens, daß die angebliche Demonstration des Sultans sich augenscheinlich
auf einen Trugschluss gründet, und also die Bonzen, (welche
wir übrigens vertheidigen zu wollen weit entfernt sind) keineswegs
treffen könne. Anm. des Lat. Uebers.Gleichwohl konnte, alles wohl erwogen, dem Sultan nicht zugemuthet
werden, anders zu schließen. Er schloß so: meine Bonzen reden
übel von mir, und ich mache mir eine Ehre aus ihrem Tadel; also
ist ihr Lob unrühmlich: denn wär' es rühmlich, so wäre mir's Schande,
es nicht zu verdienen. Nun ist dieß aber ein Gedanke, den ich nicht
leiden kann; er ist also falsch; und was von mir gilt, das gilt auch
von Ogul Kan: denn erweise ich ihm nicht die äußerste Ehre die nur
möglich ist, wenn ich ihn für meinesgleichen gelten lasse? — Diese
Art zu schließen läßt sich freilich weder durch die Logik des Aristoteles
noch der Herren von Port-Royal rechtfertigen. Aber seit die Welt in
ihren Angeln geht, hat die Eigenliebe nie bessere Schlüsse gemacht. Anm.
des Deutschen Uebers.3.S. 52. Z. 16. Perise — Peri, s. oben.4.S. 66. Z. 8. Beduinen (Bedewi)— heißen die Araber der
Wüste, die nicht in Städten, sondern in Zelten wie in einem Lager
leben, das sie leicht abbrechen können. Ihre Wohnplätze verändern sich
daher öfters. Sie leben von Viehzucht, zuweilen auch von Plünderung
der Reisenden.S. 68. Z. 13. Estrade — erhöhter Platz, Auftritt.S. 68. Z. 14. Drei Bilder von weißem Marmor.
Wer erräth nicht, daß von den Grazien die Rede ist?S. 72. Z. 21. Der Weise versagt sich zuweilen ein
gegenwärtiges Vergnügen — Diese Periode sagt beinahe mit
den nämlichen Worten, was Xenophon seinen Cyrus im 1. Buch der
Chropädie (p. m. 52) sagen läßt. Vielleicht hat Psammis diese Stelle
wirklich im Sinne gehabt. Wenigstens ist dieß nicht die einzige, aus
welcher sich erweisen ließe, daß seine Moral ächte Sokratische Moral ist.5.S. 89. Z. 16. Mit Fleiße, dessen keine weichliche
Seele fähig ist. — Wiewohl nicht zu läugnen ist, daß der Iman
hier einige Wahrheiten oder Halbwahrheiten vorbringt, so können wir
doch nicht nnangemerkt lassen, daß dieser letzte Satz ganz falsch ist. Solon,
Pisistratus, Alcibiades, Demetrius Poliorcetes, Julius Cäsar,
Antonius und zehntausend andere Beispiele haben zu allen Zeiten das
Gegentheil bewiesen. Aber freilich mochte dieser Iman, wie viele seinesgleichen,
nicht sonderlich in der Geschichte bewandert seyn. Anm.
des Lat. Uebers.S. 91. Z. 17. Dely, Delhi, Deheli, Delli, — Provinz
in Indien mit der Hauptstadt gleiches Namens, welche die Residenz des
Groß-Moguls war.6.S. 105. Z. 6. Sie in dem edlen Werke der Entkörperung
zu stören — Es ist aus den Reisebeschreibungen und Missionsnachrichten
bekannt, daß das Institut der Derwischen sowohl als der
Bonzen und Talapoinen sich aus eine aftermystische, schwärmerische
Moral gründet, deren Thorheit in den Berichten unserer Missionarien
häufig gerüget wird. Die strengern unter den Bonzen haben bei ihren
Andachtsübungen und Kasteiungen nichts Geringer's im Sinne als Pagoden,
d. i. Götter nach ihrem Tode zu werden: Anm. des Latein. Uebers.7.S. 114. Z. 21. Das Gedächtniß —— nicht überladen
werden — Wofern Danischmend sich hier nicht überzählt hat, so ist
wenigstens zu vermuthen, daß die meisten Fürsten alsdann, wenn der
Tod im Begriff ist die Gleichheit zwischen ihnen und dem geringsten
ihrer Unterthanen wieder herzustellen, so denken wie Ludwig VI. von
Frankreich, da er sterbend zu seinem jungen Thronfolger sagte: vergiß
niemals, mein Sohn, daß die königliche Autorität nur ein öffentliches
Amt ist, wovon du nach deinem Tode (Gott und der Nachwelt) eine genaue
Rechnung abzulegen hast. Anm. des Lat. Uebers.S. 115. Z. 17. Weil sie die meiste Gewalt über sein
Herz hatten — Das Vertrauen eines Fürsten zu einem Minister,
für welchen er keine besondere persöniliche Zuneigung hat, macht ordentlicher
Weise (denn es gibt auch hier Ausnahmen) sowohl dem Fürsten
als dem Minister Ehre. Es beweiset bei diesem vorzügliche Verdienste,
bei jenem die Fähigkeit, sie zu schätzen, und die königliche Tugend, seine
Privatneigungen dem Nutzen des Staates nachzusetzen. Anm. des Sinesischen
Uebers.8.S. 119. Z. 19. Seine gierigen Blicke — — Augen
weiden — Dieses Bild erinnert uns an eines der vollkommensten
Gemälde des Tasso, auf welches man diese Stelle für eine Anspielung
halten würde, wenn Nurmahal nicht etliche Jahrhunderte früher gelebt
hätte als der wälsche Dichter. | Ecco tra fronde e fronde il guardo avanti
Penetra e vede, o pargli di vedere:
Vede pur certo il vago e la diletta,
Ch' egli è in grembo a la donna, essa a l'erbetta:
Ella dinanzi al petto hà il vel diviso
E'I crin sparge incomposto al vento estivo
Langue per vezzo, e'l suo inflammato viso |
| Fan biancheggiando i bei sudor più vivi.
Qual raggio. in onda, le scintilla un riso
Ne gil umidi occhi tremulo e lascivo,
Sovra lui pende ed ei nel grembo molle
Le posa il capo e'l volto attolle. |
| E i famelici aguardi avidameute
In lei pascendo si cosuma e strugge, etc.Goffredo. C. XVI, 17. 18. 19. |
| Und durch das Laub der dunkeln Schattengänge
Dringt jetzt der Blick, sieht oder glaubt zu sehn,
Sieht wirklich dort der Liebenden Gekose,
Er ruht in ihrem Schooß, sie ruht im Moose. |
| Der laue West theilt ihres Busens Schleier
Und wühlt im Haar, das um den Nacken schwebt,
Sie schmachtet sanft und ihrer Wangen Feuer
Bleicht holder Schweiß, der ihr Gesicht belebt;
Indeß ein Lächeln, wie im klaren Weiher
Des Mondes Strahl, im feuchten Auge bebt.
Sie beugt sich über ihn, der seine Augen
Voll Glut erhebt, die Schönheit einzusaugen. |
| Und lechzend, selbst im Rausche der Genüsse,
Schmilzt er dahin in süßen Phantasien.Uebers. von Gries. | S. 132. Z. 21. Die Ueppigkeit der Abassiden — Vermuthlich
sind die Kalifen Harun Al Rasschid, und sein Sohn Almamon hier gemeint,
unter welchen, wie bekannt ist, die Griechischen Wissenschaften
und Künste in das Saracenische Reich verpflanzt wurden.Anm. des Lat. Uebers. 9.S. 139. Z. 18. Verderbliche alte Gewohnheit — Die meisten
alten Gewohnheiten sind verderblich, bloß weil sie alte Gewohnheiten
sind. Sie mochten zu ihrer Zeit, unter gewissen Umständen, gut oder
doch zu rechtfertigen seyn; aber diese Umstände haben aufgehört, und die
Gewohnheit, welche dennoch fortdauert, wird schädlich. Daher ist überhaupt
nichts so albern als das gewöhnliche Geschrei der Dummköpfe über
Neuerungen.S. 142. Z. 16. Worin Kleopatra — — bezauberte —
Antonius war durch die gewonnene Schlacht bei Philippi Herr des
Orients geworden, und in Cilicien sollten ihm Asiens Könige huldigen.
Da erschien auch die Königin von Aegypten, Kleopatra. Am Fuße
des Cydnus angelangt bestieg sie ein Schiff, dessen Hintertheil von
Goldblech blitzte, womit es belegt war; die Segel waren von Purpur,
die Ruder von Silber. Auf dem Verdeck war ein Zelt von Goldstoff
aufgeschlagen, und darunter ruhte Kleopatra im Costume der Venus,
zu deren Seiten Grazien, Nereiden und Liebesgötter spielten. Statt
der Trompeten erschollen zärtliche Melodien von Flöten, in den Pausen
von dem abgemessenen Taktschlag der Ruder unterbrochen. Um alle
Sinnen zugleich zu ergötzen, wurde in einer Menge kostbarer Gefäße
das süßeste Räucherwerk angezündet. Dem Antonius kostete dieser Anblick
nicht weniger als die Herrschaft der Welt, seinen Ruhm und sein
Leben.10.S. 154. Z. 12. Allem diesem Elende zuvorkommen —
Dieses Zuvorkommen ist ein Wort von wichtiger Bedeutung, welches
wir den Großen zu gelegentlichem Nachdenken bestens empfehlen.
Wenn sie (sagt unser göttlicher Confucius solchen Uebeln, die sich
durch menschliche Klugheit nicht vorhersehen lassen, mit Hülfe entgegen
eilen, sobald sie von dem Daseyn derselben benachrichtiget sind:
so ist dieß in solchen Fällen alles, was man von ihnen fordern kann.
Aber es gibt eine Menge unglücklicher Zufälle, welche sich errathen
lassen, und Uebel, welche man mit Gewißheit vorhersagen kann, weil
sie die nothwendigen Folgen unsrer eigenen Begehungen oder Unterlassungen
sind. Diesen erst alsdann abzuhelfen suchen, wenn sie den
größten Theil ihrer schädlichen Wirkungen schon gethan haben, ist das
Betragen einer unweisen Obrigkeit. Es ist die Schuldigkeit unsrer
Obern, sollen Uebeln zuvorzukommen; und eben darin liegt eine von
den wesentlichsten Ursachen, warum man Obrigkeiten vonnöthen hat."Anm. des Sines. Uebers. S. 158. Z. 18. Die alten Aegyptier stellen uns hierin
ein Beispiel dar — Der Indische Verfasser spricht hier der herrschenden
Meinung gemäß, nach welcher man sich ich weiß nicht welchen
seltsamen Begriff von der Weißheit der Aegyptier macht, weil dieses
Volk (wenn man das Sinesischen ausnimmt*) das erste war, welches
Gesetze, Religion und Sitten hatte. In dieser Voraussetzung hat man
freilich Ursache, sich zu wundern, wie eine so weise Nation so unweise
habe seyn können. Aber würde es nicht einer natürlichen Art zu schließen
gemäß seyn, wenn wir sagten: ein Volk, welches fähig war, Kälber,
Affen und Krokodile anzubeten, u. s. w. war kein weises, sondern
ein sehr albernes Volk. Freilich hörte dann die Gelegenheit sich
zu wundern auf; und viele Leute finden ein so großes Behagen daran,
wenn sie den Mund aufreißen und sich wundern können.Anm. des Sines. Uebers. Die größten Kenner der Aegyptischen Alterthümer wissen, im Grunde,
bei aller ihrer Belesenheit und Scharfsinnigkeit nicht viel mehr davon
als andere. Ihre Hypothesen sind daher auch eben der Hinfälligkeit
unterworfen, welche von jeher das Schicksal der wissenschaftlichen Hypothesen
gewesen ist. Vor wenig Jahren bewies man uns, daß die
Sinesen von den Aegyptiern abstammen: nun hat uns Herr von P.
bewiesen, "daß weder diese von jenen noch jene von diesen abstammen;"
und so gewinnen wir doch viel dabei, zu wissen, daß wir nichts von der
Sache wissen; und dieß ist, nach dem Urtheil des weisen Sokrates, immer
viel gewonnen.S. 159. Z. 12. Ein heiliges Dunkel — einzudringen —
Danischmend scheint hier die berühmte Inschrift vor Augen gehabt zu
haben, welche zu Sais im Tempel der Isis gelesen wurde: "Ich bin
alles was ist, was war und was seyn wird; und meinen Schleier hat
noch kein Sterblicher aufgedeckt," In diesem Falle hat er Unrecht gehabt,
nicht zu empfinden, daß uns diese Inschrift von der unermesslichen
Größe und der majestätischen Unbegreiflichkeit der Natur das erhabenste
Bild gibt, das jemals in der Seele eines Sterblichen entwarfen worden
ist.S. 159. Z. 20. Einen Elephantenzahn oder das Horn
eines Ziegenbocks anrufen zu hören — Von der Wahrheit
des seltsamen Aberglaubens, den die Mohren mit ihren Fetischen
oder Schutzgöttern treiben, kann sich, wer daran zweifeln sollte, aus
der Allgemeinen Geschichte der Reisen, und aus der gelehrten Abhandlung
von de Brosses du culte des Dieux fetiches (übersetzt von Pistorius)
überzeugen. Uebrigens können wir diese Reflexionen des Philosophen
Danischmend nicht ohne eine Anmerkung lassen. Der Satz, daß keine
Nation an dem Platz und in den Umständen welches andern Volks
man will viel klüger als dieses andere Volk seyn würde, scheint seine
unzweifelhafte Richtigkeit zu haben: und wenn man keinen andern
Gebrauch davon macht, als den unbescheidenen Stolz einiger Völker
auf Vorzüge, welche nichts weniger als das Werk ihrer eignen Weisheit
sind, dadurch zu demüthigen, und sie empfinden zu machen, wie
sehr eine gegenseitige Duldung, auch aus diesem Gesichtspunkte betrachtet,
in der natürlichen Billigkeit gegründet sey; so scheint er unter
die Wahrheiten zu gehören, an welche es nützlich ist die Menschen zuweilen
zu erinnern. Allein es ist in unsern Tagen gewöhnlich worden, von
eben diesem Satze mittelst gewisser Wendungen einen sehr schlimmen Gebrauch
zu machen. Man hat daraus folgern wollen, die verschiedenen
Völker hätten keine andern als subjective Gründe, ihres verschiednen Glaubens,
und alle Religionen könnten daher als gleichgültig angesehen werden,
oder es schicke sich für keinen weisen Mann, sich für irgend eine
Religion mehr zu interessiren, als in so weit es die Gesetze seines Landes
und seine übrige Convenienz erforderten. Diese verderblichen Grundsätze,
welche beinahe zu allen Zeiten die Religion eines großen Theils der Weltleute
ausgemacht haben, sind indessen nichts weniger als nothwendige
Folgen aus der Reflexion des weisen Danischmend. Eine Religion aus
allen kann nichtsdestoweniger, aus innerlichen sowohl als äußerlichen
überzeugenden Beweisgründen, die wahre seyn, oder, unbetrugliche Kennzeichen
eines göttlichen Ursprungs haben: und da wir Christen mit dem
größten Grade der Gewißheit behaupten können, daß unsre Religion
wirklich die einzige sey, welche mit allen diesen Kennzeichen versehen ist,
so sind wir nicht nur wohl berechtiget, sondern schlechterdings verbunden,
alle übrigen, in so weit sie der unsrigen entgegenstehen, für irrig und
verwerflich zu erklären. Die Betrachtung, daß wir z. B. in den Umständen
der alten Aegyptier oder unsrer eigenen abgöttischen Vorfahren
eben so abgöttisch und abergläubisch als sie gewesen seyn würden, kann
und soll also, vernünftiger Weise, zu nichts anderm dienen, als einestheils
uns Mitleiden mit den Gebrechen der Menschheit und Nachsicht
gegen die Irrenden und Verführten einzuflössen; anderntheils uns zu
Gemüthe zu führen, daß wir es nicht den Vorzügen unsers Verstandes,
sondern bloß der göttlichen Güte beizumessen haben, daß wir so glücklich
sind, eine reinere Erkenntniß des höchsten Wesens und (wie der H. Paul
sagt) einen vernünftigen Gottesdienst vor so vielen andern Völkern des
Erdkreises zu besitzen. Anm. des Latein. Uebers.S. 170. Z. 11. Einfältige Religion der Tataren —
Siehe den Auszug aus des Marko Polo Reisen in der Allgem. Hist. der
Reisen Th. VII. S. 472. Auch die Religion der Mantscheouischen Tatarn
kommt in der Hauptsache mit dieser überein. S. Du Halde Beschreib.
des Sines. Reichs, Tb. IV. S. 37. W.S. 172. Z. 7. Gedanken und Träume sollen in meinem
Reiche frei seyn — Wenn man von einem rohen Tatarischen Heerführer,
wie Ogul-Kan war, Belesenheit vermuthen könnte, so sollte
man glauben, daß hier eine Anspielung auf den Tyrannen Dionysius
von Syrakus wäre, der den Marsyas, einen seiner Staatsbedienten,
hinrichten ließ, weil diesem Marsyas geträumt hatte, er habe dem
Tyrannen die Kehle abgeschnitten. S. Plutarch im Leben Dions,
Tom. V. p. 167. edit Londin, de 1724. Plutarch gibt zum Grunde dieses
strengen Verfahrens an: Dionysius habe geglaubt, Marsyas würde
schwerlich so gefährlich geträumt haben, wenn er nicht wachend mit dergleichen
Gedanken umgegangen wäre; und Montesquieu findet diesen
Grund (wenn der unbündige Schluß, auf den er sich stützt, auch richtig
wäre) nicht hinlänglich, das Verfahren des Dionysius zu entschuldigen.
Esprit des Lois Tom. I, L. XII. ch. XI. Der Gedanke, sagt er, müßte,
um strafbarer zu werden, mit irgend einer Handlung verbunden gewesen
seyn. Aber dieß war eben die Sache. Woher kannte Dionys
wissen, was Marsyas träumte? Marsyas hatte seinen Traum erzählt;
und dies schien, entweder einen bösen Willen gegen den Fürsten, oder
doch einen Grad von Unvorsichtigkeit vorauszusetzen, den ein so argwöhnischer
und furchtsamer Fürst, wie Dionysius war, strafwürdig finden
mußte. Es war ihm daran gelegen, den Syrakusern zu zeigen, daß
man sich auch sogar im Traume nicht ungestraft an seiner Person vergreifen
könne. W.S. 176. Z. 11-13. Waffen — welche sie gegen Witz und
Vernunft gebrauchen konnten — Die Geschichte der außerordentlichen
Bemühungen, welche Jamblichus, Plotinus, Porphyrius und
ihre Anhänger in einer Art von Verzweiflung fruchtlos angewandt, dem
unterliegenden Heidenthum gegen die siegreiche Uebermacht der christlichen
Religion zu Hülfe zu kommen, ist das vollständigste Beispiel, das
uns die Historie an die Hand gibt, um den Charakter und das Betragen
der Bonzen von Scheschian in einem gewissermaßen ähnlichen
Falle zu erläutern. Was ließen diese von dem seltsamsten Eifer glühenden
Schwärmer unversucht, um wenigstens die letzten Augenblicke des
sterbenden Aberglaubens zu verlängern? Orakel, Wunder, wiederkommende
Seelen, alles, was außerordentlich war wurde ausgeboten;
Pythagoras und Apollonius wurden zu göttlichen Männern und Theurgen
erhoben, um sie mit einigem Schein dem großen Stifter der wahren
Religion entgegen zu setzen. Das ganze Heidenthum wurde umgeschmolzen,
die ungereimtesten Fabeln zu allegorischen Hüllen der erhabensten
Wahrheiten gemacht, und das Werk des Betrugs und des Aberglaubens
in eine Theosophie verwandelt, deren Entdeckungen und Versprechungen
einen blendenden Glanz von sich warfen, und unbehutsame Gemüther
durch den Schein eines göttlichen Ursprungs tauschten. Man belegte
die christlichen Weisen, welche allen diesen Blendwerken Vernunft entgegensetzten,
mit dem verhaßten Namen der Freigeister und Atheisten;
kurz, man wagte in der Verzweiflung Alles. Aber vergebens traten
Aberglauben, Schwärmerei und Philosophie in ein unnatürliches Bündniß;
die Wahrheit siegte, und eben dieser Sieg bewies, daß sie Wahrheit
war. Anm. des Lat. Uebers.S. 182. Z. 15-18. Beispiele, daß etwas Ungereimtes
aufgehört hat ungereimt zu seyn — Ein sehr nachdrückliches
Beispiel hiervon ist der Satz, daß es Antipoden oder Gegenfüßler gebe,
welcher dem Bischof zu Salzburg Virgilius (wofern es nicht ein andrer
Virgilius war, wie aus einigen Umständen sich vermuthen läßt) so
schlimme Händel machte. Diese Lehre war so unerhört und dem damaligen
gemeinen Menschenverstande so anstößig, daß selbst die weisesten
Männer sich nicht darein finden konnten. "Man legte es ihm so aus
(sagt Aventinus in seinen Bayerischen Jahrbüchern), als ob er eine andre
Welt, andre (das ist vermuthlich nicht von Adam und Eva entsprungne)
Menschen, eine andere Sonne und einen andern Mond behaupte. Bonifacius
widerlegt diese Sätze als gottlos und der christlichen Philosophie
entgegenlaufend bestraft Virgilen deßwegen öffentlich und absonderlich,
verlangt von ihm, daß er diese albernen Kindereien (Naenias) widerrufe,
und die einfältige und lautere Weisheit des Christenthums nicht länger
mit dergleichen unsinnigen Träumen beflecke." Der damalige Papst Zacharias,
vor welchen diese Sache, ihrer vermeintlichen Wichtigkeit wegen,
gebracht wurde, sah sie nicht mit gelindern Augen an als Bonifacius.
Er nennt die Lehre von andern Menschen unter der Erde eine verkehrte
Lehre, welche Virgilius gegen Gott und seine Seele ausgesprochen
habe: und muthet in sehr ernstlichen Evocatoriis dem Herzog Utilo zu
(der, wie es scheint, den guten Virgil in seinen Schutz genommen
hatte), den gefährlichen Mann nach Rom zu senden, damit er aufs
schärfste examinirt, und, wenn er seines Irrthums überwiesen worden
wäre, nach den kanonischen Gesetzen gestraft werden könne. Baron. ad
annum 748. Uns dünkt nicht, daß man hinlängliche Ursache habe, den
ehrwürdigen Bischöfen, welche diese Antipodensache mit so vieler Strenge
behandelt haben, deßwegen so häßliche Vorwürfe zu machen, als viele
gethan haben. Man hat nicht einmal vonnöthen, zu ihrer Entschuldigung
die Wendung zu gebrauchen, deren sich der berühmte Augsburgische
Patricier, Marx Welser, in seiner Bayerischen Geschichte bedient, nämlich
zu sagen: daß diejenigen, welche den Virgilius behaupten gehört,
die Erde sey rund und auch auf der andern Halbkugel bewohnt u. s. w.,
seine Meinung unrecht verstanden, und sie also dem heil. Bonifacius
fälschlich hinterbracht hätten. Es ist genug, daß in den damaligen Zeiten
das allgemeine Vorurtheil, selbst der Gelehrten, in dem Begriffe von
Antipoden etwas höchst Ungereimtes fand. Lange zuvor hatte Kosmas
der Indienfahrer, ein Aegyptischer Mönch, in seiner christlichen Topographie
(welche uns Montfaucon im zweiten Theile seiner Sammlung
Griechischer Kirchenscribenten geliefert hat) versichert, daß die Erde platt
sey, und das himmlische Gewölbe an ihren äußersten Enden aufstehe.
Dieß war zu einer Zeit, wo das Studium der Natur als eitel und
profan gänzlich vernachlässiget wurde, die allgemeine Meinung; und ein
Satz, wie der, den Virgilius behauptet haben soll, mußte nothwendig
frommen Ohren anstößig seyn. Anm. des Lat. Ueb.S. 184. Z. 19. Mißbrauch — (der Freiheit) — Gegen irgend
einen Zweig der Freiheit von dem Mißbrauche, der davon gemacht werden
kann, argumetiren, ist eben so viel als gegen die Freiheit überhaupt
schließen; denn Alles kann gemißbraucht werden, sagt der weise
Verfasser der Lettera from a Persian in England, p. 158, W.S. 196. Z. 23. Unter Blitz und Donner stieg — — ein
großer blauer Affe herab — Wir wollen nicht hoffen, daß sich
jemand unter unsern Lesern in dem Falle befinden könne, in welchem
der ehrliche Klaus Zettel in Shakspeare's Mid-Summer-Nights-Dream
die Damen zu Athen zu setzen besorgt, wenn er, in dem Schauspiele
von Pyramus und Thisbe (welches er und seine Gesellen an dem
Hochzeitsfeste des Theseus aufführen wollen), als Löwe auf den Schauplatz
kommen, und seine furchtbare Stimme hören lassen würde. Ich
werde, spricht er, nicht ermangeln Ihnen zu sagen: erschrecken Sie
nicht, meine schönen Damen; ich bin kein wirklicher Löwe, wie Sie
etwan denken möchten, sondern wirklich und bei meiner Ehre Klaus
Zettel, der Weber, und ein Mann, der sich das größte Gewissen daraus
machen würde, das Herz einer schönen Dame zu betrüben. Aus eben
dieser Gemüthszärtlichkeit erklären wir aiso, auf allen Fall: daß dieß
Wetter womit uns Kalaf erschrecken will, bloß gemachtes Wetter
war. W.S. 203. Z. 9. Krieg der Kynopoliten und Oxyrinchiten —
Plutarch in seiner Abhandlung von Isis und Osiris. Juvenal macht uns
von einem ähnlichen Religionskriege zwischen den Ombiten und Tentyriten,
welcher daher entstand Quod numina vieimorum | Odit uterque locus, cum solos credat habendos
Esse Deos, quos ipse colit —— | in seiner fünfzehnten Satyre ein schreckliches Gemälde. Die eine dieser
Stätte überfiel die andere zur Zeit eines großen Festes, wo man sich
eines feindlichen Ueberfalls am wenigsten versah. Die Partie war sehr
ungleich, sagt der Dichter; die guten Ombiten waren wohl bezecht,
rosenbekränzt, von Salben triefend und vom Tanzen müde; ihre Feinde
hingegen desto erbitterter, weil sie nüchtern waren (hinc jejunum odium).
Der Anfang der Feindseligkeiten wurde mit Worten gemacht; von den
Worten kam es bald zu den Fäusten; auf beiden Seiten blieben wenig
Nasen unbeschädigt u. s. w. "Aber dieß (fährt der Dichter fort),
däucht den Unsinnigen nur ein Spiel; sie wollen nicht nur Blut, sie
wollen Leichen sehen. Man wirft also eine Zeit lang mit Steinen auf
einander; endlich ziehen die Tentyriten ihre Schwerter. Die Ombiten
fliehen in zitternder Verwirrung; die Furcht beflügelt ihre Flucht; nur
Einer hat das Unglück den erbosten Feinden in die Hände zu fallen;
dieser Unglückselige wird sofort in Stücke zerrissen und mit Haut und
Haar bis auf die Knochen aufgegessen. Sie nehmen sich nicht einmal
die Zeit ihn zu kochen, sie fressen ihn mit hungriger Gierigkeit roh
hinein; und wer glücklich genug ist, ein Stückchen von diesem abscheulichen
Fraß zu erwischen, glaubt niemals was Wohlschmeckender's gekostet
zu haben."—— Ob übrigens dieser Religionskrieg der Ombiten
und Tentyriten von jenem zwischen den Kynopoliten und Oxyrinchiten
(Oxyrrhinchiten) verschieden gewesen, oder ob nicht Juvenal vielmehr
den letztern unter dem Namen der erstern, weil sie besser in den
Vers passen, geschildert habe, wie Salmasius aus sehr gelehrten Gründen
vermuthet (in Solin. T, I. p. 317-21), ist eine Aufgabe, die wir
primo occupanti überlassen, wofern sie anders ihren Meister nicht schon
gefunden hat.Anm. d. Lat. Uebers. S. 205. Z. 2. Wenn der Menschenfreund in den Jahrbüchern
des menschlichen Geschlechts nichts findet, was
ihn befriedigen kann — Wiewohl unstreitig etwas Wahres an
diesem Gedanken des Philosophen Danischmend ist, so bleibt darum
auf der andern Seite nicht weniger wahr, daß die Geschichte, mit beobachtenden
Augen durchforscht, und mit philosophischem Blick aus erhabenen
Standpunkten übersehen, eine Quelle sehr nützlicher Kenntnisse
für den Bürger, für den Staatsmann, und selbst für den bloßen Weltbeschauer
ist. Ein gelassener und aufgeklärter Geist sieht durch das verworrene
Gewebe der menschlichen Thorheiten hindurch, und entdeckt in
dem Zusammenhang und in der stufenweisen Entwicklung der großen
Weltbegebenheiten den festen Plan einer alles leitenden höhern Weißheit;
er ergötzt, ermuntert und bessert sich bei dem Anblicke des
immerwährenden Kampfes der Tugend mit dem Laster, der Vernunft
mit den Leidenschaften, der Wahrheit mit dem Irrthum und Betrug,
der Wissenschaften mit der Unwissenheit, des Geschmacks mit der Barbarei,
und erkennt mit Anbetung die verborgene Hand des großen
Urhebers der Natur, der aus diesem ewigen Streit in den Theilen,
Ordnung und Harmonie im Ganzen hervorzubringen weiß. Die Geschichte
des menschlichen Verstandes, die Geschichte der Tugend, die Geschichte
der Religion, der Gesezgebung, der Künste, der Handelschaft, des Geschmacks,
des Luxus u. s. f. sind eben so viele fruchtbare Gegenden der
allgemeinen Geschichte, deren besserer Anbau die herrlichsten Vortheile
für die speculativen und praktischen Wissenschaften verspricht. Weit entfernt
also die Geschichtskunde gering zu achten, wünschten wir vielmehr,
es allen Studirenden, und überhaupt allen welche weiser und besser
zu werden wünschen, einleuchtend machen zu können, daß die Geschichte,
mit wahrer Sokratischer Philosophie verbunden, das höchste und wichtigste
Studium eines Menschen ist, der mehr als eine thierische Maschine seyn
will; und wir haben diese Anmerkung bloß darum beigefügt, um so
viel an uns ist zu verhindern, daß niemand einen unbescheidenen und
übertriebenen Hang zu Romanen und Feenmährchen mit dieser Stelle
des weisen Danischmend zu rechtfertigen vermeine. So gewiß indessen
der hohe Werth der Geschichtskunde ist, so ist doch nicht zu läugnen, daß
die gerümpfte Nase, womit gewisse Geschichtsforscher auf alles, was die
Form der Erdichtung hat, herabsehen, Unbilligkeit und lächerliche Pedanterei
ist. Den wenigen, denen ihr Beruf, zu erforschen was geschehen
ist, keine Erholungsstunden übrig läßt, ist es wohl zu gönnen,
wenn sie abgehärtet genug sind, die Abscheulichkeiten der Byzantinischen
Historie oder der Regierung einer Maria von England mit eben dem
kalten Blute zu lesen, womit ein Zeitrechner untersucht, in welchem
Jahre der Welt der König Misphragmuthosis zu Diospolis regiert habe.
Aber ihr Beispiel oder ihr Geschmack macht keine Regel; und empfindsame
Seelen werden — beim Anblick alles des Bösen, was auf diesem
Sonnenstaube, den wir bewohnen, Geschöpfe von einerlei Gattung
gethan haben, um einander ein Leben von etlichen Augenblicken zu
rauben oder zu verbittern — sich nur allzu oft genöthigt fühlen, mit
dem weisen Danischmend in die möglichen Welten der Dichter zu fliehen;
und sie können deßwegen hinlänglich gerechtfertiget werden, auch ohne
daß man den Platonischen Grundsatz, welchen Bakon von Verulam
zum Vortheil der Dichtkunst geltend macht, dazu vonnöthen hat, vermöge
dessen das, was wir hier nur als ein Erholungsmittel geben,
sogar zu einer sehr wesentlichen Beschäftigung wird.11.S. 213. Z. 7. 8. Walsingham und Sully — Wenn, wie
man vermuthen muß, hier Sir Franz Walsingham, Minister unter der
Regierung der Königin Elisabeth, gemeint ist, so steht er wohl nicht
mit vollem Rechte neben Sully. Er war ein weiser Staatsmann,
aber ein ränkevoller Mensch, der es auch nicht scheute dafür gehalten
zu werden. Mit welchem Rechte beide Staatsmänner in den Mund
von Danischmend kommen, bleibt des Lesers Entscheidung überlassen.—————
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