C. M. Wieland's
Werke.Sechster Band.Leipzig.G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.1853.
Buchdruckerei der J. G. Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart.Geschichte des Agathon.
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Quid Virtus et quid Sapientia possit
Utile proposuit nobis exemplum.
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Dritter Band.
Inhalt
des dritten Theils. Seite
Eilftes Buch. Agathon am Hofe des Königs Dionysius
von Syrakus.Erstes Cap. Agathon findet eine alte Bekanntschaft
wieder. Ein Bildniß des Dionysius im Geschmack Herrn Josua Reynolds 3
Zweites Cap. Vorläufige Entschließungen unsere Helden.
Charakter des Aristippus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9
Drittes Cap. Agathons erste Erscheinung am Hofe. . . . . . . . . . .17
Viertes Cap. Eine akademische Sitzung, wobei Agathon ein
neues Talent zu zeigen Gelegenheit hat. . . . . . . . . . . . . . . 21
Fünftes Cap. Dionysius läßt dem Agathon Vorschläge thun,
und bewilligt die Bedingungen, unter welchen dieser sich
entschließt, sein Gehülfe in der Regierung zu werden. . . . . . . . 30
Sechstes Cap. Einige Betrachtungen über das Betragen Agathons . . . 32
Zwölftes Buch. Agathons Staatsverwaltung; seine Fehler gegen alle
Hof- und Weltklugheit, und sein Fall.Ersten Cap. Etwas von Haupt-
und Staatsactionen. Betragen Agathons am Hofe des Königs Dionysius. 37
Zweites Cap. Geheime Nachrichten von Philistus. Agathon zieht sich
die Feindschaft des Timokrates durch eine Handlung zu, wodurch er
sich um Dionysios und um ganz Sicilien verdient macht. . . . . . . 48
Drittes Cap. Beispiele, daß nicht alles was gleißt Gold ist. . . . .56
Viertes Cap. Kleonissa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
Fünftes Cap. Eine Hofkomödie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
Sechstes Cap. Agathon begeht einen großen Fehler gegen die
Hofklugheit. Folgen davon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .76
Siebentes Cap. Eine merkwürdige Unterredung zwischen Agathon und
Aristippus.Entschließungen des Ersten, mit den Gründen für und wider83
Achtes Cap. Agathon verwickelt sich in einen Anschlag gegen
den Tyrannen, und wird in Verhaft genommen. . . . . . . . . . . . . 94
Neuntes Cap. Dermaliger Gemüthszustand unsers Helden . . . . . . . .98
Zehntes Cap. Agathon erhält einen sehr unvermutheten Besuch,
und wird auf eine neue Probe gestellt . . . . . . . . . . . . . . . 107
Eilfter Cap. Agathons Schutzrede für sich selbst, und Erklärung
auf den Antrag des Hippias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .121
Zwölftes Cap. Agathon wird wieder in Freiheit gesetzt, und
verläßt Sicilien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
Dreizehntes Buch Agathon kommt nach Tarent, wird in die Familie des
Archytas eingeführt, entdeckt in der wieder gefundenen Psyche seine
Schwester, und findet die schöne Danae wieder.Erstes Cap. Archytas
und die Tarentiner. Charakter eines selten Staatsmanns . . . . . . .141
Zweites Cap. Eine unverhoffte Entdeckung. . . . . . . . . . . . . . 151
Drittes Cap. Begebenheiten der Psyche . . . . . . . . . . . . . . . 159
Viertes Cap. Etwas das man vorhersehen konnte. . . . . . . . . . . .166
Fünftes Cap. Agathon verirrt sich auf der Jagd, und stößt in
einem alten Schlosse auf ein sehr unerwartetes Abenteuer. . . . . . 169
Sechstes Cap. Ein Studium für die Seelenmaler. . . . . . . . . . . .177
Siebentes Cap. Vorbereitung zur Geschichte der Danae. . . . . . . . 185
Vierzehntes Buch. Geheime Geschichte der Danae.Erstes Cap. Danae
beginnt ihre geheime Geschichte zu erzählen. . . . . . . . . . . . .192
Zweites Cap. Erste Jugend der Danae, bis zu ihrer Bekanntschaft
mit dem Alcibiades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .195
Drittes Cap. Alcibiades macht seine junge Geliebte mit Aspasien
bekannt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .207
Viertes Cap. Charakter des Alcibiades, von Aspasien geschildert.
Wie die Danae in Aspasiens Hause erzogen wird. . . . . . . . . . . .215
Fünftes Cap. Absichten des Alcibiades mit der jungen Danae. Er
umringt seinen Plan mit selbstgemachten Schwierigkeiten, und wird in
seiner eigenen Schlinge gefangen . . . . . . . . . . . . . . . . . .221
Sechstes Cap. Neue Kunstgriffe des Alcibiades. Eine Philippika
gegen das männliche Geschlecht, als eine Probe der Philosophie der
schönen Aspasia. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .231
Fünfzehntes Buch. Verfolg und Beschluß der geheimen Begebenheiten
der Danae.Erstes Cap. Erste Verirrung der schönen Danae. . . . . . .247
Zweites Cap. Danae und Cyrus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
Drittes Cap. Danae zu Smyrna. Beschluß ihrer Geschichte, mit dem
schönen Siege, den sie über Agathon erhält. . . . . . . . . . . . . 267
Sechzehntes Buch. Beschluß.Erstes Cap. Agathon faßt den Entschluß
sich dem Archytas noch genauer zu entdecken, und zu diesem Ende
sein eigener Biograph zu werden. . . . . . . . . . . . . . . . . . .279
Zweites Cap. Eine Unterredung zwischen Agathon und Archytas . . . . 285
Drittes Cap. Darstellung der Lebensweisheit des Archytas. . . . . . 299
Viertes Cap. Beschluß der Geschichte Agathons. . . . . . . . . . . .324
Geschichte des Agathon.Dritter Theil.
Eilftes Buch.
Agathon am Hofe des Königs Dionysius von Syrakus.
Erstes Capitel.
Agathon findet eine alte Bekanntschaft wieder. Ein Bildniß des Dionysius
im Geschmack Herrn Josua Reynolds.
Agathon erfuhr die hauptsächlichsten Begebenheiten, welche
den Inhalt des vorhergehenden Kapitels ausmachen, bei einem
großen Gastmahle, welches sein Freund der Kaufmann gab,
um seine Ankunft in Syrakus feierlich zu begehen.Der Name eines Gastes, von welchem eine Zeit lang so
viel Gutes und Böses unter den Griechen gesprochen worden
war, zog unter andern Neugierigen auch den Philosophen
Aristippus herbei; einen Mann, der wegen der Annehmlichkeiten
seines Umgangs, und wegen der Gnade, worin er bei
dem Prinzen stand, in den besten Häusern zu Syrakus sehr
willkommen war. Dieser Philosoph hatte sich, bei jener großen
Auswanderung der schönen Geister Griechenlands nach
Syrakus, auch dahin begeben, mehr um einen beobachtenden
Zuschauer zu spielen, als in der Absicht, durch parasitische
Künste die Eitelkeit des Dionysius seinen eigenen Bedürfnissen
zinsbar zu machen. Agathon und Aristippus hatten einander
zu Athen gekannt. Aber damals contrastirte der Enthusiasmus
des ersten mit dem kalten Blut und der humoristischen
Art zu philosophiren des andern zu stark, als daß sie einander
wahrhaftig hatten hochschätzen können; wiewohl Aristipp sich
öfters bei den Versammlungen einfand, welche damals Agathons
Haus zu einer Akademie der besten Köpfe von Athen
machten. Die Wahrheit war, daß Agathon mit allen seinen
schimmernden Eigenschaften in Aristipps Augen ein Phantast,
und Aristipp mit allein seinem Witz nach Agathons Begriffen
ein bloßer Sophist war, geschickter weibische Sybariten durch
seine Grundsätze noch Sybaritischer, als junge Republicaner
zu tugendhaften Männern zu machen.Der Eindruck, welcher beiden von dieser ehemals von einander
gefaßten Meinung geblieben war, machte sie stutzen, da
sie sich nach einer Trennung von drei oder vier Jahren so
unvermuthet wieder sahen. Das sollte Agathon — das sollte
Aristipp seyn? dachte jeder bei sich selbst, war überzeugt, daß
es so sey, und hatte doch Mühe, seiner eigenen Ueberzeugung
zu glauben. Aristipp suchte im Agathon den Enthusiasten,
welcher nicht mehr war; und Agathon glaubte im Aristipp
den Sybariten nicht mehr zu finden; vielleicht allein, weil
seine eigene Weise, Personen und Sachen ins Auge zu fassen,
seit einiger Zeit eine merkliche Veränderung erlitten hatte.Ein Umgang von etlichen Stunden lösete beiden das
Räthsel ihres anfänglichen Irrthums auf, zerstreute den Rest
des alten Vorurtheils, und flößte ihnen die Neigung ein,
bessere Freunde zu werden. Unvermerkt erinnerten sie sich
nicht mehr, daß sie einander ehmals weniger gefallen hatten;
und ihr Herz liebte den kleinen Selbstbetrug, dasjenige was
sie jetzt für einander empfanden, für die bloße Erneuerung
einer alten Freundschaft zu halten. Aristipp fand bei unserm
Helden eine Gefälligkeit, eine Mäßigung, eine Politur, welche
ihm zu beweisen schien, daß Erfahrungen von mehr als Einer
Art eine starke Veränderung in seinem Gemüthe gewirkt haben
müßten. Agathon fand bei dem Philosophen von Cyrene etwas
mehr als bloßen Witz; er fand einen Beobachtungsgeist, eine
gesunde Art zu denken, eine Feinheit und Richtigkeit der Beurtheilung,
welche den Schüler des weisen Sokrates in ihm
erkennen ließen.Diese Entdeckungen flößten ihnen natürlicher Weise ein
gegenseitiges Zutrauen ein, welches sie geneigt machte. sich
weniger vor einander zu verbergen, als man bei einer ersten
Zusammenkunft zu thun gewohnt ist. Agathon ließ seinem
neuen Freunde sein Erstaunen darüber sehen, daß die Hoffnungen,
welche man sich zum Vortheil Siciliens von Platons
Ansehen bei dem Dionysius gemacht, so plötzlich und auf eine
so unbegreifliche Art vernichtet worden seyen. In der That
bestand alles, was man in der Stadt davon wußte, in bloßen
Muthmaßungen, die sich zum Theil auf allerlei unzuverlässige
Anekdoten gründeten, dergleichen in Städten, wo ein Hof ist,
von müßigen Leuten, welche sich das Ansehen geben wollen,
als ob sie mit den Geheimnissen und Intriguen desselben genau
bekannt wären, von Gesellschaft zu Gesellschaft herumgetragen
zu werden pflegen. Aristipp hatte, seitdem er sich an Dionysens
Hofe aufhielt, die schwache Seite dieses Prinzen, den Charakter
seiner Günstlinge, der Vornehmsten der Stadt und
der Sicilier überhaupt so gut ausstudirt, daß er — ohne sich
in die Entwicklung der geheimern Triebfedern (womit wir
unsere Leser schon bekannt gemacht haben) einzulassen — den
Agathon leicht überzeugen konnte: ein gleichgültiger Zuschauer
habe sich von den Anschlägen Dions und Platons, den Dionysius
zu einer freiwilligen Niederlegung der monarchischen Gewalt
zu vermögen, keinen glücklichern Ausgang versprechen
können. Er malte den Tyrannen von seiner besten Seite als
einen Prinzen ab, "bei dem die unglücklichste Erziehung ein
vortreffliches Naturell nicht gänzlich habe verderben können;
der von Natur leutselig, edel, freigebig, und dabei so bildsam
und leicht zu regieren sey, daß alles bloß darauf ankomme, in
was für Händen er sich befinde. Seiner Meinung nach, war
eben diese allzu bewegliche Gemüthsart und der Hang für die
Vergnügungen der Sinne die fehlerhafte Seite dieses Prinzen.
Plato hätte die Kunst verstehen sollen, sich dieser Schwachheiten
auf eine feine Art zu seinen Absichten zu bedienen. Aber
dieß hätte eine Geschmeidigkeit, eine Mischung von Nachgiebigkeit
und Zurückhaltung erfordert, wozu der Verfasser des Kratylus
niemals fähig seyn werde. Ueberdem hätte er sich zu
deutlich merken lassen, daß er gekommen sey, den Hofmeister
des Prinzen zu machen; ein Umstand, der schon für sich allein
alles habe verderben müssen. Denn die schwächsten Fürsten
seyen allemal diejenigen, vor denen man am sorgfältigsten verbergen
müsse, daß man weiter sehe als sie. Sie würden sich's
zur Schande rechnen, sich von dem größten Geist in der Welt
regieren zu lassen, sobald sie glauben, daß er sie regieren wolle.
Daher komme es, daß sie sich oft lieber der schimpflichen Herrschaft
eines Kammerdieners oder einer Maitresse unterwürfen,
welche die Kunstgriffe besitzen, besitzen, ihre Gewalt über das Gemüth
des Herrn unter sklavischen Schmeicheleien oder schlauen Liebkosungen
zu verbergen. Plato sey zu einem Minister eines so
jungen Prinzen zu spitzfindig, und zu einem Günstling zu alt
gewesen. Zudem habe ihm seine vertraute Freundschaft mit
Dion geschadet, da sie seinen heimlichen Feinden beständige
Gelegenheit gegeben, ihn dem Prinzen verdächtig zu machen.
Endlich habe der Einfall, aus Sicilien eine Platonische Republik
zu machen, an sich selbst nichts getaugt. Der Nationalgeist
der Sicilier sey eine Zusammensetzung von so schlimmen
Eigenschaften, daß es, seiner Meinung nach, dem weisesten Gesetzgeber
unmöglich bleiben würde, sie zur republicanischen Tugend
umzubilden; und Dionysius, welcher unter gewissen Umständen
vielleicht ein guter Fürst werden könnte, würde, wenn
er sich auch in einem Anstoß von eingebildeter Großmuth hätte
bereden lassen die Tyrannie aufzuheben, allezeit ein sehr schlimmer
Bürger gewesen seyn. Diese allgemeinen Ursachen seyen
(was auch die nähern Veranlassungen der Verbannung des
Dion und der Ungnade oder wenigstens der Entfernung des
Platon gewesen seyn möchten) hinlänglich, begreiflich zu machen,
daß es nicht anders habe gehen können. Sie bewiesen aber
auch (setzte Aristipp mit einer anscheinenden Gleichgültigkeit
hinzu), daß ein anderer, der sich die Fehler dieser Vorgänger
zu nutze zu machen wüßte, wenig Mühe haben würde, die
unwürdigen Leute zu verdrängen, welche sich wieder in den
Besitz des Zutrauens und der Autorität des Prinzen geschwungen
hätten."Agathon fand diese Gedanken seines neuen Freundes so
wahrscheinlich, daß er sich überreden ließ, sie für wahr anzunehmen.
Und hier spielte ihm die Eigenliebe einen kleinen
Streich, dessen er sich nicht zu ihr vermuthete. Sie flüsterte
ihm (so leise, daß er ihren Einhauch vielleicht für die Stimme
seines guten Genius hielt) den Gedanken zu: wie schön es
wäre, wenn Agathon dasjenige zu Stande bringen könnte,
was Plato vergebens unternommen hatte! Wenigstens däuchte
es ihn schön den Versuch zu machen; und er fühlte eine Art
von ahnendem Bewußtseyn, daß eine solche Unternehmung
nicht über seine Kräfte gehen würde. Diese Empfindungen
(denn Gedanken waren es noch nicht) stiegen, während daß
Aristippus sprach, in ihm auf. Aber er nahm sich wohl in
Acht, das Geringste davon merken zu lassen, und lenkte, um
von einem so schlauen Höflinge nicht unvermerkt ausgekundschaftet
zu werden, das Gespräch auf andre Gegenstände. Ueberhaupt
vermied er alles, was eine besondere Aufmerksamkeit
auf ihn hätte richten können, desto sorgfältiger, da er wahrnahm,
daß man einen außerordentlichen Mann in ihm zu
sehen erwartete. Er sprach sehr bescheiden, und nur so viel
als die Gelegenheit unumgänglich erforderte, von dem Antheile,
den er an der Staatsverwaltung von Athen gehabt
hatte. Er ließ die Gelegenheit entschlüpfen, die ihm von einigen
mit guter Art (wie sie wenigstens glaubten) gemacht wurde,
eine Gedanken von Regierungssachen und von den Syrakusischen
Angelegenheiten zu sagen. Er sprach von allem wie ein
gewöhnlicher Mensch, und begnügte sich, bei Gelegenheit sehen
zu lassen, daß er ein Kenner aller schönen Sachen sey, wiewohl
er sich nur für einen Liebhaber ausgab.Dieses Betragen, wodurch er allen Verdacht besonderer
Absichten von sich entfernen wollte, hatte die Wirkung, daß die
meisten, welche mit einem erwartungsvollen Vorurtheil für ihn
gekommen waren, sich für betrogen hielten. Sie urtheilten,
Agathon halte in der Nähe gar nicht, was sein Ruhm verspreche:
und, um sich dafür zu rächen, daß er nicht so war,
wie er ihrer Einbildung zu Liebe hätte seyn sollen, liehen sie
ihm noch einige Fehler, die er nicht hatte, und verringerten
den Werth der schönen Eigenschaften, welche er entweder nicht
verbergen konnte, oder nicht verbergen wollte. Gewöhnliches
Verfahren kleiner Seelen, wodurch sie sich unter einander in
der tröstlichen Beredung zu stärken suchen, daß kein so großer
Unterschied, oder vielleicht gar keiner, zwischen ihnen und den
Agathonen sey! — Und wer wird so unbillig seyn, ihnen einen
solchen Behelf übel zu nehmen?—————
Zweites Capitel.Vorläufige Entschließungen unsers Helden. Charakter des Aristippus.Sobald sich unser Mann allein sah, überließ er sich den
Betrachtungen, die in seiner gegenwärtigen Stellung die
natürlichsten waren. Als er gehört hatte, daß Plato entfernt
und Dionys wieder in seine vorige Gestalt zurückgetreten sey,
war sein erster Gedanke gewesen, Syrakus sogleich wieder zu
verlassen, und nach Italien überzufahren, wo er verschiedene
Ursachen hatte, in dem Hause des berühmten Archytas zu
Tarent eine gute Aufnahme zu erwarten. Allein die Unterredung
mit dem Aristippus brachte ihn wieder auf andere
Gedanken. Je mehr er dasjenige, was ihm dieser Philosoph
von den Ursachen der vorgegangenen Veränderung gesagt
hatte, überlegte; je mehr fand er sich ermuntert, das Werk,
welches Plato aufgegeben, auf einer andern Seite, und, wie
er hoffte, mit besserm Erfolg anzugreifen. Von tausend
mannichfaltigen Gedanken hin und hergezogen, brachte er den
größten Theil der Nacht in einem Mittelstande zwischen Entschließung
und Ungewißheit zu: bis er endlich mit sich selbst
einig wurde, es darauf ankommen zu lassen, wozu ihn die
Umstände bestimmen würden.Inzwischen machte er sich doch, auf den Fall, wenn ihn
Dionysius an seinen Hof zu ziehen suchen sollte, einen Verhaltungsplan:
er stellte sich eine Menge Zufälle vor, welche
begegnen könnten, und setzte die Maßregeln bei sich selbst
fest, nach welchen er in jedem derselben handeln wollte. Die
genaueste Verbindung der Klugheit mit der Rechtschaffenheit
war die Grundlage davon. Sein eigner Vortheil kam dabei
in gar keine Betrachtung. Er wollte sich durch keine Art von
Banden fesseln lassen, sondern immer die Freiheit behalten,
sich, sobald er sehen würde daß er vergebens arbeite, mit
Ehre zurückzuziehen. Dieß war die einzige Rücksicht, die er
dabei auf sich selbst nahm. Die lebhafte Abneigung gegen
alle populären Regierungsarten, die ihm von seinen ehmaligen
Erfahrungen geblieben war, ließ ihn nicht daran denken, den
Siciliern zu einer Freiheit behülflich zu seyn, welche er für
einen bloßen Namen hielt, unter dessen Schutz die Edeln
eines Volkes und der Pöbel einander wechselsweise ärger
tyrannisiren, als es gewöhnlich ein einzelner Tyrann zu thun
fähig ist. Denn dieser mag so arg seyn als er immer will,
so wird er wenigstens durch seinen eigenen Vortheil abgehalten,
seine Sklaven gänzlich aufzureiben: da hingegen der
Pöbel, wenn er die Gewalt einmal an sich gerissen hat, seinen
wilden Bewegungen keine Gränzen zu setzen fähig ist.Diese Betrachtung traf zwar nur die Demokratie; aber
Agathon hatte von der Aristokratie keine bessere Meinung.
Eine endlose Reihe von schlimmen Monarchen schien ihm
etwas das nicht in der Natur ist; und ein einziger guter
Fürst war (nach seiner Voraussetzung) genug, das Glück seines
Volkes auf Jahrhunderte zu befestigen. Hingegen glaubte er,
die Aristokratie könne nicht anders als durch die gänzliche
Unterdrückung des Volks auf einen dauerhaften Grund gesetzt
werden, und sey also schon aus dieser einzigen Ursache die
schlimmste unter allen möglichen Verfassungen. So sehr gegen
diese beiden Regierungsarten eingenommen, konnte er nicht
darauf verfallen, sie mit einander vermischen, und durch eine
Art von politischer Chemie aus so widerwärtigen Dingen eine
gute Composition heraus bringen zu wollen. Eine solche Verfassung
däuchte ihn allzu verwickelt, und aus zu vielerlei Gewichten
und Rädern zusammengesetzt, um nicht alle Augenblicke
in Unordnung zu gerathen, und sich nach und nach selbst
aufzureiben. Die Monarchie schien ihm also, von allen Seiten
betrachtet, die einfachste, edelste, und der Analogie des großen
Systems der Natur gemäßeste Art die Menschen zu regieren.Dieses vorausgesetzt, glaubte er alles gethan zu haben,
wenn er einen zwischen Tugend und Laster hin und her wankenden
Prinzen aus den Händen schlimmer Rathgeber ziehen, und
durch einen klugen Gebrauch der Gewalt, die er über sein
Gemüth zu bekommen hoffte, seine Denkungsart verbessern
könnte. Denn er dachte noch immer zu gut von der menschlichen
Natur, als daß er nicht hätte hoffen sollen, ihn auf
diesem Wege unvermerkt für die eigenthümlichen Reizungen
der Tugend empfindlich zu machen. Und gesetzt auch, daß es
ihm nur auf eine unvollkommene Art gelingen würde, so hoffte
er, wofern er sich nur einmal seines Herzens bemeistert hätte,
doch immer im Stande zu seyn, viel Gutes zu thun und
viel Böses zu verhindern; und auch dieses schien ihm genug
zu seyn, um beim Schluß des Schauspiels mit dem belohnenden
Gedanken, eine schöne Rolle wohl gespielt zu haben, vom
Theater abzutreten. In diesen sanft einwiegenden Gedanken
schlummerte Agathon endlich ein, und schlief noch, als Aristippus
des folgenden Morgens wieder kam, um ihn im
Namen des Dionysius einzuladen, und bei diesem Prinzen
aufzuführen.Die Seite, von der sich dieser Philosoph in der gegenwärtigen
Geschichte zeigt, stimmt mit dem gemeinen Vorurtheil,
welches man gegen ihn gefaßt hat, so wenig überein,
als dieses mit den gewissesten Nachrichten, welche von seinem
Leben und von seinen Meinungen auf uns gekommen sind. In
der That scheint dasselbe sich mehr auf den Mißverstand seiner
Grundsätze und einige ärgerliche Mährchen, welche Diogenes
von Laerte müd Athenäus (zwei von den unzuverlässigsten
Compilatoren in der Welt) seinen Feinden nacherzählen, als
auf irgend etwas zu gründen, welches ihm unsre Hochachtung
mit Recht entziehen könnte.Es hat zu allen Zeiten eine Art von Leuten gegeben,
welche nirgends als in ihren Schriften tugendhaft sind; Leute,
welche die Verdorbenheit ihres Herzens durch die Affectation
der strengsten Grundsätze in der Sittenlehre bedecken wollen;
die sich das Ansehen einer außerordentlichen Zärte der Ohren
in moralischen Dingen geben, und vor dem bloßen Schalle
des Worts Wollust mit einem scheinheiligen Schauer zufammenfahren;
kurz, Leute, welche jedermann verachten würde, wenn
nicht der größte Haufe dazu verurtheilt wäre, sich durch
Masken, Mienen, Gebärden, Inflexionen der Stimme und
verdrehte Augen betrügen zu lassen. Diese vortrefflichen Leute
thaten schon damals ihr Bestes, den guten Aristipp für einen
Wollüstigen auszuschreien, der die Forderungen der sinnlichen
Triebe zu Grundsätzen seiner Philosophie, und die Kunst sich
zu vergnügen zu seinem höchsten Gut gemacht habe.Es ist hier der Ort nicht, die Unbilligkeit und den Ungrund
dieses Urtheils zu beweisen; und es ist auch so nöthig
nicht, nachdem bereits einer der arbeitsamsten Gelehrten
unsrer Zeit, ungeachtet seines Standes, den Muth gehabt
hat, in seiner kritischen Geschichte der Philosophie diesem
Schüler des Sokrates Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.Ohne uns also hier um Aristipps Lehrsätze zu bekümmern,
begnügen wir uns von seinem Charakter so viel zu sagen,
als man wissen muß, um die Person, die er an Dionysens
Hofe vorstellte, richtiger beurtheilen zu können. Unter allen
den vorgeblichen Weisen, welche sich damals an diesem Hofe
befanden, war er der einzige, der keine heimlichen Absichten
auf die Freigebigkeit des Prinzen hatte; wiewohl er sich kein
Bedenken machte, Geschenke von ihm anzunehmen, die er
nicht durch parasitische Niederträchtigkeiten erkaufte. Durch
seine natürliche Denkungsart eben so sehr, als durch seine in
der That ziemlich gemächliche Philosophie, von Ehrsucht und
Geldgierigkeit gleich entfernt, bediente er sich eines zulänglichen
Erbguts (welches er, bei Gelegenheit, durch den
erlaubten Vortheil, den er von seinen Talenten zog, zu vermehren
wußte), um, nach seiner Neigung, mehr einen Zuschauer
als einen Schauspieler auf dem Schauplatze der Welt
vorzustellen. Da er einer der besten Köpfe seiner Zeit war,
so gab ihm diese Freiheit, worin er sich sein ganzes Leben
durch erhielt, Gelegenheit, sich einen Grad von Einsicht zu
erwerben, der ihn zu einem scharfen und sichern Beurtheiler
aller Gegenstände des menschlichen Lebens machte. Meister
über seine Leidenschaften, welche von Natur nicht heftig waren,
frei von allen Arten von Sorgen und Geschäften, konnt' er
sich in dieser Heiterkeit des Geistes, und in dieser Ruhe des
Gemüths erhalten, welche die Grundzüge von dem Charakter
eines weisen Mannes ausmachen. Er hatte seine schönsten
Jahre zu Athen, in dem Umgange mit Sokrates und den
größten Männern dieses berühmten Zeitalters, zugebracht; die
Euripiden und Aristopanen, die Phidias und Polygnote, und
(die Wahrheit zu sagen) auch die Phrynen und Laidion, hatten
seinen Witz gebildet, und jenes zarte Gefühl des Schönen in
ihm entwikelt, welches ihn die Munterkeit der Grazien mit
dem Ernste der Philosophie verbinden lehrte. Nichts übertraf
die Annehmlichkeit seines Umgangs. Niemand wußte, so wie
er, die Weisheit unter der gefälligen Gestalt des Schmerzes
und der guten Laune in solche Gesellschaften einzuführen, wo
sie in ihrer eignen Gestalt nicht willkommen wäre. Er besaß
das Geheimniß, den Großen selbst die unangenehmsten Wahrheiten
mit Hülfe eines Einfalls oder einer Wendung erträglich
zu machen, und sich an dem langweiligen Geschlechte der
Narren und Gecken, wovon die Höfe der damaligen Fürsten
wimmelten, durch einen feinen Spott zu rachen, den sie dumm
genug waren mit dankbarem Lächeln für Beifall anzunehmen.
Die Lebhaftigkeit seines Geistes und die Kenntniß, die er von
allen Arten des Schönen besaß, machte daß ihn niemand
übertraf, wo es auf die Erfindung sinnreicher Ergötzlichkeiten,
auf die Anordnung eines Festes, die Auszierung eines Hauses,
oder auf Urtheile über die Werke der Dichter, Tonkünstler,
Maler und Bildhauer ankam. Er liebte das Vergnügen,
weil er das Schöne liebte; und aus dem nämlichen Grunde
liebte er auch die Tugend. Aber er mußte das Vergnügen
in seinem Wege finden, und die Tugend mußte ihm keine
allzubeschwerlichen Pflichten auflegen. Dem einen oder der
andern seine Gemächlichkeit aufzuopfern, so weit ging seine
Liebe nicht. Sein fester Grundsatz, dem er allezeit getreu
blieb, war: daß es in unsrer Gewalt sey, in allen Umständen
glücklich zu seyn; des Phalaris glühenden Ochsen ausgenommen;
denn wie man in diesem sollte glücklich seyn können, davon
konnte er sich keinen Begriff machen. Er setzte voraus, daß
Seele und Leib gesund seyn müßten. Alsdann komme es nur
darauf an, daß man sich nach den Umständen zu richten wisse,
anstatt (wie der große Haufe der Sterblichen) zu verlangen,
daß sich die Umstände nach uns richten, oder ihnen zu diesem
Ende Gewalt anthun zu wollen. Mittelst dieser sonderbaren
Geschmeidigkeit konnte er das vielbedeutende Lob verdienen.
welches ihm Horaz gibt: daß ihm alle Farben, alle
Umstände des günstigen oder widrigen Glückes gleich gut angestanden,
oder (wie Plato von ihm sagte) daß es ihm allein
gegeben sey, ein Kleid von Purpur und einen Kittel von
Sackleinewand mit gleich guter Art zu tragen."Es ist kein schwacher Beweis, wie wenig es dem Dionysius
an Fähigkeit das Gute zu schätzen gefehlt habe, daß er
Aristippen um aller dieser Eigenschaften willen höher achtete,
als alle andern Gelehrten seines Hofes. Ihn mocht' er am
liebsten um sich leiden, und öfters ließ er sich von ihm durch
einen Scherz zu guten Handlungen bewegen, wozu ihn seine
Pedanten mit aller ihrer Dialektik und schulgerechten Beredsamkeit
nicht zu vermögen fähig waren.Diese charakteristischen Züge vorausgesetzt, läßt sich, däucht
uns, keine wahrscheinlichere Ursache angeben, warum Aristipp,
sobald er unsern Helden zu Syrakus erblickte, den Entschluß
faßte, ihn bei Dionysius in Gunst zu setzen, als diese: daß er
begierig war zu sehen, was aus einer solchen Verbindung
werden, und wie sich Agathon in einer so schlüpfrigen Stellung
verhalten würde. Denn auf einige besondere Vortheile für
sich selbst konnte er dabei kein Absehen haben, da es nur auf
ihn ankam, ohne einen Mittelsmann zu bedürfen, sich die
Gnade eines Prinzen zu nutze zu machen, der in einem Anstoß
von prahlerhafter Freigebigkeit fähig war, die Einkünfte
von einer ganzen Stadt an einen Luftspringer oder Citherspieler
wegzuschenken.Dem sey indessen wie ihm wolle, so hatte Aristipp nichts
Angelegeneres, als am nächsten Morgen den Prinzen, dem er
bei seinem Aufstehen aufzuwarten pflegte, von dem neu angekommenen
Agathon zu unterhalten, und eine so vortheilhafte
Abschilderung von ihm zu machen, daß Dionysius begierig
wurde, diesen außerordentlichen Menschen von Person
zu kennen. Aristipp erhielt den Auftrag ihn unverzüglich nach
Hof zu bringen; und er vollzog denselben, ohne unsern Helden
merken zu lassen, wie viel Antheil er an der Sache gehabt
hatte.—————
Drittes Capitel.Agathons erste Erscheinung am Hofe.Agathon sah eine so bald erfolgende Einladung als eine
gute Vorbedeutung an, und machte keine Schwierigkeit sie anzunehmen.
Er wurde von Dionysius auf eine sehr leutselige
Art empfangen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr er abermal,
daß die Schönheit eine stumme Empfehlung an alle Menschen,
welche Augen haben, ist. Die Gestalt eines Apollo, die ihm
schon so manchen guten und schlimmen Dienst gethan, die ihm
die Verfolgungen der Pythia und die Zuneigung der Athener
zugezogen, ihn in den Augen der Thracischen Bacchantinnen
zum Gott, in den Augen der schönen Danae zum liebenswürdigsten
der Sterblichen gemacht hatte, — diese Gestalt, diese einnehmende
Gesichtsbildung, diese mit Würde und Anstand zusammenfließende
Grazie, welche allen seinen Bewegungen und
Handlungen eigen war, thaten ihre Wirkung und zogen ihm
beim ersten Anblick die allgemeine Bewunderung zu. Dionysius,
welcher als König zu wohl mit sich selbst zufrieden war, um über
einen Privatmann wegen irgend einer Vollkommenheit eifersüchtig
zu seyn, überließ sich dem angenehmen Eindrucke, den dieser
schöne Fremdling auf ihn machte. Die Philosophen hofften, das
Inwendige werde einer so viel versprechenden Außenseite nicht
gemäß seyn; und diese Hoffnung setzte sie in den Stand. mit
einem Nasenrümpfen, welches den geringen Werth, den sie einem
solchen Vorzuge beilegten, andeuten sollte, einander zuzuflüstern
daß er — schön sey. Aber den Höflingen kam es
schwer an, ihren Verdruß darüber zu verbergen, daß sie keinen
Fehler an ihm finden konnten, der sie für den Anblick so vieler
Vorzüge schadlos gehalten hätte. Wenigstens waren dieß die
Bemerkungen, welche der kaltsinnige Aristipp bei dieser Gelegenheit
machte.Agathon verband, in seinen Reden und in seinem ganzen
Betragen, mit der edeln Freiheit und Zuversichtlichkeit eines
Weltmannes, so viel Bescheidenheit und Klugheit, daß Dionysius
in wenig Stunden ganz von ihm eingenommen war.
Man weiß, wie wenig es oft bedarf den Großen zu gefallen,
wenn uns nur der erste Augenblick günstig ist. Agathon mußte also
dem Dionysius, welcher wirklich Geschmack hatte, nothwendig
mehr gefallen, als irgend ein anderer den er jemals gesehen
hatte; und dieß in immer zunehmendem Verhältnisse, so wie
sich von einem Augenblick zum andern die Vorzüge und Talente
unsers Helden entwickelten. In der That besaß er deren so
viele, daß der Neid der Höflinge, der in gleicher Proportion
von Augenblick zu Augenblick stieg, gewissermaßen zu entschuldigen
war. Die guten Leute würden sich viel auf sich selbst
eingebildet haben, wenn sie nur diejenigen Eigenschaften in
einem solchen Grad einzeln besessen hätten, welche, in ihm
vereinigt, dennoch den geringsten Theil seines Werthes ausmachten.
Er hatte die Klugheit, seine gründlichern Eigenschaften
zu verbergen, und sich bloß von derjenigen Seite zu
zeigen, wodurch sich die Hochachtung der Weltleute am sichersten
überraschen läßt. Er sprach von allem mit dieser Leichtigkeit
des Witzes, welche über die Gegenstände nur dahin glilscht;
eine Eigenschaft, wodurch sich oft die schalesten Köpfe in der
Welt (auf einige Zeit wenigstens) das Ansehen, als ob sie Verstand
und Einsichten hätten, zu geben wissen. Er scherzte; er
erzählte mit Anmuth; er machte andern Gelegenheit sich zu
zeigen; und (was der Erziehung, die er von der schönen Danae
erhalten, Ehre brachte) er bewunderte die guten Einfälle,
welche dem schwatzhaften Dionysius unter einer Menge von
platten und frostigen zuweilen entfielen, mit einer Art, welche,
ohne seiner Aufrichtigkeit oder seinem Geschmack zu viel Gewalt
anzuthun, diesen Prinzen überzeugte, daß Agathon unendlich
viel Verstand habe.Große Herren haben gemeiniglich eine Lieblingsschwachheit,
wodurch es sehr leicht wird, den Eingang in ihr Herz zu finden.
Der große Tanzai (ein Kenner übrigens von Verdiensten) kannte
doch kein größeres, als die Leyer gut zu spielen. Dionysius
hegte ein so günstiges Vorurtheil für die Cither, daß der beste
Citherspieler in seinen Augen der größte Mann auf dem
Erdboden war. Er spielte sie zwar selbst nicht sonderlich;
aber er gab sich für einen Kenner, und rühmte sich die
größten Virtuosen auf diesem wundervollen Instrument
an seinem Hofe zu haben. Zu gutem Glücke hatte Agathon
zu Delphi die Cither schlagen gelernt, und einige
Lectionen, die er bei der schönen Danae genommen, hatten
ihn in dieser Kunst so weit gebracht — als sie gehen kann.
Kurz, er nahm das dritte oder viertemal, da er mit dem
Dionysius zu Nacht speiste, eine Cither, begleitete darauf einen
Dithyramben des Damon (der von einer feinen Stimme gesungen,
und von der schönen Bacchidion getanzt wurde), und
setzte seine Hoheit dadurch in eine so übermäßige Entzückung,
daß der ganze Hof von diesem Augenblick an für ausgemacht
hielt, ihn in kurzem zur Würde eines erklärten Günstlings erhoben
zu sehen. Dionysius überhäufte ihn, in der ersten Aufwallung
seiner Bewunderung, mit Liebkosungen, welche unserm
Helden beinahe allen Muth benahmen. Himmel! dachte er,
was werde ich mit einem König anfangen, der bereit ist, den
ersten Neuaufgekommenen an die Spitze seines Staats zu setzen,
weil er ein guter Citherschläger ist?Dieser erste Gedanke war sehr gründlich, und würde ihm
vieles Ungemach erspart haben, wenn er seiner Eingebung
gefolgt hätte. Aber eine andere Stimme —(war es Eitelkeit?
oder der Gedanke ein großes Vorhaben nicht um einer so geringfügigen
Ursache willen aufzugeben? oder die Schwachheit, die
uns geneigt macht, alle Thorheiten der Großen, welche Achtung
für uns zeigen, mit nachsichtsvollen Augen anzusehen?)—
flüsterte ihm ein, daß der Geschmack für die Musik, und die besondere
Anmuthung für ein gewisses Instrument, eine Sache
sey, welche von unsrer Organisation abhange; und daß es ihm
desto leichter seyn werde, sich des Herzens dieses Prinzen zu
versichern, je mehr er von den Geschicklichkeiten besitze, wodurch
man seinen Beifall erhalten könne.Die Gunst, in welche er sich in so kurzer Zeit, und durch so
zweideutige Verdienste bei dem Tyrannen gesetzt hatte, stieg
bald darauf, bei Gelegenheit einer akademischen Versammlung,
welche Dionysius mit großen Feierlichkeiten veranstaltete, zu
einem solchen Grade, daß Philistus, der bisher noch zwischen
Furcht und Hoffnung geschwebt hatte, seinen Fall nunmehr für
gewiß hielt.—————
Viertes Capitel.Eine akademische Sitzung, wobei Agathon ein neues Talent zu zeigen
Gelegenheit erhält.Dionysius hatte von Aristipp vernommen, daß Agathon
ehmals ein Schüler Platons gewesen, und, während seines
Glücksstandes zu Athen, für einen der größten Redner in dieser
redseligen Republik gehalten worden sey. Erfreut, eine Vollkommenheit
mehr an seinem neuen Liebling zu entdecken, säumte
er sich keinen Augenblick, eine Gelegenheit zu veranstalten, wo
er aus eigner Einsicht von der Wahrheit dieses Vorgebens
urtheilen könnte. Denn es kam ihm ganz übernatürlich vor,
daß man zu gleicher Zeit ein Philosoph, ein Adonis und ein
so großer Citherschläger sollte seyn können. Die Akademie erhielt
also Befehl sich zu versammeln, und das ganze Syrakus
wurde dazu eingeladen.Agathon dachte an nichts weniger, als daß er bei diesem
Wettstreit eines Haufens von Sophisten (die er nicht ohne
Grund für sehr überflüssige Leute an dem Hof eines guten
Fürsten ansah) eine Rolle zu spielen bekommen würde; und
Aristipp hatte (aus dem oben berührten Beweggrunde, welcher
der Schlüssel zu seinem ganzen Betragen gegen unsern Helden
ist) ihm von Dionysens Absicht nichts entdeckt. Dieser eröffnete,
als Präsident der Akademie (denn seine Eitelkeit begnügte sich
nicht an der Ehre, ihr Beschützer zu seyn), die Versammlung
durch einen übel zusammengestoppelten und nicht allzu verständlichen,
aber mit Platonismen reich verbrämten Discurs, welcher
(wie leicht zu erachten) allgemeinen Beifall erhielt, ungeachtet
er dem Agathon mehr das ungezweifelle Vertrauen des königlichen
Redners in den Beifall, der ihm von Standes wegen
zukam, als die Größe seiner Gaben und Einsichten zu beweisen
schien. Nach Endigung dieser Rede nahm die akademische
Hetze ihren Anfang: und wofern die Zuhörer durch die subtilen
Geister, die sich nunmehr hören ließen, nicht sehr unterrichtet
wurden, so fanden sie sich doch durch die Wohlredenheit des
einen, die klingende Stimme und den guten Accent eines andern,
die paradoxen Einfälle eines dritten, und die Gesichter
die ein vierter zu seinen Distinctionen und Demonstrationen
schnitt, erträglich belustiget.Nachdem dieses Spiel einige Zeit gedauert hatte, und ein
unhöfliches Gähnen bereits zwei Drittheile der Zuhörer zu ergreifen
begann, sagte Dionysius: da er das Glück habe, seit
einigen Tagen einen der würdigsten Schüler des großen Platons
in seinem Hause zu besitzen, so ersuche er ihn, sich nicht
verdrießen zu lassen, daß der Ruhm, der ihm allenthalben
vorangegangen, den Schleier, womit seine Bescheidenheit
seine Verdienste zu verhüllen suche, hinweg gezogen, und in
dem schönen Agathon einen der beredtesten Weisen der Zeit
entdeckt habe. Er möchte sich also nicht weigern, auch in Syrakus
sich von einer so vortheilhaften Seite zu zeigen, und sich
mit den Philosophen der Akademie in einen Wettstreit über
irgend eine wichtige Frage aus der Philosophie einzulassen.Zu gutem Glücke sprach Dionysius, der sich selbst gern
hörte, und die Gabe der Weitläufigkeit in hohem Maße besaß,
lange genug, um unserm Manne Zeit zu geben, sich von der
kleinen Bestürzung über eine so unerwartete Zumuthung zu
erholen. Diese Frist setzte ihn in den Stand ohne Zaudern zu
antworten: er sey zu früh aus den Hörsälen der Weisen auf
den Marktplatz zu Athen gerufen, und in die Angelegenheiten
eines Volkes, welches bekanntermaßen seinen Hofmeistern
nicht wenig zu schaffen zu machen pflege, verwickelt worden,
als daß er Zeit genug gehabt haben sollte, sich seine Lehrer
gehörig zu nutze zu machen, Indessen sey er, wenn es
Dionysius verlange, aus Achtung gegen ihn bereit, eine Probe
abzulegen, wie wenig er das Lob verdiene, welches ihm aus
einem allzu günstigen Vorurtheil beigelegt worden sey.Dionysius rief nun den Philistus auf (man weiß nicht,
ob vermöge einer vorher genommenen Abrede, oder ob von
Ungefähr), eine Frage vorzuschlagen, für und wider welche von
beiden Seiten gesprochen werden sollte. Der Minister bedachte
sich eine kleine Weile, und, in Hoffnung den Agathon, der
ihm furchtbar zu werden anfing, in Verlegenheit zu setzen,
schlug er die Frage vor: "welche Regierungsform einen Staat
glücklicher mache, die republicanische oder die monarchische?"
Man wird, dachte er, dem Agathon die Wahl lassen, für
welche er sich erklären will. Spricht er für die Republik, und
spricht er gut (wie er um seines Ruhms willen genöthiget ist),
so wird er dem Prinzen mißfallen; wirft er sich zum Lobredner
der Monarchie auf, so wird er sich dem Volke verhaßt machen,
und Dionysius wird den Muth nicht haben, die Staatsverwaltung
einem Ausländer anzuvertrauen, der bei seinem ersten
Auftritt einen so schlechten Eindruck auf die Gemüther der
Syrakuser gemacht hat.Allein diesesmal betrog den schlauen Mann seine Erwartung.
Agathon erklärte sich, ungeachtet er die Absicht des
Philistus merkte, mit einer Unerschrockenheit, welche diesem
keinen Triumph prophezeyte, für die Monarchie. Nachdem
seine Gegner (unter denen Antisthenes und der Sophist Protagoras
alle ihre Kräfte anstrengten, die Vorzüge der Freistaaten
zu erheben) zu reden aufgehört hatten, fing er damit an, daß
er ihren Gründen mehr Stärke gab, als sie selbst zu thun
fähig gewesen waren. Die Aufmerksamkeit war außerordentlich.
Jedermann war mehr begierig, zu hören, wie Agathon
sich selbst, als wie er seine Gegner würde überwinden können.
Seine Beredsamkeit zeigte sich in einem Lichte, welches die
Seelen der Zuhörer blendete. Die Wichtigkeit des Augenblicks,
der den Ausgang seines ganzen Vorhabens entschied,
die Würde des Gegenstandes, die Begierde zu siegen, und vermuthlich
auch seine herzliche Abneigung gegen die Demokratie,
alles setzte ihn in eine Begeisterung, welche die großen Kräfte
seiner Seele noch höher spannte. Seine Ideen waren so groß,
seine Gemälde so stark gezeichnet, mit so vielem Feuer gemalt,
seine Gründe jeder für sich selbst so schimmernd, und durch
ihre Zusammenordnung so überwältigend; der Strom seiner
Rede, der anfänglich in ruhiger Majestät dahin floß, wurde
nach und nach so stark und hinreißend, daß selbst diejenigen,
bei denen es zum voraus beschlossen war, daß er Unrecht haben
sollte, sich wie durch eine magische Gewalt genöthigt sahen,
ihm innerlich Beifall zu geben. Man glaubte den Merkur oder
Apollo reden zu hören. Die Kenner (denn es waren einige
zugegen, welche dafür gelten konnten) bewunderten am meisten,
daß er die Kunstgriffe verschmähte, wodurch die Sophisten
gewohnt waren, einer schlimmen Sache die Gestalt einer
guten zu geben. Keine Farben, welche durch ihren Glanz das
Betrügliche falscher oder umsonst angenommener Sätze verbergen
mußten! Keine künstliche Austheilung des Lichts und
des Schattens! Sein Ausdruck glich dem Sonnenschein, dessen
lebender und beinahe geistiger Glanz sich den Gegenständen mittheilt,
ohne ihnen etwas von ihrer eigenen Farbe zu benehmen.Indessen müssen wir gestehen, daß er ein wenig grausam
mit den Republiken umging. Er bewies, oder schien doch
allen die ihn hörten zu beweisen: daß diese Art von Gesellschaft
ihren Ursprung in dem wilden Chaos der Anarchie genommen,
und daß die Weisheit ihrer Gesetzgeber sich mit schwachem Erfolg
bemühet hätte, Ordnung und Dauerhaftigkeit in eine
Verfassung zu bringen, welche (ihrer Natur nach) in steter
Unruh' und innerlicher Gährung alle Augenblicke Gefahr laufe,
sich durch ihre eigenen Kräfte aufzureiben, und des Ruhestandes
so wenig fähig sey, daß die Ruhe in derselben vielmehr
eine Folge der äußersten Verderbniß, und (gleich einer Windstille
auf dem Meere) der gewisse Vorbote des Sturms und
Untergangs sey. Er behauptete, daß die politische Tugend
(dieses geheiligte Palladium der Freistaaten, an dessen Erhaltung
ihre Gesetzgeber das ganze Glück derselben gebunden
hätten) eine Art von unsichtbarem und durch verjährten Aberglauben
geheiligtem Götzen sey, an welchem nichts als der
Name verehrer werde. Daß man in diesen Staaten einen
stillschweigenden Vertrag mit einander gemacht zu haben scheine,
sich durch ein gewisses Phantom von Gerechtigkeit, Mäßigung,
Uneigennützigkeit, Liebe des Vaterlandes und des gemeinen
Besten, von einander betrügen zu lassen; und daß unter der
Maske dieser politischen Heuchelei, unter dem ehrwürdigen
Namen aller dieser Tugenden, das Gegentheil derselben nirgends
unverschämter ausgeübt werde. Es würden, meinte er,
eine Menge besonderer Umstände, welche sich in etlichen tausend
Jahren kaum Einmal in irgend einem Winkel des Erdbodens
zusammen finden könnten, dazu erfordert, um eine
Republik in der glücklichen Mittelmäßigkeit zu erhalten, ohne
welche sie von keinen Bestand seyn könne. Und eben daher,
weil dieser Fall so selten sey, und von so vielen zufälligen Ursachen
abhange, komme es, daß die meisten Republiken entweder
zu schwach wären, ihren Bürgern die mindeste Sicherheit
zu gewähren, oder nach einer Größe strebten, welche den
Staat unaufhörlich durch innerliche Unruhen und Bürgerkriege
erschütterte, und demjenigen, der zuletzt Meister vom Kampfplatze
bliebe, nichts als Einöden zu bevölkern und Ruinen
wieder aufzubauen überlasse. Sogar die Freiheit, auf welche
diese Staaten mit Ausschluß aller andern Anspruch machten,
finde kaum in den despotischen Reichen Asiens weniger Platz.
Denn entweder müsse sich das Volk alles demüthiglich gefallen
lassen, was die Edeln und Reichen, ihrem besondern Interesse
gemäß, schlössen und handelten; oder, wenn es den Gesetzgeber
und Richter selbst spiele, sey kein ehrlicher Mann sicher,
nicht alle Augenblicke das Opfer derjenigen zu werden, denen
seine Verdienste im Wege ständen, oder die durch sein Ansehen
und Vermögen reicher und größer zu werden hofften.
In keinem andern Staate sey es weniger erlaubt, von seinen
Fähigkeiten Gebrauch zu machen, selbst zu denken, und über
wichtige Gegenstände dasjenige, was man für gemeinnützlich
halte, ohne Gefahr bekannt werden zu lassen. Alle Vorschläge
zu Verbesserungen würden unter dem verhaßten Namen Neuerungen
verworfen, und zögen ihren Urhebern geheime oder
öffentliche Verfolgungen zu. Selbst die Grundpfeiler der menschlichen
Glückseligkeit, und dasjenige was den gesitteten Menschen
eigentlich von dem Wilden und Barbaren unterscheide,
Wahrheit und Tugend, die Wissenschaften und die liebenswürdigen
Fünfte der Musen, seyen in diesen Staaten verdächtig
oder gar verhaßt. Sie würden durch tausend im Finstern
schleichende Mittel entkräftet, an ihrem Fortgang verhindert,
oder doch gewiß weder aufgemuntert noch belohnt.Doch es sey an diesem kurzen Auszuge genug, um dem
Leser eine Probe zu geben, wie genau Agathon mit den Gebrechen
der Freistaaten bekannt war, und wie wenig er ihrer
bei dieser Gelegenheit schonte! Wir brechen ihn um so lieber
ab, weil es gänzlich wider unsre Absicht wäre, irgend einem
Erdenbewohner die Stellung, worin er sich befindet, unangenehmer
zu machen, als sie ihm bereits seyn mag; oder Anlaß
zu geben, daß die Gebrechen einiger längst zerstörten Griechischen
Republiken, aus denen Agathon seine Gemälde hernahm,
zur Verunglimpfung derjenigen gemißbraucht werden
könnten, welche in unsern Zeiten als ehrwürdige Freistätten
und Zufluchtsplätze der Tugend, der gesunden Denkungsart, der
öffentlichen Glückseligkeit und einer politischen Gleichheit, welche
sich der natürlichen möglichst nähert, angesehen werden können.
Ueberhaupt scheint die Frage, über welche hier disputirt
wurde, unter die müßigen speculativen Fragen zu gehören,
worüber von jeher so viel Zeit und Mühe verloren worden,
ohne daß sich absehen läßt, worin die Welt jemals durch ihre
Auflösung sollte gebessert werden können. Wir übergehen also
auch, wiewohl aus einem andern Grunde, die Lobrede, welche
Agathon der monarchischen Staatsverfassung hielt. Die Beherrscher
der Welt scheinen meist sehr gleichgültig über die
Meinung zu seyn, welche man von ihrer Regierungsart haben
mag. Es gibt Fälle, wir gestehen es, wo dieß eine Ausnahme
leidet; aber diese Fälle begegnen selten, wenn man die Vorsichtigkeit
gebraucht, hundert und fünfzig tausend wohl bewaffnete
Leute bereit zu halten, mit deren Beistand man sehr
wahrscheinlich hoffen kann, sich über die Meinung aller friedsamen
Leute in der ganzen Welt hinwegsetzen zu können.
Sind nicht eben diese hundert und fünfzig tausend ein lebendiger,
augenscheinlicher Beweis, der alle andern überflüssig
macht, daß eine Nation glücklich ist?Genug also, daß diese Rede, worin Agathon alle Gebrechen
verdorbener Freistaaten und alle Vorzüge wohl regierter
Monarchien in zwei contrastirende Gemälde zusammen drängte,
das Glück hatte, alle Stimmen davonzutragen, alle Zuhörer
zu überreden, und dem Redner eine Bewunderung zuzuziehen,
welche den Stolz des eitelsten Sophisten hätte sättigen können.
Jedermann war von einem Manne bezaubert, welcher so seltne
Gaben mit einer so großen Denkungsart und mit so menschenfreundlichen
Gesinnungen vereinigte. Denn Agathon hatte
nicht die Tyrannei, sondern die Regierung eines Vaters angepriesen,
der seine Kinder wohl erzieht und glücklich zu machen
sucht. Man sagte sich selbst, was für goldne Tage Sicilien
sehen würde, wenn ein solcher Mann das Ruder führte. Er
hatte nicht vergessen, im Eingang seiner Rede dem Verdacht
zuvorzukommen, als ob er die Republik aus Rachsucht schelte,
und die Monarchie aus Schmeichelei und geheimen Absichten
erhebe. Er hatte bei dieser Gelegenheit zu erkennen gegeben,
daß er entschlossen sey, nach Tarent überzusetzen, und in der
ruhigen Dunkelheit des Privatstandes, welchen er, seiner
Neigung nach, allen andern vorziehe, dem Nachforschen der
Wahrheit und der Verbesserung seines Gemüths obzuliegen.
Jedermann tadelte oder bedauerte diese Entschließung, und
wünschte, daß Dionysius alles anwenden möchte ihn davon
zurück zu bringen.—————
Fünftes Capitel.Dionysius läßt den Agathon Vorschläge thun, und bewilligt die Bedingungen,
unter welchen dieser sich entschließt, sein Gehülfe in der
Regierung zu werden.Niemals hatte sich die Neigung des Prinzen mit den
Wünschen seines Volks so gleichstimmig befunden, wie diesesmal.
Die hohe Meinung, die er von der Person unsers
Helden gefasset hatte, war durch diese Rede bis auf den höchsten
Grad gestiegen. So wenig Beständiges in dem Charakter
dieses Fürsten war, so hatte er doch seine Augenblicke, wo er
wünschte, daß es weniger Verläugnung kosten möchte, ein guter
Regent zu seyn. Die Beredsamkeit Agathons hatte ihn wie
die übrigen Zuhörer mit sich fortgerissen; er fühlte die Schönheit
seiner Gemälde, und vergaß darüber, daß eben diese
Gemälde eine Art von Satyre auf ihn selbst enthielten. Er
setzte sich vor, dasjenige zu erfüllen, was Agathon auf eine
stillschweigende Art von seiner Regierung versprochen hatte;
und um sich die Pflichten, die ihm dieser Vorsatz auferlegte,
möglichst zu erleichtern, wollte er sie durch eben denjenigen
ausüben lassen, der so gut davon sprechen konnte. Wo konnte
er ein tauglicheres Werkzeug finden den Syrakusern seine
Regierung beliebt zu machen? Was einen andern Mann, der
so viele angenehme Eigenschaften mit so vielen nützlichen vereinigte?Dionysius, gewohnt alles nur von Einer Seite anzusehen,
und alles was er wollte hastig und ungeduldig zu wollen,
pflegte zwischen seinen Entschließungen und ihrer Ausführung
so wenig Zeit zu setzen als möglich war. Er trug also dem
Aristippus auf, seinem Freunde Vorschläge zu thun. Agathon
entschuldigte sich mit seiner Abneigung vor dem geschäftigen
Leben, und bestimmte sogar den Tag seiner Abreise. Dionysius
wurde um so viel dringender; und wiewohl sich unser
Held noch immer weigerte, so geschah es doch mit einer so
bescheidenen Art, daß man hoffen konnte, er werde sich bewegen
lassen. In der That war seine Absicht nur, die Zuneigung
eines so wenig zuverlässigen Prinzen zuvor auf die Probe
zu stellen, eh' er sich in Verbindungen einlassen wollte, welche
für das Glück anderer und für seine eigene Ruhe so gute oder
so schlimme Folgen haben konnten.Endlich, da er Ursache zu haben glaubte, die Hochachtung,
die ihm Dionysius bezeigte, für etwas mehr als einen launischen
Anstoß zu halten, gab er seinem Anhalten nach; aber
nicht anders als bis gewisse Bedingungen zwischen ihnen festgesetzt
worden waren. Er erklärte sich, daß er bloß in der
Eigenschaft seines Freundes an seinem Hofe bleiben wollte, so
lange als ihn Dionysius dafür erkennen und seiner Dienste
nöthig zu haben glauben würde. Er wollte sich aber auch nicht
fesseln lassen, sondern die Freiheit behalten, sich zurück zu
ziehen, sobald er sähe daß sein Daseyn zu nichts nütze sey.
Die einzige Belohnung, welche er sich befugt halte für seine
Dienste zu verlangen, sey diese: daß Dionysius seinen Rathschlägen
folgen möchte, so lange er werde zeigen können, daß
dadurch das Beste der Nation, und die Sicherheit, der Ruhm
und die Privatglückseligkeit des Prinzen zugleich befördert werde.
Endlich bat er sich noch aus, daß Dionysius niemals einige
heimliche Eingebungen oder Anklagen gegen ihn annehmen
möchte, ohne ihm solche offenherzig zu entdecken und seine
Verantwortung anzuhören.Der Prinz bedachte sich um so weniger, alle diese Bedingungen
zu unterschreiben, da er entschlossen war ihn zu haben,
wenn es auch die Hälfte seines Reichs kosten sollte. Agathon
bezog also eine Wohnung, welche man im Palast für ihn eingerichtet
hatte; und Dionysius erklärte öffentlich, daß man
sich in allen Sachen an seinen Freund Agathon, wie an ihn
selbst, wenden könne. Auf einmal eiferten nun die Höflinge
in die Wette, dem neuen Günstling ihre Unterwürfigkeit zu
bezeigen, und Syrakus sah mit froher Erwartung der Wiederkunft
der Saturnischen Zeiten entgegen.—————
Sechstes Capitel.Einige Betrachtungen über das Betragen Agathons.Wir machen hier eine kleine Pause, um dem Leser Zeit
zu lassen, dasjenige zu überlegen, was er sich selbst in diesem
Augenblick für oder wider unsern Helden zu sagen haben mag.Vielleicht finden einige in dem Eifer, womit er wider die
Republiken gesprochen, eine Bitterkeit, welche ihn unbillig
genug machte, die Undankbarkeit seiner eigenen Mitbürger
an allen andern Freistaaten zu bestrafen. Andere werden vielleicht
sein ganzes Betragen an dem Hofe des Königs Dionysius
einer gekünstelten Klugheit, welche nicht in seinem Charakter
sey und ihm eine schielende Farbe gebe, beschuldigen.Wir haben uns schon mehrmals erklärt, daß wir in diesem
Werke die Pflichten eines Geschichtschreibers und nicht
eines Lob- und Schulredners übernommen haben. Indessen
bleibt uns doch erlaubt, von den Handlungen eines Mannes,
dessen Leben wir zwar nicht für ein vollkommenes Muster, aber
doch für ein lehrreiches Beispiel geben, eben so frei nach unserm
Gesichtspunkte zu urtheilen, als es unsre Leser aus dem
ihrigen thun mögen.Wir haben bereits erinnert, daß es unbillig seyn würde,
dasjenige, was Agathon wider die Republiken seiner Zeit gesprochen,
für eine Beleidigung solcher Freistaaten anzusehen,
welche, unter dem Einfluß günstiger Umstände, durch ihre
Tage vor auswärtigem Neid und vor ausschweifenden Vergrößerungsgedanken
gesichert, durch weise Gesetze, und (was
noch mehr ist) durch die Macht der Gewohnheit, in einer glückseligen
Mittelmäßigkeit fort erhalten werden, und die Gebrechen
kaum dem Namen nach kennen, welche Agathon an den
Republiken seiner Zeit für unheilbar ansah. Gibt es (wie wir
hoffen und glauben) solche Republiken in unsern Tagen, so können
sie sich durch das Böse, was Agathon mit Wahrheit von
denen, die er kannte, sagt, nicht beleidigt finden. Im Gegentheil
wird ihnen dieser Theil seiner Rede zu einem Spiegel dienen,
worin sie ihre eigene Gestalt beschauen, und, wofern
sie an derselben keines der Gebrechen entdecken, welche Agathon
den Republiken vorwirft, sich mit größtem Recht einem
reinen und untadelhaften Wohlgefallen an sich selbst überlassen
können.Ueberhaupt hat man Ursache zu glauben, daß Agathon
gesprochen habe wie er dachte; und das ist zu Rechtfertigung
seiner Redlichkeit genug. Warum sollten wir an dieser zu
zweifeln anfangen? Sein ganzes Betragen, während er das
Herz des Tyrannen in seinen Händen hatte, bewies, daß er
keine Absichten hegte, welche ihn genöthigt hätten ihm gegen
seine Ueberzeugung zu schmeicheln. Es ist wahr, er hatte von
dem Augenblick an, da er den Fuß in Dionysens Palast setzte, Absichten
bei allem was er that. Sollte er vielleicht keine gehabt
haben? Wenn seine Absichten edel und wohlthätig waren (und
das waren sie wirklich), was können wir, nach der äußersten
Schärfe, mehr fordern? Es scheint also nicht, daß man Grund
habe, ihm aus der Vorsichtigkeit einen Vorwurf zu machen,
womit er, auf der neuen unb schlüpfrigen Bahn die er betreten
wollte, alle seine Handlungen einrichten mußte, wenn sie Mittel
zu seinen Absichten werden sollten. Wir geben zu, daß eine Art
von Zurückhaltung und Feinheit daraus hervorblicke, welche
nicht ganz in seinem vorigen Charakter zu seyn scheint. Aber
dieß verdient an sich selbst keinen Tadel. Es ist noch auszumachen,
ob diese Unveränderlichkeit der Denkungsart und Verhaltungsregeln,
worauf manche ehrliche Leute sich so viel zu
gut thun, eine so große Vollkommenheit ist als sie sich einbilden.
Zwar schmeichelt uns die Eigenliebe sehr gern, daß wir, so wie
wir sind, am besten seyen: aber sie hat nicht selten Unrecht uns
so zu schmeicheln. Es ist unmöglich, daß, indem sich alles um
uns her verändert, wir allein unveränderlich bleiben sollten;
und wenn es auch nicht unmöglich wäre, so wäre es oft unschicklich
und tadelhaft. Andre Zeiten erfordern andre Sitten,
andre Umstände eine andre Bestimmung und Wendung unsers
Verhaltens. In moralischen Romanen finden wir freilich
Helden, welche sich immer in allem gleich bleiben, —und darum
zu loben sind. Denn wie sollte es anders seyn, da sie in ihrem
zwanzigsten Jahre Weisheit und Tugend bereits in eben dem
Grade der Vollkommenheit besitzen, den ein Sokrates oder
Epaminondas, nach vielfachen Verbesserungen ihrer selbst,
kaum im sechzigsten erreicht haben? Aber im Leben finden wir's
ganz anders. Desto schlimmer für die, welche sich da immer
selbst gleich bleiben, anstatt immer besser zu werden! Oder
sollten nicht auch die besten Menschen an ihren Begriffen, Urtheilen
und Gefühlen, an ihrem Kopf und Herzen, und selbst
an dem, was das Vorzüglichste und Schätzbarste an ihnen ist,
immer noch viel zu verbessern haben? Und lehrt nicht die Erfahrung,
daß wir selten zu einer neuen Entwicklung unsrer
selbst, oder zu einer merklichen Verbesserung unsers vorigen
innerlichen Zustandes gelangen, ohne durch eine Art von Medium
zu gehen, welches eine falsche Farbe auf uns respectirt,
und unsre wahre Gestalt eine Zeit lang verdunkelt? — Wir
haben unsern Helden bereits in verschiedenen Lagen gesehen;
und in jeder, durch den Einfluß der Umstände, ein wenig anders
als er wirklich ist. Er schien zu Delphi ein bloßer speculativer
Enthusiast; und man hat in der Folge gesehen, daß er sehr gut
zu handeln wußte. Wir glaubten, nachdem er die schöne Cyane
gedemüthiget hatte, daß ihm die Verführungen der Wollust
nichts anhaben könnten; und Danae bewies, daß wir uns
betrogen hatten. Aber es wird nicht mehr lange anstehen, so
wird eine neue vermeinte Danae. welche seine schwache Seite
aufgefunden zu haben glaubte, sich eben so betrogen finden.
Agathon schien in verschiednen Zeitpunkten seines Lebens, nach
der Reihe ein Platonischer und ein patriotischer Schwärmer,
ein Held, ein Stoiker, ein Wollüstling; und er war keines von
allen, wiewohl er nach und nach durch alle diese Classen ging,
und in jeder etwas von der eignen Farbe derselben bekam.
Wir sind noch nicht am Ende seines Laufes; daher kann auch
von seinem Charakter, von dem was er wirklich war, worin
er sich unter allen diesen Gestalten gleich blieb, und was
zuletzt, nachdem alles Fremdartige davon abgeschieden seyn
wird, übrig bleiben wird, dermalen die Rede noch nicht
seyn.Ohne also so voreilig über ihn zu urtheilen, wie man
gewohnt ist im täglichen Leben alle Augenblicke zu thun,
wollen wir fortfahren ihn zu beobachten, die wahren Triebräder
seiner Handlungen so genau als uns möglich seyn wird
zu erforschen, keine geheime Bewegung seines Herzens, welche
uns einigen Aufschluß hierüber geben kann, entwischen lassen,
und unser Urtheil über das Ganze seines moralischen Wesens
so lange zurückhalten, bis — wir es kennen werden.Zwölftes Buch.Agathons Staatsverwaltung; seine Fehler gegen alle
Hof- und Weltklugheit, und sein Fall.Erstes Capitel.Etwas von Haupt- und Staatsactionen. Betragen Agathons am
Hofe des Königs Dionysius.Man tadelt an Shakspeare — demjenigen unter allen
Dichtern seit Homer, der die Menschen, vom Könige bis zum
Bettler, von Julius Cäsar bis zu Jack Fallstaff, am besten
gekannt, und mit einer seltnen Anschauungskraft durch und
durch gesehen hat —daß seine Stücke meistens keinen, oder
doch nur einen sehr fehlerhaften, unregelmäßigen und schlecht
ausgesonnenen Plan haben; daß Komisches und Tragisches
darin auf die seltsamste Art durcheinander geworfen ist, und
oft eben dieselbe Person, die uns durch die rührende Sprache
der Natur Thränen in die Augen gelockt hat, in wenigen Augenblicken
darauf, durch irgend einen seltsamen Einfach oder
barockischen Ausdruck ihrer Empfindungen, wo nicht zu lachen
macht, doch dergestalt abkühlt, daß es schwer wird uns wieder
in die gehörige Fassung zu setzen. — Man tadelt dieß, —
und denkt nicht daran, daß seine Stücke eben darum desto natürlichere
Abbildungen des menschlichen Lebens sind.Der Lebenslauf der meisten Menschen, und (wenn wir es
sagen dürfen) der großen Staatskörper selbst, insofern sie als
moralische Wesen betrachtet werden, gleicht den Haupt- und
Staatsactionen, die ehmals im Besitz der Schaubühne waren,
in so vielen Punkten, als man beinahe auf die Gedanken
kommen möchte, die Erfinder dieser lettern wären klüger gewesen
als man gemeiniglich denkt, und hätten, wofern sie nicht gar die
Absicht gehabt das menschliche Leben lächerlich zu machen,
wenigstens die Natur eben so getreu nachahmen wollen, als
die Griechen sich angelegen seyn ließen sie zu verschönern. Um
itzt nichts von der zufälligen Aehnlichkeit zu sagen, daß in
jenen Stücken, so wie im Leben, die wichtigsten Rollen sehr
oft gerade durch die schlechtesten Schauspieler gespielt werden;
was kann ähnlicher seyn, als es beide Arten von Haupt- und
Staatsactionen einander in der Anlage, in der Abtheilung
und Verbindung der Scenen, im Knoten und in der Entwicklung
zu seyn pflegen? Wie selten fragen die Urheber der einen und
der andern sich selbst, warum sie dieses oder jenes gerade so
und nicht anders gemacht haben! Wie oft überraschen sie uns
durch Begebenheiten, zu denen wir nicht im mindesten vorbereitet
waren! Wie oft sehen wir Personen kommen und wieder
abtreten, ohne daß sich begreifen läßt, warum sie kamen, oder
warum sie wieder verschwinden! Wie viel wird in beiden dem
Zufall überlassen! Wie oft sehen wir die größten Wirkungen
durch die armseligsten Ursachen hervorgebracht! Wie oft das
Ernsthafte und Wichtige mit einer leichtsinnigen Art, und
das Nichtsbedeutende mit lächerlichem Ernst behandelt! Und,
wenn in beiden endlich alles so kläglich verworren und durch
einander geschlungen ist, daß man an der Möglichkeit der Entwicklung
zu verzweifeln anfängt, wie glücklich sehen wir nicht
durch irgend einen unter Blitz und Donner aus papiernen
Wolken herabspringenden Gott, oder durch einen frischen Degenhieb,
den Knoten auf einmal zwar nicht aufgelöst, aber doch
zerschnitten, welches insofern auf Eines hinausläuft, als auf
die eine oder andere Art das Stück nun ein Ende hat, und
die Zuschauer klatschen, oder zischen können wie sie wollen,
oder — dürfen! Was übrigens der edle Hans Wurst in den
komischen Tragödien, wovon wir reden, für eine wichtige Rolle
zu spielen hatte, wird vielen unserer Leser noch in frischem
Andenken liegen. Wie viel Mühe hat es nicht gekostet, diesen
Lieblingscharakter der Oberdeutschen Provinzen von der Schaubühne
zu verdrängen! — Und gleichwohl —möchte er immer
auf der Schaubühne bleiben, insofern er nirgends als dort
geduldet würde! Aber wie manche große Aufzüge auf dem
Schauplatze der Welt hat man nicht in allen Zeiten mit
Hans Wurst — oder, welches noch ein wenig ärger ist, durch
Hans Wurst —aufführen gesehen! Wie oft haben große Männer,
geboren, die schützenden Engel eines Throns, die Wohlthäter
ganzer Völker und Zeitalter zu seyn, alle ihre Weisheit
und Tapferkeit durch einen kleinen schnakischen Streich von
solchen Leuten vereitelt sehen müssen, welche, ohne eben das
rothe Wamms und die gelben Kosen ihres Urbildes zu tragen,
durch ihre ganze Aufführung bewiesen, daß sie ihm in den
wesentlichen Zügen seines Charakters desto ähnlicher waren! waren!
Wie oft entsteht in beiden Arten der Tragikomödien die Verwicklung
selbst lediglich daher, daß Hans Wurst durch irgend
ein dummes oder schelmisches Stückchen von seiner Arbeit den
klugen Leuten, ehe sie sich dessen versehen können, ihr Spiel
verderbt!Wir wollen die Vergleichung nicht weiter treiben: aber
wenn sie, wie es scheint, ihren guten Grund hat, so mögen
wir wohl den weisen und rechtschaffenen Mann bedauern, den
sein Schicksal dazu verurtheilt hat, unter einem schlimmen,
oder — was noch ärger ist — unter einem schwachen Fürsten,
in die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten verwickelt
zu seyn! Was wird es ihm helfen, mit Einsichten und Muth
nach den besten Grundsätzen und nach dem richtigsten Plan zu
handeln, wenn das verächtlichste Ungeziefer, wenn ein Sklave,
ein Kuppler, eine Bacchidion, wenn der erste beste Parasit,
dessen ganzes Verdienst in Geschmeidigkeit, Verstellung und
Schalkheit besteht, es in seiner Gewalt hat, die Maßregeln
des Biedermannes zu verrücken, aufzuhalten, oder gar zu
hintertreiben?Bei allem dem bleibt ihm, wenn er sich einmal an ein so
gefahrvolles Abenteuer gewagt hat, kein andres Mittel übrig,
sich selbst zu beruhigen, und sein Betragen vor dem unparteiischen
Gericht der Weisen und der Nachwelt rechtfertigen zu
können, als —daß er sich, eh' er die Hand ans Werk legt,
einen regelmäßigen Plan seines ganzen Verhaltens entwerfe.
Wenn gleich alle Weisheit eines solchen Entwurfs ihm für den
Ausgang nicht Gewähr leisten kann, so bleibt ihm doch der
tröstende Gedanke: alles gethan zu haben, was ihn, ohne die
Zufälle, die er entweder nicht vorhersehen oder nicht hintertreiben
konnte, des glücklichen Erfolgs versichern mußte.Dieß war nun die erste Sorge unsers Helden, nachdem
er sich anheischig gemacht hatte, die Person eines Rathgebers
und Vertrauten bei dem Könige Dionysius zu spielen. Er sah
die Schwierigkeiten, einen Plan zu machen, der ihm durch den
Labyrinth des Hofes und des öffentlichen Lebens zum Leitfaden
dienen könnte: aber er glaubte, daß der mangelhafteste Plan
besser sey als keiner. Und in der That war ihm die Gewohnheit,
seine Ideen, worüber es auch seyn möchte, in ein System
zu bringen, so natürlich geworden, daß sie sich, so zu sagen,
von sich selbst in einen Plan ordneten, welcher vielleicht keinen
andern Fehler hatte, als daß Agathon noch nicht so übel von
den Menschen denken konnte, wie es diejenigen verdienten,
mit denen er zu thun hatte. Und doch dachte er bei weitem
nicht mehr so erhaben von der menschlichen Natur als ehmals;
oder, richtiger zu reden, er hatte den unendlichen Unterschied
des metaphysischen Menschen, den man sich in speculativer
Einsamkeit denkt oder träumt, von dem natürlichen Menschen,
in der rohen Einfalt und Unschuld, wie er aus den Händen
der allgemeinen Mutter der Wesen hervorgeht, — und beider
von dem erkünstelten Menschen, wie ihn Gesellschaft, Gesetze,
Meinungen, Gebräuche und Sitten, Bedürfnisse, Abhänglichkeit,
ewiger Streit seiner Begierden mit seinem Unvermögen,
seines Privatvortheils mit den Privatvortheilen der übrigen,
und die daher entspringende Nothwendigkeit der Verstellung
und immerwährenden Verlarvung seiner wahren Absichten, mit
tausend andern physischen und sittlichen Ursachen, die immer
merklich oder unmerklich auf ihn wirken, — verfälscht, gedrückt,
verzerrt, verschroben, und in unzählige unnatürliche
und betrügliche Gestalten umgeformt oder verkleidet haben, —
er hatte, sage ich, diesen Unterschied der Menschen um uns
her, von dem was der Mensch an sich ist und seyn soll, bereits
zu gut kennen gelernt, um seinen Plan auf Platonische Ideen
zu gründen. Er war nicht mehr der jugendliche Enthusiast,
der sich einbildete, daß es ihm eben so leicht seyn werde, ein
großes Vorhaben auszuführen, als es zu fassen. Die Athener
hatten ihn auf immer von dem Vorurtheile geheilt, daß die
Tugend nur ihre eigene Stärke gebrauche, um über ihre Gegner
obzusiegen. Er hatte gelernt, wie wenig man von andern
erwarten, wie wenig man auf ihre Mitwirkung Rechnung machen,
und (was das wichtigste für ihn war) wie wenig man
sich auf sich selbst verlassen darf. Er hatte gelernt, wie viel
man oft den Umständen nachgeben muß; daß der vollkommenste
Entwurf an sich selbst oft der schlechteste unter den gegebenen
Umständen ist —daß sich das Böse nicht auf einmal gut machen
läßt —daß in der moralischen Welt, wie in der materialen,
nichts in gerader Linie sich fortbewegt, und man also selten
anders als durch viele Krümmen und Wendungen zu einem
guten Zweck gelangen kann —kurz, daß das Leben einer Schifffahrt
gleicht, wo der Steuermann sich gefallen lassen muß, seinen
Lauf nach Wind und Weiter einzurichten; wo er keinen
Augenblick sicher ist, nicht durch widrige Ströme aufgehalten
oder seitwärts getrieben zu werden; und wo alles darauf
ankommt, mitten unter tausend unfreiwilligen Abweichungen
von seiner vorgesetzten Richtung, endlich dennoch, sobald und
wohlbehalten als möglich, an dem vorgesetzten Ort anzulangen.Diesen allgemeinen Grundsätzen zufolge, bestimmte er, bei
allem was er unternahm, den Grad des Guten, welches er
sich zu erreichen vorsetzte, nach dem Zusammenhang aller Umstände,
worin er die Sachen antraf; und sein Verhalten gegen
die Personen, mit welchen er dabei zu thun hatte, ohne andre
Rücksichten, lediglich nach dem Maße, wie er urtheilte daß sie
seinem Hauptzweck hinderlich oder förderlich seyn würden.Er konnte, seitdem er den Dionysius näher kannte, nicht
daran denken, ein Muster eines guten Fürsten aus ihm zu
machen. Aber er hoffte doch, nicht ohne Grund, seinen Lastern
ihr schädlicheres Gift benehmen, und seiner guten Neigungen,
oder vielmehr seiner guten Launen, seiner Leidenschaften und
Schwachheiten selbst, sich zum Vortheil des gemeinen Besten
bedienen zu können. Diese Meinung von seinem Prinzen war
in der That so bescheiden, daß er sie, ohne alle Hoffnung zu
Erreichung seiner Entwürfe aufzugeben, nicht tiefer herabstimmen
konnte. Gleichwohl zeigte sich in der Folge, daß er noch
zu günstig von ihm gedacht hatte. Dionysius besaß in der That
Eigenschaften, welche viel Gutes versprachen: aber unglücklicher
Weise hatte er für jede derselben eine andere, die alles
wieder vernichtete, was jene zusagte; und wenn man ihn lange
genug in der Nähe betrachtet hatte, so fand sich's, daß seine
vermeinten Tugenden in der That nichts anders als —seine
Laster waren, welche, von einer gewissen Seite betrachtet, die
Farbe irgend einer Tugend annahmen. Dem ungeachtet ließ
sich Agathon durch diese guten Anscheinungen so verblenden,
daß er die Unverbesserlichkeit eines Charakters dieser Art (und
also den Urgrund aller seiner Hoffnungen) nicht eher einsah,
als da ihm die Entdeckung zu nichts mehr nützen konnte.Die größte Schwachheit des Prinzen (seiner Meinung
nach) war sein Hang zur Gemächlichkeit und Wollust. Agathon
hoffte jenem dadurch zu begegnen, daß er ihm die Geschäfte so
leicht und so angenehm zu machen suchte als möglich war;
diesem, wenn er ihn wenigstens von den wilden Ausschweifungen,
zu welchen er sich bisher hatte hinreißen lassen, abgewohnte.
Unsre Vergnügungen werden desto feiner, edler und
sittlicher, je mehr die Musen Antheil daran haben. Aus diesem
nie genug zu empfehlenden Grundsatze bemühte er sich, dem
Dionysius mehr Geschmack an den schönen Künsten beizubringen,
als er bisher daran gehabt hatte. In kurzem wurden
seine Paläste, Landhäuser und Gärten mit den Meisterstücken
der Maler und Bildhauer Griechenlandes angefüllt. Agathon
zog die berühmtesten Virtuosen in allen Gattungen nach Syrakus;
er führte ein prächtiges Odeon auf, nach dem Muster
dessen, worauf Perikles den öffentlichen Schatz der Griechen
verwendet hatte; und Dionysius fand so viel Vergnügen an
den verschiedenen Arten von Schauspielen, womit er, unter
der Aufsicht seines Günstlings, fast täglich auf diesem Theater
belustiget wurde, daß er (seiner Gewohnheit nach) eine Zeit
lang allen Geschmack an schlechten Ergötzlichkeiten verloren zu
haben schien. Indessen war doch eine andre Leidenschaft übrig,
deren Herrschaft über ihn allein hinlänglich war, alle guten
Absichten seines neuen Freundes zu hintertreiben.Gegenwärtig befand sich die Tänzerin Bacchidion im Besitz
derselben; aber es fiel bereits in die Augen, daß die unmäßige
Liebe, welche sie ihm beigebracht, schon viel von ihrer ersten
Heftigkeit verloren hatte. Es würde vielleicht nicht schwer gehalten
haben, die Wirkung seiner natürlichen Unbeständigkeit
um etliche Wochen zu beschleunigen. Aber Agathon hatte erhebliche
Bedenklichkeiten, die ihn davon abhielten. Die Gemahlin
des Prinzen war unglücklicher Weise in keinerlei Betrachtung
geschickt, einen Versuch, ihn in die Gränzen der ehelichen
Liebe einzuschränken, zu unterstützen. Dionysius konnte
nicht ohne einen Liebeshandel leben; und die Gewalt, welche
seine Beischläferinnen über sein Herz erhielten, machte seine
Unbeständigkeit gefährlich. Bacchidion war eines von diesen
gutartigen fröhlichen Geschöpfen, in deren Phantasie alles rosenfarb
ist; die keine andere Sorge in der Welt haben, als ihr
Daseyn von einem Augenblick zum andern wegzuscherzen, ohne
sich jemals einen Gedanken von Ehrgeiz und Habsucht, oder
einigen Kummer über die Zukunft anfechten zu lassen. Sie
liebte das Vergnügen über alles. Immer aufgelegt es zu
geben und zu nehmen, schien es unter ihren Tritten aufzusprossen;
es lachte aus ihren Augen, und athmete aus ihren
Lippen. Ohne daran zu denken, sich durch die Leidenschaft des
Prinzen wichtig zu machen, hatte sie (aus einer Art von mechanischem
Wohlgefallen an vergnügten Gesichtern) ihre Gewalt
über ihn schon öfters dazu angewandt, Personen, die es verdienten,
oder auch nicht verdienten (denn darüber ließ sie sich
in keine Untersuchung ein), Gutes zu thun.Agathon besorgte, ihre Stelle könnte leicht mit einer
andern besetzt werden, die einen schlimmern Gebrauch von ihren
Reizungen machen würde. Er hielt es also seiner nicht unwürdig,
mit guter Art, und ohne daß es schien als ob er eine
besondere Aufmerksamkeit auf sie habe, die Neigung des Prinzen
zu ihr mehr zu unterhalten als zu bekämpfen. Er verschaffte
ihr Gelegenheit, ihre belustigenden Talente in einer
Mannichfaltigkeit zu entfalten, welche ihr immer die Reizungen
der Neuheit gab. Er wußte es zu veranstalten, daß Dionysius
durch öftere kleine Entfernungen verhindert wurde, sich zu bald
an dem Vergnügen zu ersättigen, welches er in ihrer Unterhaltung
fand. Er ging endlich gar so weit, daß er bei Gelegenheit
eines Gesprächs, wo die Rede von den allzu strengen
Grundsätzen des Plato über diesen Artikel war, sich kein Bedenken
machte, zu sagen: daß es unbillig sey, einen Prinzen,
welcher sich die Erfüllung seiner großen und wesentlichen Pflichten
mit gehörigem Ernst angelegen seyn lasse, in seinen Privatergötzungen
noch enger als in die Gränzen einer anständigen
Mäßigung einschränken zu wollen. Alles, was ihm hierüber
(wiewohl in allgemeinen Ausdrücken) entfiel, schien die Bedeutung
einer stillschweigenden Einwilligung in die Schwachheit
des Prinzen für die schöne Bacchidion zu haben; und in der
That war dieses sein Gedanke.Wir zweifeln sehr, ob die gute Absicht, die er dabei hatte,
jemals hinlänglich seyn könne, eine so gefährliche Aeußerung zu
rechtfertigen. So viel ist gewiß, daß Dionysius, der bisher
aus einer gewissen Scham vor der Tugend unsers Helden sich
bemüht hatte, seine schwache Seite vor ihm zu verbergen, von
dieser Stunde an weniger zurückhaltend wurde, und aus dem
vielleicht unrichtigen, aber sehr gemeinen Vorurtheil, daß die
Tugend eine erklärte Feindin aller Götter der Freude seyn
müsse, einen Argwohn gegen unsern Helden faßte, wodurch er
um einige Stufen herab, und mit ihm selbst und den übrigen
Erdenbewohnern in die nämliche Linie gesetzt wurde. Ein Argwohn,
der zwar durch die sich selbst immer gleiche Aufführung
Agathons wieder zum Schweigen gebracht, aber doch nicht so
gänzlich unterdrückt wurde, daß dessen geheimer Einfluß den
nachmaligen Beschuldigungen der Feinde Agathons den Zugang
in das Gemüth eines Prinzen nicht erleichtert hätte, welcher
ohnehin so geneigt war, die Tugend entweder für Schwärmerei
oder für Verstellung zu halten.Indessen gewann Agathon durch seine Nachsicht gegen die
Lieblingsfehler des Prinzen doch so viel, daß er sich desto leichter
bewegen ließ, an den Geschäften der Regierung mehr Antheil
zu nehmen als er gewohnt war; und dieß war es ohne
Zweifel, was unser Held für eine hinlängliche Vergütung des
Tadels ansah, den er sich durch seine Gefälligkeit bei gewissen
Personen von strengen Grundsätzen zuzog, welche, in der weiten
Entfernung von der großen Welt, worin sie leben, gute
Muße haben an andern zu verdammen, was sie an derselben
Platz vielleicht noch schlechter gemacht haben würden.—————
Zweites Capitel.Geheime Nachrichten von Philistus. Agathon zieht sich die Feindschaft
des Timokrates durch eine Handlung zu, wodurch er sich um Dionysius
und um ganz Sicilien verdient macht.Außer der schönen Bacchidion war Philistus, durch die
Gnade, worin er bei Dionysen stand, die beträchtlichste Person
unter allen denjenigen, mit denen Agathon in seiner neuen
Stelle in Verhältniß war. Dieser Mann spielt in diesem Theil
unsrer Geschichte eine Rolle, welche begierig machen kann, ihn
genauer kennen zu lernen. Ueberdem ist es eine von den
ersten Pflichten der Geschichte, den verfälschenden Glanz zu zerstreuen,
welchen das Glück und die Gunst der Großen sehr
oft über nichtswürdige Geschöpfe ausbreiten, und der Nachwelt
zu zeigen, daß zum Beispiele dieser Pallas, welchen so viele
Decrete des Römischen Senats, so viele Statuen und öffentliche
Ehrenmäler ihr als einen Wohlthäter des menschlichen Geschlechts,
als einen Halbgott, ankündigten, nichts Besseres noch
Größeres als ein schamloser lasterhafter Sklave war. Wenn
Philistus in Vergleichung mit einem Pallas oder Tigellinus
nur ein Zwerg gegen einen Riesen scheint: so kommt es in der
That allein von dem unermeßlichen Unterschied zwischen der
Römischen Monarchie im Zeitpunkt ihrer äußersten Höhe, und
dem kleinen Staat, worin Dionysius zu gebieten hatte, her.
Eben dieser Teufel, der, seiner schlimmen Laune Luft zu
machen, eine Heerde Schweine ersäufte, würde mit ungleich
größerm Vergnügen den ganzen Erdboden unter Wasser gesetzt
haben, wenn es ihm erlaubt gewesen wäre; und Philistus würde
herzlich gern Pallas gewesen seyn, wenn er das Glück gehabt
hätte, in den Vorzimmern des Claudius aufzuwachsen. Die
Proben, die er in seinem kleinen Kreise von dem, was er in
einem größern gethan hätte, ablegte, lassen uns nicht daran
zweifeln.Ein geborner Sklave, und in verfolge einer von den Freigelassenen
des alten Dionysius, hatte dieser Philistus sich schon
damals unter seinen Cameraden durch den schlauesten Kopf
und die geschmeidigste Gemüthsart ausgezeichnet, ohne daß es
ihm jedoch einigen besondern Vorzug bei seinem Herrn verschafft
hätte. Er grämte sich billig über diese, wiewohl nicht
ungewöhnliche Laune des Glücks; aber er wußte sich zu helfen.
Glücklichere Vorgänger hatten ihm den Weg gezeigt, wie man
sich ohne Mühe und ohne Verdienste zu der hohen Stufe emporschwingen
kann, nach welcher ihm eine Art von Ehrgeiz, die
sich in gewissen Seelen mit der verächtlichsten Niederträchtigkeit
verträgt, ein ungezähmtes Verlangen gab. Wir haben schon
bemerkt, daß der jüngere Dionysius von seinem Vater ungewöhnlich
hart gehalten wurde. Philistus war der einzige, der
den Verstand hatte, zu sehen, wie viel Vortheil sich aus diesem
Umstande ziehen lasse. Er fand Mittel, die Nächte des
jungen Prinzen angenehmer zu machen als seine Tage waren.
Brauchte es mehr, um von einem jungen Menschen ohne Erziehung
und Grundsätze als ein Wohlthäter angesehen zu werden,
dessen gute Dienste er niemals genug werde belohnen
können? Philistus ließ es nicht dabei bewenden. Er kam auf
den Einfall, zu gleicher Zeit und durch einen einzigen kleinen
Handgriff, sich dieser Belohnung würdiger und desto eher theilhaft
zu machen. Eine bösartige Kolik, wozu er das Recept
hatte, beschleunigte das Ende des alten Tyrannen. Philistus
war der erste, der seinem jungen Gebieter die freudige Nachricht
brachte, und nun sah er sich auf einmal in dem geheimsten
Vertrauen eines Königs, und in kurzem am Ruder des
Staats.Diese wenigen Anekdoten sind zureichend, uns einen so
sichern Begriff von dem sittlichen Charakter dieses würdigen
Ministers zu geben, daß er nunmehr das Aergste, dessen ein
Mensch fähig ist, begehen könnte, ohne daß wir uns darüber
verwundern würden. Aber was für ein Physiognomik müßte
der gewesen seyn, der diese Anekdoten in seinen Augen hätte
lesen können? Es ist wahr, Agathon dachte gleich anfangs
nicht allzu vortheilhaft von ihm. Aber wie hatte er, ohne
besondere Nachrichten zu haben, oder selbst ein Philistus zu
seyn, sich vorstellen sollen, daß Philistus das seyn könnte was
er war? Wenige kannten die inwendige Seite dieses Mannes;
aber auch diese wenigen waren zu gute Höflinge, um ihren
bisherigen Gönner eher zu verrathen, bis sein Sturz gewiß war,
und sie wissen konnten was sie dadurch gewinnen würden. Aristipp,
für den sein wahrer Charakter gleichfalls kein Geheimniß
war, hatte sich vorgesetzt, einen bloßen Zuschauer abzugeben.
Agathon konnte also desto leichter hintergangen werden, weil
Philistus alle seine Kräfte und alle seine Verstellungskunst anstrengte,
sich bei ihm in Achtung zu setzen. Denn da er, zu
seinem großen Mißvergnügen, mit aller Menschenkenntniß,
die er (nach einem gewöhnlichen, wiewohl sehr betrüglichen
Vorurtheil der Hofleute) zu besitzen glaubte, die schwache Seite
unsers Helden nicht ausfindig machen konnte: so blieb ihm kein
andrer Weg übrig, als durch eine große Arbeitsamkeit und
Pünktlichkeit in Geschäften sich bei dem neuen Günstling in
das Ansehen eines brauchbaren —und durch Tugenden, die er
eben so leicht, als man eine Masse anzieht, anzunehmen
wußte, sich endlich sogar in das Ansehen eines ehrlichen Mannes
zu setzen.Da zu diesen Eigenschaften, welche Agathon in ihm zu
finden glaubte, noch die Achtung, welche Dionysius für ihn
trug, und die Betrachtung hinzu kam, daß es für den Staat
weniger sicher sey, einen ehrgeizigen Minister abzudanken, als
ihn mit scheinbarer Beibehaltung seines Ansehens in engere
Schranken zu setzen; so geschah es, daß sich diejenigen in ihrer
Meinung betrogen fanden, welche den Fall des Philistus für eine
unfehlbare Folge der Erhebung Agathons gehalten hatten. Sein
Ansehen schien vielmehr zuzunehmen, indem er zum Vorsteher
der verschiednen Tribunale ernannt wurde, unter welche
Agathon diejenige Gewalt vertheilte, welche vormals von den
Vertrauten des Prinzen willkürlich ausgeübt worden war.
In der That aber wurde er dadurch beinahe in die Unmöglichkeit
gesetzt, Böses zu thun, wofern ihn etwan eine Versuchung
dazu ankommen sollte; da er der allen seinen Handlungen von
so vielen Augen beobachtet wurde, von allem Rechenschaft geben
mußte, und nichts ohne die Einstimmung des Prinzen, oder
(welches eine Zeitlang einerlei war) seines Repräsentanten,
unternehmen konnte.Wir hatten ohne Zweifel viel Schönes von der Staatsverwaltung
Agathons sagen können, wenn wir uns in eine
ausführliche Erzählung aller der nützlichen Ordnungen und
Einrichtungen ausbreiten wollten, welche er in Absicht der
Staatsökonomie, der Einziehung und Verwaltung der öffentlichen
Einkünfte, der Polizei, des Handlungswesens, und
(welches in seinen Augen das Wesentlichste war) der öffentlichen
Sitten und der Bildung der Jugend, theils wirklich zu
machen anfing, theils gemacht haben würde, wenn man ihm
Zeit dazu gelassen hätte. Allein alles dieses gehört nicht zu
dem Plan des gegenwärtigen Werkes; und es wäre in der
That nicht abzusehen, wozu eine solche Ausführung in einer
Zeit nützen sollte, worin die Kunst zu regieren einen Schwung
genommen zu haben scheint, der die Maßregeln und das Beispiel
unsers Helden eben so unnütz macht, als die Projecte des
ehrlichen Abts von Saint-Pierre. Die Art, wie sich Agathon
ehmals seines Ansehens und Vermögens zu Athen bediente,
kann unsern Lesern einen hinlänglichen Begriff davon geben,
wie er sich einer beinahe unumschränkten Macht und eines königlichen
Vermögens bedient haben werde.Nur Einen Umstand können wir nicht vorbeigehen, weil
er einen merklichen Einfluß in die folgenden Begebenheiten
unsers Helden hatte. Dionysius befand sich, als Agathon an
seinen Hof kam, in einen Krieg mit den Carthagern verwickelt,
welche, durch verschiedene kleine Republiken des südlichen und
westlichen Theils von Sicilien unterstützt, unter dem Schein
sie gegen die Uebermacht von Syrakus zu schützen, sich der innerlichen
Zwietracht der Sicilier als einer guten Gelegenheit
bedienen wollten, diese für ihre Handlungsabsichten
vortheilhaft gelegene Insel endlich in ihre eigene Gewalt zu
bringen. Einige von diesen kleinen Republiken wurden von sogenannten
Tyrannen beherrscht; und diese hatten sich bereits
in die Arme der Republik Carthago geworfen. Die andern
hatten sich bisher noch in einer Art von Freiheit erhalten, und
schwankten, zwischen der Furcht von Dionysen überwältiget zu
werden und dem Mißtrauen in die Absichten ihrer anmaßlichen
Beschützer, in einer Wage, die alle Augenblicke auf die Seite
der letztern überzuziehen drohte. Timokrates, welchem Dionysius
die oberste Befehlshaberstelle in diesem Kriege anvertraute,
hatte sich bereits durch einige Vortheile über die Feinde den
öfters wohlfeilen Ruhm eines guten Generals erworben. Aber,
mehr darauf bedacht bei dieser Gelegenheit Lorbern und Reichthümer
zu sammeln, als das wahre Interesse seines Fürsten zu
besorgen, hatte er das Feuer der innerlichen Unruhen Siciliens
vielmehr ausgebreitet als gedämpft, und durch seine Aufführung
sich bei denen, die noch keine Partei genommen, so verhaßt gemacht,
daß sie im Begriff waren sich für Carthago zu erklären.Agathon schmeichelte sich, seine Beredsamkeit würde dem
Dionysius in diesen Umständen größere Dienste thun können,
als die ganze, wiewohl nicht verächtliche Land- und Seemacht,
welche Timokrates unter seinen Befehlen hatte. Er hielt es
für besser, Sicilien zu beruhigen als zu erobern; besser, es zu
einer Art von freiwilliger Uebergabe an Syrakus zu bewegen,
als es den Gefahren und verderblichen Folgen eines Kriegs
ausgesetzt zu lassen, der (wenn er auch am glücklichsten für
den Dionysius ausfiele) ihm doch nichts mehr verschaffen würde,
als den zweideutigen Vortheil, seine Unterthanen um eine
Anzahl gezwungener und mißvergnügter Leute vermehrt zu
haben, auf deren guten Willen man keinen Augenblick zählen
dürfte.Dionysius konnte den Gründen, womit Agathon sein
Vorhaben und die Hoffnung des gewünschten Ausgangs
unterstützte, seinen Beifall nicht versagen. Ueberhaupt galt
es ihm gleich, durch was für Mittel er zum ruhigen
Besitz der höchsten Gewalt in Sicilien gelangen könnte, wenn
er nur dazu gelangte, und eben darum, weil er klein genug
war, sich auf die wenig entscheidenden Siege seines Feldherrn
so viel einzubilden, als ob er sie selbst erhalten hätte; so war
er auch feigherzig genug, sich zu dem unrühmlichsten Frieden
geneigt zu fühlen, sobald er mit einiger Aufmerksamkeit an die
Unbeständigkeit des Kriegsglücks dachte. Die edlern Beweggründe
unsers Helden fanden also leicht Eingang bei ihm; oder,
richtiger zu reden, Agathon schrieb die Bereitwilligkeit des
Prinzen dem Eindruck seiner eignen Vorstellungen zu, ohne
wahrzunehmen, daß der wahre Grund davon in Dionysens
niederträchtiger Gemüthsart lag.Er begab sich also ingeheim (denn es war ihm daran gelegen,
daß Timokrates von seinem Vorhaben keinen Wink bekäme)
in diejenigen Städte, welche im Begriff standen die
Partei von Carthago zu verstärken. Es gelang ihm, die
widrigen Vorurtheile zu zernichten, womit er alle Gemüther
gegen die gefürchtete Tyrannei Dionysens eingenommen fand.
Er überzeugte sie so vollkommen, daß das Interesse eines jeden
besondern Theils von dem gemeinen Besten des ganzen Sicilien
unzertrennlich sey, und machte ihnen ein so schönes Gemälde
von dem glücklichen Zustande dieser Insel, wenn alle ihre
Theile durch die Bande des Vertrauens und der Freundschaft
sich mit Syrakus, als dem gemeinschaftlichen Mittelpunkte,
vereinigen würden, daß er mehr erhielt als er gehofft hatte,
und sogar mehr als er verlangte. Er wollte nur Bundesgenossen,
und es fehlte wenig, so würden sie, in einem Anstoß
von überfließender Zuneigung zu ihm, sich ohne Bedingung
zu Unterthanen eines Prinzen ergeben haben, von dessen erstem
Minister sie so sehr bezaubert waren.Die Veränderung, welche hierdurch in den öffentlichen
Angelegenheiten gemacht wurde, brachte den Krieg so schnell zu
Ende, daß Timokrates keine Gelegenheit bekam, durch ein
entscheidendes Treffen (es möchte allenfalls gewonnen oder
verloren worden seyn) Ehre einzulegen. Man kann sich vorstellen,
ob Agathon sich dadurch die Freundschaft dieses Mannes,
den sein großes Vermögen und die Verschwägerung mit
dem Prinzen zu einer wichtigen Person machte, erworben
habe; und mit welchen Augen Timokrates die frohlockenden
Regungen der Nation, welche unsern Helden nach Syrakus
zurück begleiteten, die Merkmale der Hochachtung, womit er von
dem Prinzen empfangen wurde, und das außerordentliche Ansehen,
worin er sich durch diese friedsame Eroberung befestigte,
angeschielt haben werde. Genöthigt, seinen Unwillen und seinen
Haß gegen einen so siegreichen Nebenbuhler in sich selbst zu verschließen,
lauerte er nur desto ungeduldiger auf Gelegenheiten,
ingeheim am Untergange desselben zu arbeiten. Und wie hätte
es ihm an einem Hofe, und an dem Hofe eines solchen Fürsten,
an Gelegenheiten dazu fehlen können?"—————
Drittes Capitel.Beispiele, daß nicht alles was gleißt Gold ist.Wenn Agathon während einer Staatsverwaltung, welche
nicht ganz zwei Jahre dauerte, das vollkommenste Vertrauen
seines Prinzen und die allgemeine Liebe der Nation, welche er
regierte, gewann, und wenn er sich dadurch auf die hohe Stufe
des Ansehens und der scheinbaren Glückseligkeit empor schwang,
welche unverdienter Weise der Gegenstand der Bewunderung
aller kleinen, und des Neides aller zugleich boshaften Seelen zu
seyn pflegt: so müssen wir gestehen, daß diese launische unerklärbare
Macht, die man Glück oder Zufall nennt, den wenigsten
Antheil daran hatte. Die Verdienste, die er sich in so kurzer Zeit
um den Prinzen und die Nation machte, die Beruhigung Siciliens,
das befestigte Ansehen von Syrakus, die Verschönerung dieser
Hauptstadt, die Verbesserung ihrer Polizei, die Belebung der
Künste und Gewerbe, und die allgemeine Zuneigung, welche er
einer vormals verabscheueten Regierung zuwandte: alle diese
Erfolge legten ein unverwerfliches Zeugniß für die Weisheit
seiner Staatsverwaltung ab. Und da so viele und so wichtige
Verdienste durch die Uneigennützigkeit und Regelmäßigkeit seines
Betragens in ein Licht gestellt wurden, welches keine
Mißdeutung zuzulassen schien, so blieb seinen inen heimlichen Feinden,
ohne die ungewisse Hülfe irgend eines Zufalls, von dem
sie selbst noch keine Vorstellung hatten, wenig Hoffnung übrig,
ihn so bald wieder zu stürzen, als sie es für ihre Absichten
wünschen mußten.Aber wie konnte ein Mann, der sich so untadelig betrug
und um jedermann Gutes verdiente, Feinde haben? So
werden diejenigen vielleicht denken, welche bei Gelegenheit zu
vergessen scheinen, daß der weise Mann nothwendig alle
Thoren, und der rechtschaffene, unvermeidlicher Weise, alle
die es nicht sind, entweder zu öffentlichen, oder doch gewiß
zu immerwährenden heimlichen Feinden haben muß. Eine
Wahrheit, welche in der Natur der Sachen so gegründet
und durch eine nie unterbrochene Erfahrung so bestätiget ist,
daß wir mit besserem Grunde fragen könnten: wie sollte
ein Mann, der sich so wohl betrug, keine Feinde gehabt haben?
Es konnte nicht anders seyn, als daß derjenige, dessen
beständige Bemühung dahin ging, seinen Prinzen tugendhaft,
oder doch wenigstens seine Laster unschädlich zu machen, sich
den herzlichen Haß dieser Höflinge zuziehen mußte, welche
(wie Montesquieu allzu streng von allen Hofleuten behauptet)
nichts so sehr fürchten als die Tugend des Fürsten, und keinen
zuverlässigern Grund ihrer Hoffnungen kennen, als seine
Schwachheiten. Wie hätten sie den Agathon nicht für denjenigen
ansehen sollen, der allen ihren Absichten und Entwürfen
im Wege stand? Er verlangte, zum Beispiele, daß man vorher
Verdienste haben müsse, ehe man an Belohnungen Anspruch
machen könne: sie hingegen wußten einen kürzern und
gemächlichern Weg; einen Weg, auf welchem zu allen Zeiten
(die Regierungen der Antonine ausgenommen) die nichtswürdigsten
Leute an Höfen ihr Glück gemacht haben, — kriechende
Schmeichelei, blinde Gefälligkeit gegen die Leidenschaften
der Fürsten und ihre Günstlinge, Gefühllosigkeit gegen
alle Regungen des Gewissens und der Menschlichkeit, Taubheit
gegen die Stimme aller Pflichten, unerschrockene Unverschämtheit
sich selbst Talente und Verdienste beizulegen, die man nie
gehabt hat, fertige Bereitwilligkeit jedes Bubenstück zu begehen,
welches eine Stufe zu unsrer Erhebung werden kann;
—und diesen Weg hatte ihnen Agathon auf einmal versperrt.
Sie sahen, so lange dieser Mann den Platz eines Günstlings
bei Dionysen behaupten würde, keine Möglichkeit, wie Leute
von ihrer Art sollten gedeihen können. Sie haßten ihn also;
und wir können versichert seyn, daß in den Herzen aller dieser
Höflinge eine Art von Zusammenverschwörung gegen ihn
brütete, ohne daß es dazu einiger geheimen Verabredung
bedurfte.Allein von allem diesem wurde noch nichts sichtbar. Die
Maske, welche sie vorzunehmen für gut fanden, sah einem
natürlichen Gesichte so ähnlich, daß Agathon selbst dadurch
betrogen wurde, und sich gegen die Philiste und Timokrate und
ihre Creaturen eben so bezeigte, als ob die Hochachtung, welche
sie ihm bewiesen, und der Beifall, den sie allen seinen Maßnehmungen
gaben, aufrichtig gewesen wäre. Diese wackern
Männer hatten einen gedoppelten Vortheil über ihn. Er,
weil er sich nichts Böses zu ihnen versah, dachte nicht daran
sie scharf zu beobachten: sie, weil sie sich ihrer eigenen Bosheit
bewußt waren, suchten desto vorsichtiger ihre wahren Gesinnungen
in eine undurchdringliche Verstellung einzuhüllen.
Versichert daß ein Mensch nothwendig eine schwache Seite
haben müsse, gaben sie sich alle mögliche Mühe die seinige zu
finden, und stellten ihn, ohne daß er einen Verdacht deßwegen
auf sie werfen konnte, auf alle möglichen Proben. Da
sie ihn aber gegen Versuchungen, denen sie selbst zu unterliegen
pflegten, gleichgültig oder gewaffnet fanden, so blieb
ihnen, bis auf irgend eine günstige Gelegenheit, nichts übrig,
als ihn durch den zauberischen Dunst einer subtilen Schmeichelei
einzuschläfern, welche er desto leichter für Freundschaft
halten konnte, da sie alle Anscheinungen derselben hatte. Und
wie natürlich mußte es ihm seyn, in einem Lande, worin er
sich um alle verdient machte, einen jeden für seinen Freund zu
halten! Diese Absicht gelang ihnen, und man muß gestehen,
daß sie dadurch schon ein Großes über ihn gewonnen hatten.Uebrigens können wir nicht umhin (es mag nun unserm
Helden nachtheilig seyn oder nicht) zu gestehen, daß zu einer
Zeit, da sein Ansehen den höchsten Gipfel erreicht hatte; da
Dionysius ihn mit Beweisen einer unbegränzten Gunst überhäufte;
da er von dem ganzen Sicilien für seinen Schutzgott
angesehen wurde, und das seltne Glück zu genießen schien,
lauter Bewunderer und Freunde und keinen Feind zu haben;
daß in einem so blendenden Glückstande — die Damen zu
Syrakus die einzigen Personen waren, welche ziemlich deutlich
merken ließen, daß sie nicht sehr günstig von ihm dachten.Die Damen zu Syrakus hatten so gut Augen wie die zu
Smyrna — und Herzen dazu; oder, in Ermanglung der
letztern, wenigstens etwas, dessen Bewegungen gewöhnlich mit
den Bewegungen des Herzens verwechselt werden. Ja diejenigen,
welche auch dessen ermangelten (wenn es anders
solche gab), hatten doch Eitelkeit, und konnten also nicht
gleichgültig gegen die eigensinnige Unempfindlichkeit eines
Mannes seyn, dessen Ueberwindung seine Siegerin zur Liebenswürdigsten
ihres Geschlechts zu erklären schien. In den Augen
der meisten Schönen ist der Günstling eines Monarchen allezeit
ein Adonis. Wie natürlich war also der Wunsch, einen Adonis
empfindlich zu machen, der noch überdieß der Liebling eines
Königs, und in der That (den Namen und das Diadem ausgenommen)
der König selbst war!Man kann sich auf die Geschicklichkeit der schönen Sicilierinnen
verlassen, daß sie nichts vergessen haben werden,
seiner Kaltsinnigkeit auch nicht den Schatten einer anständigen
Entschuldigung übrig zu lassen. Und womit hätte sie wohl
entschuldiget werden können? Es ist wahr, ein mit der Sorge
für einen ganzen Staat beladener Mann hat nicht so viel
Muße, als ein junger Herr, der sonst nichts zu thun hat,
als sein Gesicht alle Tage ein paarmal im Vorzimmer zu
zeigen, und die übrige Zeit von einer Schönen und von einer
Gesellschaft zur andern zu flattern. Aber man mag so beschäftigt
seyn als man will, so behält man doch allezeit
Stunden für sich selbst und für sein Vergnügen übrig. Und
wiewohl Agathon sich seinen Beruf etwas schwerer machte,
als er in unsern Zeiten zu seyn pflegt, nachdem man das Geheimniß
erfunden hat, die schwersten Dinge mit einer gewissen,
unsern plumpern Vorfahren unbekannten Leichtigkeit, vielleicht
nicht so gut, aber doch artiger, zu thun: so war es doch
augenscheinlich, daß er solche Stunden hatte. Sein Einfluß
in die Staatsverwaltung schien ihm so wenig zu schaffen zu
geben; er brachte so viel Freiheit des Geistes, so viel Munterkeit
und wie Laune zur Gesellschaft und zu den Ergötzlichkeiten,
wobei ihn Dionysius fast immer um sich haben wollte,
daß man die Schuld seiner seltsamen Aufführung unmöglich
seinen Geschäften beimessen konnte.Man mußte also, um sie begreiflich zu machen, auf
andere Hypothesen verfallen. Anfangs hielt eine jede die
andere im Verdacht, die geheime Ursache davon zu seyn; und
so lange dieses dauerte, hätte man sehen sollen, mit was
für Augen die guten Damen einander beobachteten, und wie
oft man in einem Augenblicke eine Entdeckung gemacht zu
haben glaubte, welche der folgende wieder vernichtete. Endlich
fand sich's , daß man einander Unrecht gethan hatte:
Agathon war gegen alle gleich verbindlich, und liebte keine.
Auf eine Abwesende konnte man keinen Argwohn werfen: denn
was hätte ihn bewegen sollen, den Gegenstand seiner Liebe
von sich entfernt zu halten?Es blieben also zuletzt keine andern als solche Vermuthungen
übrig, welche unserm Helden, auf die eine oder andre
Art, nicht sonderlich Ehre machten, ohne den gerechten Verdruß
mindern zu können, den man über ein so wenig natürliches
und in jeder Betrachtung so verhaßtes Phänomen
empfinden mußte.Unsre Leser, welche noch nicht vergessen haben können,
was Agathon zu Smyrna war, werden sogleich auf einen
Gedanken kommen, welcher freilich den Damen zu Syrakus
unmöglich einfallen konnte: nämlich, daß es diesen vielleicht
an Reizungen gefehlt habe, um einen hinlänglichen Eindruck
auf ein Herz zu machen, welches nach einer Danae (welch
ein Gemälde macht dieses einzige Wort!) nicht leicht etwas
würdig finden konnte, seine Neugier rege zu machen, Allein,
wenn die Nachrichten, denen wir in dieser Geschichte folgen,
Glauben verdienen, so hat eine den besagten Damen so wenig
schmeichelnde Vermuthung nicht den geringsten Grund. Syrakus
hatte Schönen, welche so gut als Danae den Polykleten
zu Modellen hätten dienen können; und diese Schönen hatten
alle noch etwas dazu, was die Schönheit noch geltender macht.
Einige Witz, andre Zärtlichkeit, andre wenigstens einen guten
Theil von dieser edeln Unverschämtheit, welche zuweilen
schneller zum Zweck führt, als die vollkommensten Reizungen,
wenn sie, unter dem Schleier der Bescheidenheit versteckt, ein
nachtheiliges Mißtrauen in sich selbst zu verrathen scheinen.
Es konnte also nicht dieß seyn. — Gut! So wird er sich
etwan des Sokratischen Geheimnisses bedient, und in den
verschwiegenen Liebkosungen irgend einer gefälligen Cypassis
das leichteste Mittel gefunden haben, sich vor der Welt die
Miene eines Xenokrates zu geben? — Auch dieß nicht!
Wenigstens sagen unsre Nachrichten nichts davon. Ohne also
den Leser mit vergeblichen Muthmaßungen aufzuhalten, wollen
wir gestehen, daß die Ursache dieser Kaltsinnigkeit unsers
Helden etwas so Natürliches und Einfältiges war, daß (sobald
wir es entdeckt haben werden) Schach Baham selbst sich
einbilden würde, wo nicht eben das, doch ungefähr beinahe
so etwas erwartet zu haben.Der Kaufmann, welcher unsern Helden nach Syrakus
gebracht hatte, war einer von denjenigen, welchen er ehmals
zu Athen das Bildniß seiner Psyche zu dem Ende gegeben
hatte, damit sie mit desto besserm Erfolg aller Orten möchte
aufgesucht werden können. Agathon erinnerte sich dieses Umstands
nicht eher, bis er einsmals dieß Bildniß von ungefähr
in dem Cabinet seines Freundes ansichtig wurde. Alles was
er empfunden hätte, wenn es Psyche selbst gewesen wäre,
empfand er in diesem Augenblicke. Die Erinnerungen seiner
ersten Liebe wurden dadurch wieder so neu belebt, daß er
(wie schwach auch seine Hoffnung war, das Urbild jemals
wieder zu sehen) sich aufs neue in dem Entschluß bestätigte,
ihrem Andenken getreu zu bleiben. Die Damen von Syrakus
hatten also wirklich eine Nebenbuhlerin. Aber wie hätten sie
errathen sollen, daß diese zärtlichen Seufzer, welche jede unter
ihnen seinem Herzen abzugewinnen wünschte, in mitternächtlichen
Stunden vor einer gemalten Gebieterin ausgehaucht
würden?—————
Viertes Capitel.Kleonissa.Von allen, welche sich durch die Unempfindlichkeit unsers
Helden beleidiget fanden, konnte keine der schönen Kleonissa
den Preis der glänzendsten Vorzüge streitig machen.Eine vollkommen regelmäßige Schönheit ist (mit Erlaubniß
derjenigen, welche Ursache haben die Grazien der Venus
vorzuziehen) unter allen Eigenschaften, die eine Dame haben
kann, diejenige, die den allgemeinsten, geschwindesten und
stärksten Eindruck macht. Und sie hat für tugendhafte Personen
noch den schätzbaren Vortheil, daß sie das Verlangen,
von der Besitzerin eines so seltnen Vorzugs geliebt zu seyn,
in dem nämlichen Augenblick durch eine Art von mechanischer
Ehrfurcht zurückscheucht, deren sich der verwegenere Satyr
kaum erwehren kann. Kleonissa besaß diese Vollkommenheit
in einem Grade. der den kaltblütigsten Kennern des Schönen
nichts zu tadeln übrig ließ. Es war unmöglich, sie ohne
Bewunderung anzusehen. Aber die ungemeine Zurückhaltung,
welche sie annahm, das Majestätische, das sie ihrer Miene,
ihren Blicken und allen ihren Bewegungen zu geben wußte,
mit dem Ruf einer strengen Tugend, den sie sich dadurch erworben
hatte, verstärkte die natürliche Wirkung ihrer Schönheit
so sehr, daß niemand sich in die Gefahr wagen wollte,
den Ixion dieser Juno abzugeben.Die Mittelmäßigkeit ihrer Herkunft, und sowohl der
Stand als die Vorsicht eines eifersüchtigen Ehemanns, hatten
sie während ihrer ersten Jugend in einer so großen Entfernung
von der Welt gehalten, daß sie eine ganz neue Erscheinung
war, als Philistus (der sie, wir wissen nicht wie, aufgespürt,
und Mittel gefunden hatte, sie mit guter Art zur Wittwe zu
machen) sie als seine Gemahlin an den Hof der Prinzessinnen
brachte; unter welchem Namen die Mutter, die Gemahlin
und die Schwestern des Dionysius begriffen waren. Nicht
viel geneigter als sein Vorgänger, eine Frau von so besondern
Vorzügen mit einem andern zu theilen, hatte er anfangs alle
Behutsamkeit gebraucht, welche der geizige Besitzer eines kostbaren
Schatzes nur immer anwenden kann, um ihn vor der
schlauesten Nachstellung zu verwahren. Aber die Tugend der
Dame, und die herrschende Neigung, welche Dionysius in den
ersten Jahren seiner Regierung für diejenige Classe von Schönen
zeigte, die nicht so viel Schwierigkeiten macht; vielleicht auch
eine gewisse Laulichkeit, welche die Eigenthümer der großen
Schönheiten nach Verfluß zweier oder dreier Jahre, oft auch
viel früher, unvermerkt zu überschleichen pflegt; — hatten
seine Eifersucht nach und nach so zahm gemacht, daß er kein
Bedenken trug, sie den Prinzessinnen so oft sie wollten zur
Gesellschaft zu überlassen. Wir wollen nicht untersuchen, ob
Kleonissa damals wirklich so tugendhaft war, als die Sprödigkeit
ihres Betragens gegen die Mannspersonen, und die
strengen Maximen, wornach sie ihr eigenes Geschlecht beurtheilte,
zu beweisen schienen. Genug daß die Prinzessinnen
und ihr Gemahl selbst vollkommen davon überzeugt waren,
und daß sich noch keiner von den Höflingen unterstanden hatte,
eine so ehrwürdige Tugend auf die Probe zu setzen.Während daß Plato bei dem Prinzen in Ansehen stand,
war Kleonissa eine von den eifrigsten Verehrerinnen dieses
Weisen, und diejenige, welche die erhabene Phraseologie seiner
Metaphysik am geläufigsten sprechen lernte. Ob es aus Begierde,
sich durch ihren Geist eben so sehr als durch ihre
Figur über die übrigen ihres Geschlechts zu erheben, oder aus
irgend einem andern Beweggrunde geschehen sey, wissen wir
nicht. Aber so viel ist gewiß, daß sie alle Gelegenheiten den
göttlichen Plato zu hören mit Begierde suchte, eine aufnehmende
Hochachtung für seine Person, einen unbedingten Glauben
an seine Begriffe von Schönheit und Liebe und an alle
übrigen Theile seines Systems zeigte, mit Einem Worte, in
kurzer Zeit an Seele und Leib einer Platonischen Idee so
ähnlich wurde, als es diesseits der überhimmlischen Räume
möglich ist. War es auf Seiten des Weisen nicht sehr natürlich,
auf eine solche Schülerin stolz zu seyn? Er betrachtete
sie mit den Augen eines Künstlers, der sich selbst in seinem
Werke wohl gefallt; Kleonissa schien den Triumph seiner
Philosophie vollkommen zu machen. Es ist wahr, es wäre
nur auf ihn angekommen, bei Gelegenheiten gewisse Beobachtungen
in ihren schönen Augen zu machen, welche ihn, ohne
eine sehr lange Reihe von Schlüssen, auf die Vermuthung
hätten bringen können, daß es vielleicht nicht unmöglich sey,
diese Göttin zu humanisiren. Aber der gute Plato, der damals
schon über sechzig Jahre zählte, machte keine solche
Beobachtungen mehr. Kleonissa blieb also in dem Ansehen
eines lebendigen Beweises des Platonischen Lehrsatzes: "daß
die körperliche Schönheit ein Widerschein der intellectualen
Schönheit des Geistes sey." Das Vorurtheil für ihre Tugend
hielt dem Eindruck, welchen ihre Reizungen hätten machen
können, das Gleichgewicht; und sie hatte das Vergnügen, die
vollkommene Gleichgültigkeit, welche Dionysius für sie behielt,
der Weisheit ihres Betragens zuzuschreiben, und sich dadurch
ein neues Verdienst bei den Prinzeßinnen zu machen.Aber! — o wie wohl läßt sich jener Solonische Ausspruch,
"daß man niemand vor seinem Ende glücklich preisen solle,"
auch auf die Tugend der Heldinnen anwenden! Kleonissa sah
den Agathon, und —hörte in diesem Augenblick auf Kleonissa
zu seyn! — Doch nein! nein! dieß ist nicht der rechte Ausdruck,
wiewohl er es nach dem Platonischen Sprachgebrauche zu seyn
scheint. Richtiger zu sprechen, sie bewies, daß die Prinzessinnen,
und sie selbst, und ihr Gemahl, und der Hof, und die
ganze Welt (den göttlichen Plato mit eingeschlossen) sich sehr
geirret hatten, da sie die schöne Kleonissa für etwas andres
hielten — als sie war, und als sie einem jeden mit Vorurtheilen
unbefangenen Beobachter (dem Aristippus zum Exempel)
in der ersten Stunde zu seyn scheinen mußte.Sich über einen so natürlichen Zufall zu verwundern,
würde, unserm Bedünken nach, eine große Sünde gegen das
nie genug anzupreisende NIL ADMIRARI seyn, in welchem
(nach der Meinung erfahrner Kenner der menschlichen Dinge)
das eigentliche Geheimniß der philosophischen Adepten verborgen
liegt. Die schöne Kleonissa war — ein Frauenzimmer. Sie
hatte also ihren Antheil an den Schwachheiten, welche welche die Natur
ihrem Geschlecht eigen gemacht hat; Schwachheiten, ohne
welche diese zärtere Hälfte der menschlichen Gattung weder zu
ihrer Bestimmung in dieser sublunarischen Welt geschickt, noch
in der That so liebenswürdig seyn würde als sie ist. Ja wie
wenig Verdienst würde selbst ihrer Tugend übrig bleiben, wenn
sie nicht durch eben diese Schwachheiten bewährt, geläutert
und in Bewegung erhalten würde!Dem sey nun wie ihm wolle: die Dame fühlte, sobald
sie unsern Helden erblickte, etwas das die Tugend einer
gewöhnlichen Sterblichen hätte beunruhigen können. Aber es
gibt Tugenden von einer so starken Beschaffenheit, daß sie durch
nichts beunruhiget werden; und die ihrige war von dieser Art.
Sie überließ sich den Eindrücken, welche ohne Zuthun ihres
Willens auf sie gemacht wurden, mit aller Unerschrockenheit,
die das Bewußtseyn unsrer Stärke zu geben pflegt. Die Vollkommenheit
des Gegenstandes rechtfertigte die außerordentliche
Hochachtung, welche sie für ihn bezeigte. Große Seelen sind
am geschicktesten einander Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Ihre Eigenliebe ist so sehr dabei interessirt, daß sie die Parteilichkeit
für einander sehr weit treiben können, ohne sich besonderer
Absichten verdächtig zu machen. Ein so unedler Verdacht
konnte ohnehin nicht auf die erhabene Kleonissa fallen. Indessen
war doch nichts natürlicher, als ihre Erwartung, daß sie in
unserm Helden eben diesen, wo nicht einen noch höhern Grad
der Bewunderung erwecken werde, als sie für ihn empfand.
Diese Erwartung verwandelte sich (eben so natürlich) in ein
mit Unmuth vermischtes Erstaunen, da sie sich darin betrogen
sah. Und was konnte aus diesem Erstaunen anders werden,
als eine heftige Begierde, ihrer durch seine Gleichgültigkeit
äußerst beleidigten Eigenliebe eine vollständige Genugthuung zu
verschaffen? Auch wenn sie selbst gleichgültig gewesen wäre,
hätte sie mit Recht erwarten können, daß ein so feiner Renner
ihren Werth zu empfinden, und eine Kleonissa von den kleinen
Sternen, denen nur in ihrer Abwesenheit zu glänzen erlaubt
war, zu unterscheiden wissen werde. Wie sehr mußte sie sich
also für beleidigt halten, da sie mit diesem edeln Enthusiasmus
womit privilegirte Seelen sich über die kleinen Bedenklichkeiten
gewöhnlicher Leute hinwegsetzen, ihm entgegen geflogen war,
und die Beweise ihrer sympathetischen Hochachtung nicht so
lange zurückzuhalten gewürdiget hatte, bis sie von der seinigen
überzeugt worden wäre!Da es nur von ihrer Eigenliebe abhing, die Größe des
Unrechts nach der Empfindung ihres eignen Werths zu bestimmen:
so war die Rache, welche sie sich an unserm Helden
zu nehmen vorsetzte, die grausamste, die nur immer in das
Herz einer beleidigten Schönen kommen kann. Sie wollte die
ganze Macht aller ihrer geistigen und körperlichen Reizungen,
verstärkt durch alle Kunstgriffe der schlauesten Koketterie (wovon
ein so allgemeines Genie als das ihrige wenigstens die
Theorie besitzen muß), dazu anwenden, ihren Undankbaren zu
ihren Füßen zu legen; und wenn sie ihn, durch die gehörigen
Abwechslungen von Furcht und Hoffnung, endlich in den kläglichen
Zustand eines von Liebe und Sehnsucht verzehrten Seladons
gebracht, und sich an dem Schauspiel seiner Seufzer,
Thränen, Klagen, Ausrufungen und aller andern Ausbrüche der
verliebten Thorheiten, lange genug ergötzt haben würde, —
ihn endlich auf einmal die ganze Schwere der kaltsinnigsten
Verachtung fühlen lassen.So wohl ausgesonnen diese Rache war, so eifrig und mit
so vieler Geschicklichkeit wurden die Anstalten dazu ins Werk
gesetzt; und wenn der Erfolg eines Projects allein von der
guten Ausführung abhinge, so hätte die schöne Kleonissa den
vollständigsten Triumph erhalten müssen, der jemals über den
Trotz eines widerspänstigen Herzens erhalten worden ist.Ob diese Dame. wenn Agathon sich in ihrem Netze
gefangen hätte, fähig gewesen wäre, die Rache so weit zu treiben,
als sie sich selbst versprochen hatte? — ist eine Aufgabe,
deren Entscheidung vielleicht sie selbst, wenn der Fall sich ereignet
hätte, in Verlegenheit gesetzt haben würde. Aber Agathon
ließ es nicht so weit kommen. Er legte eine neue Probe ab,
daß es nur einer Danae gegeben war, die schwache Seite seines
Herzens ausfindig zu machen. Kleonissa hatte bereits die
Hälfte ihrer Künste erschöpft, eh' er nur gewahr wurde, daß
ein Anschlag gegen ihn im Werke sey: und sobald er es gewahr
wurde, stieg sein Kaltsinn, in eben dem Verhältnisse wie
ihre Bemühungen sich verdoppelten, auf einen solchen Grad,
oder (deutlicher zu reden) der Absatz den ihre Nachstellungen
mit der affectirten Erhabenheit ihrer Denkungsart und mit
der Majestät ihrer Tugend machten, that eine so schlimme
Wirkung der ihm, daß die schöne Kleonissa sich endlich genöthiget
sah, die Hoffnung des Triumphs, womit sich ihre Eitelkeit
geschmeichelt hatte, gänzlich aufzugeben. Die Wuth, in
welche sie dadurch gesetzt wurde, verwandelte sich nun in den
vollständigsten Haß; aber sie wußte die Bewegungen dieser
Leidenschaft so geschickt zu verbergen, daß weder der Hof noch
Agathon selbst gewahr wurde, mit welcher Ungeduld sie sich
nach einer Gelegenheit sehnte, ihn die ganze Energie derselben
empfinden zu lassen.—————
Fünftes Capitel.Eine Hofkomödie.In dieser Lage befanden sich die Sachen, als Dionysius,
des ruhigen Besitzes der immer gefälligen Bacchidion und ihrer
Tänze überdrüssig, sich zum erstenmal einfallen ließ, die Beobachtung
zu machen, daß Kleonissa schön sey. Kaum hatte er
sie mit einiger Aufmerksamkeit beobachtet, so däuchte ihn, niemals
etwas so Schönes gesehen zu haben; und nun fing er an
sich zu verwundern, woher es gekommen, daß er diese Beobachtung
nicht eher gemacht. Endlich erinnerte er sich, daß die
Dame sich jederzeit durch eine sehr spröde Tugend und einen
erklärten Hang für die Metaphysik unterschieden hatte; und
nun zweifelte er nicht mehr, daß es dieser Umstand gewesen
seyn müsse, was ihn verhindert habe, ihrer Schönheit eher
Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Eine Art von mechanischer
Ehrfurcht vor der Tugend, die von seiner Trägheit und der
Furcht vor den Schwierigkeiten sie zu besiegen ihre meiste
Stärke zog, würde ihn vielleicht auch dießmal in den Gränzen
einer unthätigen Bewunderung gehalten haben, wenn nicht einer
von diesen kleinen Zufällen, welche so oft die Ursachen der
größten Begebenheiten werden, seine natürliche Trägheit auf
einmal in die ungeduldigste Leidenschaft verwandelt hätte. Da
dieser Zufall jederzeit eine Anekdote geblieben ist, so können wir
nicht gewiß sagen, ob er vielleicht von der Art desjenigen gewesen
sey, wodurch in neuern Zeiten die Schwester des berühmten
Herzogs von Marlborough den ersten Grund zu dem
außerordentlichen Glück ihrer Familie gelegt haben soll. Dieß
in indessen ausgemacht, daß, von dieser geheimen Begebenheit
an, die Leidenschaft und die Absichten des Prinzen einen
Schwung nahmen, wodurch sich die Tugend der schönen Kleonissa
in keiner geringen Verlegenheit befand, wie sie das, was
sie sich selbst schuldig war, mit den Pflichten gegen ihren Fürsten
vereinigen wollte. Dionysius war so dringend, so unvorsichtig!
—Und sie, die in jedem andern Frauenzimmer eine Nebenbuhlerin
sah, und bei jedem Schritte von hundert eifersüchtigen
Augen belauert wurde, welche bereit waren, ihren kleinsten
Fehltritt durch eben so viele Zeugen der ganzen Welt in die
Ohren flüstern zu lassen, — wie viele Rücksichten hatte sie nicht
zu nehmen! Auf der einen Seite, ein von Liebe brennender
Fürst zu ihren Füßen, ungeduldig eine gränzenlose Gewalt um
die kleinste ihrer Gunstbezeugungen hinzugeben! Auf der andern,
der Ruhm einer Tugend, welche noch kein Sterblicher
für fehlbar zu halten sich unterstanden hatte, das Vertrauen
der Prinzessinnen, die Hochachtung ihres Gemahls! Man muß
gestehen, tausend andre ihres Geschlechtes würden sich zwischen
zwei auf so verschiedene Seiten ziehenden Kräften nicht zu
helfen gewußt haben. Aber Kleonissa, wiewohl sie sich zum
erstenmal in dieser Schwierigkeit befand, wußte dieß so gut,
daß ihr der ganze Plan ihres Betragens schwerlich eine einzige
schlaflose Nacht gekostet haben kann. Sie sah beim ersten Blick,
wie wichtig die Vortheile waren, welche sie in diesen Umständen
von ihrer Tugend ziehen könnte. Das nämliche Mittel, wodurch
sie ihren Ruhm sicher stellen und die Freundschaft der
Prinzessinnen erhalten konnte, war unstreitig auch dasjenige,
was den unbeständigen Dionysius, bei einem klugen Gebrauch
der erforderlichen Aufmunterungen, auf immer in ihren Fesseln
er halten würde. Sie setzte also seinen Erklärungen, Verheißungen,
Bitten, Drohungen (zu den feinern Nachstellungen
war er weder zärtlich noch schlau genug) eine Tugend entgegen,
welche ihn durch ihre Hartnäckigkeit nothwendig hätte ermüden
müssen, wenn sie aus Mitleiden nicht zu gleicher Zeit besorgt
gewesen wäre, seine Pein durch alle die kleinen Palliative zu
lindern, welche im Grunde für eine Art von Gunstbezeugungen
angesehen werden können, ohne daß gleichwohl die Tugend, bei
einem Liebhaber wie Dionysius, dadurch zu viel von ihrer Würde
zu vergeben scheint. Die zärtliche Empfindlichkeit ihres Herzens,
die Gewalt, welche sie sich anthun mußte einem so liebenswürdigen
Prinzen zu widerstehen, die stillschweigenden Geständnisse
ihrer Schwachheit, welche zu eben der Zeit, da sie ihm
den entschlossensten Widerstand that, ihrem schönen Busen
wider ihren Willen entflohen — O! tugendhafte Kleonissa!
was für eine gute Schauspielerin du warest! — Und was
hatte Dionysius seyn müssen, wenn er, bei solchen Anscheinungen,
die Hoffnung aufgegeben hätte endlich noch glücklich zu
werden!Inzwischen war, ungeachtet aller Behutsamkeit, womit
die Gemahlin des Philistus zu Werke ging, die Leidenschaft
des Prinzen und die unüberwindliche Tugend seiner Göttin —
ein Geheimniß, welches der ganze Hof wußte, wiewohl man
sich nicht merken ließ, daß man Augen und Ohren habe. Sie
hatte die Vorsicht so weit getrieben, von dem Augenblicke an,
da sie an der Leidenschaft des Prinzen nicht mehr zweifeln
konnte, seine eigenen Schwestern zu ihren Vertrauten zu machen.
Diese hatten alles seiner Gemahlin entdeckt, und die
Gemahlin seiner Mutter. Die Prinzessinnen (welche seine
bisherigen Ausschweifungen immer vergebens beseufzt, und
besonders gegen die arme Bacchidion einen Widerwillen gefaßt
hatten, wovon sich kein andrer Grund als eine eigensinnige
Laune angeben läßt) waren hoch erfreut, daß seine Neigung
endlich einmal auf einen tugendhaften Gegenstand gefallen sey.
Die aufnehmende Klugheit der schönen Kleonissa machte ihnen
Hoffnung, daß es ihr gelingen würde, ihn unvermerkt auf
den rechten Weg zu bringen. Sie erstattete ihnen jedesmal
getreuen Bericht von allem, was zwischen ihr und ihrem Liebhaber
vorgegangen war, — wenigstens von allem, was die
Prinzessinnen davon zu wissen nöthig hatten. Alle Maßregeln,
wie sie sich gegen ihn betragen sollte, wurden in dem Cabinet
der Königin abgeredet; und diese gute Dame (welche das Unglück
hatte, die Kaltsinnigkeit ihres Gemahls lebhafter zu empfinden
als es für ihre Ruhe diensam war) gab sich alle möglichen
Bewegungen, die Bemühungen der tugendhaften Kleonissa
zu unterstützen. Alles dieß machte eine Art von geheimer
Intrigue aus, welche, ohne daß es in die Augen fiel, den ganzen
Hof in innerliche Bewegung setzte. Der einzige Phiiistus, der
am meisten Ursache hatte aufmerksam zu seyn, wußte nichts
von allem was jedermann wußte; oder bewies doch wenigstens
in seinem ganzen Betragen eine so seltsame Sicherheit, daß
wir (wenn uns das außerordentliche Vertrauen nicht bekannt
wäre, welches er in die Tugend seiner Gemahlin zu setzen
Ursache hatte) beinahe unvermeidlich auf den Argwohn
gerathen müßten, als ob er gewisse Absichten bei dieser Aufführung
gehabt haben könnte, welche dem Charakter eines jeden
andern keine sonderliche Ehre machen würden, wiewohl sie bloß
ein Flecken mehr an dem seinigen gewesen wären.Alles ging wie es gehen sollte. Dionysius setzte die Belagerung
mit der äußersten Hartnäckigkeit und mit Hoffnungen
fort, welche der tapfere Widerstand der weisen Kleonissa noch
immer sehr zweideutig machte. Die Liebe schien noch wenig
über ihre Tugend erhalten zu haben; aber gleichwohl fing diese
allmählich an von ihrer Majestät nachzulassen, und zu erkennen
zu geben, — daß sie nicht ganz ungeneigt wäre, sich, unter
hinlänglicher Sicherheit, in ein geheimes Verständniß, sofern
es eine bloße Liebe der Seele zur Absicht hätte, einzulassen.
Die Prinzessinnen sahen, mit dem vollkommensten Vertrauen
auf die keuschen Reizungen ihrer Freundin, der Entwicklung
des Stücks entgegen, und Philistus war von einer Gefälligkeit,
von einer Indolenz, wie man niemals gesehen hat:
als Agathon, zum Unglück für ihn und für Sicilien, durch
einen Eifer, der an einem Staatsmanne von so vieler Einsicht
kaum zu entschuldigen war, sich verleiten ließ, den glücklichen
Fortgang der verschiedenen Absichten, welchen Dionysius —
Kleonissa — die Prinzessinnen — und vielleicht auch Philistus
— schon so nahe zu seyn glaubten, durch seine unzeitige
Dazwischenkunft zu stören.—————
Sechstes Capitel.Agathon begeht einen großen Fehler gegen die Hofklugheit. Folgen
davon.Die Vertraulichkeit, worin Dionysius mit seinen Günstlingen
zu leben pflegte, und das natürliche Bedürfniß eines
Verliebten, jemand zu haben, dem er sein Leiden oder seine
Glückseligkeit entheben kann, hatten ihm nicht erlaubt, dem
Agathon aus seiner neuen Liebe ein Geheimniß zu machen.
Dieser trieb anfänglich die Gefälligkeit so weit, sich von dem
schwatzhaftesten Liebhaber, der jemals war, mit den Angelegenheiten
seines Herzens ganze Stunden lange Weile machen
zu lassen. Ohne seine Wahl gerade zu mißbilligen (denn
was für einen Erfolg hätte er davon hoffen können?), begnügte
er sich, ihm die Schwierigkeiten, die sich bei einer
Dame von so strenger und systematischer Tugend finden würden,
so fürchterlich abzumalen, daß er ihn von einer Unternehmung,
die sich , dem Ansehen nach wenigstens, in eine
entsetzliche Länge hinaus ziehen müßte, abzuschrecken hoffte.
Wie er aber sah, daß Dionysius, anstatt durch den Widerstand
ermüdet zu werden, von Tag zu Tag mehr Hoffnung
schöpfte, diese beschwerliche Tugend durch hartnäckig wiederholte
Anfälle endlich abzumatten: so glaubte er der schönen
Kleonissa nicht zu viel zu thun, wenn er sie im Verdacht eines
gekünstelten Betragens hätte, welches die Leidenschaft des
Prinzen zu eben der Zeit, da sie ihm alle Hoffnung zu verbieten
schien, aufzumuntern wisse. Je schärfer er sie beobachtete,
je mehr Umstände entdeckte er, die ihn in diesem Argwohn
bestärkten: und da sein natürlicher Widerwille gegen die
majestätischen Tugenden das Seinige mit dazu beitrug, so
hielt er sich nun vollkommen überzeugt, daß die weise und tugendhafte
Kleonissa weder mehr noch weniger als eine Betrügerin
sey, welche durch einen erdichteten Widerstand zu gleicher
Zeit sich in dem Ruf der Unüberwindlichkeit zu erhalten,
und den leichtgläubigen Dionysius desto fester in ihrem Garne
zu verstricken im Sinne habe.Nunmehr fing er an die Sache für ernsthaft anzusehen,
und sich sowohl durch die Pflichten gegen den Prinzen, für den
er bei allen seinen Schwachheiten eine Art von Zuneigung
fühlte, als aus Sorge für den Staat, verbunden zu halten,
einem Verständniß, welches für beide sehr schlimme Folgen
haben konnte, sich mit Nachdruck entgegen zu setzen. Bacchidion
schien ihm ihres Herzens — oder, richtiger zu reden,
ihrer glücklichen Organisation wegen — ungeachtet des gemeinen
und gerechten Vorurtheils gegen ihren Stand, in Vergleichung
mit dieser tugendhaften Dame eine sehr schätzbare
Person zu seyn. Und da sie in der Unruhe, worein die immer
zunehmende Kaltsinnigkeit des Prinzen sie zu setzen anfing,
ihre Zuflucht zu ihm nahm, so machte er sich desto weniger
Bedenken, sich ihrer mit etwas mehr Eifer, als die Würde
seines Charakters vielleicht gestatten mochte, anzunehmen.
Dionysius liebte sie nicht mehr; gleichwohl maßte er sich noch
immer solche Rechte über sie an, welche, ihrer Meinung nach,
nur die Liebe zugestehen konnte. Die schöne Bacchidion wurde
gewahr, daß sie bloß die Stelle ihrer Nebenbuhlerin in seinen
Armen vertreten sollte; und wiewohl sie nur eine Tänzerin
war, so däuchte sie sich doch zu einem solchen Amte zu gut.
Sie setzte sich also in den Kopf, an ihrem Theil auch die Grausame
zu machen, und zu versuchen, ob sie durch ein sprödes
und launisches Betragen, mit einer gehörigen Dosis von Koketterie
vermischt, nicht mehr, als durch zärtliche Klagen und
verdoppelte Gefälligkeit gewinnen würde. Dieser Kunstgriff
hatte einen so guten Erfolg, daß Agathon (der sich des Sieges
zu früh versichert hielt) itzt den gelegenen Augenblick gefunden
zu haben glaubte, dem Dionysius offenherzig zu gestehen, wie
wenig Achtung er für die angebliche Tugend der schönen Kleonissa
trage.Aber die Folgen der geheimen Unterredung, welche sie mit
einander über diese Materie hatten, entsprachen der Erwartung
unsers Helden nicht. Alles Nachtheilige, was Agathon dem
Prinzen von seiner neuen Göttin sagen konnte, bewies höchstens,
daß sie nicht so viel Hochachtung verdiene, als er geglaubt
hatte; aber es verminderte seine Begierden nicht. Desto besser
für seine Absichten, wenn sie nicht so tugendhaft war! war! Diesen
edlen Gedanken ließ er zwar seinem Günstling nicht sehen;
aber Kleonissa wurde ihn desto deutlicher gewahr. Dionysius
hatte kaum vernommen, daß die Tugend der Dame nur ein
Popanz sey, so eilte er was er konnte, Gebrauch von dieser
Entdeckung zu machen, und setzte sie durch ein Betragen in
Erstaunen, welches mit seinem vorigen, und noch mehr mit
der Majestät ihres Charakters, auf eine höchst beleidigende
Weise contrahirte, Er glaubte zwar, es sehr sein gemacht
zu haben, da er ihr nicht geradezu sagte, was für Begriffe
man ihm von ihr beigebracht habe; aber seine Handlungen
sagten es so deutlich, daß sie nicht zweifeln konnte, es müßte
ihr jemand schlimme Dienste bei ihm geleistet haben. Dieser
Umstand setzte sie in keine geringe Verlegenheit, wie sie dasjenige,
was sie ihrer beleidigten Würde schuldig war, mit der
Besorgniß, einen Liebhaber von solcher Wichtigkeit durch allzu
weit getriebene Strenge gänzlich abzuschrecken, zusammen
stimmen wollte. Allein ein Geist wie der ihrige weiß sich aus
den schwierigsten Lagen herauszuwickeln. Kurz, Dionysius
verließ sie überzeugter als jemals, daß sie die Tugend selbst
sey, und daß sie bloß durch die Stärke der Sympathie, wodurch
ihre zum ersten Mal gerührte Seele gegen die seinige
gezogen werde, fähig werden könnte, die Hoffnungen dereinst
zu erfüllen, welche sie ihm weder erlaubte noch gänzlich verwehrte.Von dieser Zeit an nahm seine Leidenschaft und das Ansehen
dieser Dame von Tag zu Tag zu. Die schöne Bacchidion
wurde förmlich abgedankt; und Agathon würde in den Augen
seines Herrn haben lesen können, wenn er es nicht aus seinem
Munde vernommen hätte, wie viel Hoffnung der Prinz habe,
bald den letzten Seufzer der sterbenden Tugend von den Lippen
der zärtlichen und nur noch schwach widerstehenden Kleonissa
aufzufassen.Itzt glaubte er, daß es die höchste Zeit sey einen Schritt
zu thun, der nur durch die äußerste Nothwendigkeit gerechtfertiget
werden konnte, aber, seiner Meinung nach, das einzige
Mittel war, dieser gefährlichen Intrigue noch in Zeiten ein
Ende zu machen. Er ließ den Philistus zu sich rufen, und
entdeckte ihm, mit der ganzen Vertraulichkeit eines ehrlichen
Mannes, der mit einem ehrlichen Manne zu reden glaubt, die
nahe Gefahr, worin seine Ehre und die Tugend seiner Gemahlin
schwebe. Freilich entdeckte er dem edeln Philistus nichts,
als — was dieser in der That schon lange wußte. Aber Philistus
machte nichtsdestoweniger den Erstaunten: indessen
dankte er ihm mit der lebhaftesten Empfindung für ein so
unzweifelhaftes Merkmal seiner Freundschaft, und versicherte,
daß er auf ein schickliches Mittel bedacht seyn wollte, seine
Gemahlin (von welcher er übrigens die beste Meinung von
der Welt habe) gegen alle Nachstellungen der Liebesgötter
sicher zu stellen.Man hat wohl sehr Recht, uns die Lehre bei allen Gelegenheiten
einzuschärfen: "daß man sich die Leute nach ihrer Weise
verbindlich machen müsse, und nicht nach der unsrigen." Agathon
glaubte sich kein geringes Verdienst um den Philistus gemacht
zu haben, und würde nicht wenig über die Apostrophen
erstaunt gewesen seyn, welche dieser würdige Minister an ihn
machte, sobald er sich wieder allein sah. In der That mußte
es ihn nothwendig ungehalten machen, sich, durch eine so unzeitige
Sorge Agathons für seine Ehre auf einmal aller Vortheile
seiner bisherigen Unachtsamkeit verlustiget zu sehen. Indessen
konnte er nun, ohne sich in Agathons Augen gänzlich herabzuwürdigen,
nicht anders, er mußte den Eifersüchtigen spielen.
Die Komödie bekam dadurch auf etliche Tage einen sehr tragischen
Schwung. Wie viel Mühe hätten sich die Hauptpersonen
dieses Possenspiels ersparen können, wenn sie die Maske hätten
abnehmen, und sich einander in ihrer natürlichen Gestalt zeigen
wollen! Aber diese Art von Menschen sind so pünktliche Beobachter
des Wohlstandes !—Und sollen wir sie nicht darum beloben?
Er beweiset doch immer, daß sie sich ihrer wahren Gestalt schämen,
und die Verbindlichkeit, etwas Besseres zu seyn als sie
sind, stillschweigend anerkennen. Kleonissa rechtfertigte sich also
gegen ihren Gemahl, indem sie sich auf die Prinzessinnen, als
unverwerfliche Zeugen der untadelhaften Unschuld ihres Betragens,
berief. Niemals ist ein erhabneres und pathetischeres
Stück von Beredsamkeit gehört worden, als die Rede war,
wodurch sie ihm die Unbilligkeit seines Verdachts vorhielt. Der
gute Mann wußte sich endlich nicht anders zu helfen, als daß
er den Freund nannte, von dem er in diesen kleinen Anstoß
einer, wie er nun vollkommen erkannte, höchst unnöthigen und
sträflichen Eifersucht gesetzt worden sey.Die Wuth einer stürmischen See —einer zur Rache gereizten
Hornisse — oder einer Löwin, der ihre Jungen geraubt
worden, sind Bilder, deren sich in dergleichen Fällen sogar ein
epischer Dichter mit Ehren bedienen könnte; aber es sind nur
schwache Bilder der Wuth, in welche Kleonissens tugendhafter
Busen bei Nennung des Namens Agathon aufloderte. Wirklich
war nichts mit derselben zu vergleichen —als die Wollust,
womit der Gedanke sie berauschte, daß sie es nun endlich in
ihrer Gewalt habe, die lange gewünschte Rache an dem undankbaren
Verächter ihrer Reizungen zu nehmen. Sie mißhandelte
den Dionysius (den sie für die unerträgliche Beleidigung, welche
sie von ihrem Gemahl erduldet hatte, zur Rechenschaft zog)
so lange und so grausam, bis er ihr entdeckte, wie wenig sie
dem Agathon für seine Meinung von ihr verbunden zu seyn
Ursache habe. Nunmehr klärte sich, wie sie sagte, das ganze
Geheimniß auf: "und in der That mußte sie sich nur über
ihre eigene Einfalt verwundern, daß sie sich eines Bessern zu
einem Manne versehen hatte, von dessen Rache sie natürlicher
Weise das Schlimmste hätte erwarten sollen."Wenn Dionysius bei diesen Worten stutzte, so kann man
sich einbilden, was er für eine Miene machte, da sie ihm, zu
ihrer abgenöthigten Rechtfertigung, umständlich entdeckte, daß
der Haß Agathons keinen andern Ursprung habe, als weil sie
nicht für gut befunden, seine Liebe genehm zu halten. Dieß
war nun freilich nicht nach der Schärfe wahr. Allein, da sie
sich nun einmal dahin gebracht sah, sich selbst vertheidigen zu
müssen, so begreift man leicht, daß sie es lieber auf Unkosten
einer Person, die ihr verhaßt war, als auf ihre eigenen that.
So viel ist gewiß, sie erreichte ihre Absicht dadurch mehr als
zu gut. Dionysius gerieth in einen so heftigen Anfall von
Eifersucht über seinen unwürdigen Liebling —daß Kleonissa,
aus Besorgniß, ein plötzlicher Ausbruch möchte zu mißbeliebigen
Erläuterungen Anlaß geben, alle ihre Gewalt über ihn anwenden
mußte, ihn zurückzuhalten. Sie bewies ihm die Nothwendigkeit,
einen Mann, der unglücklicher Weise der Abgott
der Nation wäre, vorsichtig zu behandeln. Dionysius fühlte
die Stärke dieses Beweises, und haßte den Agathon nur um
so viel herzlicher. Die Prinzessinnen mischten sich auch in die
Sache. Sie legten unserm Helden sehr übel aus, daß er,
anstatt den Prinzen von Ausschweifungen abzuhalten, eine
Creatur wie Bacchidion mit so vielem Eifer in seinen Schutz
genommen hätte. Man scheuete sich nicht, diesem Eifer sogar
einen geheimen Beweggrund zu leihen; und Philistus brachte
unter der Hand Zeugen auf, die in dem Cabinette des Prinzen
verschiedene Umstände aussagten, welche ein zweideutiges Licht
auf die Enthaltsamkeit unsers Helden und die Treue der
schönen Bacchidion zu werfen schienen. Der schlaue Höfling
fand die Absichten seines Herrn auf seine tugendhafte Gemahlin
so rein und unschuldig, daß es anstößig und lächerlich von
ihm gewesen wäre, über die Freundschaft, womit er sie beehrte,
eifersüchtig zu seyn. Ein täglicher Zuwachs der königlichen
Gunst rechtfertigte und belohnte eine so edelmüthige Gefälligkeit.
Auch Timokrates erhielt bei diesen Umständen Gelegenheit,
sich wieder in das alte Vertrauen zu setzen; und beide
vereinigten sich nunmehr mit der triumphirenden Kleonissa, den
Fall unsers Helden desto eifriger zu beschleunigen, je mehr sie
ihn mit Versicherungen ihrer Freundschaft überhäuften.—————
Siebentes Capitel.Eine merkwürdige Unterredung zwischen Agathon und Aristippus.
Entschließungen des ersten, mit den Gründen für und wider.Wir haben in den vorstehenden zwei Capiteln ein merkwürdiges
Beispiel gesehen (und wollte Gott, diese Beispiele
kämen uns nicht so oft im Leben selbst vor!), wie leicht es ist,
einem lasterhaften Charakter den Anstrich der Tugend zu geben.
Agathon erfuhr nunmehr, daß es eben so leicht ist, die reinste
Tugend mit häßlichen Farben zu übersudeln. Er hatte dieß zu
Athen schon erfahren. Aber bei der Vergleichung, die er zwischen
jenem Fall und seinem jetzigen anstellte, schienen ihm
seine Athenischen Feinde, im Gegensatz mit den verächtlichen
Geschöpfen, denen er sich nun auf einmal aufgeopfert sah,
so weiß zu werden, als sie ihm ehmals schwarz vorgekommen
waren. Vermuthlich verfälschte die Lebhaftigkeit des gegenwärtigen
Gefühls sein Urtheil über diesen Punkt ein wenig.
Denn in der That scheint der ganze Unterschied zwischen der
republicanischen und höfischen Falschheit darin zu bestehen: daß
man in Republiken genöthiget ist, die ganze äußerliche Form
tugendhafter Sitten anzunehmen; da man hingegen an Höfen
genug gethan hat, wenn man den Lastern, welche des Fürsten
Beispiel adelt, oder wodurch seine Absichten befördert werden,
tugendhafte Namen gibt. Allein im Grunde ist es nicht ekelhafter,
einen hüpfenden, schmeichelnden, unterthänigen, vergoldeten
Schurken, zu eben der Zeit, da er sich vollkommen
wohl bewußt ist nie eine Ehre gehabt zu haben, oder in diesem
Augenblick im Begriff ist, wofern er eine hätte, sie zu verlieren,
— von den Pflichten für seine Ehre reden zu hören; als
einen gesetzten, nüchternen, schwerfälligen, gravitätischen Schurken
zu sehen, der, unter dem Schutz seiner Nüchternheit, Eingezogenheit
und pünktlichen Beobachtung aller äußerlichen Formalitäten
der Religion und der Gesetze, ein unversöhnlicher
Feind aller derjenigen ist, welche anders denken als er, oder
nicht zu allen seinen Absichten helfen wollen, und sich nicht das
mindeste Bedenken macht, sobald es seine Convenienz erfordert,
eine gute Sache zu unterdrücken, oder eine böse mit seinem
ganzen Ansehen zu unterstützen. Unparteiisch betrachtet, ist
dieser noch der schlimmere Mann: denn er ist ein eigentlicher
Heuchler; da jener nur ein Komödiant ist, der nicht verlangt,
daß man ihn für das halten soll wofür er sich ausgibt, sondern
vollkommen zufrieden ist, wenn die Mitspielenden und Zuschauer
nur dergleichen thun, ohne daß es ihm einfällt sich zu bekümmern,
ob es ihr Ernst sey oder nicht.Agathon hatte nun gute Muße, dergleichen Betrachtungen
anzustellen; denn sein Ansehen und Einfluß nahmen zusehends
ab. Aeußerlich zwar schien alles noch zu seyn wie es gewesen
war. Dionysius und der ganze Hof liebkoseten ihm so sehr
als jemals. Kleonissa selbst schien es ihrer unwürdig zu halten,
ihm einige Empfindlichkeit zu erkennen zu geben. Aber desto
mehr Mißvergnügen wurde ihm durch verborgene und schleichende
Wege gemacht. Er mußte zusehen, wie nach und nach,
unter tausend falschen und nichtswürdigen Vorwänden, seine
besten Anordnungen, als schlecht ausgesonnen, überflüssig, oder
schädlich, wieder aufgehoben oder durch andere unnütz gemacht,
—wie die wenigen von seinen Creaturen, welche wirkliche Verdienste
hatten, entfernt, — wie alle seine Absichten übel gedeutet,
alle seine Handlungen geflissentlich aus einem falschen Gesichtspunkte
beurtheilt, alle seine Vorzüge oder Verdienste lächerlich
gemacht wurden. Zu eben der Zeit, da man seine Talente
und Tugenden erhob, behandelte man ihn, als ob er nicht das
geringste von den einen oder von den andern hätte. Man
behielt zwar noch aus politischen Absichten (wie man es zu
nennen pflegt) den Schein bei, als ob man nach den nämlichen
Grundsätzen handle, denen er in seiner Staatsverwaltung gefolgt
war: in der That aber geschah, in jedem vorkommenden
Falle, gerade das Widerspiel von dem was er gethan haben
würde. Kurz, Dionysius sank wieder in seine alten Gewohnheiten
und in die Gewalt der verderbtesten Menschen in ganz
Sicilien zurück.Hier wäre es Zeit gewesen, die Clausel geltend zu machen,
welche er seinem Vertrage mit dem Dionysius angehängt
hatte, —sich zurück zu ziehen, da er nicht mehr zweifeln konnte,
daß er am Hofe dieses Prinzen zu nichts mehr nütze sey: und
dieß war auch der Rath, den ihm der einzige von seinen Hoffreunden,
der ihm getreu blieb, der Philosoph Aristippus gab.
"Du hättest (sagte er ihm in einer vertraulichen Unterredung
über den gegenwärtigen kauf der Sachen), du hättest dich entweder
niemals mit einem Dionysius einlassen, oder an dem
Platze, den du einmal angenommen hattest, deine moralischen
Begriffe — oder doch wenigstens deine Handlungen — nach
den Umständen bestimmen sollen. Auf diesem Schauplatze der
Verstellung, des Betrugs, der Intriguen, der Schmeichelei
und Verrätherei, — wo Tugenden und Pflichten bloße Rechenpfennige,
und alle Gesichter Masken sind, — kurz an einem
Hofe gilt keine andre Regel als die Convenienz, keine andre
Politik, als einen jeden Umstand mit unsern eignen Absichten
so gut zu vereinigen als man kann. Im übrigen ist es vielleicht
eine Frage, ob du so wohl gethan hast, dich um einer an
sich wenig bedeutenden Ursache willen mit Dionysen abzuwerfen?
Ich gestehe es, in den Augen eines Philosophen ist die
Tänzerin Bacchidion viel schätzbarer als diese majestätische
Kleonissa, die, mit aller ihrer Metaphysik und Tugend, weder
mehr noch weniger als ein falsches, herrschsüchtiges und
boshaftes Weibsstück ist. Bacchidion hat dem Staat keinen
Schaden gethan; Kleonissa wird unendlich viel Böses thun."—
Bloß aus dieser Betrachtung (unterbrach ihn Agathon) habe
ich mich für jene und gegen diese erklärt. — "Und doch war
es leicht vorherzusehen, daß Kleonissa siegen würde," sagte
Aristipp. — Aber ein rechtschaffener Mann, Aristipp, erklärt
sich nicht für die Partei, welche siegen wird, sondern für die,
welche Recht, oder doch am wenigsten Unrecht hat. — "O
Agathon, wie schwer ist es für den rechtschaffnen Mann, der
an einem Hofe leben will, zwischen den Klippen, die ihn umgeben,
unversehrt hindurch zu kommen! Aber, sage mir, ist
es nicht schade, daß so viel Gutes, das du noch gethan haben
würdest, bloß darum verloren seyn soll, weil du eine schöne
Frau nicht verstehen wolltest, da sie dir's so deutlich zu erkennen
gab, daß sie schlechterdings von dir —geliebt seyn wollte?
Doch dieser Fehler hätte sich vielleicht wieder gut machen lassen,
wenn du wenigstens gefällig genug gewesen wärest, ihre Absichten
auf Dionysen zu befördern. Wolltest du auch dieses
nicht, war es denn nöthig ihr entgegen zu seyn? Was für
Schade würde daraus erfolgt seyn, wenn du neutral geblieben
wärest? Die kleine Bacchidion würde nicht mehr getanzt haben,
und Kleonissa hätte die Ehre gehabt ihren Platz einzunehmen,
bis er ihrer eben sowohl überdrüssig geworden wäre als so vieler
andrer. Dieß wäre alles gewesen. Und gesetzt, du hättest
auch die Gewalt über ihn mit ihr theilen müssen, so würdest
du ihr wenigstens das Gleichgewicht gehalten und noch immer
Ansehen genug behalten haben, viel Gutes zu thun. Dem
Schein nach in gutem Vernehmen mit ihr, würde dir dein
Platz und die Vertraulichkeit mit dem Prinzen tausend Gelegenheiten
gegeben haben, sie, sobald ihre Gunstbezeugungen den
Reiz der Neuheit verloren hätten, mit der besten Art von der
Welt wieder auf die Seite zu schaffen. Aber ich kenne dich
zu gut, Agathon! Du bist nicht dazu gemacht dich zu Verstellung
und Ränken herabzulassen. Dein Herz ist zu edel,
und (wenn ich es sagen darf) deine Einbildungskraft zu warm,
um dich jemals zu der Art von Klugheit zu gewöhnen, ohne
welche es unmöglich ist, sich lange in der Gunst der Großen zu
erhalten. Alles dieß hätte ich dir ungefähr vorhersagen können,
als ich dich überreden half dich mit Dionysen einzulassen;
aber es war besser, durch deine eigene Erfahrung davon überzeugt
zu werden. Ziehe dich itzt zurück, ehe das ungewitter,
das ich aufsteigen sehe, über dich ausbrechen kann. Dionysius
verdient keinen Freund wie du bist. Wie sehr hättest du dich
betrogen, wenn du jemals geglaubt hättest, daß er dich hochachte!
Woher sollte ihm die Fähigkeit dazu gekommen seyn?
Selbst damals, da er am stärksten für dich eingenommen war,
liebte er dich aus keinem andern Grunde, als warum er seine
Affen und seine Papagaien liebt, — weil du ihm Kurzweil
machtest. Seine Gunst hätte eben so leicht auf einen andern
Neuangekommenen fallen können, der die Cither noch besser
gespielt hätte als du. Nein, Agathon, du bist nicht gemacht,
mit solchen Leuten zu leben. Ziehe dich zurück! Du hast genug
für deine Ehre gethan. Die Thorheit der neuen Staatsverwaltung
wird die Weisheit der Deinigen am besten rechtfertigen.
Deine Handlungen, deine Tugenden, und ein ganzes
Volk, welches deine Zeiten zurückwünschen und dein Andenken
segnen wird, werden dich am besten gegen die Verleumdungen
und den albernen Tadel eines Hofes voll Thoren und schelmischer
Sklaven vertheidigen, deren Haß dir mehr Ehre macht
als ihr Beifall. Du befindest dich in Umständen, daß du in
einem unabhängigen Privatstande mit Würde leben kannst.
Deine Freunde zu Tarent werden dich mit offenen Armen empfangen.
Ich wiederhole es, Agathon, verlaß einen Fürsten,
der seiner Sklaven, und Sklaven, die eines solchen Fürsten
würdig sind; und denke nun daran, wie du des Lebens selbst
genießen wollest, nachdem du den Versuch gemacht hast, wie
schwer, wie gefährlich, und wie vergeblich es ist, für anderer
Glück zu arbeiten."So sprach Aristipp; und Agathon würde wohl gethan haben,
seinem Rathe zu folgen. Aber, wir wiederholen es, wie sollte
es möglich seyn, daß derjenige, welcher selbst eine Hauptrolle
in einem Stücke spielt, so gelassen davon urtheilen sollte als
ein bloßer Zuschauer? Agathon sah die Sachen aus einem
ganz andern Gesichtspunkte. Er betrachtete sich als einen
Mann, der sich selbst die Verbindlichkeit aufgelegt habe, die
Wohlfahrt Siciliens zu befördern. Warum kam ich nach Syrakus? —
sagte er zu sich selbst — und mit welchen Absichten
übernahm ich das Amt eines Freundes und Rathgebers bei
diesem Tyrannen? That ich es, um ein Knecht seiner Leidenschaften
oder das Werkzeug einer willkürlichen Regierung zu
seyn? Hatte ich nicht einen großen und rechtschaffenen Zweck?
Würde ich mich jemals mit ihm eingelassen haben, wenn er
mir nicht Hoffnung gemacht hätte, daß die Tugend endlich die
Oberhand über seine Laster erhalten würde? Er hat mich
betrogen. Die Erfahrungen, die ich von seiner Gemüthsart
habe, überzeugen mich, daß er unverbesserlich ist. Aber würde
es edel von mir gehandelt seyn, ein Volk, dessen Wohlfahrt
der Endzweck meiner Bemühungen war, ein Volk, welches mich
als seinen Wohlthäter ansieht und sein ganzes Vertrauen auf
mich setzt, den Launen eines grausamen Wollüstlings und der
Raubsucht seiner Schmeichler und Sklaven Preis zu geben?
Was für Pflichten hab' ich gegen ihn, die sein undankbares
niederträchtiges Verfahren gegen mich nicht aufgehoben und
vernichtet hätte? Oder, wenn ich noch Pflichten gegen ihn
habe, sind nicht diejenigen unendliche Mal heiliger, welche mich
an ein Land binden, das durch meine Wahl, und die Dienste
die ich ihm geleistet habe, mein zweites Vaterland geworden? —
Wer ist denn dieser Dionysius? Was für ein Recht hat er an
die höchste Gewalt, deren er sich anmaßt? Wem anders als
dem Agathon hat er das einzige Recht zu danken, worauf er
sich mit einigem Schein berufen kann? Seit wann ist er aus
einem von aller Welt verabscheueten Tyrannen ein König geworden,
als seitdem ich ihm, durch eine gerechte und wohlthätige
Regierung, die Liebe des Volks zugewandt habe? Er
ließ mich arbeiten; er verbarg seine Laster hinter meine Tugenden,
eignete sich meine Verdienste zu, und genoß die Früchte
davon, der Undankbare — Und nun, da er sich stark genug
glaubt, mich entbehren zu können, überläßt er sich wieder seinem
eigenen Charakter, und vernichtet alles Gute wieder, was
ich in seinem Namen gethan habe, gleich als ob er sich schäme,
eine Zeit lang sich selbst unähnlich gewesen zu seyn; als ob er
nicht genug eilen könne, die ganze Welt zu belehren, daß es
Agathon, nicht Dionysius, gewesen sey, der den Siciliern eine
Morgenröthe besserer Zeiten gezeigt, und der ihnen Hoffnung
gemacht hat, sich von den Mißhandlungen einer Reihe schlimmer
Regenten wieder zu erholen. —Was würd' ich also seyn,
wenn ich sie in solchen Umständen verlassen wollte, wo sie meiner
mehr als jemals benöthiget sind? — Nein! Dionysius
hat Beweise genug gegeben, daß er unverbesserlich ist; daß er
durch Nachsicht gegen seine Laster nur in der lächerlichen Einbildung
bestärkt wird, als ob man ihnen Ehrfurcht schuldig sey.
Es ist Zeit der Komödie ein Ende zu machen, und diesem kleinen
Theaterkönige den Platz anzuweisen, wozu ihn seine persönlichen
Eigenschaften bestimmen!Man sieht aus dieser Probe der geheimen Gespräche,
welche Agathon mit sich selbst hielt, wie weit er noch davon
entfernt war, sich von diesem enthusiastischen Schwung der Seele
Meister gemacht zu haben, der bisher die Quelle seiner Fehler
sowohl als seiner schönsten Thaten gewesen ist. Wir haben
keinen Grund, in seine Aufrichtigkeit gegen sich selbst einigen
Zweifel zu setzen. Wir können demnach als gewiß annehmen,
daß er zu dem Entschluß, eine Empörung gegen den Dionysius
zu erregen, durch eben so tugendhafte Gesinnungen getrieben
zu werden glaubte, als diejenigen waren, welche fünfzehn
Jahre später einen der edelsten Sterblichen die jemals gelebt
haben, den Timoleon von Korinth, aufmunterten, die Befreiung
Siciliens zu unternehmen. Allein es ist darum nicht weniger
wahrscheinlich, daß eine lebhafte Empfindung des persönlichen
Unrechts, welches ihm zugefüget wurde, der Unwille über
die Undankbarkeit des Dionysius, und der Verdruß, sich einer
verachtungswürdigen Buhlschaft aufgeopfert zu sehen, zur
Entzündung dieses heroischen Feuers, welches itzt in seiner
Seele brannte, nicht wenig beigetragen habe. Im Grunde
hatte er keine andern Pflichten gegen die Sicilier. als welche
aus seinem Vertrag mit dem Dionysius entsprangen; sie hörten
vermöge eben dieses Vertrags auf, sobald dein Prinzen
seine Dienste nicht mehr angenehm seyn würden. Syrakus
war nicht sein Vaterland. Dionysius hatte durch die stillschweigende
Anerkenntniß der Erbfolge, kraft deren er nach seines
Vaters Tode den Thron bestieg, eine Art von Recht erlangt.
Agathon selbst würde sich nicht in seine Dienste begeben haben,
wenn er ihn nicht für einen rechtmäßigen Fürsten gehalten
hätte. Die nämlichen Gründe, welche ihn damals bewogen
hatten die Monarchie der Republik vorzuziehen, und aus
diesem Grunde sich bisher den Absichten des Dion zu widersetzen,
bestanden noch in ihrer ganzen Stärke. Es war sehr
ungewiß, ob eine Empörung gegen Dionysen die Sicilier in
einen glücklichern Stand setzen, oder ihnen nur einen andern,
vielleicht noch schlimmern, Herrn geben würde, da sie bereits
durch so viele Proben bewiesen hatten, daß sie die Freiheit
nicht ertragen konnten. Ueberdieß hatte der Tyrann Macht
genug, seine Absetzung schwer zu machen; und die verderblichen
Folgen eines Bürgerkriegs waren die einzigen gewissen
Folgen, welche man von einer so zweifelhaften Unternehmung
voraussehen konnte. Alle diese Betrachtungen würden kein
geringes Gewicht auf der Wagschale einer kalten unparteiischen
Ueberlegung gemacht, und vermuthlich den entgegen stehenden
Gründen das Gleichgewicht gehalten haben. Aber Agathon
war weder kalt noch unparteiisch; er war ein Mensch, —
dessen Eigenliebe an ihrem empfindlichsten Theile verletzt worden
war. Der Affect, in welchen ihn dieß setzen mußte, gab
den Gegenständen eine andre Farbe. Dionysius, dessen Laster
er ehmals mit freundschaftlichen Augen als Schwachheiten betrachtet
hatte, stellte sich ihm itzt in der häßlichen Gestalt eines
Tyrannen dar. Je besser er vorhin von Philistus gedacht
hatte, desto abscheulicher fand er itzt den Charakter dieses Ministers,
nachdem er ihn einmal falsch und niederträchtig gefunden
hatte: es war nichts so schlimm und schändlich, das er einem
solchen Manne nicht zutraute. Die reizenden Bilder der
Glückseligkeit Siciliens unter einer wohlthätigen Staatsverwaltung
erhielten durch den Unmuth, sie vor seinen Augen
vernichten zu sehen, eine desto größere Gewalt über seine
Einbildungskraft. Es war ihm unerträglich, Leute, welche
nur darum seine Feinde waren, weil sie Feinde alles Guten,
Feinde der Tugend und der öffentlichen Wohlfahrt waren,
einen solchen Sieg davon tragen zu lassen. Er hielt es für
eine öffentliche Pflicht, sich ihren Unternehmungen zu widersetzen;
und die Stelle, die er beinahe zwei Jahre lang in
Sicilien behauptet hatte, machte (wie er glaubte) seinen
Beruf zur besondern Ausübung dieser Pflicht im gegenwärtigen
Falle unzweifelhaft. Alle diese Betrachtungen hatten außer
ihrer eigenthümlichen Stärke noch sein Herz und seine Einbildungskraft
auf ihrer Seite. Mußten sie also nicht nothwendig
alles überwiegen, was die Klugheit dagegen einwenden
konnte?—————
Achtes Capitel.Agathon verwickelt sich in einen Anschlag gegen den Tyrannen, und
wird in Verhaft genommen.Sobald Agathon seinen Entschluß genommen hatte, so
arbeitete er an der Ausführung desselben. Dion, der sich damals
zu Athen befand, hatte einen beträchtlichen Anhang in
Sicilien, durch welchen er bisher alle möglichen Bewegungen
gemacht hatte, seine Zurückberufung von dem Prinzen zu erhalten.
Er hatte sich deßhalb vorzüglich an den Agathon gewandt,
sobald ihm berichtet worden war, in welchem Ansehen
dieser bei dem Fürsten stehe. Aber Agathon dachte damals
nicht so gut von dem Charakter Dions als die Akademie zu
Athen. Eine Tugend, welche mit Stolz, Unbiegsamkeit und
Härte vermischt war, schien ihm, wo nicht verdächtig, doch
wenig liebenswürdig. Er besorgte mit einiger Wahrscheinlichkeit,
daß die Gemüthsart dieses Prinzen ihn niemals ruhig
lassen würde, und daß er (ungeachtet seiner republikanischen
Grundsätze) eben so ungeneigt seyn würde, das höchste Ansehen
im Staat mit jemand zu theilen, als ohne Ansehen zu
leben. Er hatte also, anstatt seine Zurückberufung zu befördern,
wenig oder nichts gethan, um die äußerste Abneigung,
welche Dionysius dagegen zeigte, zu bestreiten, und durch dieses
Benehmen sich einiges Mißvergnügen von Seiten der
Freunde Dions zugezogen, die es ihm eben so übel nahmen,
daß er nichts für diesen Prinzen that, als ob er gegen ihn
gearbeitet hätte.Allein seitdem seine eigene Erfahrung das Schlimmste,
was Dionysens Feinde von dem Tyrannen denken konnten,
rechtfertigte, hatte sich auch seine Gesinnung gegen den Dion
gänzlich umgewandt. Dieser Prinz, welcher unstreitig große
Eigenschaften besaß, stellte sich ihm itzt unter dem Bilde eines
rechtschaffenen Mannes dar, in welchem der langwierige Anblick
des gemeinen Elendes unter einer heillosen Regierung,
und die immer vergebliche Bemühung dem reißenden Strome
der Verderbniß entgegen zu arbeiten, einen anhaltenden gerechten
Unmuth erzeugt hat, der, ungeachtet des Scheins
einer gallsüchtigen Grämlichkeit, im Grunde die Frucht der
edelsten Menschenliebe ist. Er beschloß also mit ihm gemeine
Sache zu machen, und entdeckte den Freunden Dions seine
veränderte Gesinnung. Erfreut über den Beitritt eines Mannes,
der durch seine Talente und seine Gunst beim Volk ihrer
Partei das Uebergewicht zu geben vermögend war, eröffneten
ihm diese hinwieder die ganze Beschaffenheit der Angelegenheiten
Dions, die Anzahl seiner Anhänger, und die geheimen
Anstalten, welche, in Erwartung irgend eines günstigen Zufalls,
bereits zu seiner Zurückkunft nach Sicilien gemacht worden
waren. Und so wurde Agathon in kurzer Zeit, aus einem
Freund und ersten Minister des Dionysius, das Haupt einer
Verschwörung gegen ihn, an welcher alle diejenigen Theil nahmen,
die aus edlen oder eigennützigen Bewegursachen, mit
der gegenwärtigen Verfassung unzufrieden waren. Er entwarf
einen Plan, wie die ganze Sache geführt werden sollte; und
dieß setzte ihn in einen geheimen Briefwechsel mit Dion,
wodurch die bessere Meinung, welche sie von einander zu fassen
angefangen, immer mehr befestigt wurde.Der Hof, in Lustbarkeiten und ein wollüstiges Vergessen
aller Gefahren versunken, begünstigte den Fortgang der geheimen
Unternehmung durch eine Sorglosigkeit, welche so wenig
natürlich schien, daß die Zusammenverschwornen dadurch beunruhiget
wurden. Sie verdoppelten ihre Wachsamkeit, und
(was bei Unternehmungen von dieser Art am meisten zu bewundern,
und dennoch sehr gewöhnlich ist) ungeachtet der
großen Anzahl derjenigen, die um das Geheimniß wußten,
blieb alles so verschwiegen, daß vielleicht niemand auf einigen
Argwohn verfallen wäre, wofern gewisse Umstände den von
Natur mißtrauischen Philistus nicht endlich aufmerksam gemacht
hätten. Auf der einen Seite fand er gar zu unwahrscheinlich,
daß Agathon seinen Fall so gleichgültig ansehen sollte, als er
es zu thun schien. Auf einer andern kamen ihm Nachrichten
von gewissen Zurüstungen des Dion zu, welche eine sehr ernsthafte
Absicht verriethen. Der Gedanke, wie, wenn Agathon
und Dion gemeine Sache machten? war hier zu natürlich,
um sich ihm nicht darzustellen, und zu furchtbar, um ihn nicht
äußerst zu beunruhigen. Von diesem Augenblick an wurde
sowohl Agathon als die bekannten Freunde Dions von tausend
unsichtbaren Augen aufs schärfste beobachtet; bis es endlich
dem Philistus glückte, sich eines Sklaven zu bemächtigen, der
mit Briefen an Agathon von Athen gekommen war.Aus diesen Briefen (welche die Ursachen enthielten, warum
Dion die vorhabende Landung in Sicilien nicht so bald, als es
zwischen ihnen verabredet war, ausführen könne) erhellte, daß
Agathon und die übrigen Freunde Dions an der eigenmächtigen
Wiederkunft desselben Antheil hätten. Allein von einem Anschlag
gegen die Regierung und die Person des Tyrannen war
(außer einigen unbestimmten Ausdrücken, welche ein Geheimniß
zu verbergen schienen) nichts darin enthalten.Diese Entdeckung verursachte große Bewegungen im Cabinet
des Dionysius. Man war sich Ursachen genug bewußt,
um das Aergste zu besorgen. Aber eben darum hielt Philistus
für rathsam, die Sache als ein Staatsgeheimniß zu behandeln.
Agathon wurde, unter dem Vorwande verschiedener Verbrechen,
die er wahrend seiner Staatsverwaltung begangen
haben sollte, in Verhaft genommen, ohne daß dem Publicum
etwas Bestimmtes, am allerwenigsten die wahre Ursache, bekannt
wurde. Man fand für besser, die Partei des Dion
(welche man sich im Schrecken größer vorstellte als sie wirklich
war) in Verlegenheit zu setzen, als zur Verzweiflung zu
treiben; und, indessen man sich begnügte sie aufs genaueste
zu beobachten, gewann man Zeit, sich gegen einen Ueberfall
in Verfassung zu setzen.Wir sind es schon gewohnt, unsern Helden niemals größer
zu sehen, als im widrigen Glücke. Auf das Aergste gefaßt,
was er von seinen Feinden erwarten konnte, setzte er sich vor,
ihnen den Triumph nicht zu gewähren, den Agathon zu etwas,
das seiner unwürdig wäre, erniedriget zu haben. Er weigerte
sich schlechterdings, dem Philistus und Timokrates, welche zu
Untersuchung seiner angeblichen Verbrechen ernannt waren,
Antwort zu geben. Er verlangte von dem Prinzen selbst
gehört zu werden, und berief sich auf den Vertrag, der zwischen
ihnen errichtet worden war. Aber Dionysius hatte den Muth
nicht, eine geheime Unterredung mit seinem ehmaligen Günstling
auszuhalten. Man versuchte es, Agathons Standhaftigkeit
durch harte Begegnung und Drohungen zu erschüttern;
ja die schöne Kleonissa würde ihre Stimme zu dem strengsten
Urtheil gegeben haben, wenn die Furchtsamkeit des Tyrannen
und die Klugheit seines Ministers gestattet hätten ihren Eingebungen
zu folgen. Sie mußte sich also durch die entfernte
Hoffnung zufrieden stellen lassen, sobald man sich nur erst den
Dion auf eine oder andere Art vom Halse geschafft haben
würde, den verhaßten Agathon zu einem öffentlichen Opfer
ihrer nach Rache dürstenden Tugend zu machen.—————
Neuntes Capitel.Dermaliger Gemüthszustand unsers Helden.Da wir uns zum Gesetz gemacht haben, die Leser dieser
Geschichte nicht bloß mit den Begebenheiten und Thaten unsers
Helden zu unterhalten, sondern ihnen auch von dem, was bei
den wichtigern Abschnitten seines Lebens in seinem Innern vorging,
alles mitzutheilen, was die Quellen, woraus wir schöpfen,
uns davon an die Hand geben; so erwartet man mit Recht,
daß wir diese Pflicht am wenigsten vergessen werden, da wir
ihn, am Ende der merkwürdigsten Epoche seines Lebens, nun
zum zweitenmale von großen Erwartungen getauscht und aus
einer ruhmvollen Laufbahn plötzlich herausgeworfen sehen; ihn,
— vor kurzem noch, durch das unbegränzte Vertrauen eines
sich selbst erwählten Gebieters und die beinahe abgöttische Liebe
eines durch seine Staatsverwaltung glücklichen Volkes, den
ersten Mann in Sicilien, — auf einmal in einer Lage sehen,
worin ihm vielleicht weder seine Verdienste, noch die vermeinte
Lauterkeit seiner Absichten, ohne die Dazwischenkunft irgend
eines hülfreichen Genius, gegen die Anschläge seiner Feinde
und die Folgen seiner eigenen Unvorsichtigkeit zu Statten kommen
werden.Natürlicher Weise kann man erwarten, daß der Ueberblick
der ganzen Reihe neuer Erfahrungen, die er so in kurzer Zeit
gemacht, und die Reflexionen über sich selbst, die sich ihm in
der Stille und Einsamkeit seines Verhaßtes aufdringen mußten,
einen Mann, der von seinen frühesten Jahren an mehr in sich
selbst, in seiner eigenen Jdeenwelt, als außer sich zu leben gewohnt
war, um so stärker beschäftigt haben werde, da er weder
auf Rechtfertigung oder Bemäntelung begangener Uebelthaten
zu denken hatte, noch die geringste Versuchung in sich fühlte,
auf Mittel und Wege zu sinnen, wie er sich mit dem Tyrannen
aussöhnen, oder wenigstens seine Freiheit auf eine andere Art,
als durch öffentliche Anerkennung seiner Unschuld, wieder erlangen
könnte.Man erinnert sich vielleicht noch, daß Agathon schon bei
seiner Erscheinung am Hofe zu Syrakus lange nicht mehr so
erhaben von der menschlichen Natur dachte, als zu Delphi,
wo er, mit den wirklichen Menschen noch wenig bekannt, seine
erste Jugend unter Bildsäulen von Göttern und Halbgöttern
zugebracht hatte. Athen und Smyrna hatten seinen Standpunkt
unvermerkt herabgesetzt; aber nachdem er die an diesen
beiden Orten gesammelten Bemerkungen noch durch nähere
Bekanntschaft mit den Großen und den Hofleuten zu Syrakus
bereichert hatte, sank seine Meinung von der angebornen
Schönheit und Würde der menschlichen Natur so tief herab,
daß er zuweilen in Versuchung gerieth, alles was der göttliche
Plato Hohes und Herrliches davon gesagt und geschrieben hatte,
für wenig besser als eine edlere Art Milesischer Mährchen anzusehen.
Unvermerkt kamen ihm die Begriffe, welche Hippias
ihm vor einigen Jahren beizubringen gesucht hatte, nicht mehr
so ungeheuer vor, als damals, da er sich in den Gärten dieses
wollüstigen Sophisten in den Mondschein setzte, und, im Geist
an der Seite seiner geliebten Psyche, Betrachtungen über den
Zustand entkörperter Seelen anstellte. Nach und nach fand er
diese Begriffe immer weniger ungereimt; ja sie däuchten ihm,
nachdem er die Menschen um ihn her genauer kennen gelernt
hatte, wahrscheinlich genug, um sich vorstellen zu können, wie
ein Mann, der in seinem eigenen Herzen nichts fände, das
ihn edlere Gedanken von seiner Natur zu fassen nöthigte, durch
einen langen Umgang mit der Welt dahin gebracht werden
könnte, sich gänzlich von der Wahrheit derselben zu überreden.Aber auch hierbei blieb es nicht, nachdem er sich das Vertrauen
des Dionysius, um welches er (wie er sich bewußt zu
seyn glaubte) aus den reinsten Beweggründen, durch die schuldlosesten
Mittel und zu den edelsten Zwecken sich beworben
hatte, ohne die geringste Verschuldung auf seiner Seite, durch
so verächtliche Menschen und auf eine so unwürdige Art
entrissen sah. Der Gedanke, seine schönsten Hoffnungen durch die
Thorheit oder Bosheit solcher Menschen vor seinen Augen vernichtet
zu sehen, erfüllte ihn mit einem Unmuth, der sich nach
und nach über die ganze Gattung ausbreitete; und es kamen
Augenblicke, wo er, in dieser grämlichen Verdüsterung seiner
Seele, geneigt schien, sich selbst von der Wahrheit der Hippiassischen
Theorie zu überreden. "Nein, dachte er dann, die
Menschen sind das nicht, wofür ich sie hielt, da ich sie nach
mir selbst, und mich selbst nach den jugendlichen Empfindungen
eines gefühlvollen wohlmeinenden Herzens und nach einer noch
ungeprüften Unschuld, beurtheilte. Meine Erfahrungen bestätigen
das Aergste was Hippias von ihnen sagte. Und wenn
sie denn wirklich nichts Besseres sind, was für Ursache habe ich,
mich zu beschweren, daß sie sich nicht nach Grundsätzen behandeln
lassen, welche in keinem Ebenmaß mit ihrer Natur stehen?
An mir lag der Fehler, der sie zu etwas Besserm machen wollte,
als sie seyn können; der sie glücklicher machen wollte, als sie
selbst zu seyn wünschen. Dieß ist nun das zweitemal, daß
Philistus, ein ächter Anhänger des Systems meines Sophisten,
über Weisheit und Tugend den Sieg davon getragen hat.
Hätte er das gekonnt, wofern nicht die Unredlichkeit, der
Eigennutz, die Feigheit, der Leichtsinn, die thierische Sinnlichkeit,
kurz, alle die unzähligen Blößen, die der schwache Mensch
dem boshaften, der unbesonnene dem schlauen, der niederträchtige
dem ehrgeizigen gibt, ihn beinah' in jedem Menschen, auf
den er die Augen warf, ein bereitwilliges oder doch um irgend
einen Preis erkäufliches Werkzeug seiner Plane hätte finden
lassen? Bedarf es noch einer neuen Erfahrung, um mich zu
überzeugen, daß er eben so gewiß über einen andern Platon,
über einen andern Agathon siegen würde? Wie viel ließ ich
von der Strenge meiner Grundsätze nach, wie tief stimmt' ich
mich selbst herunter, da ich die Unmöglichkeit sah, diejenigen,
mit denen ich's zu thun hatte, zu mir hinauf zu ziehen! Wozu
half es mir? Ich konnte mich nicht entschließen niederträchtig
zu handeln, ein Schmeichler, ein Kuppler, ein Verräther
an dem wahren Interesse des Landes und des Fürsten zu
werden: und so verlor ich die Gunst des letztern, und mit ihr
die einzige Belohnung, die ich für meine Arbeiten verlangte,
die Vortheile, die dieses Land von meiner Verwaltung zu genießen
anfing; verlor sie, weil ich nicht von mir erhalten konnte,
alles recht und anständig zu finden was nützlich ist! — O gewiß,
Hippias, deine Begriffe, deine Maximen, deine Moral,
deine Staatskunst, gründen sich auf die Erfahrung aller Zeiten!
Wann haben die Menschen jemals die Tugend hochgeschätzt, als
wenn sie ihrer Dienste benöthigt waren? Wann ist sie ihnen
nicht verhaßt gewesen, sobald sie dem Vortheil ihrer Leidenschaften
im Lichte stand?"Man begreift leicht, daß diese Betrachtungen, denen Agathon
seit seinem Falle bei Hofe, mehr als seiner Gemüthsruhe
zuträglich war, nachhing, während seines Verhafts mit verdoppelter
Stärke wieder kamen, und durch die anscheinende Gleichgültigkeit
der Syrakuser über das Schicksal eines Mannes, der
so viele Rechte an ihre Zuneigung und Dankbarkeit hatte, mit
jedem Tage und bei jeder neuen Kränkung, die ihm von seinen
Feinden widerfuhr, tiefer und schmerzlicher in sein Gemüth eindrangen.
War es schon ein so peinliches Gefühl, als er sich
gezwungen sah, seine gute Meinung von der schönen und so sehr
geliebten Danae, die doch nur eine einzelne Person war, aufzugeben:
wie marternd mußte erst das Gefühl seyn, in seiner
Meinung von der ganzen menschlichen Gattung, die er mit so
inniger Liebe umfaßt hatte, sich betrogen zu haben! Kein Wunder,
wenn jener kosmopolitische Enthusiasmus, der bei seiner
Flucht aus Smyrna seine ganze Seele durchglühte, bis auf
den letzten glimmenden Funken erloschen zu seyn schien! Was
für einen Reiz könnte der Gedanke, für das Glück des Menschengeschlechts
zu arbeiten, für denjenigen haben, der in den
Menschen nichts Edleres sieht, als eine Heerde halbvernünftiger
Thiere, deren größter Theil den letzten Zweck aller seiner
Bemühungen auf seine körperlichen Bedürfnisse einschränkt, in
Befriedigung derselben seinen höchsten Genuß setzt, und dabei
noch dumm genug ist, durch feigherzige Unterwürfigkeit unter
eine kleine Anzahl der schlimmsten seiner Gattung, sich in den
Fall zu sehen, auch dieses armseligen Lebensgenusses nur
unter den härtesten Bedingungen und im kärglichsten Maße
habhaft zu werden? — Das Thier sucht seine Nahrung,
gräbt sich eine Höhle oder baut sich ein Nest, wird von einem
blinden Triebe zur Erhaltung seiner Gattung genöthiget, schläft
und stirbt. Was thut der größte Theil der Menschen mehr?
Das beträchtlichste Geschäft, das sie vor den übrigen Thieren
voraus haben, ist die Sorge sich zu bekleiden, die allein viele
Millionen Hände auf dem Erdboden beschäftiget. Und ich
(sagte Agathon in einer dieser übellaunigen Stunden zu sich
selbst), ich sollte meine Vergnügungen, meine Kräfte, mein
Daseyn, der Sorge aufopfern, damit irgend eine besondere
Heerde dieser edeln Creaturen besser esse, bequemer wohne
sich häufiger vermehre, sich zierlicher kleide, und weicher schlafe
als zuvor? Ist das nicht was sie wünschen? Und gebrauchen
sie etwa mich dazu? Oder, wenn dieß auch wäre, was sollte
mich bewegen, mir diese Verdienste um sie zu machen? Ist
vielleicht nur ein einziger unter ihnen, der bei allem was er
unternimmt eine edlere Absicht hat als seine eigne Befriedigung?
Bin ich ihnen Dank dafür schuldig, wenn sie für
meine Bedürfnisse oder für mein Vergnügen arbeiten? Ich
bin schuldig sie dafür zu bezahlen: dieß ist alles was sie wollen,
und alles was sie an mich fordern können.Sobald es mit Agathon erst dahin gekommen war, daß
er verächtlich von der Gattung dachte, zu welcher er gehörte,
so konnt' es wohl nicht anders seyn, als daß er zuletzt auch
an sich selbst irre werden, und in starke Zweifel gerathen
mußte, ob es nicht bloße Täuschung einer überspannten Eigenliebe
sey, eine höhere Meinung von seiner eigenen Natur zu
hegen, als mit dem Begriffe, den er sich von der menschlichen
Natur zu machen genöthigt war, verträglich zu seyn schien.
Oder sollte er etwa sich selbst für ein höheres Wesen, für
irgend eine Art guter Dämonen halten, die aus dem reinern
Elemente des überhimmlischen Raums in menschliche Leiber
herabgesenkt worden, um durch ihre wohlthätigen Einwirkungen
die Menschen aus dem Stande der Thierheit, der ihr natürlichster
Zustand zu seyn scheint, nach und nach zur Würde
vernünftiger Wesen zu erheben? —Diese Hypothese, die ein
Bewohner der Delphischen Haine sich wahrscheinlich genug
hätte machen können, hatte zu wenig haltbaren Grund, als
daß ein Mann, dessen Phantasie unter Staatsgeschäften und
Hofzerstreuungen abgekühlt worden war, sich bei ihr hätte
beruhigen können. Was blieb also übrig, als der Gedanke, die
Vorzüge, deren er sich vor dem großen Haufen der Menschen
bewußt war, möchten wohl nichts andres seyn als bloße Blüthen
einer feinern Organisation und Früchte einer höhern
Cultur, die ihm durch einen günstigen Zusammenfluß äußerer
Umstände zu Theil geworden? Glücklich für ihn und andere,
daß er dadurch eines schönern, ausgebreitetern, vollkommnern
Lebensgenusses fähig wurde! Aber warum sollte er sich selbst
mit eben so undankbaren als vergeblichen Bemühungen verzehren,
andre Leute besser und glücklicher zu machen, als sie
seyn wollten? Wozu mit Aufopferung seiner Ruhe und Freiheit
unmögliche Dinge unternehmen, Mohren weiß waschen
und das Faß der Danaiden füllen? Wie groß auch für ihn
der Reiz jener idealischen Plane gewesen war, die er in Sicilien
auszuführen hoffte, wie sehr sie die Anstrengung aller seiner
Kräfte und die Aufopferung aller geringern Freuden des Lebens
verdient hätten: waren diese Plane darum weniger chimärisch?
Hatte er nicht alles Mögliche gethan sie gelingen zu machen?
Könnte er mehr thun, wenn er —selbst mit allen den Kenntnissen,
die ihm die Erfahrung über die Ursachen, warum sie
fehl geschlagen, verschafft hatte — wieder von neuem an ihnen
zu arbeiten anfangen sollte? Waren sie nicht einem weisern
Mann als er mißlungen? — Und wenn diese Plane eben
darum, weil sie einige Millionen Menschen zu einem höhern
Grade von Glückseligkeit erheben sollten als sie fähig sind,
bloße Dichterträume waren: was sollte er von den Triebfedern
und Bewegungsgründen halten, die ihn verleitet hatten, diese
hochfliegenden Phantasien wirklich machen zu wollen? Sollte
nicht auch das Streben nach einer mehr als menschlichen
Größe, Stärke und Erhabenheit der Seele bloße Täuschung
und subtiles Gaukelwerk eines sich selbst vergötternden Egoismus
seyn? Wie, Agathon, wenn Hippias auch hierin am
Ende Recht behielte, und diese idealische Tugend, der du
schon so viel Opfer brachtest, selbst die größte, wenn auch die
schönste, aller Chimären wäre?Wir können nicht läugnen, diese und ähnliche Gedanken
waren in einer trübsinnigen Stunde in unserm Helden aufgestiegen:
und wofern sie mehr als bloße Mißklänge einer
durch gereizte Empfindlichkeit und gerechten Unwillen verstimmten
Seele gewesen, wofern sie gar in Gesinnungen übergegangen
wären; so schwebte er am äußersten Rande des
Abgrunds, der zwischen Weisheit und Tugend und dem System
des Hippias liegt, und seine Feinde hätten einen allzu
fürchterlichen Sieg über ihn erhalten, wenn sie ihn nicht bloß
vom Gipfel seines Glücks in Syrakus, sondern sogar von der
moralischen Höhe, auf der er so weit über sie erhaben stand,
hätten herabstürzen können. Aber dieser Triumph sollte ihnen
nicht zu Theil werden, denn der Genius seiner Tugend führte
in eben dieser Stunde, da sein Gemüthszustand eine neue
Probe seiner bis in ihrem Grund erschütterten Rechtschaffenheit
gefährlicher als jemals zu machen schien, einen Zufall
herbei, der gerade das, was ihren Fall beschleunigen konnte,
zum Mittel machte, ihr das Uebergewicht wieder zu geben,
welches sie unter allen seinen Schwachheiten und Verirrungen
bisher noch immer glücklich behauptet hatte.—————
Zehntes Capitel.Agathon erhält einen sehr unvermutheten Besuch, und wird auf eine
neue Probe gestellt.Wiewohl die Feinde Agathons keine Maßregel der Vorsichtigkeit
vergessen hatten, ihm eine heimliche Entweichung
oder seinen Anhängern eine gewaltsame Entführung unmöglich
zu machen; so hatte man doch, da die schärfste Untersuchung
nichts, das eine allzugroße Strenge rechtfertigen
konnte, gegen ihn aufgebracht, und der erste Zorn des Tyrannen
sich wieder abgekühlt hatte, sich nicht entbrechen können,
ihn nach Verfluß einiger Wochen gelinder zu behandeln; und
sein Verhaft war nicht mehr so enge, daß man irgend einem
von seinen ehemaligen Bekannten, auf den kein Verdacht von
geheimem Einverständniß mit ihm oder Dion fiel, besonders
denen von der gelehrten Zunft, die Erlaubniß, ihm seine gezwungene
Einsamkeit zu erleichtern, schwer gemacht hätte.Unter diesem Titel hatte er schon mehrere Besuche von
seinem Freund Aristippus erhalten; und dieser war es auch
den er vermuthete, als die Thür seines Zimmers aufgeschlossen
wurde, und — anstatt desselben — wer anders? als eben
dieser nämliche Hippias herein trat, den er noch vor wenigen
Minuten, da er ihn mehr als hundert Meilen von Syrakus
entfernt glaubte, so lebhaft apostrophirt, eben dieser Hippias,
zu dessen antiplatonischer Philosophie er bereits mit so stark
gefühlter Ueberzeugung, wie es schien, sich zu bekehren angefangen
hatte.Berge kommen nicht zusammen, sagt ein sehr altes
Sprüchwort, aber Menschen, wie weit sie auch getrennt seyn
mögen, sind nie sicher, einander unverhofft zu finden oder
wieder zu sehen. Hippias, nachdem er den Olympischen Spielen
(deren Begehung in dieses Jahr fiel) seiner Gewohnheit
nach beigewohnt hatte, war, sey es nun aus Vorwitz, oder
um gelegenheitlich eine kleine Rolle zu spielen, nach Syrakus
herüber gekommen; und, wiewohl er unsern Helden in einer
ganz andern Lage zu finden geglaubt hatte, so schien er doch
nichts Befremdendes zu hören, als man ihm sagte, daß Agathon
in Ungnade gefallen, und sogar, wegen einer vermuthlichen
geheimen Verbindung mit dem Schwager des Tyrannen,
in Verhaft gekommen sey. Hippias wollte sich das Vergnügen
nicht versagen, seine Augen an dem Falle dieses politischen
Jkarus zu weiden, dem, seiner Meinung nach, nichts begegnet
war, als was er durch seine Ungelehrigkeit, und durch die
Vermessenheit, sich auf den Wachsflügeln der Schwärmerei
in die sonnigen Höhen des Hofes und der Fürstengunst zu
wagen, mehr als zu wohl verschuldet hatte. Er eilte also,
sobald er binnen einigen Tagen die nöthigen Vorkenntnisse
von Agathons Umständen eingezogen hatte, unter dem Titel
eines alten Bekannten sich bei ihm einführen zu lassen.Nach der Stimmung zu urtheilen, worin wir unsern
Helden wenige Minuten vor dem Eintritt des Sophisten
verladen haben, sollte man mit Grund erwarten dürfen, daß
ihm diese so ganz unverhoffte Erscheinung eines Mannes, mit
dessen Denkart er sich so gut ausgesöhnt zu haben schien,
vielmehr angenehm als unwillkommen hätte seyn sollen.
Gleichwohl zeigte sich, sobald ihm die wohlbekannte Gestalt
des hereintretenden Hippias in die Augen fiel, das Gegentheil
auf eine Art, die für diesen nicht sehr schmeichelhaft war.
Eine plötzliche Röthe glühte in seinem bleichen Gesicht auf;
er fuhr betroffen und beinahe bestürzt zurück, und alle Züge
seines Gesichts verriethen jene Art von Verlegenheit, in welche
man geräth, wenn man sich unversehens von einem Menschen
überfallen sieht, den man nicht gern zum Zeugen seiner Gedanken
haben möchte, und vor dessen Scharfsinnigkeit man
doch nicht sicher zu seyn glaubt. Hippias, der mit allem
Scharfblick seines Schalksauges die wahre Ursache dieser Verlegenheit
unmöglich erspähen konnte, schrieb sie einer in Agathons
Lage (seiner Meinung nach) sehr natürlichen Verwirrung
zu, und ging nur desto zuversichtlicher, mit aller anscheinenden
Offenheit einer Person, die sich zum freundlichsten
Empfang berechtigt hält, auf ihn zu. Agathon fand sich durch
diese Vertraulichkeit um so mehr beleidigt, da er Schadenfreude
und Triumph unter den buschigen Augenbrauen des
Sophisten hervorblicken zu sehen glaubte. Auf einmal standen
alle seine ehemaligen Verhältnisse zu ihm, mit allen den Scenen,
worin Hippias sich ihm als ein Gegenstand der tiefsten Verachtung
und des innigsten Abscheues dargestellt hatte, im
wärmsten Colorit der Gegenwart vor seiner Seele: ihm war
als sähe er seinen bösen Genius vor sich; und dieses seltsame
Gefühl warf ihn auf einmal wieder in sich selbst zurück. Die
Theorie des Sophisten verlor im unmittelbaren Anblick seiner
verhaßten Gestalt alles Täuschende, was ihr Agathons eigne
verstimmte Phantasie geliehen hatte; und sobald er in dem
Manne, den er vor sich sah, den ganzen leibhaften Hippias,
wie er ihn zu Smyrna verlassen hatte, wieder fand, fühlte er
auch in sich den ganzen Agathon.Unser Sophist war, mit allem seinem Stolz, nicht gesonnen,
sich durch einen unhöflichen Besuch irre machen zu
lassen. Ei, ei! rief er in einem Tone von ironischer Verwunderung,
was ist das? Ich komme nach Syrakus, um ein
Augenzeuge des glänzenden Glückes und der ruhmvollen
Staatsverwaltung meines Freundes Agathon zu seyn, und ich
treffe ihn in einem Gefängnisse an! Wie geht das zu, Agathon?
Sollte dir etwa dein Platonism auch an Dionysens
Hofe einen seiner alten Streiche gespielt haben? Ich hoffte
was Besseres von den Schulen, die du zu Smyrna durchgegangen
bist; und ich beklage sehr, daß ich, der nach Sicilien
gekommen war, sich deines Glücks zu erfreuen, dir in der
Lage, worin ich dich finde, vielleicht mit nichts als einem
unfruchtbaren Mitleiden dienen kann."Erspare dir auch dieß, Hippias, erwiederte Agathon mit
einem Blick der kältesten Verachtung: oder, wenn du ja so
gutherzig bist, mir mit etwas, das mir noch lieber als dein
Mitleiden wäre, dienen zu wollen, so suche dir eine Gesellschaft,
für die du dich besser schickest, und überlaß mich der
meinigen."Lieber Agathon, versetzte Hippias. ohne die geringste
Empfindlichkeit über einen so unfreundlichen Empfang zu verrathen,
ich begreife, daß man mit einem so zarten Gefühl wie
das deinige, in einer solchen Lage, nicht immer bei guter
Laune seyn kann. Wir kennen uns, und unter alten Freunden
kommt es auf eine saure Miene mehr oder weniger nicht an.
Ich bin nicht hier, deines Unglücks zu spotten —"Wirklich nicht?" fiel ihm Agathon mit einem bittern
Lächeln ins Wort.Es ist doch noch nicht so lange her, fuhr Hippias fort,
daß du dich nicht solltest erinnern können, auf welchem Fuß
wir einst zu Smyrna lebten; daß ich, von dem ersten Augenblick
an, da der Zufall uns zusammen brachte, dich lieb gewann;
und daß es an mir nicht lag, wenn du nicht einer
der glücklichsten Menschen wurdest, auf welche jemals die
Ionische Sonne geschienen hat. Aber du wolltest lieber deinen
eigenen Weg gehen. Ich sagte dir voraus, wohin er dich
führen würde; aber du hörtest nicht auf mich, und ich mußte
mir's gefallen lassen. Da ich mir selbst und meinen Grundsätzen
immer getreu bleibe — (das mag dir leicht werden,
dachte Agathon erröthend) so blieb ich auch dein Freund —"Du, mein Freund? — Hippias der Freund Agathons?"Warum nicht, wenn anders der unser Freund ist, der es
wohl mit uns meint, und auch in einem Unglücke, das wir
uns selber zugezogen haben, herbeieilt, uns die Hand zu
bieten?"Ich bin nicht unglücklich, Hippias; aber wenn ich es wäre;
was sollte mir das, was du deine Freundschaft nennst, helfen
können?"O sehr viel, wenn du nicht, noch so früh, schon ganz
unverbesserlich bist.Unverbesserlich? — Doch, ja! Verlaß dich darauf, daß
ich es bin, und ziehe deine bessernde Hand von mir ab! Je
eher je lieber! du würdest Zeit und Mühe umsonst verschwenden.
Ich bin in der That unverbesserlich."Das kann und will ich nicht glauben, Agathon! du bist
übellaunig, verdrießlich, siehst jetzt gerade alles braungelb,
weil dir ein wenig Galle ins Blut getreten ist. Aber —
wir sind Männer; du bist Agathon, ich bin Hippias —Warum
sollten wir einander nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen
können?"O! die laß ich dem Hippias gewiß widerfahren," sagte
Agathon, indem er ihm einen verachtenden Blick zuwarf, und
dann nach der Thür hinsah.Höre, Agathon, erwiederte der weise Hippias mit der
ganzen unanfechtbaren Iovialität, die er zu allen Zeiten in
seiner Gewalt hatte, und indem er sich zugleich, mit aller
Behaglichkeit eines Mannes der zu Hause ist, auf einen
Polstersitz niederließ; ich hoffe dir einen Beweis zu geben, daß
ich gerecht gegen den Mann zu seyn weiß, welcher Zaubermacht
genug in sich hatte, um sogar Einen der Tiger, die
den Wagen des Dionysos ziehen, zahm zu machen; gegen
den Mann, der das goldne Alter nach Sicilien zurückgebracht
—haben würde, wenn die Menschen nicht wären — was ich
dir schon zu Smyrna sagte daß sie seyen, und was sie so
lange bleiben werden, als sie nichts als ein Paar feiner
organisirte Vorderpfoten und die Gabe der Sprache vor den
übrigen Thieren voraus haben.Agathon fing itzt an, sich als einen Menschen zu betrachten,
den ein Zufall auf einem Marktschiffe mit einer
schlimmen Gesellschaft zusammengebracht hat, die er für gut
nehmen muß, und, in Hoffnung sich bald wieder von ihr zu
trennen, duldet so gut er kann. Er zuckte die Achseln und
ließ den Sophisten reden.Gewiß ist es nicht deine Schuld, fuhr Hippias lächelnd
fort, wenn Dionysius nicht der tugendhafteste und weiseste
aller Tyrannen, sein Hof nicht ein Tempel aller Musen, seine
Räthe und Diener nicht alle eben so uneigennützig als du
selbst, sein Volk nicht das glücklichste Volk unter der Sonne,
und — sogar die kleine Bacchidion nicht die harmloseste aller
jungen Dirnen ist, die sich jemals in die Arme eines Königs
hinein getanzt haben.Agathon erröthete abermal, schlug die Augen nieder und
schwieg fort. Was sollte er auch gesagt haben? Hippias hatte
ihn nun einmal in seiner Gewalt, und immer war es ein
Vorrecht der Leute seiner Art, gute Menschen nicht nur über
das, was sie sich bewußt sind, sondern noch öfter über das
was jene von ihnen zu denken scheinen, schamroth zu machen.Gewiß, fuhr Hippias fort, kamst du mit solchen Absichten
nach Syrakus; gewiß hattest du dir den schönsten Plan
von der Welt darüber gemacht, und gabst dir alle Mühe ihn
zur Wirklichkeit zu bringen. Wie kam es denn, Agathon daß
dir die Ausführung nicht besser gelang?"Vermuthlich, weil man nicht alles kann was man will,"
antwortete Agathon; "oder, du hörtest wohl lieber, wenn
ich sagte: weil ich nicht klug genug war, von den Grundsätzen
der geheimen Philosophie Gebrauch zu machen, in deren Mysterien
du mich einzuweihen gewürdiget hattest?Mein lieber Agathon, versetzte der Sophist mit einem
schalkhaft mitleidigen Lächeln, man kann alles was man will,
sobald man nichts will als was man kann: und was den andern
Punkt betrifft, so sollt' ich beinahe selbst glauben, du würdest
mit meinen Maximen zwar keines der Wunderwerke, die du
hier verrichten wolltest, weder gethan noch unternommen haben;
aber dafür auch höchst wahrscheinlich noch zu dieser Stunde
der Günstling des Dionysius seyn, und das Vergnügen haben,
die Philiste und Timokraten, ja die majestätische Kleonissa
selbst, nach jeder Melodie, die du ihnen vorspielen wolltest,
tanzen zu sehen."Ohne Zweifel," sagte Agathon, "würde sich der weise
Hippias an meinem Platze ganz anders benommen haben als
ich. Er würde Mittel gefunden haben, den Tiger des
Dionysos mit lauter Rosenbetten vor seinen eigenen Wagen
zu spannen; die Philiste und Timokraten, und wer nur irgend
schlau genug gewesen wäre, euch seinen Antheil an der gemeinsamen
Beute abzuverdienen, würden sich willig haben
finden lassen, dir deinen Plan ausführen zu helfen, und bei
Gelegenheit ihren Beschützer wieder beschützt haben. Diese
schöne Harmonie hätte so lange gedauert, als jedes bei der
stillschweigenden Uebereinkunft, sich von den andern betrügen
zu lassen, seine Rechnung gefunden hätte; und niemand hätte
sich bei eurer Eintracht übel gestanden, als der Staat und
das Volk von Sicilien, und die kleine Zahl der ehrlichen
Leute, deren Daseyn euern Blicken entgangen wäre. Nicht
wahr?"O Agathon, Agathon, rief der Sophist mit dem theilnehmenden
Ton eines Mannes aus, der seinen oft gewarnten
Freund eigensinnig auf einem Wege, der ihn ins Verderben
führen wird, fortgehen sieht — So sollen denn auch diese
neuen Erfahrungen, die du auf deine eignen Kosten gemacht
hast, und vielleicht nur zu theuer bezahlen wirst, so sollen
denn auch diese für dich verloren seyn!! — Aber lassen wir
itzt das, was ich an deiner Stelle gethan hätte, und bleiben
bei dem stehen, was du gethan hast. Obgleich das Geschehene
nicht mehr zu ändern ist, so kann dir doch die Erkenntniß
deiner Verirrungen künftige Fehler ersparen. Wie gesagt,
ich hoffe dich zu überzeugen, daß ich dein Freund bin; denn
ich will dir einen Spiegel vorhalten, der dir nicht schmeicheln
soll. Wenn Agathon seinen herrlichen Plan vereitelt, seinen
Zweck verfehlt, seine Arbeit verloren und seine Verdienste mit
Undank belohnt sieht: so hat er niemand die Schuld beizumessen
als — sich. Erkenne an diesem Zuge den Charakter
der Freundschaft, die sich nicht scheuet, dem Freunde zu seinem
Besten wehe zu thun, und ihn strenger zu beurtheilen als er
selbst. Ich will nichts von der Vermessenheit sagen, womit
du dich an dein Werk wagtest, wozu dir gerade die einzigen
Erfordernisse fehlten, ohne welche es nicht gelingen konnte;
an ein Werk, das dem weisen Plato selbst mißlungen war! war!
Arm an Weltkenntniß, aber desto reicher an Idealen, glaubtest
du, aus der Regierung eines Dionysius eben so leicht das
Muster einer vollkommnen Monarchie machen zu können, als
es dir zu Smyrna, in einem Hause, wo dir alles zu Gebot
stand und wo du alles fandest, ein Leichtes gewesen war, jeden
schönen Dichtertraum zu realisiren, woran deine Phantasie
zur Belustigung der schönen Danae so fruchtbar war. Ohne
den Charakter des Tyrannen und seiner Günstlinge durch
dich selbst zu kennen, geschweige sie lange und scharf genug
beobachtet zu haben, um zu wissen, wie ein Mann von
deiner Denkart von jenem zu hoffen und von diesen zu
fürchten habe, unternahmst du, was kein weltkluger Mann
jemals auf sich genommen hätte, — jenen zu einem guten
Fürsten umzubilden, diese von ihm zu entfernen und unschädlich
zu machen. Den Dionysius zu einem guten Fürsten! Es
ist, als wenn Alkamenes seine Aphrodite aus einem knotigen
Stück Feigenholz hätte schnitzen wollen. Einen Philistus unschädlich!
Giftiges Gewürm muß man ausrotten um es unschädlich
zu machen. Dir selbst solche Wunder zuzutrauen,
war allerdings große Vermessenheit: indessen dient dir hier
die Schönheit deines Plans, der Reiz eines so ruhmwürdigen
unternehmens, und deine Unbekanntheit mit dem Hofe, als
einer für dich ganz neuen Welt, allenfalls zur Entschuldigung.
Aber daß du dein eignes Herz nicht besser kanntest; daß du,
um die Gunst, oder (wenn du es lieber so nennen willst) das
Zutrauen des Tyrannen zu gewinnen, so gefällig warst einen
Theil von dir selbst zu verläugnen; daß du immer so viel
von deinen Grundsätzen nachgabst, als du für deinen Zweck zu
gewinnen hofftet; daß du dich zu einem schimpflichen Vergleich
mit dem, was du selbst Laster nennest, erniedrigtest,
durch Nachgiebigkeit gegen gewisse Leidenschaften des Tyrannen
Meister von den übrigen zu werden hofftest, eine Bacchidion
in deinen Schutz nahmst, um eine Kleonissa durch sie zu verdrängen; —
und daß du, wie natürlich, mit aller dieser
Halbheit deinen Plan doch nicht auszuführen vermochtest; daß
alle diese unzulänglichen Aufopferungen am Ende vergebens
gemacht waren; daß du deinen Feinden eine Blöße über die
andere gabst, und die Gruben nicht gewahr wurdest, in welche
du durch deine eignen Leidenschaften fallen mußtest; daß du
deine Urtheile von den Menschen, deren Laufbahn die deinige
durchkreuzte, so oft ändertest, als sich ihr zufälliges Verhältniß
gegen dich veränderte; daß du mit eben diesem Dion, den
du noch kurz zuvor ruhig seinen Feinden Preis gabst, gemeine
Sache gegen einen Fürsten machtest, von dem du mit Gunstbezeugungen
überschüttet worden warst, und dem du so viele
Ursache gegeben hattest dich für seinen Freund zu halten: —
dieß, Agathon, sind Abweichungen von deinen eigenen Grundsätzen,
deren du dich billig vor dir selbst anzuklagen hast, und
die dadurch nur desto verdammlicher werden, weil sie eben
so sehr gegen die Gesetze der Klugheit verstoßen, als gegen
jenes hohe Ideal der Tugend, dem du in deinen schwärmerischen
Stunden alles aufzuopfern bereit warst. Daß du den
Muth nicht hattest, entweder deinen Grundsätzen ganz getreu zu
bleiben, oder, wenn Erfahrung und zunehmende Menschenkenntniß
dich von der Richtigkeit der meinigen überführte,
dich gänzlich von diesen führen zu lassen: das ist es was dich
hierher gebracht hat, und vielleicht am Ende, für allen deinen
guten Willen, das Reich der Themis und des Kronos nach
Sicilien zurückzubringen, dich zum Opfer deiner Feinde
machen wird, ohne daß dir nur der Trost deines eigenen
Beifalls bliebe, nur das Recht, deinen Richtern und der
ganzen Welt mit dem stolzen Bewußtseyn, immer dir selbst
gleich geblieben zu seyn, in die Augen zu sehen. Alle diese
Kränkungen von außen und innen hättest du dir ersparen
können, mein guter Agathon, wenn du dich, da du die schlüpfrigste
aller Bahnen zu betreten wagtest, jener Theorie hättest
erinnern wollen, die ich dir, als das Resultat der Erfahrungen
und Beobachtungen eines an Begebenheiten und Glückswechseln
sehr reichen Lebens, in wenig Stunden mit einer Offenheit
und Gutmüthigkeit mittheilte, die einer bessern Aufnahme
werth waren. Deine eigene Erfahrung ist nun die sicherste
Probe über die Richtigkeit meiner Rechnung; und ich kann
die Anwendung meiner Maximen auf die besondern Fälle,
worin du dich seit deiner Entfernung von Smyrna befunden
hast, um so eher deinen eigenen Betrachtungen überlassen, da
ich gewiß bin, daß sie dir auch nicht Einen von dir begangenen
Fehler zeigen werden, den du nicht durch die Befolgung dieser
Maximen vermieden haben würdest.Hier hielt Hippias ein, als ob er seinem in Gedanken
(wie es schien) verlornen Zuhörer Zeit lassen wollte, das Gehörte
zu Herzen zu nehmen. Aber, es sey nun, daß er in
der Absicht noch mehr zu sagen gekommen war, oder daß seine
alte Zuneigung zu unserm Helden in diesem Augenblicke wieder
erwachte, indem er einen der liebenswürdigsten und vorzüglichsten
Sterblichen, dem Ansehen nach, so gedemüthigt vor
sich sah, — genug, da dieser noch immer mit gesenktem Haupt
in tiefem Stillschweigen verharrte, nahm er das Wort wieder,
und sagte, indem er aufstand und den zu ihm aufblitzenden
Agathon bei der Hand nahm, mit einem Tone der Stimme,
der aus dem Herzen zu kommen schien: vergib mir, Agathon,
wenn ich dir weher gethan habe als meine Absicht war! Ich
bin in einer sehr guten Meinung zu dir gekommen; und,
wiewohl ich, wenn ich gewissen Erinnerungen Gehör geben
wollte, vielleicht mit dir zürnen sollte, so ist es mir doch weit
angenehmer, mich dem Hang zu überlassen, der mich seit dem
Anfang unsrer Bekanntschaft immer zu dir zog. Gib meiner
dir entgegenkommenden Freundschaft eine freundliche Antwort,
und alles ist auf immer vergessen; ich gebe dir meine ganze
Liebe für einen Antheil an der deinigen! Du kehrst mit mir
nach Smyrna zurück; dein Umgang verschönert den Rest meines
Lebens; du theilest alles was ich besitze mit mir, und
bist, wenn ich ausgelebt habe, der Erbe meiner Talente und
meiner ganzen Verlassenschaft.Hippias hatte, beim letzten Theile dieser Anrede, Agathons
halb verweigerte Hand abermals mit einer Wärme ergriffen,
die dem ganzen Ausdruck seines Gesichts die Wahrheit
seiner Worte bekräftigen half. Laß dich, setzte er hinzu,
den Contrast meines Anerbietens mit deiner gegenwärtigen
Lage nicht beunruhigen. Ich bin wie du schon gemerkt haben
mußt, mit allen Umständen deines hiesigen Lebens bekannt,
und weiß ziemlich genau, wie weit deine Feinde allenfalls
gehen dürften. Aber, ich habe Ursache zu glauben, daß ich bei
dem Fürsten, und selbst bei der tugendhaften Kleonissa (die,
unter uns gesagt, einst eine meiner gelehrigsten Schülerinnen
war), ja, auf alle Fälle, bei dem ganzen Syrakusischen Volke
so viel vermag, daß deine Aussöhnung mit Dionysius und
deine Freiheit mir nur wenig Mühe kosten werden.Agathon, von einem so ganz unerwarteten Ausgange dieses
Besuchs mehr gerührt als er wollte, wand seine von zwei
sehr verschiedenen Regungen nach zweierlei Richtungen gezogene
Hand nur langsam aus der stärkern Faust des Sophisten,
und bat ihn, mit einem Blicke, der durch zwei große
Thränen, die ihm in die Augen getreten waren, hindurch
schimmerte, sich wieder niederzulassen, und nun auch an seiner
Seite anzuhören, was er ihm aus vollem Herzen antworten
würde.Hippias, der einen Antrag gemacht zu haben glaubte, den
in Agathons Lage nur ein Wahnsinniger abweisen könne, schien
sich von dem, was ihn der feierliche Ernst in Agathons Augen
erwarten hieß, wenig Gutes zu versprechen; er biß sich schweigend
in die Oberlippe, ließ Agathons sich sanft zurückziehende
Hand plötzlich fahren, nahm seinen vorigen Platz wieder, und
hörte mit angenommener Zerstreuung, was der eigensinnige
Schwärmer gegen einen Vorschlag, womit er ein Recht an
seine wärmste Dankbarkeit erlangt zu haben glaubte, einzuwenden
haben könnte.—————
Eilftes Capitel.Agathons Schutzrede für sich selbst, und Erklärung auf den Antrag des
Hippias.Vor allen Dingen, Hippias (fing Agathon an), bekenne
ich mich von ganzem Herzen zu den Absichten, die du mir zuschreibest,
als ich den Entschluß faßte mich dem Dionysius zu
widmen. Wie schwärmerisch auch der Plan, den ich nach
Syrakus mitbrachte, in deinen Augen erscheinen mag, es war
der meinige: und in der That, es bedurfte keines geringern,
um den Zauber zu entkräften, der mich, als ich aus Smyrna
entfloh, noch immer mit kaum widerstehlicher Gewalt nach
dem Ionischen Ufer zurückzog; es bedurfte des ganzen Schwunges,
den mein Geist in diesen gefährlichen Augenblicken durch
den Gedanken erhielt, eine neue Laufbahn nach dem edelsten
Ziele seiner nur zu lange durch üppige Trägheit gebundenen
Kräfte vor sich eröffnet zu sehen. Lege mir's nicht als Uebermuth
aus, Hippias, wenn ich sage: wer, der in dem Alter,
wo der Jüngling sich in den Mann verliert, solcher Kräfte
sich bewußt ist, könnte bei einem solchen Gedanken, bei einer
so schönen und großen Unternehmung, vor Schwierigkeiten
zittern, oder ängstlich das ihm selbst unbekannte Maß seiner
Stärke ausrechnen? Wenn Eitelkeit, Ruhmdurst, oder irgend
eine andere unlautere Triebfeder damals an meinen Entwürfen
für die Zukunft Antheil hatte, so war ich mir dessen nicht
bewußt: meine Absichten waren rein, mein Zweck der edelste,
auf den ein menschliches Wesen seine Thätigkeit richten kann;
denn ich hatte keinen andern, oder (was doch wohl bei Menschen
für das Nämliche gelten muß) ich erkannte keinen andern
in mir, als das möglichste Gute in dem ganzen Umfange des
Wirkungskreises, der sich meinen Hoffnungen aufthat, hervorzubringen.
Für den Erfolg konnte weder mein Wille noch
mein Verstand die Gewähr leisten; und mir einen solchen
Ausgang zu weissagen, würde, wenn es damals auch möglich
gewesen wäre, eher Feigheit als Behutsamkeit gewesen seyn.
Wer mit reinen Gesinnungen und mit unbedingter Bereitwilligkeit
zu jeder Aufopferung seines besondern Vergnügens
oder Vortheils für das allgemeine Beste arbeitet, wird schwerlich,
wie groß auch sein Wirkungskreis sey, durch die Fehler
in die er fallen mag, einem andern schaden als sich selbst.
Niemand Unrecht zu thun, und immer das, was wir in den
gegebenen Umständen für das möglichste Gute erkennen, zum
Zweck zu haben, ist ganz in unsrer Gewalt: uns nie hierin
zu irren, ist mehr als von einem Sterblichen gefordert werden
kann. Ohne Zweifel habe ich während meines öffentlichen
Lebens zu Syrakus manchen Irrthum dieser Art begangen;
auch vielleicht manchen, den ein erfahrnerer und weiserer Mann
als ich vermieden hätte. Fern sey es von mir, mich hierüber
selbst täuschen, oder in anderer Augen besser scheinen zu wollen
als ich bin. Aber eine Stimme, deren ernsten Ton ich zu gut
kenne, um ihn jemals mit dem schmeichelnden Gelispel des
Eigendünkels zu verwechseln, spricht mich im Innersten meines
Gemüthes von der Schuld eines unredlichen Willens oder einer
sträflichen Nachlässigkeit los; und ist nicht schon allein der Umstand,
daß ich hier bin, ein Beweis meiner Unschuld? —
Mehr Gelehrigkeit gegen deine Theorie der Lebensweisheit
hätte mir, sagst du, die falschen Schritte erspart, die mich
hierher gebracht haben. O gewiß! Aber nur, weil sie mich
zum Mitschuldigen derer gemacht hätte, die bloß darum
meine Feinde wurden, weil sie keine Lust hatten mir, auf Unkosten
ihrer Selbstheit, Gutes wirken zu helfen, und ich ihnen
im Bösesthun weder zum Gehülfen noch zum Werkzeug dienen
wollte.Doch, gerade in diesem Stücke, glaubst du, habe ich mich
von der unerkannten Schwäche meines Herzens betrügen lassen.
Ich hatte nicht Muth genug, sagst du, meinen Grundsätzen
getreu zu bleiben; ich schwankte zwischen der Rechtschaffenheit,
die ich mir selbst zur Maxime gemacht hatte, und der
Klugheit, worin, nach deiner Theorie, die Tugend des Weisen
besteht, unbeständig hin und her. Daher die Nachgiebigkeit
gegen die Ausschweifungen des Tyrannen, die du mir Schuld
gibst; daher diese Halbheit, und der schimpfliche Vergleich mit
dem, was ich selbst Laster nenne, wozu ich mich erniedrigt
haben soll. —In der That steht es übel mit mir, Hippias,
wenn ich diese Beschuldigungen verdient habe, ohne mir dessen
bewußt zu seyn, und du hast mir den größten aller Dienste
erwiesen, daß du gekommen bist, mein Gewissen aus einem
so gefährlichen Zauberschlaf aufzurütteln. Nun wäre ich nicht
länger zu entschuldigen, wenn ich fortfahren wollte mich selbst
zu hintergehen. Allein, wie sehr du dich auch durch einen so
uneigennützigen Liebesdienst als meinen Freund bewiesen hast,
so erwartest du doch nicht, daß ich mich, gegen mein eigenes
Bewußtseyn, zu irgend einer Schuld bekenne, von welcher
mich der Richter in meinem Busen frei spricht. Als ich, —
im Gedränge zwischen der Wahl, entweder meinen ganzen
Plan aufzugeben, oder mich zu einiger Nachsicht gegen die
verderbten Menschen, mit denen ich es zu thun haben mußte,
zu bequemen, —als ich da dem Glauben Platz gab, daß es
nicht unmöglich sey, die Räthe der Klugheit mit den Forderungen
der Rechtschaffenheit zu vereinigen, glaubte ich mir
bewußt zu seyn, daß die Unmöglichkeit, meinen Plan ohne
diese Nachgiebigkeit auszuführen, mein einziger Bewegungsgrund
sey; und erlaube mir dich zu erinnern, daß es ein
Plan war, in welchem mein Privatinteresse in ganz und gar
keine Betrachtung kam. Ich beruhigte mich damit, daß ich
nicht gegen mich selbst, sondern nur gegen andere etwas von
der Strenge meiner Grundsätze nachließ, und nicht mehr als
mir unvermeidlich schien, wenn ich sie nicht gänzlich von dem
guten Wege zurückschrecken wollte, auf welchen ich sie zu bringen
hoffte; auf einen Weg, von dem sie zu weit verirrt waren,
als daß ich, um sie dahin zu bringen, alle Krümmungen und
Seitenpfade hätte vermeiden können. Dieß allein, Hippias,
war die Ursache der Halbheit, deren du mich mit mehr Strenge
als Billigkeit beschuldigest. Daß ich durch ein solches Benehmen
meinen Feinden Blößen geben mußte, war, wie ich itzt
bei kälterm Blute sehe, unvermeidlich: aber ich bitte dich,
nicht zu vergessen, daß ich keine andern Feinde hatte, noch
haben konnte, als die Feinde des Guten, das ich schaffen
wollte, und das mit den Forderungen ihrer Leidenschaften
unverträglich war. Ihnen diese Blößen nicht zu geben, waren
nur zwei Wege, entweder den Hof zu verlassen, oder die Rolle
an demselben zu spielen, welche hippias an meinem Platze
gespielt hätte. Das erste wollte ich nicht, weil ich die Hoffnung
eines guten Erfolgs nicht zu früh aufgeben wollte; das
andere konnte ich nicht, weil ich nicht aufhören konnte Agathon
zu seyn. —Doch, es gab noch einen dritten Weg, sagst
du: ich hätte Muth genug haben sollen meinen Grundsätzen
ganz getreu zu bleiben, und dem Ideal der Tugend alles aufzuopfern.
Wenn ich dich recht verstehe, so heißt dieß: ich
hätte meinen Wirkungskreis an Dionysens Hofe für einen
Kampfplatz auf Leben oder Tod ansehen sollen; hätte alles
darauf anlegen, und mich nicht eher zufrieden geben sollen,
bis ich über der Ausführung meines Plans entweder selbst
die Seele ausgeblasen, oder meine Gegenkämpfer leblos zu
meinen Füßen hingestreckt hätte. Aber dieß, weiser Hippias,
war mehr, als wozu der strenge Platon selbst sich verbunden
geglaubt hätte; war etwas, was sogar der noch strengere
Dion nicht eher unternahm, als bis er, durch die empfindlichsten
Beleidigungen herausgefordert, Gewalt für das einzige
Mittel hielt, Sicilien zu retten, und —sich selbst Genugthuung
zu verschaffen. Wenn du neugierig genug bist, dich
nach allen Umständen, unter welchen ich mit dem Dionysius
und seinem Hofe in Bekanntschaft kam, zu erkundigen, —
wozu dir, wie es scheint, deine hiesigen Verhältnisse überflüssige
Gelegenheit geben, — so wirst du finden, daß der Gedanke,
als ein Athlet aufzutreten, und diejenigen mit Faust
und Ferse zu bekämpfen, die ich zu gewinnen hoffen konnte,
unter jenen Umständen nicht natürlich war, und einem rechtschaffenen
Manne, der zugleich an den Namen eines vernünftigen
Anspruch machte, nicht eher einfallen konnte, bis er erst
alle gelindern Mittel vergebens versucht hatte, den Tyrannen
und seine Rathgeber und Günstlinge so unschädlich zu machen,
als es einem jeden möglich scheinen konnte, der, wie ich, des
Gegentheils erst durch Erfahrung überwiesen werden mußte.
Daß ich, nachdem mich diese große Lehrerin, die uns ihre
Schule so theuer bezahlen läßt, endlich von der Unzulänglichkeit
jener gelindern Mittel überzeugt hatte, daß ich da die
Partei nahm, die ich (deiner Meinung nach) gleich anfangs
hätte nehmen sollen, hat mich —freilich nur zufälliger Weise
— hierher gebracht: mein Anschlag mißlang; allein über das
Vorhaben selbst und den Zweck desselben macht mein Herz
mir die Vorwürfe nicht, die mir Hippias macht. Wenn sich
mein Urtheil von Dion änderte, oder, richtiger zu reden, wenn
ich mich in eine Verbindung mit ihm einließ, der ich ehmals
ausgewichen war; so kam es nicht daher, weil sein zufälliges
Verhältniß gegen mich, sondern weil die Umstände sich dergestalt
verändert hatten, daß wir, den Staat vom Verderben
zu retten, kein andrer Weg übrig schien, als mich zu einer
offenen Fehde gegen die Verführer des Dionysius, nicht gegen
seine Person, mit Dion zu vereinigen. Wer nach einerlei
Grundsätzen und zu eben demselben Zweck, unter veränderten
Umständen, bloß die Art zu verfahren und die Mittel ändert,
kann eben so wenig einer Veränderlichkeit beschuldigt werden,
als derjenige, der sein Urtheil von Personen und Sachen,
nach Maßgabe des Wachsthums seiner durch Erfahrung, Nachdenken
oder bessern Unterricht berichtigten Kenntniß derselben,
genauer zu bestimmen sucht.Bei der günstigen Gesinnung, die dich zu mir geführt hat,
Hippias, wirst du es hoffentlich sehr natürlich finden, daß ich
nicht gern schlechter in deiner Meinung seyn möchte, als ich
mir selbst vorkomme: aber noch weniger möchte ich in meiner
eigenen besser erscheinen, als ich wirklich bin. Zu diesem
Behuf ist mir dein unerwarteter Besuch wohlthätiger gewesen,
als du vermuthlich wolltest, wenigstens in einem ganz andern
Sinne, als du wolltest daß er es seyn sollte. Mir war, als
du hereintratest, beim ersten Anblick, als ob ich meinen bösen
Dämon auf mich zukommen sähe. Wie sehr irrte ich mich!
Jetzt fühl' ich mich im Gegentheil geneigt zu glauben, daß
mein guter Genius deine Gestalt angenommen habe, um
mich einer gefährlichen Täuschung zu entreißen, in welcher
die Eigenliebe mein besseres Selbst zu verstricken angefangen
hatte. Nur zu wahr sagtest du, Hippias, mit einem Herzen
wie das meinige sollte sich niemand auf die schlüpfrige Bahn
des Hofes wagen. Nur zu wohl erkenne ich itzt, daß es thöricht
war, mit der Cither in der Hand der Mentor eines
Dionysius werden zu wollen. Die Schönheit, die Größe, die
Wohlthätigkeit meines Zwecks riß mich dahin: ich kannte
die Menschen zu wenig, und traute mir selbst zu viel. Ich
wurde nicht gewahr, wie viel Antheil eine zu lebhafte Empfindung
meines eignen Werths an der eiteln Hoffnung hatte,
höchst verderbte Menschen entweder durch meine Talente,
meine Beredsamkeit, mein Beispiel zu gewinnen, oder —
warum sollt' ich dir nicht die reine Wahrheit bekennen? —
durch die Ueberlegenheit meines Genius zu überwältigen. Ich
wurde nicht gewahr, wie ungleich größer die Vortheile waren,
die ihnen eben diese, durch eine gefällige Außenseite bedeckte
Verdorbenheit über mich gab, und wie wenig meine Aufrichtigkeit,
mein Edelmuth, und die Gewohnheit immer mit
dem Herzen in der Hand zu reden und zu handeln, es gegen
ihre Gewandtheit, ihre Verstellungskunst, ihre Ränke. ihre
Gleißnerei, ihre gänzliche Gefühllosigkeit für allen Unterschied
zwischen Recht und Unrecht, in die Länge aushalten konnte.
Kurz, ich wurde nicht gewahr, daß ein Mensch wie ich am
Hof eines Dionysius immer der Betrogne seyn wird, und
daß es viel leichter ist, daß er (wie du nur zu richtig bemerkt
hast), durch die Nothwendigkeit sich immer zu den
andern herab zu stimmen, unvermerkt vom innern Gehalt
seines eigenen Charakters verliere, als daß es ihm gelänge
den ihrigen umzuschaffen. Seltsam genug, daß es Hippias
seyn mußte, der meine in der betäubenden Hofluft unvermerkt
eingeschläferte Wachsamkeit erwecken, und mir die
Augen über Gefahren öffnen sollte, die ich, aus zu großem
Vertrauen in die Unschuld meines Herzens, entweder übersah
oder verachtete! In diesem Augenblick erst fühl' ich, wie
viel der Feind schon über mich gewonnen haben mußte, da
ich mir selbst nicht verbergen kann noch will, daß die Gewohnheit
mir bereits Menschen erträglich, ja beinahe angenehm
zu machen anfing, die ich zu Smyrna, als ich noch unter
dem Zauder der süßesten Schwärmerei und — der schönen
Danae lebte, unausstehlich gefunden hätte. Mein Auge, mein
Ohr, mein Geschmack machte sich unvermerkt einer Gefälligkeit,
oder wenigstens einer Duldsamkeit schuldig, über die ich wenige
Jahre zuvor erröthet wäre. Wie sollte es möglich gewesen
seyn, daß die Nothwendigkeit, von jedem Guten das
ich bewirken wollte, immer etwas nachzulassen, um nicht alles
aufzugeben — die Nothwendigkeit, kleinere Uebel zu dulden,
um größeren den Zugang zu sperren — die Nothwendigkeit,
bei tausend Gelegenheiten von gering scheinender Wichtigkeit
meine wahren Gesinnungen zu verbergen, mein Mißfallen in
ein erzwungenes Lächeln zu hüllen oder kalt zu loben, was
ich, wenn keine Rücksichten mir die Zunge banden, sehr lebhaft
getadelt hätte — wie wär' es möglich gewesen, daß
diese so häufig wiederkommende Gewalt, die ich meiner Denkart,
meinem Gefühl, meiner Freiheit anthun mußte, nicht
zuletzt meine Grundsätze selbst angegriffen haben sollte?Du siehest, Hippias, daß ich mich in deinen Augen so
wenig als in meinen eigenen, zu einem größern und bessern
Menschen zu machen begehre als ich bin; und die Offenheit
dieser freiwilligen Geständnisse könnte dir zugleich für meine
Aufrichtigkeit in allem, was ich zu meiner Rechtfertigung angeführt
habe, bürgen, wenn die Sache selbst nicht schon zu
laut für mich spräche. Denn gewiß bedarf es keines andern
Beweises, daß ich mich wissentlich nie zu einem schimpflichen
Vergleich mit dem Laster erniedriget habe, als das Schicksal,
das ich mir bloß dadurch zuzog, weil ich mich zu einem solchen
Vergleich nicht erniedrigen wollte. Indessen, da ich einmal
im Bekennen bin, will ich dir noch mehr gestehen, Hippias!
Daß das bittre Gefühl des Undanks, womit Dionysius meine
Freundschaft und (wie ich wohl ohne Selbstschmeichelei sagen
kann) meine Verdienste um ihn belohnte; —daß der Verdruß,
mich in meiner allzu guten Meinung von ihm so häßlich betrogen
zu haben, und alle meine schönen Entwürfe durch die
Ränke nichtswürdiger Höflinge auf einmal wie bunte Seifenblasen
zerplatzen zu sehen; — daß das Brüten über solchen
Erinnerungen, in der Einsamkeit einer unerwarteten Einkerkerung,
mein Gemüth mit einem Trübsinn umzog, der in
den dunkelsten Stunden meine Vernunft selbst verfinsterte,
und sogar meinen Glauben an eine allgemeine, nach Gesetzen
der höchsten Weisheit geführte Weltregierung wanken machte:
dieß könnte vielleicht mit der Schwäche der menschlichen
Natur entschuldiget werden, und würde bei einem unverdorbenen
Herzen von keinen dauernden Folgen gewesen seyn. Aber
daß dieser Trübsinn endlich gar mein Herz ergriff; daß ich
mich's reuen ließ, so viel für die Menschen gethan zu haben,
die mir, in dieser Zerrüttung meines innern Sinnes, so
vieler Sorge für ihre Wohlfahrt und so vieler Aufopferungen
unwürdig schienen; daß es so weit kam, daß ich sogar dem
Hippias bei mir selbst gewonnen zu geben anfing, und seine
egoistische Lebensphilosophie, als auf die allgemeine Erfahrung
gegründet, bereits in einem günstigen Lichte betrachtete: —
dieß überzeugt mich, daß der verpestete Dunstkreis eines verdorbenen
Hofes bereits, wiewohl mir selbst unbemerkt, die
Gesundheit meiner Seele angegriffen haben mußte, und daß
ich der Gefahr nur zu nahe war, das letzte und höchste Gut
des Menschen, das einzige was ihn über den Verlust alles
andern trösten kann, zu verlieren. In einer solchen Stunde
war es, Hippias, da deine unvermuthete Erscheinung, dein
ironisches Mitleiden, die Strenge deines Tadels, die Schärfe,
womit du mein Benehmen an diesem Hofe gegen meine eigenen
Grundsätze abwogst, und, was deinem Werke die Krone
aufsetzte, dein großmüthiger Antrag— von dessen Annahme
zugleich meine Befreiung und (nach deiner Schätzung) ein be:
neidenswerthes Glück die Folge seyn soll, — eine Umwälzung
in meinem Gemüthszustand hervorbrachte, die dich, wiewohl
gegen deine wirkliche Absicht, zu meinem größten Wohlthäter
macht. Deine Gegenwart stellte plötzlich unser wahres Verhältniß
wieder her. Ich fühlte mich wieder denselben, der ich
war, da du mich in deinem Hause zu Smyrna verließest, um
mit der schönen Danae den Anschlug, der euch gleichwohl nur
zur Hälfte gelang, abzureden. Dein selbst in seiner Strenge
hinterlistiger Tadel (vergib mir dieses Wort!) wirkte mehr
als du wolltest, und wurde mir zwiefach heilsam. Er weckte
das volle Bewußtseyn in mir auf, daß mein Wille immer redlich,
und mein Zweck rein gewesen war: aber mitten unter der
Bestrebung, das Ganze meines Lebens in Syrakus gegen
deine Anklagen zu rechtfertigen, öffneten sich meine Augen für
die feinen unsichtbaren Schlingen der Eitelkeit, des zu sichern
Vertrauens auf meine eigene Stärke, und der übermäßigen
Selbstschätzung, worin meine Lauterkeit sich ungewahrsam
verstrickte; und, indem mir mein Gewissen Zeugniß gab,
daß ich nie so schwach gewesen sey als du mich beschuldigtest,
sagte mir eben diese innerlich; Stimme, daß ich auch so untadelhaft
nicht gewesen sep, als die Eigenliebe mir geschmeichelt
hatte.Und nun , mein lieber hippias, höre, nachdem du so lange
Geduld gehabt hast mich anzuhören, höre nun auch meine letzte,
feste, unerschütterliche Erklärung. Dein Antrag verdient, insofern
er aus einem wohlwollenden Herzen zu kommen scheint ,
meine wärmste Dankbarkeit: aber annehmen kann ich ihn nicht.
Es ist eine Kluft zwischen uns, die uns so lange trennen wird,
als jeder von uns ist, was er ist. Du siehest, meine Erfahrungen,
meine Verirrungen, meine Fehltritte selbst, dienten
am Ende nur mein Gemüth zu läutern, mich in meinen
Grundsätzen zu befestigen, und über das, was die Würde meiner
Natur und der Zweck meines Daseyns ist, mir immer mehr
Licht zu geben. Nie hab' ich inniger empfunden als in diesem
Augenblicke, daß unverwandte und unabsichtliche Anhänglichkeit
an das, was ewig wahr und recht und gut ist, das einzige
Bedürfniß und Interesse meines edlern unsichtbaren Ichs ist,
dem dieses sichtbare Ich, mit allen seinen Bedürfnissen, Neigungen,
Leidenschaften, Wünschen und Hoffnungen, immer
untergeordnet seyn muß, wenn es in mir selbst wohl stehen,
oder, was eben dasselbe ist, wenn ich in diesem großen All,
worin wir zur Beförderung seines allgemeinen Endzwecks thätig
zu seyn bestimmt sind, das zu seyn wünsche, was ich soll.
Nur indem ich der gekränkten Eigenliebe des sichtbaren Agathons
Gehör gab, der, im Zorn sein Werk von frevelhaften Händen
zerstört zu sehen, diesen Frevel an der ganzen Menschheit
rächen wollte, sank mein besseres Ich einen Augenblick unter
sich selbst herab, und vergaß, daß es seine Natur ist, immer
das Gute zu wollen und zu thun; unbekümmert ob es erkannt
oder verkannt, mit Dank oder Undank, mit Ruhm oder Schande
belohnt werde; unbekümmert was es fruchte, wie lang' es
dauern, und von wem es wieder zerstört werden könne. Dieß,
Hippias, ist es, was ich Tugend nenne; und dieser Tugend
schwöre ich hier, in deiner Gegenwart, von neuem unverbrüchliche
Treue; fest entschlossen, jede neue Laufbahn, die sie mir
eröffnen wird, muthig anzutreten, sollte auch etwas viel Aergeres,
als was ich bereits erfahren habe, am Ziel derselben auf
mich warten. Noch einmal, Hippias, ich erkenne das Wohlwollende
in deinem Antrage mit einem Dankgefühl, dem ich
mich nicht ganz überlassen darf, weil ich deine Wohlthat nicht
annehmen kann. Was mein Schicksal seyn wird, weiß ich
nicht; wiewohl mir kaum zweifelhaft ist, was meine Feinde
über mich beschlossen haben. Eine höhere Macht gebietet über
sie und mich. Uebrigens fehlt es mir nicht an Freunden, die
sich für meine Befreiung verwenden werden; und ich vertraue
zu deinem Edelmuth, Hippias, daß du, unbeleidigt von meiner
Aufrichtigkeit, ihnen hierin eher beförderlich seyn als im Wege
stehen wirst. Indessen will ich meine Freiheit weder unrechtmäßigen
Mitteln, noch der Gnade des Tyrannen zu danken haben. Wie
weit ich auch unter dem, was ich seyn sollte und seyn konnte,
geblieben bin, die Sicilier, Dionysius und seine Hofleute haben
sich nicht zu beklagen, irgend ein Unrecht von mir erlitten zu
haben; und in diesem Bewußtseyn meiner Unschuld erwart' ich
mit Ruhe was über mich verhängt ist.Hier hörte Agathon zu reden auf; und Hippias, der ihm
mit anscheinender Unbefangenheit, bald mehr bald weniger
aufmerksam, zugehört hatte, erhob sich von seinem Sitz, und
sagte in dem jovialischen Tone, der ihm eigen war: wir sind
also geschiedene Leute, Agathon? — Ich muß es mir gefallen
lassen, weil du es so willst. Wie wunderlich aber diese schwärmerische
Vorstellungsart in meinen Augen ist, genug, sie
scheint dir zur andern Natur geworden zu seyn; ich ehre deine
Aufrichtigkeit, und verlasse dich ohne Groll. Mein Aufenthalt
zu Syrakus wird von keiner langen Dauer seyn; denn ich
liebe die Tyrannen so wenig wie du, und bin glücklich genug
ihrer nicht zu bedürfen: sollt' ich aber Gelegenheit finden, dir
meinen guten Willen zu beweisen, so soll mich die Kluft, die
zwischen uns liegt, nicht verhindern, dem Gefühl gemäß zu
handeln, welches mich zu dem Antrage, den du ausschlugst,
bewogen hat. Mit diesen Worten ergriff er Agathons dargebotne
Hand, schüttelte sie mit einem leisen Druck und entfernte
sich, dem Ansehen nach, eben so vergnügt und frohen
Muthes als er gekommen war. Was, nachdem Hippias abgetreten
war, in dem Gemüthe unsers sich selbst wieder überlassenen
Helden vorging, zu errathen, überlassen wir nun der
eigenen Divinationsgabe unsrer Leser um so ruhiger, da wir
sie auf den Weg gebracht haben, auf dem sie es nicht verfehlen
können. Alles was wir davon sagen wollen, ist: daß ihm in
langer Zeit nie so leicht ums Herz gewesen war, und daß alle
Betrachtungen, wozu ihm diese so unverhoffte und für ihn so
wichtige Scene Anlaß gab, ihn in der edlen Gesinnung und
Entschließung bestärkten, mit welchen er den Versucher Hippias
auf immer von sich entfernt hatte.—————
Zwölftes Capitel.Agathon wird wieder in Freiheit gesetzt, und verläßt Sicilien.Inzwischen waren die Freunde Agathons seiner Rettung
wegen in desto größerer Verlegenheit, da sie sich von allen
Seiten zu scharf beobachtet sahen, um in Syrakus selbst etwas
unternehmen zu können. Denn, wiewohl man ziemlich sicher
auf die Liebe des Volks zu ihm rechnen konnte, so war doch
die Wahrscheinlichkeit, einen Aufstand zu seinem Vortheil zu
erregen, ungewiß, und ein verunglückter Versuch würde das
Schlimmste, was sie von der Bosheit seiner Feinde und der
Schwäche des wollüstigen Tyrannen befürchteten, beschleuniget
und unvermeidlich gemacht haben. Man hatte sogar Ursache
zu glauben, daß der Hof — der seit Agathons Verhaftnehmung
eine besondere Wachsamkeit zeigte, und in der Stille allerlei
Vorkehrungen für seine eigene Sicherheit machte — einen
Schritt, der ihn in den Augen der Welt zu der größten Strenge
berechtigt haben würde, eher wünsche als befürchte.In dieser mißlichen Lage entschloß sich Dion selbst zu einer
Maßregel, von welcher man sich alles versprach, und die von
seiner Seite um so großmüthiger war, je weniger persönliche
Beweisgründe er hatte, sich dem gefallenen Günstling besonders
verbunden zu halten. Er ließ ein sehr dringendes Schreiben
an den Dionysius ab, worin er sich verbindlich machte,
seine Kriegsvölker sogleich wieder abzudanken, und seine Zurückberufung
als eine bloße Gnade von dem guten Willen des
Fürsten zu erwarten, wofern Agathon freigesprochen würde,
dessen einziges Verbrechen darin bestehe, daß er sich für seine
Zurückkunft in sein Vaterland beeifert habe. So edel dieser
Schritt von Dions Seite war, so würde er doch vielleicht die
gehoffte Wirkung nicht gethan haben, wenn Agathons Freunde
in Italien nicht geeilt hätten, dem Tyrannen einen noch dringendern
Beweggrund vorzulegen. Aber um eben die Zeit, da
Dions Schreiben ankam, langten auch Gesandte von Tarent
an, deren Auftrag war, im Namen des Archytas und der Republik
die Freilassung seines Freundes aufs ernstlichste zu bewirken.
Sie waren angewiesen, im Nothfall zu erklären, daß
die Republik sich genöthigt sehen würde, die Partei Dions mit
ihrer ganzen Macht zu unterstützen, wofern Dionysius sich länger
weigern würde, diesem Prinzen sowohl, als dem gleich
unschuldigen Agathon, vollkommene Gerechtigkeit widerfahren
zu lassen. Dionysius kannte den Charakter des Archytas zu
gut, um den Ernst dieser Drohung, die ihm nicht anders als
fürchterlich seyn konnte, im geringsten zu bezweifeln. Er
hoffte sich also am besten aus der Sache zu ziehen, wenn er,
unter der Versicherung, von einer Aussöhnung mit seinem
Schwager nicht abgeneigt zu seyn, in die Entlassung des Agathon
einwilligte. Aber dieser erklärte sich, daß er seine Freiheit
weder als eine Gnade annehmen, noch allein der Fürbitte
seiner Freunde zu danken haben wolle. Er verlangte, daß die
Verbrechen, um derentwillen er in Verhaft genommen worden,
angezeigt, und in Gegenwart des Dionysius, der Tarentinischen
Gesandten und der Vornehmsten zu Syrakus öffentlich
untersucht, seine Rechtfertigung gehört, und sein Urtheil
nach den Gesetzen ausgesprochen werden sollte. Aber dazu
durften es Kleonissa, Philist und der Tyrann selbst nicht kommen
lassen; und da die Tarentiner ihnen keine Zeit ließen,
die Sache in die Länge zu ziehen, so sah man sich endlich genöthigt
öffentlich zu erklären: daß eine starke Vermuthung,
als ob Agathon sich in eine Verschwörung gegen den Staat
habe verwickeln lassen, die einzige Ursache seines Verhafts gewesen
sey; da sich aber indessen keine hinlänglichen Beweise
vorgefunden, so sey man bereit ihn wieder auf freien Fuß zu
stellen, sobald er, unter Verbürgung der Tarentiner, sich durch
ein feierliches Versprechen, nichts gegen den Dionysius zu
unternehmen, von diesem Verdacht gereiniget haben werde.
Die Bereitwilligkeit, womit die Gesandten von Tarent sich
diesen Antrag gefallen ließen, bewies, daß es dem Archytas
bloß um Agathons Befreiung zu thun war; und wir werden
in der Folge den Grund entdecken, warum dieser Vorsteher
einer in die Sache nicht unmittelbar verwickelten Republik sich
unsers Helden, der ihm von Person noch unbekannt war, mit
so außerordentlichem Eifer annahm. Allein Agathon konnte
lange nicht dazu gebracht werden, eine Erklärung von sich zu
geben, die den Anschein eines Geständnisses hatte, daß er seiner
Partei untreu geworden sey. Indessen mußte doch diese, in
Ansehung der Umstände vielleicht allzugroße Bedenklichkeit
endlich der Betrachtung weichen: das er durch Ausschlagung
eines so billigen Vergleichs sich selbst in die größte Gefahr setzen
würde, ohne seiner Partei einigen Vortheil dadurch zu verschaffen;
indem Dionysius viel eher einwilligen würde, ihn
heimlich aus dem Wege räumen zu lassen, als zugeben, daß
er mit so viel Reizungen zur Rache die Freiheit erhalten sollte,
der Faction Dions neues Leben zu geben, und sich mit diesem
Prinzen zu seinem Untergange zu vereinigen. Die lebhaften
Schilderungen, welche die Tarentiner ihm von dem glücklichen
Leben machten, das im ruhigen Schooß ihres Vaterlandes
und in der Gesellschaft seiner dortigen Freunde auf ihn warte,
vollendeten endlich die Wirkung, die der gewaltsame Zustand,
worin er seit einiger Zeit gelebt hatte, auf ein Gemüth wie
das seinige machen mußte; indem sie ihm zugleich den ganzen
Widerwillen, den er nach seiner Verbannung von Athen gegen
den Stand eines Staatsmannes gefaßt hatte, und seinen ganzen
Hang zur Abgeschiedenheit von der Welt und zum Leben
mit sich selbst und mit guten Menschen wieder gaben, welches
ihm, wie er glaubte, itzt um so nöthiger war, da er sein
Gemüth auch von den geringsten Rostflecken, die von seinem
Syrakusischen Hofleben zurückgeblieben seyn könnten, zu reinigen
wünschte. Er bequemte sich also endlich zu einem Schritte,
der ihm von den Freunden Dions für eine feigherzige Verlassung
der guten Sache ausgedeutet wurde, wiewohl er das
Einzige war, was ihm in seiner Lage vernünftiger Weise zu
thun übrig blieb. Aber wie viele dunkle Stunden würde er
sich selbst und wie viele Sorge und Mühe seinen Freunden
erspart haben, wenn er dem Rathe des weisen Aristippus
etliche Monate früher gefolgt hätte!Es ist unstreitig einer von den zuverlässigsten und seltensten
Beweisen der Rechtschaffenheit eines Ministers, wenn er
ärmer, oder doch wenigstens nicht reicher in seine Hütte zurück
kehrt, als er gewesen war, da er auf den Schauplatz des öffentlichen
Lebens versetzt wurde. Agathon hatte über den
Sorgen für die Wohlfahrt Siciliens sich selbst so vollkommen
vergessen, daß er eben so arm aus Syrakus gegangen wäre, als
er vor einigen Jahren aus Athen ging, wofern ihm nicht,
bald nach seiner Erhebung zu einer Würde, die ihm kein geringes
Ansehen in allen Griechischen Staaten gab, ein Theil
seines väterlichen Vermögens unvermuthet wieder zugefallen
wäre. Die Athener, die eben damals der Freundschaft des
Dionysius zu gewissen Handlungsentwürfen nöthig hatten, fanden
für gut, ehe sie sich bei Agathon um seine Vermittlung
bewarben, ihm ein Decret überreichen zu lassen, kraft dessen
sein Verbannungsurtheil aufgehoben, der ganze Proceß, wodurch
er seines Erbgutes beraubt worden war, vernichtet,
und der unrechtmäßige Inhaber des letztern zur gänzlichen
Wiederherstellung verurtheilt war. Agathon hatte großmüthig
nur die Hälfte davon angenommen, welche zwar für die Bedürfnisse
eines Alcibiades oder Hippias nicht zureichend gewesen
wäre, aber doch weit mehr war, als ein weiser Mann bedarf,
um unabhängig und sorgenfrei zu leben; und so viel war für
einen Agathon genug.Unser Held verweilte sich, nachdem er seine Freiheit wieder
erlangt hatte, nicht länger in Syrakus, als nöthig war,
sich von seinen Freunden zu beurlauben. Dionysius, der (wie
wir wissen) den Ehrgeiz hatte, alles mit guter Art thun zu
wollen, verlangte, daß er in Gegenwart seines ganzen Hofes
Abschied von ihm nehmen sollte. Er überhäufte bei dieser
Gelegenheit seinen ehmaligen Günstling mit Lobsprüchen und
Liebkosungen, und glaubte den feinsten Staatsmann zu
machen, indem er sich stellte, als ob er unsern in seine
Entlassung einwilligte, und als ob sie als die besten Freunde von
einander schieden. Agathon trug um so weniger Bedenken,
diesen letzten Auftritt der Komödie mitspielen zu helfen, da es
vermuthlich die letzte Gefälligkeit dieser Art war, zu welcher
er sich jemals wieder herabzulassen gewürdiget seyn würde.
Und so entfernte er sich, in Gesellschaft der Gesandten von
Tarent, von jedermann beurtheilt, von vielen getadelt, von
den wenigsten (selbst unter denen, welche günstig von ihm
dachten) gekannt, aber von allen Redlichen vermißt und oft
zurückgewünscht, aus einer Stadt und einem Lande, worin
er die Zufriedenheit hatte viele Denkmäler seiner ruhmwürdigen,
wiewohl kurzen Staatsverwaltung zu hinterlassen, und
aus welchen er nichts mit sich hinaus nahm, als eine Reihe
von Erfahrungen, die ihn in dem lobenswerthen Entschluß
bestärkten, ohne dringenden Beruf keine andere von dieser Art
mehr zu machen.—————
Dreizehntes Buch.Agathon kommt nach Tarent, wird in die Familie des
Archytas eingeführt, entdeckt in der wieder gefundenen
Psyche seine Schwester, und findet unverhofft die schöne
Danae wieder.—————
Erstes Capitel.Archytas und die Tarentiner. Charakter eines seltnen Staatsmanns.Archytas von Tarent, durch dessen nachdrückliche Verwendung
Agathon den Händen seiner Feinde zu Syrakus entrissen
wurde, war ehmals ein vertrauter Freund seines Vaters Stratonikus,
und beide Familien waren durch die Bande des Gastrechts
von uralten Zeiten her verbunden gewesen. Der ausgebreitete
Ruhm, welchen der Weise von Tarent, als der würdigste
unter den Nachfolgern des Pythagoras, als ein tiefer
Kenner der Geheimnisse der Natur und der Kunst, als ein
kluger Staatsmann, als ein geschickter und glücklicher Feldherr,
und, was allen diesen Vorzügen die Krone aufsetzt, als
ein rechtschaffener Mann in der vollkommensten Bedeutung
dieses Worts, sich erworben, hatte seinen Namen dem
Agathon schon lange ehrwürdig gemacht. Hierzu kam noch, daß
dessen jüngerer Sohn, Kritolaus, in den Zeiten des höchsten
Wohlstandes unsers Helden zu Athen, zwei Jahre in seinem
Hause zugebracht, und, mit allen möglichen Freundschaftserweisungen
überhäuft, eine Zuneigung von derjenigen Art
für ihn gefaßt hatte, welche in schönen Seelen sich nur mit
dem Leben endet. Diese Freundschaft war zwar durch verschiedene
zufällige Umstände eine Zeit lang unterbrochen worden:
aber kaum hatte Agathon den Entschluß gefaßt, sich dem Dionysius
zu widmen, so war eine seiner ersten Angelegenheiten
gewesen, diese Verbindung wieder zu erneuern. Er hatte
während seiner Staatsverwaltung sich öfters bei der weisen
Erfahrenheit des Archytas Raths erholt; und die Verhältnisse
worin die Tarentiner und Syrakuser standen, hatten ihm mehrmals
Gelegenheit gegeben, sich um die erstern einiges Verdienst
zu machen. Bei allen diesen Umständen ist leicht zu ermessen,
daß er in seiner gegenwärtigen Lage den dringenden Einladungen
seines Freundes Kritolaus um so weniger widerstehen
konnte, da schon die Pflicht der Erkenntlichkeit gegen seine
Erretter ihm keine Freiheit zu lassen schien, andere Beweggründe
bei der Wahl seines Aufenthalts in Betrachtung zu
ziehen.In der That hätte er sich keinen zu seinen nunmehrigen
Absichten bequemern Ort erwählen können als Tarent. Diese
Republik war damals gerade in dem Zustande, worin jeder
patriotische Republicaner die seinige zu sehen wünschen muß.
Zu klein, um ehrgeizige Entwürfe zu machen; zu groß, um
den Ehrgeiz und die Vergrößerungssucht ihrer Nachbarn
fürchten zu müssen; zu schwach, um in andern Unternehmungen
als in den Künsten des Friedens ihren Vortheil zu finden;
aber stark genug, sich gegen jeden nicht allzu übermächtigen
Feind (und einen solchen hatte sie damals noch nicht) in ihrer
Verfassung zu erhalten. Archytas hatte sie (in einem Zeitraume
von mehr als dreißig Jahren, in welchem er siebenmal die
Stelle eines obersten Befehlshabers bekleidete) an die weisen
Gesetze, die er ihnen gegeben, so gut angewöhnt, daß sie mehr
durch die Macht der Sitten als durch das Ansehen der Gesetze
regiert zu werden schienen. Fabricanten und Handelsleute
machten den größern Theil der Tarentiner aus. Die Wissenschaften
und schönen Künste standen daher in keiner besondern
Hochachtung bei ihnen; aber sie waren auch nicht verachtet.
Diese Gleichgültigkeit bewahrte die Tarentiner vor den Fehlern
und Ausschweifungen der Athener, bei denen jedermann, bis
auf die Gerber und Schuster, ein Philosoph und Redner, ein
witziger Kopf und ein Kenner seyn wollte. Sie waren eine
gute Art von Leuten, einfältig von Sitten, emsig, arbeitsam,
regelmäßig, Feinde der Pracht und Verschwendung, leutselig
und gastfrei gegen die Fremden, Hasser des Gezwungenen,
Spitzfindigen und Uebertriebenen in allen Sachen, und, aus
eben diesem Grunde, Liebhaber des Natürlichen und Gründlichen,
die bei allem mehr auf die Materie als auf die Form
sahen, und nicht begreifen konnten, daß eine zierlich gearbeitete
Schüssel aus Korinthischem Erz besser seyn könne als eine
schlechte aus Silber, oder daß ein Narr liebenswürdig seyn
könne weil er artig sey. Sie liebten ihre Freiheit, wie eine
Ehegattin, nicht wie eine Beischläferin, — ohne Leidenschaft,
und ohne Eifersucht. Sie setzten ein gerechtes Vertrauen in
diejenigen, denen sie die Vormundschaft über den Staat anvertrauten;
aber sie forderten auch, daß man dieses Vertrauen
verdiene. Der Geist der Emsigkeit, der dieses anbetungswürdige
und glückliche Volk beseelte, —der unschuldigste und wohlthätigste
unter allen sublunarischen Geistern, die uns bekannt
sind, — machte, daß man sich zu Tarent weniger, als in den
meisten mittelmäßigen Städten zu geschehen pflegt, um andre
bekümmerte. Insofern man sie nicht durch eine gesetzwidrige
That oder durch einen beleidigenden Widerspruch ihrer Sitten
ärgerte, konnte jeder leben wie er wollte. Alles dieß zusammen
genommen machte, wie uns däucht, eine sehr gute Art
von republicanischem Charakter aus; und Agathon hätte schwerlich
einen Freistaat finden können, welcher geschickter gewesen
wäre, seinen gegen dieselben gefaßten Widerwillen zu besänftigen.
Ohne Zweifel hatten die Tarentiner auch ihre Fehler,
wie alle andern Erdenbewohner. Aber der weise Archytas, unter
welchem ihr Nationalcharakter erst eine gesetzte und feste Gestalt
gewonnen hatte. wußte die Temperanientsfehler seines
Volkes so klüglich zu behandeln, daß sie, durch die Vermischung
mit ihren Tugenden, beinahe aufhörten, Fehler zu seyn. Eine
nothwendige und vielleicht die größte Kunst des Gesetzgebers,
deren genauere Untersuchung wir denjenigen empfohlen haben
wollen, die an Auflösung der schweren Aufgabe, welche Gesetzgebung
unter gegebenen Bedingungen die beste sey? zu arbeiten
sich berufen fühlen.Das erste, was unserm Helden, als er ans Land stieg, in
die Augen fiel, war sein Freund Kritolaus, der mit einem
Gefolge der edelsten Jünglinge von Tarent ihm entgegengeflogen
war, um ihn in freundschaftlichem Triumph in eine Stadt einzuführen,
welche sich's zur Ehre rechnete, von einem Manne
wie Agathon vor andern zu seinem Aufenthalt erwählt zu
werden. Der Anblick eines der schönsten Länder unter der
Sonne, und das Wiedersehen eines Freundes, von dem er aufs
zärtlichste geliebt wurde, machten ihn in einem einzigen Augenblicke
alles Ungemach vergessen, das er in Sicilien und in seinem
ganzen Leben erlitten hatte. Eine frohe Vorempfindung der
Glückseligkeit, die in diesem zum erstenmal betretenen Lande
auf ihn wartete, verbreitete ein unschreibliches Behagen durch
sein ganzes Wesen. Diese unbestimmte Wollust, welche alle
seine Empfindungskräfte zugleich einzunehmen schien, war nicht
das seltsame Zaubergefühl, womit ihn die Schönheiten der Natur
und die Empfindung ihrer reinsten Triebe in seiner Jugend
durchdrungen hatten. Diese Blüthe der Empfindlichkeit, diese
zärtliche Sympathie mit allem was lebt oder zu leben scheint,
der Geist der Freude, der uns aus allen Gegenständen entgegenathmet,
der magische Firniß, der sie überzieht, und uns
über einem Anblick, von dem wir zehn Jahre später kaum noch
flüchtig gerührt werden, in stillem Entzücken zerfließen macht,
—dieses beneidenswürdige Vorrecht der ersten Jugend, verliert
sich unvermerkt mit dem Anwachs unsrer Jahre, und kann
nicht wieder gefunden werden. Aber es war doch etwas
das diesem ähnlich war. Seine Seele schien dadurch von
allen verdüsternden Flecken ihres unmittelbar vorhergehenden
Zustandes ausgewaschen und zu den schönen Eindrücken
vorbereitet zu werden, welche sie in dieser neuen Periode
seines Lebens bekommen sollte.Eine der glückseligsten Stunden desselben (wie er in der
Folge öfters zu versichern pflegte) war diejenige, worin er die
persönliche Bekanntschaft des Archytas machte. Dieser ehrwürdige
Greis hatte der Natur, und einer Mäßigung, die von
seiner Jugend an ein unterscheidender Zug seines Charakters gewesen
war, den Vortheil einer Lebhaftigkeit aller Kräfte zu danken,
welche in seinem Alter etwas Seltnes ist, aber es doch bei
den alten Griechen lange nicht so sehr war, als bei den meisten
Europäischen Völkern unsrer Zeit. So abgekühlt die
Einbildungskraft unsers Helden war, so konnte er doch nicht
anders, als etwas Idealisches in dem Gemische von Majestät
und Anmuth, welches sich über die ganze Person dieses liebenswürdigen
Alten ausbreitete, zu empfinden; und es desto
stärker zu empfinden, je stärker dieser Anblick von allem demjenigen
abstach, woran sich seine Augen seit geraumer Zeit
hatten gewöhnen müssen. — "Und warum konnte er nicht
anders?" — Die Ursache ist ganz einfach: weil dieses Idealische
nicht in seinem Gehirne, sondern in dem Gegenstande
selbst lag. Man stelle sich einen großen stattlichen Mann
vor, dessen Ansehen beim ersten Blick ankündiget, daß er dazu
gemacht ist andre zu regieren, und der, ungeachtet seiner silbernen
Haare, die Miene hat, vor fünfzig Jahren ein sehr
schöner Mann gewesen zu seyn. Vermuthlich gibt es wenige
unter unsern Lesern, denen im ganzen Lauf ihres Lebens
nicht einmal ein solcher Mann vorgekommen wäre. Aber nun
stelle man sich auch vor, daß dieser Mann von früher Jugend
an ein tugendhafter Mann gewesen war; daß eine lange
Reihe von Jahren seine Tugend zu Weisheit gereift hatte;
daß die unbewölkte Heiterkeit seines Geistes, die Ruhe seines
Herzens, die allgemeine Güte wovon es beseelt war, das stille
Bewußtseyn eines schuldlosen und mit guten Thaten erfüllten
Lebens, sich in seinen Augen und in seiner ganzen Gesichtsbildung
mit einer Wahrheit, mit einem Ausdruck von stiller
Größe und Würde abmalte, dessen Macht unwiderstehlich war.
—Dieß ist was man vielleicht noch nicht gesehen hat, was
gewiß unter die seltensten Erscheinungen unter dem Monde
gehört, und wovon Agathon so stark gerührt wurde. Er
hatte nun endlich gefunden, was er so oft gewünscht, aber
noch nie gefunden zu haben vermeint hatte, ohne in der Folge
auf eine oder die andere Art seines Irrthums überführt worden
zu seyn — einen wahrhaftig weisen Mann; einen Mann,
der nichts scheinen wollte als was er war, und an welchem
das scharfsichtigste Auge nichts entdecken konnte, das man
anders hätte wünschen mögen. Die Natur schien sich vorgesetzt
zu haben, in ihm zu beweisen, daß die Weisheit nicht
weniger ein Geschenk von ihr sey als der Genie; und daß,
wofern es gleich der Philosophie nicht unmöglich ist, ein schlimmes
Naturell zu verbessern, ja wohl gar aus einem Silen (so
der Himmel will) einen Sokrates zu machen, es dennoch der
Natur allein zukomme, diese glückliche Temperatur der Elemente
der Menschheit hervorzubringen, welche, unter einem Zusammenfluß
eben so glücklicher Umstände, endlich zu dieser vollkommenen
Harmonie aller Kräfte und Bewegungen des Menschen,
worin Weisheit und Tugend zusammenstießen, erhöht werden
kann. Archytas hatte niemals weder eine glühende Einbildungskraft
noch heftige Leidenschaften gehabt. Eine gewisse
Stärke, die den Mechanismus seines Kopfes und seines Herzens
auszeichnete, hatte von seiner Jugend an die Eindrücke
der Gegenstände auf seine Seele gemäßigt. Diese Eindrücke
waren deutlich und stark genug, um seinen Verstand mit wahren
Bildern zu erfüllen, und die Verwirrung zu verhindern, welche
in dem Gehirne derjenigen zu herrschen pflegt, deren allzu
schlaffe Spannung nur eine schwache und matte Einwirkung
der Gegenstände zuläßt. Aber sie waren nicht so lebhaft und
von keiner so starken Erschütterung begleitet, wie bei denen,
welche, durch zartere Organe und reizbarere Sinne zu den
enthusiastischen Künsten der Musen bestimmt, den zweideutigen
Vorzug einer zaudernden Einbildungskraft und eines unendlich
empfindlichen Herzens theuer genug bezahlen müssen.
Archytas hatte es dem Mangel dieses eben so schimmernden
als wenig beneidenswerthen Vorzugs zu danken, daß es ihm
wenig Mütze kostete, Ruhe und Ordnung in seiner innerlichen
Verfassung zu erhalten: daß er, anstatt von seinen Vorstellungen
und Gefühlen beherrscht zu werden, immer Meister von
ihnen blieb, und die Verirrungen des Geistes und des Herzens,
von denen das schwärmerische Volk der Helden, Dichter und
Virtuosen aus Erfahrung sprechen kann, nur aus fremden
Erfahrungen kannte. Daher kam es auch, daß die Pythagoräische
Philosophie, in deren Grundsätzen er erzogen worden
war, — eben diese Philosophie, welche in dem Gehirne so
vieler andrer zu einem abenteuerlichen Gemische von Wahrheit
und Träumerei wurde, — sich durch Nachdenken und
Erfahrung in dem seinigen zu einem System von eben so einfachen
als fruchtbaren und praktischen Begriffen ausbildete;
zu einem System, welches der Wahrheit näher als irgend ein
andres zu kommen scheint; welches die menschliche Natur
veredelt, ohne sie aufzublähen, und ihr Aussichten in bessere
Welten eröffnet, ohne sie fremd und unbrauchbar in der
gegenwärtigen zu machen. Ein System, das durch das Erhabenste
und Beste, was wir von Gott, von der Welt, und
von unsrer eigenen Natur und Bestimmung zu denken fähig
sind, unsre Leidenschaften reiniget, unsre Gesinnungen verschönert,
und (was das wichtigste ist) uns von der tyrannischen
Herrschaft dieser pöbelhaften Begriffe befreiet, welche die
Seele verunstalten, sie klein, niederträchtig, furchtsam, falsch
und sklavenmäßig machen, jede edle Neigung, jeden großen Gedanken
abschrecken und erblicken, und doch darum nicht weniger
von politischen und religiösen Demagogen unter dem größten
Theile des menschlichen Geschlechts (aus Absichten, woraus diese
Herren billig ein Geheimniß machen) eifrigst unterhalten werden.Die zuverlässigste 'Probe über die Güte der Philosophie des
weisen Archytas ist, wie uns däucht, der moralische Charakter,
den ihm das einstimmige Zeugniß der Alten beilegt. Diese
Probe, es ist wahr, würde bei einem System von bloßen metaphysischen
Speculationen betrüglich seyn; aber die Philosophie
des Archytas war durchaus praktisch. Das Beispiel so vieler
großen Geister, welche in der Bestrebung, über die Gränzen
des menschlichen Verstandes hinaus zu gehen, verunglückt waren,
hätte ihn in diesem Stücke vielleicht nicht weiser gemacht, wenn
er mehr Eitelkeit und weniger kaltes Blut gehabt hätte. Aber
so wie er war, überließ er diese Art von Speculationen seinem
Freunde Plato, und schränkte seine eigenen Nachforschungen
über die intellectualen Gegenstände lediglich auf diese einfältigen
Wahrheiten ein, welche das allgemeine Gefühl erreichen kann,
welche die Vernunft bekräftiget, und deren wohlthätiger Einfluß
auf den Wohlstand unsers Privatsystems sowohl, als auf das
allgemeine Beste, allein schon genugsam ist ihren Werth zu
beweisen. Von dem Leben eines solchen Mannes läßt sich ganz
sicher auf die Güte seiner Denkungsart schließen. Archytas
verband alle häuslichen und bürgerlichen Tugenden mit dieser
schönsten und göttlichsten unter allen, welche sich auf keine andre
Beziehung gründet, als das allgemeine Band, womit die Natur
alle Wesen verknüpft. Er hatte das seltene Glück, daß die
untadelige Unschuld seines öffentlichen und Privatlebens, die
Bescheidenheit, wodurch er den Glanz so vieler Verdienste
zu mildern wußte, und die Mäßigung, womit er sich seines
Ansehens bediente, endlich den Neid selbst entwaffnete, und
ihm die Herzen seiner Mitbürger so gänzlich gewann, daß er
(ungeachtet er sich, seines hohen Alters wegen, von den Geschäften
zurückgezogen hatte) bis in seinen Tod als die Seele
des Staats und der Vater des Vaterlandes angesehen wurde.
In der That fehlte ihm zum Könige nichts als die äußerlichen
Zeichen dieser Würde. Niemals hat ein Despot unumschränkter
über die Leider seiner Sklaven geherrschet, als dieser ehrwürdige
Greis über die Herzen eines freien Volkes; niemals
ist der beste Vater von seinen Kindern zärtlicher geliebt
worden.Glückliches Volk, welches von einem Archytas regiert
wurde, und den ganzen Werth dieses Glücks so wohl zu
schätzen wußte! Und glücklicher Agathon, der in einem solchen
Mann einen Beschützer, einen Freund und einen zweiten
Vater fand!—————
Zweites Capitel.Eine unverhoffte Entdeckung.Archytas hatte zwei Söhne, deren wetteifernde Tugend
die seltene und verdiente Glückseligkeit seines Alters vollkommen
machte. Diese liebenswürdige Familie lebte in einer
Harmonie beisammen, deren Anblick unsern Helden in die
selige Einfalt und Unschuld des goldnen Alters versetzte. Niemals
hatte er eine so schöne Ordnung, eine so vollkommne
Eintracht, ein so regelmäßiges und schönes Ganzes gesehen,
als das Haus des weisen Archytas darstellte. Alle Hausgenossen,
bis auf die unterste Classe der Bedienten, waren
eines solchen Hausvaters würdig. Jedes schien für den Platz,
den es einnahm, ausdrücklich gemacht zu seyn. Archytas hatte
keine Sklaven. Der freie, aber sittsame Anstand seiner Bedienten,
die Munterkeit, die Genauigkeit, der Wetteifer womit
sie ihre Pflichten erfüllten, das Vertrauen welches man
auf sie setzte, bewies, daß er Mittel gefunden hatte, selbst
diesen rohen Seelen ein Gefühl von Ehre und Tugend einzuflößen.
Die Art wie sie dienten, und die Art wie ihnen
begegnet wurde, schien das Unedle und Demüthigende ihres
Standes auszulöschen. Sie waren stolz darauf einem so vortrefflichen
Herrn zu dienen, und es war nicht Einer, der die
Unabhängigkeit, selbst unter den vortheilhaftesten Bedingungen,
angenommen hätte, wenn er der Glückseligkeit, ein Hausgenosse
des Archytas zu seyn, hätte entsagen müssen. Das
Vergnügen mit ihrem Zustande leuchtete aus jedem Gesicht
hervor; aber keine Spur dieses üppigen Uebermuths, der gemeiniglich
den müßiggängerischen Haufen der Bedienten in
großen Häusern bezeichnet. Alles war in Bewegung; aber
ohne dieses lärmende Geräusch, welches den schweren Gang
der Maschine ankündiget. Das Haus des Archytas glich der
innerlichen Oekonomie des animalischen Körpers, in welchem
alles in rastloser Arbeit begriffen ist, ohne daß man eine Bewegung
wahrnimmt, wenn die äußern Theile ruhen.Agathon befand sich noch in diesem angenehmen Erstaunen,
welches in den ersten Stunden seines Aufenthalts in einem
so sonderbaren Hause sich mit jedem Augenblick vermehren
mußte, als er auf einmal durch eine Entdeckung überrascht
wurde, welche ihn beinahe dahin gebracht hätte, alles was er
sah für einen Traum zu halten.Das Gynäceon (oder das Innerste des Hauses, welches
von dem weiblichen Theile der Familie bewohnt wurde) war,
wie man weiß, bei den Griechen einem Fremden, der in einem
Hause aufgenommen wurde, ordentlicher Weise eben so
unzugangbar, als der Harem bei den Morgenländern. Aber,
Agathon wurde in dem Hause des Archytas nicht wie ein
Fremder behandelt. Dieser liebenswürdige Alte führte ihn
also, nachdem sie sich einige Zeit mit einander besprochen
hatten, in Begleitung seiner beiden Söhne in das Gynäceon,
um (wie er sagte) seinen Töchtern ein Vergnügen, worauf sie
sich schon so lange gefreuet hätten, nicht länger vorzuenthalten.
Man stelle sich vor, was für eine süße Bestürzung ihn befiel,
da die erste Person, die ihm beim Eintritt in die Augen fiel,
seine Psyche war!Augenblicke von dieser Art lassen sich besser malen als
beschreiben. Die Erscheinung war zu unerwartet, als daß er
durch die Aehnlichkeit dieser jungen Dame mit seiner geliebten
Psyche nicht getäuscht zu werden hätte glauben sollen. Er
stutzte; er betrachtete sie von neuem; und wenn er nunmehr
auch seinen Augen nicht hätte trauen wollen, so ließ ihm das,
was in seinem Herzen vorging, keinen Zweifel übrig. Und
doch kam es ihm so wenig glaublich vor, daß er glücklich genug
seyn sollte, nach einer so langen Abwesenheit, und bei so
wenigem Anschein sie jemals wieder zu sehen, seine Psyche in
dem Hause seiner Freunde zu Tarent wieder zu finden!Ein andrer Gedanke, der in diesen Umständen sehr natürlich
war, vermehrte seine Verwirrung, und hielt ihn ab, sich der
Freude zu überlassen, die ein eben so erwünschter als unverhoffter
Anblick über seine Seele ergoß. Psyche hatte nicht
das Aussehen, eine Sklavin in diesem Hause vorzustellen.
Was konnte er also anders denken, als daß sie die Gemahlin
eines von den Söhnen des Archytas seyn müßte? Es ist
wahr, er hätte eben sowohl denken können, daß sie seine wiedergefundene
Tochter seyn könnte. Aber in solchen Umständen
bildet man sich immer das ein, was man am meisten fürchtet.
In der That errieth er die Sache aufs erstemal. Psyche war
seit einigen Monaten die Gemahlin seines Freundes Kritolaus.Unsere Leser sehen auf den ersten Blick, was für eine
schöne Gelegenheit zu rührenden Beschreibungen und tragischen
Auftritten uns dieser kleine Umstand geben könnte. Welche
Situation! Den Gegenstand der zärtlichsten Neigung seines
Herzens, seiner ersten Liebe, nach einer langen schmerzlichen
Trennung unverhofft wieder finden, aber nur dazu wieder
finden, um ihn in den Armen eines andern und (was uns
nicht einmal das Recht zu klagen, zu wüthen und Rache zu
schnauben übrig läßt) in den Armen unsers liebsten Freundes
zu sehen.Zu gutem Glücke für unsern Helden und für seine Geschichtschreiber
waren diejenigen, welche in diesem Augenblicke
Zeugen seiner Bestürzung waren, keine so großen Liebhaber
stürmischer Auftritte, daß sie, bloß um sich an seiner vergeblichen
Qual zu ergötzen, grausam genug hätten seyn können,
Tragödie mit ihm zu spielen, wie glücklich auch am Ende die
Entwicklung immer hätte seyn mögen. Die zärtliche Psyche
sah ein paar Augenblicke seiner Verwirrung zu; aber länger
konnte sie sich nicht zurückhalten. Sie flog ihm mit offenen
Armen entgegen, und indem ihre Freudenthränen an seinen
glühenden Wangen herabrollten, hörte er sich mit einem
Namen benennen, der ihre zärtlichsten Liebkosungen, selbst in
Gegenwart eines Gemahls, rechtfertigte.Wäre die Liebe, welche sie ihm im Hain zu Delphi eingeflößt
hatte, weniger rein und tugendhaft gewesen, so würde
die Entdeckung einer Schwester in der Geliebten seines
Herzens so erfreulich nicht gewesen seyn als sie ihm war. Aber
man erinnert sich vermuthlich noch, daß diese Liebe allezeit
mehr derjenigen, welche die Natur zwischen Geschwistern von
übereinstimmender Gemüthsart stiftet, als der gemeinen Leidenschaft
geglichen hatte, die sich auf den Zauder eines andern
Instincts gründet. Die ihrige war von den fieberischen Symptomen
des letztern allezeit frei geblieben. Sie hatten immer
ein sonderbares Vergnügen daran gefunden, sich einzubilden,
daß wenigstens ihre Seelen einander verschwistert seyen, da
sie nicht Grund genug hatten (so sehr sie es auch wünschten),
die unschuldige Anmuthung, welche sie für einander fühlten,
der Sympathie des Blutes zuzuschreiben. Agathon befand
sich also über alle seine Hoffnung glücklich, da er, nach den
Erläuterungen, welche ihm gegeben wurden, nicht mehr zweifeln
konnte, in Psyche eben diese Schwester, welche er nach
der ehmaligen Erzählung seines Vaters für todt gehalten
hatte, wieder zu finden, und durch sie ein Theil einer Familie
zu werden, für welche sein Herz bereits so eingenommen war,
daß der Gedanke, sich jemals wieder von ihr zu trennen, ihm
unerträglich gewesen seyn würde.Und nun, zärtliche Leserinnen, was mangelte ihm noch,
um so glückselig zu seyn als es Sterbliche seyn können, —
als daß Archytas nicht irgend eine liebenswürdige Tochter
oder Nichte hatte, mit der wir ihn vermählen könnten? —
Unglücklicher Weise für den armen Agathon hatte Archytas
keine Tochter; und wofern er Nichten hatte (welches wir nicht
für gewiß sagen können), so waren sie entweder schon verheirathet,
oder nicht geschickt, das Bild der schönen Danae,
und die Erinnerungen seiner ehmaligen Glückseligkeit mit ihr,
welche von Tag zu Tag wieder lebendiger in seinem Gemüthe
wurden, auszulöschen.Diese Erinnerungen hatten schon zu Syrakus in trüben
Stunden wieder angefangen einige Gewalt über sein Herz zu
bekommen. Der Gram, wovon seine Seele in der letzten
Periode seines Hoflebens öfters ganz verdüstert und niedergeschlagen
wurde, veranlaßte ihn, Vergleichungen zwischen
seinem vormaligen und nunmehrigen Zustande anzustellen,
welche unmöglich anders als zum Vortheil des ersten ausfallen
konnten. Er machte sich selbst Vorwürfe, daß er das
liebenswürdigste unter allen Geschöpfen — aus so schlechten
Ursachen —auf die bloße Anklage eines so verächtlichen Menschen
als Hippias, eine Anklage, über welche sie sich vielleicht,
wenn er sie gehört hätte, vollkommen hätte rechtfertigen können —
verlassen habe. Diese That, auf welche er sich damals
— da er sie für einen herrlichen Sieg über die unedlere
Hälfte seiner selbst, für ein großes, der beleidigten Tugend
gebrachtes Sühnopfer ansah — so viel zu gut gethan hatte,
schien ihm itzt eine undankbare und niederträchtige That. Es
schmerzte ihn, wenn er dachte, wie glücklich er durch die Verbindung
seines Schicksals mit dem ihrigen hätte werden
können; und er zürnte nur desto mehr auf sich selbst, wenn
er sich zugleich erinnerte, durch was für chimärische Vorstellungen
und Hoffnungen ihn seine damalige Schwärmerei um
ein so großes Gut gebracht habe. Aber der Gedanke, daß er
durch ein so schnödes Verfahren die schöne Danae gezwungen
habe ihn zu verachten, zu hassen, sich ihrer Liebe zu ihm bloß
als einer unglücklichen Schwachheit zu erinnern, deren Andenken
sie mit Gram und Reue erfüllen mußte, —dieser Gedanke
war ihm ganz unerträglich. Danae, wie gröblich sie
auch beleidiger war, konnte ihn unmöglich so sehr verabscheuen,
als er in Stunden, da diese Vorstellungen seine Vernunft
überwältigten, sich selbst verabscheuete.Allein diese Stunden gingen endlich vorüber; und wie
wär' es auch möglich gewesen, daß die glückliche Veränderung,
welche die Versetzung in den Schooß der liebenswürdigsten
Familie, die vielleicht jemals gewesen ist, in seinen Umständen
hervorbrachte, nicht auch die Farbe seiner Einbildungskraft
verändert, und die Vorwürfe, die er sich selbst machte, gemildert
haben sollte? Hätte er Danae nicht verlassen, so
würde er weder seine Schwester gefunden, noch mit dem
weisen Archytas persönlich bekannt worden seyn. Mußten
diese Folgen seiner tugendhaften Untreue den Wunsche sie
nicht begangen zu haben, nicht unmöglich machen? Aber sie
beförderten dagegen einen andern, der in seiner gegenwärtigen
Lage sehr natürlich war. Die heitre Stille, welche in seinem
ohnehin zur Freude aufgelegten Gemüth in kurzem wieder
hergestellt wurde; die Freiheit von allen Geschäften und Sorgen;
der Genuß alles dessen, womit die Freundschaft ein
gefühlvolles Herz beseligen kann; der Anblick der Glückseligkeit
seines Freundes Kritolaus, welche im Besitz der liebenswürdigen
Psyche alle Tage zuzunehmen schien; der Mangel
an Zerstreuungen, wodurch das Gemüth verhindert wird, sich
in seine angenehmsten Ideen und Empfindungen einzuhüllen;
und die natürliche Folge hiervon, daß diese Ideen und Empfindungen
desto lebhafter werden müssen: alles dieß vereinigte
sich, ihn nach und nach wieder in eine Fassung zu setzen,
welche die zärtlichsten Erinnerungen an die einst so sehr geliebte
Danae erweckte, und ihn von Zeit zu Zeit in eine Art von
sanfter Melancholie versetzte, worin sein Herz sich ohne Widerstand
in jene zauberischen Scenen von Liebe und Wonne zurückführen
ließ. Scenen, welche — aus Ursachen, die wir den
Psychologen zu entwickeln überlassen —durch die in seiner Seele
vorgegangene Revolution ungleich weniger von ihrem Reize verloren
hatten, als die abgezogenern und bloß intellectualen Gegenstände
seines ehmaligen Enthusiasmus. Können wir ihm verdenken,
daß er in solchen Stunden die schöne Danae unschuldig
zu finden wünschte? daß er dieses so oft und so lebhaft wünschte,
bis er sich endlich überredete, sie für unschuldig zu halten? und
daß die Unmöglichkeit, ein Gut wieder zu erlangen, dessen er
sich selbst so leichtgläubig und auf eine so verhaßte Art beraubt
hatte, ihn zuweilen in eine Traurigkeit versenkte, die ihm den
Geschmack seiner gegenwärtigen Glückseligkeit verbitterte, und
sich desto tiefer in sein Gemüth eingrub, weil er sich nicht entschließen
konnte, sein Anliegen denjenigen anzuvertrauen, denen
er (diesen einzigen Winkel ausgenommen) das Innerste seiner
Seele aufzuschließen pflegte?."Wohin uns diese Vorbereitung wohl führen soll? —
werden vielleicht einige von unsern kritischen Lesern denken.
Ohne Zweifel wird man nun auch die Dame Danae von irgend
einem dienstwilligen Sturmwind herbei führen lassen,
nachdem uns, ohne zu wissen, wie? das gute Mädchen Psyche,
durch einen wahren Schlag mit der Zauberruthe, aus dem
Gynäceon des alten Archytas entgegen gesprungen ist."Und warum nicht, da wir nun einmal wissen, wie glücklich
wir unsern Freund Agathon dadurch machen könnten?"Aber wo bleibt alsdann das Vergnügen der Ueberraschung,
welches andre Verfasser ihren Lesern mit so vieler Mühe und
Kunst zuzuwenden pflegen?"Es bleibt aus; und wenn Diderot Recht hat (wie uns
däucht), so ist wenig oder nichts dabei zu verlieren. Inzwischen
ist uns lieb, erinnert worden zu seyn, daß wir einige Nachricht
schuldig sind, wie Psyche (welche wir, in einen Ganymed
verkleidet, in den Händen eines Seeräubers verlassen hatten)
dazu gekommen sey, die Gemahlin des Kritolaus und die
Schwester Agathons zu werden. Ein kurzer Auszug aus der
Erzählung, welche dem letztern theils von seiner Schwester
selbst, theils von ihrer Pflegemutter gemacht wurde, wird hinlänglich
seyn, die gerechte Wissensbegierde des Lesers über
diesen Punkt zu befriedigen.—————
Drittes Capitel.Begebenheiten der Psyche.Ein heftiger Sturm ist ein sehr unglücklicher Zufall für
Leute, die sich mitten auf der offenen See, nur durch die
Dicke eines Brettes von einem feuchten Tode geschieden finden.
Aber für die Geschichtschreiber der Helden und Heldinnen ist
es beinahe der glücklichste unter allen Zufällen, welche man
herbeibringen kann, um sich aus einer Schwierigkeit heraus
zu helfen.Es war also ein Sturm (und wir hoffen niemand wird
sich darüber zu beschweren haben, denn es ist, unsers Wissens,
der erste in dieser Geschichte), der die liebenswürdige Psyche
aus der furchtbaren Gewalt eines verliebten Seeräubers rettete.
Das Schiff scheiterte an der Italienischen Küste, einige
Meilen von Capua; und Psyche, von den Nereiden oder Liebesgöttern
beschirmt, war die einzige Person auf dem Schiffe,
welche, vermuthlich auf einem Brette, wohlbehalten von den
Zephyrn ans Land getragen wurde. Die Zephyrn allein wären
hierzu vielleicht nicht hinreichend gewesen; aber mit Hülfe
einiger Fischer, welche glücklicher Weise bei der Hand waren,
hatte die Sache keine Schwierigkeit.Dieß war nun alles sehr glücklich; aber es ist nichts in
Vergleichung mit dem was folgen wird. Einer von den Fischern,
weil er, zum Glück, sehr mitleidig war, trug die verkleidete
Psyche, welche nichts so sehr vonnöthen hatte als sich
zu trocknen und von dem ausgestandenen Ungemach zu erholen,
zu seinem Weibe in seine Hütte. Die Fischerin (eine
gute runde Frau von etwa vierzig Jahren) bezeigte ungemeines
Mitleiden mit dem Unglück eines so liebenswürdigen jungen
Herrn; sie pflegte seiner, so gut es nur immer möglich
war, und konnte sich nicht satt an ihm sehen. Es war ihr
immer, sagte sie, als ob sie schon einmal ein solches Gesicht
gesehen hätte wie das seinige; und sie konnte es kaum erwarten,
bis der schöne Fremdling im Stande war, nach eingeführter
Gewohnheit, seine Geschichte zu erzählen. Aber Psyche
hatte der Ruhe vonnöthen; sie wurde also zu Bette gebracht;
und bei dieser Gelegenheit entdeckte die besorgte und aufmerksame
Fischerin, daß der vermeinte Jüngling ein überaus schönes
Mädchen, aber doch nicht ganz so schön mehr war, als in
ihren Mannskleidern.Es war natürlich, über diese Verwandlung im ersten
Augenblick ein wenig mißvergnügt zu seyn: doch der kleine
vorübergehende Unmuth verwandelte sich bald in die lebhafteste
und zärtlichste Freude. — Denn, kurz, es entdeckte sich, daß
die Fischerin Klonarion die ehmalige Amme der schönen Psyche
war, welche (mit Hülfe dieses Namens) sich ihrer eben so gut
wieder erinnerte, als diese aus den Gesichtszügen der Psyche,
aus ihrer Aehnlichkeit mit ihrer Mutter Musarion, — besonders
aus einem kleinen Male, welches sie unter der linken
Brust hatte — ihre liebste Pflegetochter erkannte.Klonarion war die vertrauteste Sklavin der Mutter unsrer
Heldin gewesen, und ihrer Pflege wurde nach dem Tode derselben
die kleine Psyche, oder Philoklea (wie sie eigentlich hieß),
anvertraut. Denn Psyche war nur ein Liebkosungsname, den
ihr die Amme aus Zärtlichkeit gab, und welchen die kleine
Philoklea (weil sie sich niemals anders als Psyche oder Psycharion
nennen gehört hatte) in der Folge als ihren wirklichen
Namen angab. Stratonikus hatte der guten Klonarion mit
der noch unmündigen Psyche eine hinlängliche Summe Goldes
übergeben, und ihr befohlen, sie in der Nähe von Korinth zu
erziehen, weil er dort die beste Gelegenheit hatte, sie von
Zeit zu Zeit unerkannt zu sehen. Die junge Psyche, die Freude
und der Stolz ihrer zärtlichen Amme, wuchs so schön heran,
daß man nichts Liebenswürdiger's sehen konnte. Die Hoffnung
des Gewinnstes reizte endlich einige Bösewichter, sie, da sie
ungefähr fünf bis sechs Jahre alt war, heimlich wegzustehlen
und an die Priesterin zu Delphi zu verkaufen. Ein Halsgeschmeide,
woran ein kleines Bildniß ihrer Mutter hing, und
womit die junge Psyche allezeit geschmückt zu seyn pflegte,
wurde zugleich mit ihr verkauft, und diente in der Folge zur
Bestätigung, daß sie wirklich die verlorne Tochter des Stratonikus
sey. Klonarion raufte sich einen guten Theil ihrer
Haare aus, da sie ihre Psyche vermißte: und nachdem sie eine
ziemliche Zeit zugebracht hatte, sie allenthalben (außer da, wo
sie war) zu suchen; wußte sie kein andres Mittel, sich bei ihrem
Herrn von der Schuld einer strafbaren Nachlässigkeit zu entledigen,
als vorzugeben, daß sie gestorben sey; und Stratonikus
konnte desto leichter hintergangen werden, weil er damals
eben in Geschäfte verwickelt war, welche ihn lange Zeit
hinderten nach Korinth zu kommen.Inzwischen hatte die allenthalben herumirrende Klonarion
eine Menge Abenteuer, welche sich endlich damit endigten, daß
sie die Gattin eines schon ziemlich bejahrten Fischers aus der
Gegend von Capua ward, in dessen Augen sie damals wenigstens
so schön als Thetis und Galatea war. Sie hatte ihre
geliebte Pflegetochter in so zärtlichem Andenken behalten, daß
sie einer Tochter, von der sie selbst entbunden wurde, den
Namen Psyche gab, bloß um sich derselben beständig zu erinnern.
Der Tod dieses Kindes, der beinahe in eben dem Alter
erfolgte, worin ihr jene geraubt worden war, riß die alte
Wunde wieder auf; und da ihr durch diese Umstände das Bild
der jungen Psyche immer gegenwärtig blieb, so hatte sie desto
weniger Mühe sie wieder zu erkennen, ungeachtet vierzehn oder
fünfzehn Jahre einige Veränderung in ihren Gesichtszügen
gemacht haben mußten.Unsre Heldin vermehrte also nunmehr die kleine Familie
des alten Fischers, welcher seinen Aufenthalt veränderte, und
in die Gegend von Tarent zog, wo er die schöne Psyche für
seine Tochter ausgab. Psyche bequemte sich so gut in die geringen
Umstände, worin sie bei ihrer Pflegemutter leben mußte,
als ob sie niemals in bessern gelebt hätte, und ließ sich nichts
angelegener seyn, als ihr durch emsiges Arbeiten die Last ihres
Unterhalts zu erleichtern.Endlich fügte es sich zufälliger Weise, daß der junge Kritolaus
unsre Heldin zu sehen bekam, welche, in ihrem bäurischen
aber reinlichen Anzug und mit frischen Blumen geschmückt; demjenigen,
dem sie in einem Haine begegnete, eher eine von den
Gespielen der Diana, als die Tochter eines armen Fischers zu
seyn scheinen mußte. Der junge Mann faßte die heftigste
Leidenschaft für sie. Weil seine Liebe eben so tugendhaft als
zärtlich war, so brachte er bald die mitleidige Klonarion auf
seine Seite; und da Psyche selbst nunmehr wußte, daß Agathon
ihr Bruder sey, so war nichts vorhanden, was sie gegen die
Zuneigung eines so liebenswürdigen jungen Menschen unempfindlich
hätte machen können. In der That war Kritolaus in
mehrern Absichten der zweite Agathon. Allein die Umstände
ließen so wenig Hoffnung zu, daß eine Verbindung zwischen
ihnen möglich seyn könnte, daß Psyche sich verbunden hielt, ihm
alles, was zu seinem Vortheil in ihrem Herzen vorging, desto
sorgfältiger zu verbergen, je entschlossener er schien, seiner Liebe
alle andern Betrachtungen aufzuopfern.Endlich wußte er sich nicht anders zu helfen, als daß er das
Geheimniß seines Herzens demjenigen entdeckte, dessen Beifall
er am wenigsten zu erhalten hoffen konnte. Die ganze Beredsamkeit
der begeisterten Liebe würde über einen Archytas wenig
vermocht haben, wenn Kritolaus nicht so viel Außerordentliches
von dem Geist und der Tugend seiner Geliebten gesagt hätte,
daß sein Vater endlich aufmerksam zu werden anfing.Archytas hatte die Macht des Dämons der Liebe nie erfahren;
aber er war menschlich, gütig, und über die in solchen
Fällen gewöhnlichen Vorurtheile und Absichten weit erhaben.
Ein schönes und tugendhaftes Mädchen war in seinen Augen
ein sehr edles, sehr vornehmes Geschöpf, dessen Werth durch
den Schatten der Niedrigkeit und Armuth nur desto mehr erhoben
wurde.Kaum wurde der junge Kritolaus gewahr, daß sein Vater
zu wanken anfing, so wagte er's, ihm das Geheimniß der
Geburt seiner Geliebten zu entdecken, welches ihm Klonarion
ohne Wissen der schönen Psyche vertraut hatte. Archytas,
der sich erinnerte, ehmals aus des Stratonikus eigenem Munde
die ganze Geschichte seiner Liebe zu Musarion vernommen zu
haben, war über diesen Zufall nicht wenig erfreut. Er
wünschte nichts mehr, als daß diejenige, fur welche sein Sohn
so heftig eingenommen war, die Tochter seines liebsten Freundes
seyn möchte. Aber er wollte gewiß seyn, daß sie es sey;
und hierzu schien ihm das bloße Zeugniß eines Fischerweibes
zu wenig. Er veranstaltete es, daß er Psychen und ihre angebliche
Amme selbst zu sehen bekam. Er glaubte in der
Gesichtsbildung der ersten einige Züge von ihrem Vater zu
entdecken. Eine Unterredung mit ihr bestätigte den günstigen
Eindruck, den ihr Anblick auf sein Gemüth gemacht hatte.
Er ließ sich ihre Geschichte mit allen Umständen erzählen,
und fand immer weniger Ursache, an der Wahrheit dessen zu
zweifeln, was sein Sohn, ohne die mindeste Untersuchung,
für ausgemacht hielt. Das Halsgeschmeide, welches Psyche
in den Händen der Pythia hatte zurücklassen müssen, schien
allein noch abzugehen, um ihn gänzlich zu überzeugen. Er
schickte deßwegen einen seiner Vertrauten nach Delphi ab;
und die Pythia, da sie sah, daß ein Mann von solcher
Wichtigkeit sich des Schicksals ihrer ehemaligen Sklavin annahm,
machte keine Schwierigkeiten, dieses Merkzeichen der
Abkunft derselben auszuliefern. Nunmehr glaubte Archytas
berechtigt zu seyn, Psychen als die Tochter eines Freundes,
dessen Andenken ihm theuer war, anzusehen; und nun hatte
er selbst nichts Angelegner's, als sie je eher je lieber in seine
Familie zu verpflanzen. Sie wurde also die Gemahlin des
Kritolaus; und diese Verbindung gab ihm natürlicher Weise
neue Beweggründe, sich der Befreiung Agathons mit so
lebhaftem Eifer anzunehmen, als es oben erzähltermaßen
geschehen war.—————
Viertes Kapitel.Etwas das man vorhersehen konnte.Agathon hatte zwar viel früher zu leben angefangen, als
es gemeiniglich geschieht; aber er war doch noch lange nicht
alt genug, um sich der Welt ganz zu entäußern. Indessen
glaubte er, nachdem er schon zweimal eine nicht unansehnliche
Rolle auf dem Schauplatze des öffentlichen Lebens gespielt,
und sie, fur einen jungen Mann, ziemlich gut gespielt hatte,
berechtiget zu seyn, — so lange er keinen besondern Beruf
erhalten würde seiner Nation zu dienen, oder so lange sie
seiner Dienste nicht schlechterdings vonnöthen hätte, sich
in den Cirkel des Privatlebens zurückzuziehen; und hierin
stimmten die Grundsätze des weisen Archytas völlig mit seiner
Art zu denken überein. Ein Mann von mehr als gewöhnlicher
Fähigkeit, sagte Archytas, hat zu thun genug, an seiner
eigenen Besserung und Vervollkommnung zu arbeiten. Er ist
am geschicktesten zu dieser Beschäftigung, nachdem er durch
eine Reihe beträchtlicher Erfahrungen sich selbst und die Welt
kennen zu lernen angefangen hat; und indem er solchergestalt
an sich selbst arbeitet, arbeitet er zugleich für die Welt. Denn
um so viel geschickter wird er, seinen Freunden, seinem Vaterlande,
und den Menschen überhaupt nützlich zu seyn, und
auf jeden Wink der Pflicht, — es sey nun in einem größern
oder kleinern Kreise, mit mehr oder weniger Gepränge, öffentlich
oder im Verborgnen, —zum allgemeinen Besten des Ganzen
mitzuwirken.Dieser Maxime zufolge beschäftigte sich Agathon, nachdem
er zu Tarent einheimisch zu seyn angefangen hatte,
hauptsächlich mit den mathematischen Wissenschaften, mit Erforschung
der Kräfte und Eigenschaften der natürlichen Dinge,
mit der Astronomie, kurz mit demjenigen Theile der speculativen
Philosophie, welcher uns auf dem Wege der Beobachtung
zu einer zwar mangelhaften, aber doch zuverlässigen Erkenntniß
der Natur und ihrer majestätisch einfältigen, weisen und
wohlthätigen Gesetze führt. Er verband mit diesen erhabenen
Studien, worin ihm die Anleitung des Archytas vorzüglich zu
Statten kam, das Lesen der besten Schriftsteller von allen
Classen (insonderheit der Geschichtschreiber) und das Studium
des Alterthums und der Sprache, welches er für eines der
edelsten oder der nichtswurdigsten hielt, je nachdem es auf
eine philosophische, oder bloß mechanische Art getrieben werde.
Nicht selten setzte er diese anstrengenden Beschäftigungen bei
Seite, um, wie er sagte, mit den Musen zu scherzen; und
der natürliche Schwung seines Genius machte ihm diese Art
von Gemüthsergözung so angenehm, daß es ihm oft schwer
wurde, sich wieder von ihr loszureißen. Auch die Musik
und die bildenden Künste, die Schwestern der Dichtkunst, deren
höhere Theorie sich in den geheimnißvollen Tiefen der Philosophie
verliert, hatten einen Antheil an seinen Stunden, und
halfen ihm, das Allzueinförmige in den Beschäftigungen seines
Geistes, und die schädlichen Folgen, die aus der Einschränkung
desselben auf eine einzige Art von Gegenständen entspringen,
vermeiden.Die häufigen Unterredungen, welche er mit dem weisen
Archytas hatte, trugen viel und vielleicht das meiste dazu bei,
seinen Geist in dem tiefsinnigen Erforschen der übersinnlichen
Gegenstände vor Abwegen zu bewahren. Agathon, welcher
ehmals, da alles in seiner Seele zur Empfindung wurde,
seinen Beifall zu leicht überraschen ließ, fand itzt, seitdem er
mit kälterm Blute philosophirte, beinahe alles zweifelhaft.
Die Zahl der menschlichen Begriffe und Meinungen, welche
die Probe einer ruhigen, gleichgültigen und genauern Prüfung
aushielten, wurde alle Tage kleiner für ihn; die Systeme der
dogmatischen Weisen verschwanden nach und nach, und zerstossen
vor den Strahlen der prüfenden Vernunft, wie die
Luftschlösser und Zaubergärten, welche wir zuweilen an
Sommermorgen im duftigen Gewölke zu sehen glauben, vor
der aufgehenden Sonne.Der weise Archytas billigte zwar den bescheinen Skepticismus
seines Freundes; doch, — indem er ihn von allzukühnen
Reisen im Lande der Ideen zu den wenigen einfachen
aber desto schäzbarern Wahrheiten zurückführte, die der Leitfaden
zu seyn scheinen, an welchem uns der allgemeine Vater
der Wesen durch die Irrgänge des Lebens sicher hindurch fuhren
will, — verwahrte er ihn zugleich vor jener gänzlichen
Ungewißheit des Geistes, die durch Unentschlossenheit und
Muthlosigkeit des Willens fur die Ruhe und Glückseligkeit
unsers Lebens so gefährlich wird, daß der Zustand des bezaubertsten
Enthusiasten dem Zustand eines solchen Weisen vorzuziehen
zu seyn scheinet, der, aus lauter Furcht zu irren,
sich endlich gar nichts mehr zu bejahen oder zu verneinen
getraut. In der That gleicht die Vernunft in diesem Stück
ein wenig dem Doctor Peter Rezio von Aguero. Sie hat
gegen alles , womit unsre Seele genährt werden soll, so viel
einzuwenden, daß diese endlich ebensowohl aus Inanition verschmachten
müßte, als die unglücklichen Statthalter der Insel
Barataria bei der Diät, wozu sie das verwünschte Stäbchen
ihres allzu bedenklichen Leibarztes verurtheilte. Das Beste ist
in diesem Falle, sich wie Sancho zu helfen. Der allgemeine
Menschensinn, dieses am wenigsten betrügliche Gefühl des
Wahren und Guten, und dieses innigste Bewußtseyn dessen
was recht, und also Pflicht für vernünftige Wesen ist, welches
die Natur allen Menschen zugetheilt hat, können uns am
besten sagen, woran wir uns halten sollen; und dahin müssen,
früher oder später, die größten Geister zurückommen, wenn
sie nicht das Schicksal haben wollen, wie die Taube des Altvaters
Noah, allenthalben herum zu flattern und nirgends
Ruhe zu finden.—————
Fünftes Kapitel.Agathon verirrt sich auf der Jagd, und stößt in einem alten Schlosse
auf ein sehr unerwartetes Abenteuer.Bei allen diesen mannichfaltigen Beschäftigungen, womit
unser ehmaliger Held seine Muße zu seinem eignen Vortheil
erfüllte, blieben ihm doch viele Stunden übrig, welche der
Freundschaft und dem geselligen Vergnügen gewidmet waren,
und für seine Ruhe nur allzuviele, worin eine Art von zärtlicher
unwiderstehlicher Schwermuth seine Seele in die Zaubergegenden
zurückführte, deren wir im zweiten Kapitel dieses
Buches schon Erwähnung gethan haben.In einer solchen Gemüthsfassung liebt man vorzüglich den
Aufenthalt auf dem Lande, wo man Gelegenheit hat seinen
Gedanken ungestörter nachzuhängen, als unter den Pflichten
und Zerstreuungen des geselligern Stadtlebens. Agathon zog
sich also öfters in ein Landgut zurück, welches sein Bruder
Kritolaus etliche Stunden von Tarent besaß, und wo er sich
in seiner Gesellschaft zuweilen mit der Jagd belustigte.Hier geschah es einsmals, daß sie von einem Ungewitter
überrascht wurden, welches wenigstens so heftig war, als
dasjenige, wodurch, auf Veranstaltung zweier Göttinnen,
Aeneas und Dido, in die nämliche Höhle zusammengescheucht
wurden. Aber da zeigte sich nirgends eine wirthbare Höhle,
welche ihnen einigen Schirm angeboten hätte. Das Schlimmste
war, daß sie sich von ihren Leuten verloren hatten, und eine
geraume Zeit nicht wußten wo sie waren: ein Zufall, der
an sich selbst wenig Außerordentliches hat, aber, wie man
sehen wird, eines der glücklichsten Abenteuer veranlaßte, das
unserm Helden jemals zugestoßen ist.Nachdem sie sich endlich aus dem Walde herausgefunden,
erkannte Kritolaus die Gegend wieder: aber er sah zugleich,
daß sie etliche Stunden weit von Hause entfernt waren. Das
Ungewitter wüthete noch immer fort, und es fand sich kein
näherer Ort, wohin sie ihre Zuflucht nehmen konnten, als ein
einsames Landhaus, welches seit mehr als einem Jahre von
einer fremden Dame von sehr sonderbarem Charakter bewohnt
wurde. Man vermuthete aus einigen Umständen, daß
sie die Wittwe eines Mannes von Ansehen und Vermögen
seyn müsse; aber es war bisher unmöglich gewesen, ihren
Namen und vorigen Aufenthalt auszuforschen, oder was sie
bewogen haben könnte ihn zu verändern, und in einer gänzlichen
Abgeschiedenheit von der Welt zu leben. Das Gerüchte
sagte Wunder von ihrer Schönheit; indessen war doch niemand,
der sich rühmen konnte sie gesehen zu haben. Ueberhaupt
hatte man eine Zeit lang viel und desto mehr von ihr gesprochen,
je weniger man wußte. Allein da sie fest entschlossen
schien, sich nichts darum zu bekümmern, so hatte man endlich
auf einmal aufgehört von ihr zu reden, und es der Zeit
überlassen, das Geheimniß, das unter dieser Person und ihrer
sonderbaren Lebensart verborgen seyn möchte, zu entdecken.
Vielleicht, sagte Kritolaus, ist sie eine zweite Artemisia, die
sich, ihrem Schmerz ungestört nachzuhängen, in dieser Einöde
lebendig begraben will. Ich bin schon lange begierig gewesen
sie zu sehen. Dieser Sturm soll uns, wie ich hoffe, Gelegenheit
dazu geben. Sie kann uns eine Zuflucht in ihrem Hause
nicht versagen; und wenn wir nur einmal über die Schwelle
sind, so wollen wir wohl Mittel finden vorgelassen zu werden,
wiewohl wir die ersten in dieser Gegend wären, denen dieses
Glück zu Theil würde.Man kann sich leicht vorstellen, daß Agathon, so gleichgültig
er auch seit seiner Entfernung von der schönen Danae
gegen ihr ganzes Geschlecht war, dennoch begierig werden
mußte, eine so außerordentliche Person kennen zu lernen.
Sie kamen vor dem äußersten Thor eines Hauses an, welches
einem verwünschten Schlosse ähnlicher sah, als einem Landhause
in Ionischem oder Korinthischem Geschmacke. Das schlimme
Wetter, ihr anhaltendes Bitten, und vielleicht auch ihre gute
Miene brachte zuwege, daß sie eingelassen wurden. Einige alte
Sklaven führten sie in einen Saal, wo man sie mit vieler
Freundlichkeit nöthigte, alle die kleinen Dienste anzunehmen,
welche sie in ihrem Zustande nöthig hatten.Die Figur der Fremden schien die Leute des Hauses in
Verwunderung zu setzen, und die Meinung von ihnen zu
erwecken, daß es Personen von Bedeutung seyn müßten. Aber
Agathon, dessen Aufmerksamkeit bald einige Gemälde an sich
zogen, womit der Saal ausgeziert war, wurde nicht gewahr,
daß er von einer Sklavin mit noch weit größerer Aufmerksamkeit
betrachtet werde. Diese Sklavin schien einer Person gleich
zu sehen, welche nicht weiß, ob sie ihren Augen trauen soll;
und nachdem sie ihn einige Minuten mit verschlingenden Blicken
angestarrt hatte, verlor sie sich auf einmal aus dem
Saale.Sie lief so hastig dem Zimmer ihrer Gebieterin zu, daß
sie ganz außer Athem kam. "Und wer meinen Sie wohl,
meine Gebieterin (keuchte sie), daß unten im Saal ist? Hat
es Ihnen Ihr Herz nicht schon gesagt? Diana sey mir gnädig!
Was für ein Zufall das ist! Wer hätte sich das nur im Traum
einbilden können? Ich weiß vor Erstaunen nicht wo ich bin."In der That däucht mich, du bist nicht recht bei Sinnen,
versetzte die Dame ein wenig betroffen; und wer ist denn unten
im Saale?"O! bei den Göttinnen! ich hätte es beinahe meinen eignen
Augen nicht geglaubt. Aber ich erkannte ihn auf den
ersten Blick, ob er gleich ein wenig stärker geworden ist. Es
ist nichts gewisser; er ist es, er ist es!"Plage mich nicht länger mit deinem geheimnißvollen Unsinn,
rief die Dame immer mehr bestürzt. Rede, Närrin!
Wer ist es?"Aber Sie errathen doch auch gar nichts, gnädige Frau! —
Wer es ist? — Ich sage Ihnen ja, daß Agathon unten im
Saal ist! — Ja, Agathon; es kann nichts gewisser seyn! Er
selbst, oder sein Geist, eines von beiden unfehlbar. Denn die
Mutter, die ihn geboren hat, kann ihn nicht besser kennen,
als ich ihn erkannt habe, sobald er den Mantel von sich warf,
worin er anfangs eingewickelt war."Das gute Mädchen würde noch länger in diesem Tone
fortgeplaudert haben (denn ihr Herz überfloß von Freude),
wenn sie nicht auf einmal gesehen hätte, daß ihre Gebieterin
ohnmächtig auf ihren Sofa zurückgesunken war. Sie hatte
einige Mühe sie wieder zu sich selbst zu bringen. Endlich erholte
sich die schöne Dame wieder; aber nur um über sich selbst zu
zürnen, daß sie sich so empfindlich fand."Sie machen einem ja ganz bange, rief die Sklavin.
Wenn Sie schon bei seinem bloßen Namen in Ohnmacht fallen,
wie wird es erst werden wenn Sie ihn selbst sehen? — Soll
ich gehen und ihn geschwinde heraufholen?"Ihn heraufholen? versetzte die Dame: nein wahrhaftig;
ich will ihn nicht sehen!"Sie wollen ihn nicht sehen? Was für ein Einfall! Aber
es kann nicht Ihr Ernst seyn. O wenn Sie ihn nur sehen
sollten! Er ist so schön, so schön als er noch nie gewesen ist,
däucht mich. Sie müssen ihn sehen! — Es wäre unverantwortlich,
wenn Sie ihn wieder fortgehen lassen wollten, ohne
daß er Sie gesehen hätte. Wofür hätten Sie sich denn —"Schweige! Nichts weiter! (rief die Dame) Verlaß mich!
Aber unterstehe dich nicht, wieder in den Saal hinunter zu
gehen. Wenn er's ist, so will ich nicht, daß er dich erkennen
soll. Ich hoffe doch nicht, daß du mich schon verrathen hast?"Nein, gnädige Frau, erwiederte die Vertraute; er hat
mich noch nicht wahrgenommen; denn er schien ganz in die
Betrachtung der Gemälde vertieft, und mich däuchte, ich hörte
ihn ein- oder zweimal seufzen. Vermuthlich —"Du bist nicht klug (fiel ihr die Dame ins Wort); verlaß
mich! Ich will ihn nicht sehen, und er soll nicht wissen in
wessen Hause er ist. Wenn er's erfährt, so —hast du eine
Freundin verloren!Die Vertraute entfernte sich also, in Hoffnung, daß ihre
Gebieterin sich wohl eines Bessern besinnen würde, und —die
schöne Danae blieb allein.Eine Erzählung alles dessen, was in ihrem Gemüthe vorging,
würde etliche Bogen ausfüllen, wiewohl es weniger Zeit
als sechs Minuten einnahm. Welch ein Streit! Welch ein
Getümmel von widerwärtigen Bewegungen! — Sie hatte ihn
bis auf diesen Augenblick so zärtlich geliebt, und glaubte itzt
zu fühlen, daß sie ihn hasse. Sie fürchtete sich vor seinem
Anblick, und konnte ihn kaum erwarten. Was hätte sie vor
einer Stunde gegeben, diesen Agathon zu sehen, der, auch
undankbar, auch ungetreu, über ihre ganze Seele herrschte!
Dessen Verlust ihr alle Vorzüge ihres ehmaligen Zustandes,
den Aufenthalt zu Smyrna, ihre Freunde, ihre Reichthümer,
unerträglich gemacht hatte! Dessen Bild, mit allen den zauberischen
Erinnerungen ihrer ehmaligen Glückseligkeit, das
einzige Gut war, was noch einen Werth in ihren Augen hatte!
Aber nun, — da sie wußte, daß es in ihrer Gewalt stehe, ihn
wieder zu sehen oder nicht, — wachte auf einmal ihr ganzer
Stolz auf, und schien sich nicht entschließen zu können ihm
zu vergeben. Wenn auch einen Augenblick lang die Liebe die
Oberhand erhielt, so stürzte sie die Furcht, ihn unempfindlich
zu finden, sogleich wieder in die vorige Verlegenheit.Zu allem diesem kam noch eine andere Betrachtung, welche
vielleicht für eine Danae allzu spitzfindig scheinen könnte, wenn
wir nicht, zu ihrer Rechtfertigung, entdecken müßten, daß die
Flucht unsers Helden, die Entdeckung der Ursachen welche ihn
zu einem so gewaltsamen Entschluß getrieben, der Gedanke, daß
ihre eigenen Fehltritte sie in den Augen des einzigen Mannes,
den sie jemals geliebt hatte, verächtlich gemacht, — eine merkwürdige
Revolution in ihrer ganzen Denkungsart hervorgebracht
hätten. Danae ließ sich durch die Vorwürfe, welche sie
sich selbst zu machen hatte, und wovon vielleicht ein guter
Theil auf ihre Umstände fiel, nicht von dem edeln Vorsatz
abschrecken, sich in einem Alter, wo dieser Vorsatz noch einiges
Verdienst in sich schloß, der Tugend zu widmen. Wir wollen
nicht läugnen, daß eine Art von verliebter Verzweiflung den
größten Antheil an dem außerordentlichen Schritt hatte, sich
aus einer Welt, worin sie angebetet wurde, in eine Einöde zu
verbannen, wo die Freiheit sich mit ihren Empfindungen zu
unterhalten das einzige Vergnügen war, welches sie für so
große Opfer entschädigen konnte. Aber es gehörte doch keine
gemeine Seele dazu, um in den glänzenden Umständen, worin
sie zu leben gewohnt war, einer solchen Verzweigung fähig
zu seyn, und in einem Vorsatz auszuhalten, unter welchem
jede schwächere Seele gar bald eingesunken wäre. Hätte es
ihr zu Smyrna und allenthalben an Gelegenheit mangeln
können, den Verlust eines Liebhabers zu ersetzen, wenn es ihr
bloß um einen Liebhaber zu thun gewesen wäre? Aber ihre
Liebe zu Agathon war von einer edlern Art, war so nahe mit
der Liebe der Tugend selbst verwandt, daß wir Ursache haben
zu vermuthen, daß in der gänzlichen Abgeschiedenheit, worin
unsre Heldin lebte, jene sich endlich gänzlich in dieser verloren
haben würde. Und eben darum, weil ihre Liebe zur Tugend
aufrichtig war, machte sie sich ein gerechtes Bedenken, bei dem
Bewußtseyn der unfreiwilligen Schwachheit ihres Herzens für
den allzu liebenswürdigen Agathon, sich der Gefahr auszusetzen,
durch eine nur allzu mögliche Wiederkehr seiner ehmaligen
Empfindungen mit dahin gerissen zu werden. Ein Gedanke,
der ohne eine übertriebne Meinung von ihren Reizungen in
ihr entstehen konnte, und durch das Mißtrauen in sich selbst,
womit die wahre Tugend allezeit begleitet ist, kein geringes
Gewicht erhalten mußte.Solchergestalt kämpften Liebe, Stolz und Tugend für und
wider das Verlangen den Agathon zu sehen in ihrem unschlüssigen
Herzen. Mit welchem Erfolg, läßt sich leicht errathen.
Die Liebe müßte nicht Liebe seyn, wenn sie nicht
Mittel fände, den Stolz und die Tugend selbst endlich auf
ihre Seite zu bringen. Sie flößte jenem die Begierde ein,
zu sehen wie sich Agathon halten würde, wenn er, so plötzlich
und unerwartet, der einst so sehr geliebten und so grausam
beleidigten Danae unter die Augen käme; und munterte diese
auf sich selbst Stärke genug zuzutrauen, von den Entzückungen,
in welche er vielleicht bei diesem Anblick gerathen möchte,
nicht zu sehr gerührt zu werden. Kurz, der Erfolg dieses
innerlichen Streites war, daß sie eben im Begriff war, ihre
Vertraute (die einzige Person, welche sie bei ihrer Entfernung
von Smyrna mit sich genommen hatte) hereinzurufen, um
ihr die nöthigen Verhaltungsbefehle zu geben; als diese Sklavin
selbst hereintrat, um ihrer Gebieterin zu melden: daß
die beiden Fremden auf eine sehr dringende Art um die Erlaubniß
anhalten ließen, vor die Frau des Hauses gelassen zu
werden.Neue Unentschlossenheit, über welche sich niemand wundern
wird, der das weibliche Herz kennt. In der That klopfte
der guten Danae das ihrige in diesem Augenblicke so stark,
daß sie nöthig hatte, sich vorher in eine ruhigere Verfassung
zu setzen, ehe sie es wagen durfte, eine so schwere Probe zu
bestehen.—————
Sechstes Kapitel.Ein Studium für die Seelenmaler.Unterdessen, bis sie mit sich selbst einig seyn wird, wozu
sie sich entschließen, und wie sie sich bei einer so erwünschten
und gefürchteten Zusammenkunft verhalten wolle, kehren wir
einen Augenblick zu unserm Helden in den Saal zurück.Je mehr Agathon die Gemälde betrachtete, womit die
Wände desselben behängt waren, je lebhafter wurde die Einbildung,
daß er sie — in dem Landhause der Danae zu Smyrna
gesehen habe. Allein er konnte sich so wenig vorstellen, durch
was für einen Zufall sie von Smyrna hierher gekommen seyn
sollten, daß er für weniger unmöglich hielt von seiner Einbildung
betrogen zu werden. Zudem konnte ja eben derselbe
Meister unterschiedliche Copien von seinen Stücken gemacht
haben. Aber wenn er wieder die Augen auf eine Luna heftete,
die mit Augen der Liebe den schlafenden Endymion betrachtete,
so glaubte er es so gewiß für das nämliche zu erkennen, vor
welchem er in einem Gartensaale der Danae oft Viertelstunden
lang in bewundernder Entzückung gestanden, daß es ihm
unmöglich war, seiner Ueberzeugung zu widerstehen. Die Verwirrung,
in die er dadurch gesetzt wurde, ist unbeschreiblich.
"Sollte Danae — aber wie könnte das möglich seyn?" —
Und doch schien alles das Sonderbare, was ihm Kritolaus
von der Frau dieses Hauses gesagt hatte, den Gedanken zu bekräftigen,
der itzt in ihm aufstieg, und den er sich kaum auszudenken
getrauete. Die schöne Danae hätte zufrieden seyn
müssen, wenn sie gesehen hätte was in seinem Herzen vorging.
Er hätte nicht erschrockner seyn können, vor das Antlitz einer
beleidigten Gottheit zu treten, als er es vor dem Gedanken
war, sich dieser Danae darzustellen, welche er seit geraumer
Zeit gewohnt war sich wieder so unschuldig zu denken, als sie
ihm damals, da er sie verließ, verächtlich und hassenswürdig
schien. Allein das Verlangen sie zu sehen verschlang endlich
alle andern Gefühle, von denen sein Herz erschüttert wurde.
Seine Unruhe war so sichtbar, daß Kritolaus sie bemerken
mußte. Agathon würde besser gethan haben, ihm die Ursache
davon zu entdecken. Aber er that es nicht, sondern behalf
sich mit der allgemeinen Ausflucht, daß ihm nicht wohl sey.
Demungeachtet bezeigte er ein so ungeduldiges Verlangen die
Frau des Hauses zu sehen, daß sein Freund aus allem, was
er an ihm wahrnahm, zu muthmaßen anfing, es müßte irgend
ein Geheimniß darunter verborgen seyn, dessen Entwicklung er
begierig erwartete. Inzwischen kam der Sklave, den sie abgeschickt
hatten, mit der Antwort zurück: daß er Befehl habe,
sie in ihr Zimmer zu führen.Hier ist es, wo wir mehr als jemals zu wünschen versucht
sind, daß dieses Buch von niemand gelesen werden möchte,
der keine schönen Seelen glaubt. Die Situation, worin man
unsern Helden in wenig Augenblicken sehen wird, ist unstreitig
eine von den schwierigsten, in welche man in seinem Leben
kommen kann. Wäre hier die Rede von phantasirten Charaktern,
so würden wir uns kaum in einer kleinern Verlegenheit
befinden, als Agathon selbst, da er mit pochendem Herzen
und schwer athmender Brust dem Sklaven folgte, der ihn in
das Vorgemach einer Unbekannten führte, von der er fast mit
gleicher Heftigkeit wünschte und fürchtete, daß es Danae seyn
möchte. Allein da Agathon und Danae so gut historische Personen
sind als Brutus, Porcia, und hundert andere, welche
darum nicht weniger existirt haben, weil sie nicht gerade so
dachten und handelten wie gewöhnliche Leute: so bekümmern
wir uns wenig, wie dieser Agathon und diese Danae, vermöge
der moralischen Begriffe des einen oder andern, der über
dieses Buch gut oder übel urtheilen wird, hätten handeln sollen,
oder gehandelt haben würden, wenn sie nicht gewesen
wären was sie waren. Unsre Pflicht ist zu erzählen, nicht zu
dichten; und wir können nichts dafür, wenn Agathon bei dieser
Gelegenheit sich nicht weise und heldenmäßig genug verhalten,
oder Danae die Rechte des weiblichen Stolzes nicht
so gut behaupten sollte, als viele andre — welche dem Himmel
danken, daß sie keine Danaen sind — an ihrem Platze
gethan haben würden.Die schöne Danae erwartete, auf einem Sopha sitzend,
ihren Besuch mit so vieler Stärke, als eine weibliche Seele
nur immer zu haben fähig seyn mag, die zugleich so zärtlich
und lebhaft ist, als eine solche Seele seyn kann. Aber was
in ihrem Herzen vorging, mögen Leserinnen, welche im Stande
sind sich an ihre Stelle zu setzen, in ihrem eigenen lesen. Sie
wußte, daß Agathon einen Gefährten hatte. Dieser Umstand
kam ihr zu Statten; aber Agathon befand sich wenig dadurch
erleichtert. Die Thür des Vorzimmers wurde ihnen von der
Sklavin eröffnet. Er erkannte beim ersten Anblick die Vertraute
seiner Geliebten; und nun konnte er nicht mehr zweifeln,
daß die Dame, die er in einigen Augenblicken sehen würde,
Danae sey. Er raffte seinen ganzen Muth zusammen, indem
er zitternd hinter seinem Freunde Kritolaus herwankte. Er
sah sie — wollte auf sie zugehen — konnte nicht — heftete
seine Augen auf sie — und sank, vom Uebermaß seiner Empfindlichkeit
überwältigt, in die Arme seines Freundes zurück.Auf einmal vergaß die schöne Danae alle die großen Entschließungen
von Gelassenheit und Zurückhaltung, welche sie
mit so vieler Mühe gefaßt hatte. Sie lief in zärtlicher Bestürzung
auf ihn zu, nahm ihn in ihre Arme, ließ dem ganzen
Strom ihrer Empfindungen den Lauf, ohne daran zu denken,
daß sie einen Zeugen hatte, der über alles, was er sah und
hörte, erstaunt seyn mußte.Allein die Güte des Herzens und diese Sympathie, durch
welche schöne Seelen in wenig Augenblicken vertraut mit einander
werden, machte daß Kritolaus in einer Lage, auf die
er so wenig vorbereitet war, sich gerade so benahm, als ob
er schon viele Jahre der Vertraute ihrer Liebe gewesen wäre.
Er trug seinen Freund auf den Sopha, auf welchen sich Danae
neben ihn hinwarf: und da er nun schon genug wußte, um
zu sehen daß er hier zu nichts mehr helfen könne, so entfernte
er sich unvermerkt weit genug, um unsre Liebenden
von dem Zwang einer Zurückhaltung zu entledigen, welche, in
so sonderbaren Augenblicken, ein größeres Uebel ist, als unempfindliche
Leute sich vorstellen können.Allmählich bekam Agathon, an der Seite der gefühlvollen
Danae, und von einem ihrer schönen Arme umschlungen, das
Vermögen zu athmen wieder. Sein Gesicht ruhte an ihrem
Busen, und die Thränen, welche ihn zu benetzen anfingen,
waren das erste, was ihr seine wiederkehrende Empfindung
anzeigte. Ihre erste Bewegung war, sich von ihm zurückzuziehen;
aber ihr Herz versagte ihr die Kraft dazu. Es sagte
ihr, was in dem seinigen vorging; und sie hatte den Muth
nicht, ihm eine Linderung zu entziehen, welche er so nöthig
zu haben schien und in der That nöthig hatte. In wenigen
Augenblicken machte er sich selbst den Vorwurf, daß er einer
so großen Gütigkeit unwürdig sey. Er raffte sich auf, warf
sich zu ihren Füßen, umfaßte ihre Knie, versuchte es sie anzusehen,
und sank, weil er ihren Anblick nicht auszuhalten vermochte,
mit einem von Thränen überschwemmten Gesicht auf
ihren Schooß nieder. Danae konnte nun nicht zweifeln, daß
sie geliebt werde, und es kostete ihr Mühe, die Entzückung
zurückzuhalten, worein sie durch diese Gewißheit gesetzt wurde.
Aber es war nöthig, dieser allzu zärtlichen Scene ein Ende
zu machen.Agathon konnte noch nicht reden. Und was hätte er
reden sollen? — Ich bin zufrieden, Agathon, sagte sie mit
einer Stimme, welche wider ihren Willen verrieth, wie schwer
es ihr wurde ihre Thränen zurückzuhalten. — Ich bin zufrieden!
Du findest eine Freundin wieder; und ich hoffe, du
werdest sie künftig deiner Hochachtung weniger unwürdig finden
als jemals. Keine Entschuldigungen, mein Freund (denn
Agathon wollte etwas sagen das einer Entschuldigung gleich
sah, und woraus er sich, in der heftigen Bewegung worin
er war, schwerlich zu seinem Vortheile gezogen hätte)—
denn du wirst keine Vorwürfe von mir hören. Wir wollen
uns des Vergangenen nur erinnern, um das Vergnügen eines
so unverhofften Wiedersehens desto reiner zu genießen. —
Großmüthige, göttliche Danae! rief Agathon in einer Entzückung
von Dankbarkeit und Liebe. — Auch keine Beiwörter,
Agathon! (unterbrach sie ihn) keine Schwärmerei! du bist zu
sehr gerührt. Beruhige dich! Wir werden Zeit genug haben,
uns von allem Rechenschaft zu geben, was, seitdem wir uns
zum letztenmale gesehen haben, vorgegangen ist. Laß mich
das Vergnügen, dich wieder gefunden zu haben, unvermischt
genießen! Es ist das erste, das mir seit unserer Trennung
zu Theil wird.Mit diesen Worten — (und in der That hätte sie die
letztern für sich selbst behalten können, wenn es möglich wäre
immer Meister von seinem Herzen zu seyn)— stand sie auf,
näherte sich dem Kritolaus, und ließ dem mehr als jemals
bezauberten Agathon Zeit, sich in eine ruhigere Gemüthsfassung
zu setzen.Was diese zärtliche Scene für Folgen haben mußte, ist
leicht vorauszusehen. Danae und Kritolaus wurden gar bald
traute Freunde. Dieser junge Mann gestand, seine Psyche ausgenommen,
nichts Vollkommneres gesehen zu haben als Danae;
und Danae erfuhr mit vielem Vergnügen, daß Kritolaus der
Gemahl der schönen Psyche, und Psyche die wiedergefundene
Schwester Agathons sey. Sie hatte nicht viel Mühe ihre Gäste
zu bereden, ein Nachtlager in ihrem Hause anzunehmen. Sie
meldete ihrem Freunde, daß sie die Ursache seiner heimlichen
Entweichung bei ihrer Zurückkunft nach Smyrna bald entdeckt
habe. Sie verbarg ihm nicht, daß der Schmerz, ihn verloren
zu haben, sie zu dem seltsamen Entschluß gebracht, der Welt
zu entsagen; und in irgend einer entlegenen Einöde sich selbst
für die Schwachheiten und Fehltritte ihres vergangenen Lebens
zu bestrafen. Jedoch, setzte sie hinzu, hoffe sie, daß, wenn sie
einmal Gelegenheit haben würde, ihm eine ganz aufrichtige
und umständliche Erzählung der Geschichte ihres Herzens, bis
auf die Zeit, da sein Umgang ihrer Seele wie ein neues Wesen
gegeben habe, zu machen, — er Ursache finden würde, sie,
wo nicht immer zu entschuldigen, doch mehr zu bedauern als
zu verdammen.Die Furcht, den Gedanken in ihr zu veranlassen, als ob sie
durch das, was ehmals zwischen ihnen vorgegangen war, von
seiner Hochachtung verloren hätte, zwang unsern Helden eine
geraume Zeit, die Lebhaftigkeit seiner Empfindungen in seinem
Herzen zu verschließen. Danae wurde indessen mit der Familie
des Archytas bekannt, nachdem vorher zwischen Agathon
und Kritolaus verabredet worden war, das dem letztern entdeckte
vormalige Verhältniß des erstern zu dieser Dame vor
der Hand noch ein Geheimniß seyn zu lassen. Man mußte sie
lieben, sobald man sie sah; und sie gewann desto mehr, je
besser man sie kennen lernte. Es war überdieß eine von ihren
Gaben, daß sie sich sehr leicht und mit der besten Art in
alle Personen, Umstände und Lebensarten zu schicken wußte.
Wie konnte es also anders seyn, als daß sie in kurzem durch
die zärtlichste Freundschaft mit einer solchen Familie verbunden
wurde? Sogar der weise Archytas liebte ihre Gesellschaft;
und Danae machte sich ein Vergnügen daraus, einem Greise
von so seltnen Verdiensten die kleinen Beschwerden des Alters
durch die Annehmlichkeiten ihres Umgangs erleichtern zu helfen.
Aber nichts war der Zuneigung zu vergleichen, welche
Psyche und Danae einander einflößten. Niemals hat vielleicht
unter zwei Frauenzimmern, welche so geschickt waren Rivalinnen
zu seyn, eine so vollkommne Freundschaft geherrschet.Man kann sich einbilden, ob Agathon dabei verlor. Er
sah die schöne Danae alle Tage; er hatte alle Vorrechte eines
Bruders bei ihr: aber — wie sollte es möglich gewesen seyn,
daß er sich immer daran begnügt hätte?—————
Siebentes Kapitel.Vorbereitung zur Geschichte der Danae.Wenn wir alles, was im zweiten Kapitel dieses Buchs
von den Dispositionen unsers Helden in Absicht auf die schöne
Danae gesagt worden ist, mit den Wirkungen zusammen
halten, welche das unvermuthete Wiederfinden derselben, und
der tägliche Umgang, der nun wieder zwischen ihnen hergestellt
war, auf sein Herz und vermuthlich auch auf seine
Sinnen machen mußte; wenn wir überdieß erwägen, daß für
eine so gefühlvolle Seele wie die seinige, in der Muße und
Freiheit worin er zu Tarent lebte, die Liebe eine Art von
Bedürfniß war: so werden wir sehr begreiflich finden, daß
es nur von Danae abhing, alles aus ihm zu machen was
sie wollte.Dieß vorausgesetzt, werden vielleicht wenige seyn, welche
nicht erwarten sollten, daß sie ihre wieder erlangte Gewalt
dazu angewendet haben werde, einen Gemahl aus ihm zu
machen. Eine Vermuthung, welche durch viele Umstände
wahrscheinlich gemacht wird, und beinahe zur Gewißheit steigt,
wenn wir den Umstand hinzu thun, daß sie fest entschlossen
war, in einem gewissen Sinne nicht mehr Danae für ihren
Freund zu seyn.Dieser letzte Umstand läßt vermuthen, sie müsse Veranlassungen
gehabt haben, eine für unsern Helden so ungemächliche
Entschließung zu fassen; und dieß bringt natürlicher
Weise auf den Gedanken: Agathon werde Versuche gemacht
haben, die Rechte eines begünstigten Liebhabers wieder bei
ihr geltend zu machen. Gleichwohl würde ihm ein solcher
Gedanke Unrecht thun. Nicht als ob es ihm, in Augenblicken
der Schwachheit, an derjenigen Art von Regungen
des Willens gefehlt hätte, welche (nach dem Urtheil der Sittenlehrer)
mehr mechanisch als freiwillig, und von der weisen
Natur bloß dazu veranstaltet worden sind, uns vor Gefahr
zu warnen und zum Widerstand aufzufordern. Aber die Hochachtung,
die ihm das ganze Betragen seiner schönen Freundin
einflößte; die Vergütung, die er ihr schuldig zu seyn glaubte;
die Besorgniß, daß sie sogar solche Freiheiten, welche die
Vertraulichkeit der Freundschaft rechtfertigen konnte, weniger
für Ergießungen der Empfindung als für Vorboten demüthigender
Unternehmungen ansehen möchte: alles dieß gab seinem
Umgange mit ihr die ganze Schüchternheit einer ersten
Liebe. Allein eben dieß machte ihn, in Augenblicken, wo die
gegenwärtige Empfindung, durch die Erinnerungen des Vergangnen
verstärkt, ihr eigenes Herz schmelzte, nur desto gefährlicher;
und es war mehr gegen sich selbst als gegen ihn,
daß sich Danae durch Entschließungen waffnete, deren Standhaftigkeit
sie vielleicht eben so viel seiner Zurückhaltung als
ihrer Tugend zu danken hatte.Nichts ist wohl gewisser, als daß sie sich gerade so hätte
betragen müssen, wenn sie die vorhin erwähnte Absicht gehabt
hätte. Allein demungeachtet ist eben so gewiß, daß sie sich
bloß darum so betrug, weil sie diese Absicht nicht hatte, sondern,
trotz allen Bemühungen ihres Liebhabers und allen Versuchungen
ihres eigenen Herzens, fest entschlossen war, keinen
Gebrauch von seiner Schwäche zu machen.Wir haben uns vergebens Mühe gegeben, den Grund einer
so außerordentlichen Entschließung in irgend einer eigennützigen
Neigung oder Leidenschaft zu entdecken. Sie liebte den Agathon;
sie wurde wieder geliebt, mehr als jemals geliebt;
das ganze Haus des Archytas war von ihr eingenommen.
Ihre Geschichte war zu Tarent unbekannt; und wem sollte
träumen, daß sie selbst treuherzig genug habe seyn können, sie
zu erzählen? Agathon wandte alle Beredsamkeit der Liebe,
alle zärtlichen Verführungen der Sympathie, er wandte alles
an, was eine schöne Seele versuchen, und ein halb besiegtes
Herz völlig entwaffnen kann, um ihren Entschluß zu erschüttern.
Mit welcher Begeisterung schilderte er ihr die Seligkeiten
einer von der Tugend geheiligten Liebe — und einer
Liebe wie die ihrige — vor! Wie schwer ward es ihr, in
solchen Stunden, durch das Feuer womit er sprach, durch
das Entzücken das alle seine Züge schwellte, durch die Ueberwallungen
des Herzens, welche oft, mitten im Bestreben sie
zu überreden, die Worte auf seinen Lippen erstickten, und ein
Stillschweigen hervorbrachten, dessen stumme Beredsamkeit
einem mitgerührten Herzen unaussprechliche Dinge sagt —
wie schwer ward es ihr da, oder vielmehr, wie war es ihr in
solchen Augenblicken möglich, nicht überwältiget zu werden?
Was, um aller Liebesgötter willen, konnte sie bewegen zu
widerstehen; sie fähig machen auszuhalten? — "Eigensinn?"
— Gesetzt auch es wäre wahr, daß die wichtigsten Entschließungen
der Schönen oft keine andre Triebfeder hätten:
bloßer Eigensinn konnte es hier wohl nicht seyn. Gleichwohl
sehen wir uns genöthiget, entweder zu dieser verborgenen
Qualität unsre Zuflucht zu nehmen, oder zu gestehen, daß es
eine höhere Art von Liebe, daß es die Leidenschaft der Tugend
war, was sie fähig machte einen so heldenmüthigen
Widerstand zu thun. — Aber welche neue Schwierigkeiten! —
Die Tugend einer Danae! Wer kann nach den Proben, die
wir mit der Tugend einer Priesterin und einer Schülerin des
Platon gemacht haben, zu der Tugend einer Danae Vertrauen
fassen? Können wir erwarten, daß diese Leidenschaft
der Tugend, wovon wir die gelehrige Schülerin eines Hippias
begeistert zu seyn voraussehen, für etwas Besseres als für eine
Göttin aus einer Wolke von Leinewand werde angesehen
werden?Wir gestehen es, in so weit ein Vorurtheil gerecht heißen
kann, ist nichts gerechter, als das Vorurtheil, welches der
schönen Danae entgegensteht. Allein demungeachtet würde es
sehr ungerecht seyn, wenn wir sie zum Opfer eines allgemeinen
Satzes machen wollten, der unstreitig einige Ausnahmen
leidet. Eine schöne Seele, welcher die Natur die
Lineamenten der Tugend (wie Cicero es nennet) eingezeichnet
hat, begabt mit der zartesten Empfindlichkeit für das Schöne
und Gute, und mit angeborner Leichtigkeit jede gesellschaftliche
Tugend auszuüben, kann durch einen Zusammenfluß ungünstiger
Zufälle an ihrer Entwicklung gehindert, oder an ihrer
ursprünglichen Bildung verunstaltet werden. Ihre Neigungen
können eine falsche Richtung bekommen. Die Verführung, in
der einnehmenden Gestalt der Liebe, kann sich ihrer Unerfahrenheit
zur Wegweiserin aufdringen. Niedrigkeit und
Mangel können in ihr diesen edeln Stolz niederschlagen, der
so oft die letzte Brustwehr der Tugend ist. Erziehung und
Beispiele können sie über ihre wahre Bestimmung verblenden.
Die unschuldigsten, ja selbst die edelsten Regungen des Herzens,
Gefälligkeit, Dankbarkeit, Großmuth, können durch
Umstände zu Fallstricken für sie werden. Hat sie sich einmal
auf dem blumichten Pfade des Vergnügens den Liebesgöttern,
Scherzen und Freuden als Führern vertraut, wie sollte sie
gewahr werden, wohin sie der sanfte Abhang eines so lustigen
Weges fuhren kann? zumal, wenn sich die Grazien und Musen
selbst zu der fröhlichen Schaar gesellen, und der sophistische
Witz, in den Mantel der Philosophie gehüllt, Gefühle zu
Grundsätzen und die Kunst zu genießen zu Weisheit adelt?
Eine lange Reihe angenehmer Verirrungen kann die Folge des
ersten Schrittes seyn, den sie auf einem Wege gethan hat,
der ihrem bezauberten Auge der gerade Pfad zum Tempel
der Glückseligkeit schien. — Aber warum sollte sie nicht von
ihrem Jrrwege zurückkommen können? Die Umstände können
der Tugend eben sowohl beförderlich als nachtheilig seyn. Ihre
Augen können geöffnet werden. Erfahrung und Sättigung lehren
sie anders von den Gegenständen urtheilen, in deren Genuß
sie ehmals ihre Glückseligkeit setzte. Andre Begriffe zeugen
andre Gesinnungen, oder, deutlicher zu reden, richtige Begriffe
geben auch den Neigungen ihre wahre Richtung. Die
Grundzüge der Seele bleiben unveränderlich. Eine schöne
Seele kann sich verirren, kann durch Blendwerke getäuscht
werden; aber sie kann nicht aufhören eine schöne Seele zu
seyn. Laßt den magischen Nebel zerstreut werden, laßt sie
die Gottheit der Tugend kennen lernen! Dieß ist der Augenblick,
wo sie sich selbst kennen lernt; wo sie fühlt, daß Tugend
kein leerer Name, kein Geschöpf der Einbildung, keine Erfindung
des Betrugs, — daß sie die Bestimmung, die Pflicht,
die Wollust, der Ruhm, das höchste Gut eines denkenden
Wesens ist. Die Liebe zur Tugend, das Verlangen sich selbst
nach diesem göttlichen Ideal der moralischen Schönheit umzubilden,
bemächtigt sich nun aller ihrer Neigungen; es wird
zur Leidenschaft; in diesem Zustande, mehr als in irgend
einem andern, ist es, wo man sagen kann, daß die Seele
von einer Gottheit besessen ist; und welche Probe ist so schwer,
welches Opfer so groß, um zu schwer, zu groß für den Enthusiasmus
der Tugend zu seyn?Ob dieses nicht ganz eigentlich der Fall der schönen Danae
gewesen sey, darüber sollen unsre Leser selbst urtheilen, sobald
sie ihre Geschichte aus ihrem eignen Munde vernommen
haben werden. Danae fand sich in der Nothwendigkeit sie
zu erzählen, weil ihr Agathon kein andres Mittel übrig ließ,
ihre standhafte Weigerung gegen eine Verbindung, welcher
nichts im Wege zu stehen schien, vor den Augen der Familie
des Archytas und vor den seinigen zu rechtfertigen. In ihre
Wahrhaftigkeit scheinen wir nicht Ursache zu haben einigen
Zweifel zu setzen. Ihre Absicht war es wenigstens, die
Wahrheit, selbst auf Unkosten ihrer Eigenliebe, zu sagen.
Freilich ist diese Eigenliebe eine ganz vortreffliche Coloristin,
wenn wir in der Abschilderung unsers lieben Selbst auf diejenigen
Theile kommen, welche wir in den dunkelsten Schatten
zu stellen Ursache haben. Sie besitzt ganz eigene Geheimnisse,
diese Theile, wenn sie ja nicht ganz versteckt werden können,
so zu beleuchten und zu nuanciren, daß sie dem Ganzen den
möglichst kleinsten Schaden thun; ja, sie findet wohl gar
Mittel, die schönern Theile dadurch zu erheben, und uns
glauben zu machen, das Ganze gewinne durch die Fehler
selbst. Danae hätte mehr als eine Sterbliche seyn müssen,
um auch gegen die unmerklichen Drücke dieser ersten Springfeder
der menschlichen Natur immer auf der Hut zu seyn.
Aber uns däucht, man kann mit dem Grade von Glaubwürdigkeit
zufrieden seyn, der daher entspringt, wenn der
Erzähler seiner eigenen Geschichte die Wahrheit sagen will.Hören wir also immer, was sie uns von einem Gegenstande
sagen wird, von dem sie mit der vollständigsten Kenntniß
sprechen konnte, und dem sie, bei aller ihrer Aufrichtigkeit,
gewiß nicht zu viel geschehen lassen wird!—————
Vierzehntes Buch.Geheime Geschichte der Danae.Erstes Kapitel.Danae beginnt ihre geheime Geschichte zu erzählen.Wir überlassen es dem Leser selbst, sich die Scene wo die
schöne Danae ihrem Freunde die geheime Geschichte ihres
Lebens mittheilte, nach eignem Gefallen vorzustellen. Er kann
sie auf einen Sofa, oder unter eine Sommerlaube, oder unter
den Schatten einer hohen Cypresse an den Rand eines rieselnden
Baches versetzen: für die Hauptsache — Doch nein! ich
irre mich; die Scene ist bei einer solchen Erzählung (und
überhaupt bei welcher Art von Handlung es immer seyn mag)
niemals gleichgültig. Hätte Danae irgend einen geheimen
Anschlag auf die Sinnen oder auf das Herz unsers Helden
gehabt, so würde sie vermuthlich Mittel gefunden haben, es so
einzuleiten, daß sie sich zufälliger Weise entweder in einem
artigen Boudoir (denn die Griechen hatten auch ihre Boudoirs)
oder unter einer lieblich dämmernden Rosenlaube ihm gegenüber
befunden hätte. Aber da sie schlechterdings keine Nebenabsichten
hegte, so ist eine gemächliche Rasenbank, im Schatten eines
freien Baumes, unter den ehrwürdigen Augen der Natur,
— so ein Platz wie der, wo Sokrates mit dem schönen Phädrus
über das wesentliche Schöne philosophirte, — unstreitig der
schicklichste.Es war also am Abend eines schönen Sommertages; der
Himmel, heiter; nur hier und da ein leicht schwebendes Wölkchen,
von sanften Lüftchen getragen. Danae, schön und rührend
wie die Natur, deren Anblick Ruhe und allgemeines Wohlwollen
über ihre Seele verbreitete: doch milderte einige ernste
Züge diese schöne Heiterkeit; und eine sanfte Schamröthe, die
ihre reizenden Wangen überzog, indem sie die schönsten Augen,
die jemals gewesen sind, auf ihren erwartungsvollen Freund
heftete, schien den Inhalt ihrer Rede anzukündigen. Agathon,
ihr gegenüber; seine ganze in ihr Anschauen ergoss'ne Seele im
Begriff, sobald sie die Lippen öffnen würde, lauter Ohr zu
werden! — Ich wünschte Apelles oder Raphael zu seyn, um
dieses Gemälde zu malen, und dann Palet und Pinsel auf
immer an den Altar der Grazien aufzuhängen!Danae spricht — und der Gedanke an den Ton ihrer
Stimme, den ich nicht malen könnte, an den Ausdruck, der
unter dem Reden mit jedem Augenblick ihrem Gesichte Reizungen
gab, die mein Pinsel nicht schaffen könnte, dieser Gedanke
tröstet mich wieder, daß ich nicht Apelles noch Raphael bin.So schwer es mich ankommt, mein lieber Agathon (sprach
sie), dir eine ungeschmeichelte Abschilderung von meinem vergangenen
Leben zu machen: so wenig ist es doch in meiner
Gewalt, mich dieser Demüthigung zu überheben. Es war eine
Zeit, da du zu gut von mir dachtest: und damals war es mir
vielleicht zu verzeihen, daß ich den Muth nicht hatte, dich aus
einem süßen Irrthum zu ziehen, der uns beide glücklich machte.
Hippias nahm diesen Dienst über sich: aber es ist mehr als
wahrscheinlich, daß er nicht einmal den Willen hatte, mir Gerechtigkeit
zu erweisen. Und wenn er ihn auch gehabt hätte,
was würde ich dabei gewonnen haben? Er kannte nur die
Hälfte von Danae, — und war unfähig mehr von ihr zu kennen.
Deine plötzliche Flucht von Smyrna entdeckte mir alles, was er
dir gesagt haben konnte. Wie tief mußte ich in deiner Meinung
gefallen seyn! Das Bewußtseyn, es nicht zu verdienen
daß du so übel von mir dachtest; war damals nur ein schwacher
Trost! Das Schicksal hat es auf sich genommen mich an dir
zu rächen — wenn ich so sagen kann; denn ich liebe diese Vorstellung
nicht. Ohne Bedenken gesteh' ich es dir, es ist keine
Glückseligkeit für mich, wenn Agathon nicht glücklich ist. —
Seitdem wir uns so unverhofft wieder gefunden, hat mir dein
ganzes Betragen die vollkommenste Genugthuung gegeben.
Nur ein Herz wie deines ist eines so edelmüthigen Verfahrens,
einer so feinen Empfindsamkeit, eines so zärtlich abgewogenen
Gleichgewichts zwischen einer Freiheit und einer Zurückhaltung,
welche mich in gleichem Grad erniedrigt haben würden, fähig.
Von dieser Seite hast du mir nichts zu wünschen übrig gelassen.
Wollte der Himmel für die Ruhe deines Herzens und des
meinigen, daß Agathon dessen Freundschaft zu verdienen der
äußerste Wunsch meiner Eigenliebe ist — sich hätte begnügen
können, gerecht gegen seine Freundin zu seyn! Ich rufe nicht
die Götter zu Zeugen der Aufrichtigkeit dieses Wunsches an:
meine ganze Seele liegt aufgeschlossen vor dir, und keine Regung,
die mir selbst noch merklich ist, soll dir ein Geheimniß bleiben.
Mitten in dem Wunsche, daß du mich weniger lieben möchtest,
begreife ich, daß ich etwas Unmögliches wünsche, so lange du
diese Danae nicht völlig kennst, die du liebest. Ich habe wohl
überlegt, was ich zu thun im Begriff bin. Was ich selbst dadurch
verliere, ist das Wenigste. Aber ich gestehe dir's, Agathon, es
kostet mir Ueberwindung, dich aus deinem schönen Traum aufzuwecken.
Die Danae deines Herzens, und die Danae, die du
hier vor dir siehst, sind nicht eben dieselbe. Die Zerstreuung
eines Irrthums, den du liebest, kann nicht anders als schmerzhaft
seyn. Aber sie ist zu deiner Ruhe, sie ist für den Ruhm
deines künftigen Lebens nothwendig. Höre mich also, bester
Agathon!—————
Zweites Kapitel.Erste Jugend der Danae, bis zu ihrer Bekanntschaft mit dem Alcibiades.Meine Abkunft ist niedrig, und diejenigen, die mir das
Leben gaben, kannten nie was Gemächlichkeit, Ueberfluß und
Ansehen ist. Meine erste Erziehung war diesen Umständen
gemäß: die Natur mußte alles thun. Und in der That —es
wäre Undank es nicht bekennen zu wollen — sie hatte so viel
für die kleine Myris (so nannte man mich damals) gethan, daß
es vielleicht am besten war, ihr alles zu überlassen. Die kleine
Myris hatte eine Figur, von der man sich große Hoffnungen
machte; und schon damals, wenn sie unter andern Kindern
ihres Alters im Reihen hüpfte, pflegte man sie die Grazie zu
nennen: die kleine Myris hatte auch ein Herz; aber darum
bekümmerte sich niemand. Ihre Mutter war eine Flötenspielerin.
Sie mochte vielleicht den Entwurf ihres eigenen Glückes auf
die Gaben, die sich in dem jungen Mädchen entwickelten, gegründet
haben: denn ihr einziges Bemühen war, sie von ihrem
siebenten oder achten Jahre an zur Bestimmung einer dem
öffentlichen Vergnügen gewidmeten Person zu bilden. Alle
meine kleinen Fähigkeiten wurden angebaut, so gut als es die
Umstände zuließen, und so weit als meiner Mutter eigene,
vermuthlich sehr eingeschränkte, Geschicklichkeit reichte. Man
fand, daß ich in der Musik und im Tanzen den Unterricht und
das Beispiel, so sie mir geben konnte, bald überholte. Nun
bildete ich mich selbst, so gut ich konnte; denn ich fand etwas
in mir — ohne zu wissen oder mich zu bekümmern was es war
— das mich weder mit dem, was ich um mich her sah, noch mit
mir selbst und mit dem Beifall, den ich erhielt, zufrieden seyn
ließ. Die Natur hatte die Idee des Schönen in meine Seele
gezeichnet; noch sah ich sie bloß durch einen Nebel; aber auch
das Wenige, was ich davon erblickte, that seine Wirkung.Ein Umstand, der bei diesem allem zur Ehre meiner guten
Mutter gereicht, ist zu wichtig, als daß ich ihn vorbeigehen
könnte. Wenn sie, wie ich schon bemerkte, nichts that, um
mein Herz zu bilden, so that sie doch auch wenig oder nichts,
um es zu verderben. Sie schien (so viel ich mich ihrer erinnern
kann) über diesen Punkt ohne alle Sorgen. Die ihrigen gingen
bloß auf die körperliche Hälfte meiner Person; auf die Erhaltung
meiner feinen Haut und schönen Gesichtsfarbe, auf die
Entwicklung aller der Reizungen, die sie an mir zu sehen glaubte,
und in welche sie um so viel verliebter war, je weniger sie selbst
jemals Ansprüche von dieser Seite zu machen gehabt hatte.
Sie that sich viel auf eine Menge kleiner kosmetischer Geheimnisse
zu gut, in deren ausschließendem Besitz sie zu seyn versicherte;
und ich bin gewiß, daß die junge Myris die nachmals
so sehr gepriesene Schönheit ihrer Hand und ihres Fußes, und
das was man die Eleganz ihrer Leibesgestalt nannte, der außerordentlichen
Sorgfalt der guten Frau zu danken hatte.Unter den Hausgöttern, an welche sie mich meine Andacht
richten lehrte, war eine Venus, die von den Grazien geschmückt
wird, der vornehmste Gegenstand ihrer eigenen. Sie bat diese
Göttinnen für ihre Tochter um Schönheit und um die Gabe
zu gefallen. Nach ihrer Meinung war das Beste, was sie mir
von den Unsterblichen erbitten konnte, in diese beiden Eigenschaften
eingeschlossen; wenigstens that sie alles was sie konnte,
um diese Meinung in mir zu erwecken.Diese Venus und diese Grazien, die ich alle Morgen mit
frischen Rosen oder Myrtenzweigen bekränzen mußte, waren
das Werk eines sehr mittelmäßigen Bildschnitzers, und nichts
weniger als geschickt, die Idee göttlicher Vollkommenheit in
einer jungen Seele zu entzünden. Diese Betrachtung entstand
oft in der jungen Myris, wenn sie sich selbst mit diesen Bildern
verglich, und war allemal von dem Wunsche begleitet, die Göttin
der Schönheit und ihre Gespielen in ihrer wahren Gestalt zu
sehen. Diesem Wunsche folgten oft Bestrebungen der Einbildungskraft,
ein ihrer würdigeres Bild in sich selbst zu erschaffen;
und diese Bestrebungen schienen zuweilen von den
Göttinnen begünstiget zu werden. Ein Zufall machte ihr einst
aus dem Munde eines Sängers von Theben Pindars erhabnen
Gesang auf die Grazien bekannt. Ein himmlischer Lichtstrahl
schien ihr, da sie ihn hörte, in ihre Seele zu fallen. Ihr war
als würde ein dichter Schleier vor ihren Augen weggezogen,
und nun sah sie "diese Grazien, von welchen alles Angenehme
und Liebliche zu den Sterblichen ausgießt; unter deren Einfluß
der Weise, der Tugendhafte, der Held und der Liebhaber
des Schönen sich bildet; diese himmlischen Grazien, ohne welche
die Götter selbst keine Freuden kennen, und durch deren Hände
alles geht was im Himmel geschieht; sie, die, neben dem
Pythischen Apollo thronend, nie aufhören die unvergängliche
Majestät des Olympischen Vaters anzubeten." Von diesem
Augenblick an blieb das göttliche Bild meiner Seele eingedrückt.
Ich konnte mir selbst nicht entwickeln, was ich dabei fühlte;
aber ich schwor den Grazien einen heiligen Schwur, sie in
allem meinem Thun zu meinen Führerinnen zu erwählen.
Wie du siehest, Agathon, hatte die junge Myris einen feinen
Ansatz zu eben dieser schönen Schwärmerei, welche in den Hallen
und Lorberhainen von Delphi deiner Seele die erste Bildung
gab. Die Umstände machten den ganzen Unterschied. Zu
Delphi erzogen, würde sie eine Psyche geworden seyn.Ich hatte nun ungefähr dreizehn Jahre, als meine Mutter
sich entschloß, mich zu einer alten Vatersschwester nach Athen
zu bringen, dem einzigen Ort in der Welt, wo, ihrer Meinung
nach, Talente, Jugend und Schönheit die Ungerechtigkeiten
des Glucks verbessern konnten. Dort hoffte sie die Früchte
einer Erziehung einzuernten, durch welche sie sich das größte
Verdienst um mich gemacht zu haben glaubte. Aber das
Schicksal gönnte ihr diese Freude nicht. Sie starb, und ich
ging nun in den Schutz eines Bruders über, der, um sich der
Sorge für mich zu entledigen, nichts Angelegner's hatte, als
den Wunsch unsrer sterbenden Mutter in Ansehung meiner zu
erfüllen.Ich kam also nach Athen, das nun den Namen der
Hauptstadt von Griechenland behaupten konnte, nachdem es
von Perikles zum Sitze der Musen und der Künste erhoben
worden war. Die Anverwandte, zu der man mich brachte,
schien über das Vermächtniß, das ihr meine Mutter in meiner
kleinen Person gemacht hatte, sehr erfreut zu seyn. Sie baute
die nämlichen Hoffnungen auf meine Gaben, und gab sich alle
mögliche Mühe, mich zu unterrichten, wie ich's anfangen musse,
um sie zu meinem Glücke anzuwenden. Witz und eine gewisse
Feinheit der Sitten, des Geschmacks und der Sprache sind in
Athen sogar den niedrigsten Classen des Volkes eigen. Meine
neue Pflegemutter, wiewohl sie nur eine Kräuterhändlerin war,
gab mir Lehren, welche einer in den Geheimnissen der schlauesten
Koketterie eingeweihten Schülerin der Aspasia nicht unwürdig gewesen
wären. Aber ein mir selbst unbekanntes innerliches Widerstreben
machte mich ungelehrig fur ihren Unterricht. Mein
Herz schien mir zu sagen, daß ich für einen edlern Zweck gemacht
sey; aber wenn ich es weiter fragte, verstummte es.
Die Profession einer Tänzerin, welche ich zu treiben genöthigt
war, wurde mir verhaßt, so sehr ich die Kunst an sich selbst
liebte; allein dieser Widerwille nahm unvermerkt ab, je mehr
der Anblick so vieler mir ganz neuer Gegenstände, und die
unmerkliche Ansteckung mit dem Geiste des Leichtsinns und der
Ueppigkeit, der das Volk zu Athen beherrschte, ihren Einfluß
auf mich äußerten. Die Unschuld, die ich aus meiner armen
väterlichen Hütte mitgebracht hatte, lief nun immer größere
Gefahr, so wie die Unwissenheit sich verlor, von der sie ihre
Sicherheit zog. Eine schöne Wohnung, ein prächtiger Putz,
ein glänzendes Gefolge, eine niedliche Tafel, Gemälde, Bildsäulen,
Persische Tapeten und Ruhebetten, und tausend andre
Bedürfnisse der Gemächlichkeit und der Wollust, fingen an
Reiz für meine Einbildungskraft zu bekommen, und mir ihre
Entbehrung zur Qual zu machen; und nun gab es Augenblicke,
wo das Verlangen nach einer in meinem Wahne so beneidenswerthen
Glückseligleit mich zu allem bereitwillig zu machen
schien, was ein Mittel dazu werden konnte.Die alte Krobyle war, zu meinem Unglück, die Person
nicht, die mich richtiger denken lehren konnte. Ihre eigenen
Begriffe von Glückseligkeit erstreckten sich nicht über den Kreis
der gröbern Sinnlichkeit, und sie ließ sich gar nicht einfallen,
daß, außer der Armuth und Dürftigkeit, etwas schändlich sey.
Sie unterhielt mich also in einem Taumel, von dem sie selbst
große Vortheile zu ziehen hoffte. Der gute Erfolg meiner
ersten Versuche in der pantomimischen Tanzkunst machte unsre
beiderseitige Bethörung vollkommen. Das gedankenlose Mädchen
sog mit wollüstigen Zügen das Vergnügen eines Beifalls
ein, der sie hätte demüthigen sollen; und die geldgierige Alte
berechnete Tag und Nacht die Schätze, die sie mit meiner Gestalt
und mit meinem Talent gewinnen könnte. Ungewohnt
sich jemals im Besitz einer größern Summe als einer Hand voll
Obolen zu sehen, verwandelte sich beim Anblick eben so vieler
Drachmen alles um sie her in Gold und Silber. Unsre Lebensart
wurde sofort nach unsern Hoffnungen eingerichtet.Aber ein kleiner Zufall, den, so gewöhnlich er auch war,
die äußerste Unerfahrenheit der jungen Myris sie nicht hatte
voraussehen lassen, warf sie gar bald wieder so weit als jemals
von dem Ziele ihrer Wünsche zurück. Sie liebte zwar die Freude,
und mochte gern gefallen und bewundert werden, aber wollte
sich von der vornehmen Jugend in den Häusern, wohin sie
ihre Kunst auszuüben berufen wurde, nicht so begegnen lassen,
wie man jungen Nymphen von ihrem Range zu begegnen
pflegt. Ein gewisser Stolz empörte sich in ihrem kleinen Herzen,
der allen unbesonnenen Wünschen ihrer jugendlichen Eitelkeit
das Gegengewicht hielt. Die Jünglinge aus dem Stamme
der Theseen und Alkmäonen fanden lächerlich, daß eine kleine
Tänzerin sich durch ihre Lebhaftigkeiten beleidiget finden sollte;
und die kleine Tänzerin fühlte eine Seele in sich erwachen, die
den Gedanken, diesen Heldensöhnen zum Spielwerk zu dienen,
unerträglich fand.Die wirthschaftliche Krobyle wollte über eine so unzeitige
Spitzfindigkeit von Sinnen kommen; aber Myris dachte an
das Gelübde, das sie den Grazien geschworen hatte, und blieb
unbeweglich. Nicht als ob sie nicht bereits zu fühlen angefangen
hätte, daß ihr Herz seine eigenen Bedürfnisse habe: die
kleinen halb verschwiegenen Geständnisse, die es ihr that, gaben
ihr immer mehr Licht über diesen Punkt. Sie fühlte Fähigkeiten
in sich, welche entwickelt zu werden strebten, und einen
Schatz von Zärtlichkeit, womit sie nichts anzufangen wußte.
Ihre Seele verlor sich in den Träumen einer angenehmen
Schwermuth; sie gab ihren Wünschen Gestalten, und versuchte,
sich Gegenstände in sich selbst zu bilden, in deren
Anschauen sie ein Vergnügen fände, das die verhaßten Eindrücke
derjenigen, wovon sie sich umgeben sah, auslöschen
möchte. Aber alle diese Bestrebungen dienten nur dazu, ihr
das Gefühl ihres gegenwärtigen Zustandes unerträglich zu
machen. Ihre Umstände paßten nicht zu ihren Gesinnungen;
sie stellten sie in ein falsches Licht; alles was die Göttin der
Schönheit und die Grazien für sie gethan hatten, verlor seinen
Werth dadurch; und wie konnte sie hoffen, daß Amor den
Verlust ersetzen würde? Wie konnte ein Geschöpf, das seinen
Unterhalt damit verdienen mußte, die Reichen zu Athen bei
ihren Gastmählern durch üppige Tänze zu vergnügen, sich träumen
lassen, jemals der Gegenstand einer zärtlichen Leidenschaft
zu werden? Die arme Myris ermüdete sich vergebens mit
Nachsinnen, wie sie es anfangen könnte, ihrem Schicksal, dessen
Schwere sie täglich schmerzlicher fühlte, eine andre Gestalt zu
geben: indessen bestärkte sie sich doch in dem Entschlusse, nicht
mehr bei den Gastmählern der Athener zu tanzen.Die alte Krobyle, die ihre Rechnung gar nicht dabei fand,
erschöpfte ihre ganze Beredsamkeit, sie auf andre Gedanken zu
bringen; und da das eigensinnige Mädchen unbeweglich blieb,
erklärte sie ihr endlich mit dürren Worten, daß sie entweder
gefälliger seyn, oder selbst für ihren Unterhalt sorgen müßte.
Die Unglückliche hatte, da es Ernst wurde, nicht Muth genug
sich zum Spinnrocken zu entschließen. Sie bequemte sich also
endlich, wiewohl mit Widerwillen, dem Antrage des Malers
Aglaophon Gehör zu geben, dem sie zum Modell für den
Alcibiades bestellten Hebe dienen sollte.Der Maler schien mit seinem Modell außerordentlich zufrieden
zu seyn. Ich weiß nicht wie er es machte, aber seine
Hebe wurde so schön, daß die junge Myris in Gefahr kam,
gleich dem Narcissus der Dichter, in ihr eigenes Ebenbild verliebt
zu werden.Alcibiades gerieth (wie er ihr in der Folge glauben machen
wollte) beim Anblick dieses Gemäldes außer sich. Er wollte wissen,
wer die Sterbliche sey, die dem Maler die Grundzüge zu einem
so schönen Ideal geliehen habe. Aglaophon versicherte, daß es
ein bloßes Geschöpf seiner Einbildungskraft sey. In der That
hatte er eine besondere Absicht bei diesem Vorgeben, denn es
war ihm mit seiner Hebe ergangen, wie dem Pygmalion mit
seiner Bildsäule; und wiewohl die Statue, für die er brannte,
schon beseelt war, so fand er dennoch, daß es ihm vielleicht
nicht weniger Mühe kosten würde, sie für ihn zu beseelen;
und um so viel weniger war er geneigt, sie den Augen eines
Alcibiades auszusetzen.Inzwischen bestellte dieser eine Danae bei ihm, welche das
Seitenstück der Hebe werden sollte, und Myris mußte sich
abermal gefallen lassen, das Urbild dazu abzugeben. Ihre
durch den glücklichen Erfolg des ersten Versuchs gereizte Eitelkeit —
eine jugendliche Thorheit, die ich nicht damit entschuldigen
will, daß sie in ihren Umständen natürlich war —
half ihr über die Bedenklichkeiten weg, die sie dabei zu überwinden
hatte. Auch war sie noch weit entfernt, die ganze
Stärke der Rolle, die sie übernahm, zu kennen. Gegen den
Künstler, dessen Augen verdächtig zu werden anfingen, schützte
sie die Gegenwart der alten Krobyle, welche so ziemlich die
Miene eines Drachen hatte, der zum Hüter eines bezauberten
Schatzes bestellt ist; und überdieß hatte Aglaophon schwören
müssen, so lange die Versuchung dauern würde, lauter Auge
zu seyn. Demungeachtet setzte es einen großen Streit ab, da
die neue Danae sich zu einem Wurf des Gewandes bequemen
sollte, der dem Maler einen zu großen Vortheil über sie einzuräumen
schien. Aglaophon führte zu seinem Behuf an, daß
er für den Alcibiades malen müsse; für einen Kenner, der
ihm nicht verzeihen würde, wenn er die Vollkommenheit seines
Stücks Bedenklichkeiten aufopfern wollte, die er sich die Freiheit
nahm übertrieben zu finden. Die Alte, die des Preises
halben bereits mit ihm überein gekommen, und wenig geneigt
war, der seinem Denkungsart ihrer Untergebenen zu schonen,
unterstützte ihn mit ihrem ganzen Ansehen. Gleichwohl würde
vielleicht alles dieß nicht hinreichend gewesen seyn, wenn nicht
ein Gedanke, der aus dem eigenen Busen der jungen Myris
aufstieg, ihren Eigensinn überwältigt hätte. Die kindische
Thörin besorgte, der Künstler — denn für sie war Aglaophon
sonst nichts — möchte ihre Weigerung einem Mißtrauen in
sich selbst beimessen, dessen sie sich nicht schuldig wußte. Sie
überredete sich, daß es undankbar wäre, der Natur nicht Ehre
machen zu wollen, und willigte also endlich ein, weil sie doch
einmal Danae seyn sollte, es ganz zu seyn. Gleichwohl behauptete
Alcibiades (der ohne des Malers Vorwissen einen verstohlnen
Zuschauer bei dieser Scene abgab), daß sie mehr einer
Grazie die mit einem Amor spielt, als derjenigen, welche sie
hätte vorstellen sollen, gleich gesehen habe.Dieser von der Raserei der Sinnlichkeit und der Ruhmsucht
in gleichem Grade beherrschte junge Mann hatte sich bei
seinem Maler ein kleines Cabinet bloß zu dem Ende verfertigen
lassen, um, so oft es ihm einfiel, die Modelle desselben
heimlich in Augenschein zu nehmen, und sich darunter was
ihm beliebte auszulesen. Eben darum hatte Aglaophon vorgegeben,
daß er seine Hebe ohne Modell verfertigt habe. Aber
Alcibiades war ein zu feiner Kenner um sich hintergehen zu
lassen. Er glaubte in dieser Hebe Reize zu sehen, welche man
nur von der Natur abstehlen könne; und bloß, um sich seine
Vermuthungen wahr zu machen, bestellte er eine Danae. Der
Eindruck, den das Modell derselben auf ihn machte, war zu
stark, als daß ein verzärtelter Günstling der Natur und des
Glücks, der nicht wußte was das wäre eine Begierde aufzuopfern,
sich durch irgend eine Bedenklichkeit hätte zurückhalten
lassen sollen, sichtbar zu werden, und den bestürzten Maler
mitten in seinen Beschauungen zu unterbrechen. — "Du kannst
deine Pinsel nur auswaschen, Freund Aglaophon, sagte er zu
ihm; deine Danae — würde zwar etwas sehr Schönes, aber
doch — keine Danae werden. Ueberlaß mir die Sorge, das
reizende Modell erst dazu zu bilden! Sobald es Zeit seyn wird,
will ich dich rufen lassen; dann sollst du malen! wenn du anders
bei ihrem Anblick fähig bleiben wirst, einen Pinsel in der
Hand zu halten."Die Verwirrung der jungen Myris bei einer so unerwarteten
Erscheinung würde noch schwerer zu malen seyn als
das, was Alcibiades zu einer vollkommnen Danae an ihr vermißte.
Sie selbst hätte sich, in den ersten Augenblicken, von
dem Tumult von Regungen, der ihr Herz bestürmte, keine
Rechenschaft geben können. Aber endlich drang das Gefühl
des Uebermuths in dem Betragen des jungen Herrn mit ihrer
eigenen Erniedrigung allen andern vor, und das gekränkte
Mädchen brach in Thränen aus. Alcibiades war nicht zärtlich
genug, davon gerührt zu werden, aber zu höflich, um sie
nicht durch eine plötzliche Aenderung seines Bezeigens wieder
zu beruhigen. Niemals besaß ein Sterblicher eine größere
Leichtigkeit von einem Ton in einen andern überzugehen, und,
ohne sich darauf vorbereitet zu haben, die widersprechendsten
Rollen zu spielen. Er entschuldigte seine Dazwischenkunft mit
einer so feinen Art, sagte der kleinen Myris so verbindliche
Sachen, und sagte sie mit einem so gutherzigen Ton und offnen
Gesicht, daß es ihr unmöglich war ungehalten auf ihn zu
bleiben. Was sie am meisten mit ihm aussöhnte, war, daß
er ihr nun mit einer Achtung begegnete, welche kaum größer
hätte seyn können, wenn sie ihm an Stande gleich gewesen
wäre. Von einem Manne, der an Adel der Geburt und persönlichen
Eigenschaften in Griechenland nichts über sich sah,
den seine Reichthümer in den Stand setzten den Aufwand eines
Fürsten zu machen, und dem das von ihm bezauberte Athen,
ohne es selbst recht zu merken, die Vorrechte eines unumschränkten
Gebieters einräumte, war ein solches Bezeigen
wirklich mehr, als die Eitelkeit eines jungen Geschöpfes, wie
die arme Myris war, ertragen konnte. Sie vergab ihm nicht
nur bei sich selbst; das unerfahrne Mädchen sah ihn sogar mit
Blicken an, welche, wiewohl sie nur Dankbarkeit ausbrücken
sollten, Feuer genug hatten, um von dem zuversichtlichsten
Manne der je gewesen ist für etwas noch Schmeichelhafteres
aufgenommen zu werden. Sie verdient Aspasien bekannt zu
werden, sagte er, indem er sich mit einer ihm eigenen reizenden
Lebhaftigkeit zu Aglaophon und Krobyle wandte. Aber —
Myris nennt sie sich, sagt ihr? Welch ein Name für so viel
Reizungen! Von nun an soll sie Danae heißen! Noch diesen
Abend soll Aspasia ihre neue Freundin unter diesem Namen
kennen lernen! — Ein Wort, gute Mutter! — Und nun
nahm er die Alte auf die Seite, sprach mit ihr, drückte ihr
vertraulich die Hand, flog zurück, küßte die meinige, und
verschwand.—————
Alcibiades macht seine junge Geliebte mit Aspasien bekannt.Ich bin, wie du siehest, auf den Zeitpunkt meiner Geschichte
gekommen, der für mein ganzes übriges Leben entscheidend
gewesen ist, und ich halte mich um so mehr verbunden,
dir genauere Rechenschaft davon zu thun, da es mir (ungeachtet
mich dieses Geständniß deiner Liebe unwürdig macht)
noch immer unmöglich ist, an diesen Alcibiades, durch den ich
Danae wurde, ohne Vergnügen zu denken. Erwarte nicht daß
ich mich rechtfertigen werde, bester Agathon! Ich würde es
versuchen, wenn ich eine andre Absicht haben könnte, als dich
zu überführen, daß Danae die Ehre, die du ihr zugedacht
hast, nicht annehmen kann. Ihr ist genug, wenn sie nicht
unwürdig ist eine Freundin Agathons zu seyn. Aber sie ist zu
stolz, auch diese Ehre durch Entschuldigungen erschleichen zu
wollen, und die bloße Erzählung ihrer Geschichte ist die ganze
Apologie, die sie jemals für ihre Schwachheiten machen wird.Nach allen den Geständnissen, die ich dir über meine Herkunft,
Erziehung und übrigen Umstände gethan habe, wirst du
es, denke ich, sehr begreiflich finden, daß ein Mann wie Alcibiades
einen außerordentlichen Eindruck auf ein so unerfahrnes,
rohes, vernachlässigtes Geschöpf, wie ich war, machen mußte.
Es würde mir damals schwer gefallen seyn, zu sagen, ob
meine Sinne, mein Herz oder meine Einbildung am meisten
eingenommen waren. Itzt, da ich mit mehr Kenntniß des
Herzens und mit kälterm Blut in die Abenteuer meiner Jugend
zurücksehe, glaube ich ziemlich zuverlässig sagen zu können,
daß Sinne und Einbildung den meisten Antheil an dem Irrthum
meines Herzens hatten.Ich habe in meinem Leben nur Einen Mann gesehen,
der ihm den Vorzug der Gestalt, des Anstandes und der
männlichen Grazie hätte streitig machen können. Die Gaben
seines Geistes waren eben so glänzend als seine Außenseite.
Nichts war lebhafter als sein Witz, nichts überredender als
seine Beredsamkeit, nichts einschmeichelnder als sein Umgang.
Alle Herzen flogen ihm entgegen. Unwiderstehlich wenn er
gefallen wollte, tapfer wie ein Theseus, freigebig als ob er
Königreiche zu verschenken hätte, stolz wie ein Halbgott, in
allem was er that von den übrigen Menschen unterschieden
und über sie erhaben, und (was ihn am gefährlicheren machte)
selbst in seinen Lastern liebenswürdig, riß er durch eine Art
von Uebermacht, deren er sich nur gar zu wohl bewußt war,
alles mit sich fort. Er wußte nicht was Widerstand war, denn
er hatte nie einen erfahren; und der Uebermuth, den ihm dieser
Umstand gab, half nicht wenig dazu, seine Siege zu beschleunigen
und glänzender zu machen. Zum Unglück für eine jede,
die in seinen Wirbel gezogen wurde, war dieser Maun, der so
viel Liebe einflößte, selbst unfähig Liebe zu empfinden. Er
spielte nur mit den Herzen, die er von allen Seiten an sich
zog; und nie hat ein Mann, mit feurigern Sinnen und einer
größern Gabe sich selbst und (wenn er wollte) auch andre über
diesen Punkt zu täuschen, eine der Zärtlichkeit unfähigere Seele
gehabt. Fiel ihm irgend ein neues Gesicht, oder eine Figur,
die seine Phantasie reizte, in die Augen, so hätte die ganze
Welt glauben müssen, Amor mit allen seinen Flammen sey in
seinen Busen gefahren. Er glaubte es zuweilen selbst. Aber
der Irrthum dauerte nur so lange, als er noch etwas zu wünschen
hatte. Von dem Augenblick an, da das Räthsel aufgelöst
und seiner Einbildung nichts mehr zu rathen übrig war, verschwand
die Bezauberung; und der Verräther hatte nicht einmal
die Geduld, von seinen Schauspielergaben Gebrauch zu machen,
und das arme betrogene Geschöpf durch verstellte Zärtlichkeit
in seinem süßen Irrthum zu unterhalten.So war der Mann beschaffen, den mein Schicksal in meinen
Weg brachte, um mich aus Umständen, die so wenig mit dem,
wozu mich die Natur gemacht hatte, zusammen stimmten, in
einen Kreis zu versetzen, wo ich vielleicht mehr, als ich jetzt
wünschen sollte, geglänzt habe; aber durch den ich doch, wie
mich däucht, nothwendig gehen mußte, um das werden zu
können was ich bin.Die alte Krobyle fand nicht für gut, ihrer Pflegetochter
zu entdecken, wie theuer sie dem Alcibiades ihre anmaßlichen
Rechte über sie verhandelt habe. Sie sagte ihr von dem ganzen
Vertrage nichts, als daß sie sich anschicken sollte, noch diesen
Abend vor Aspasien zu erscheinen.Das außerordentliche Ansehen, worin diese Dame lebte,
welche durch den Tod des Perikles wenig oder nichts von ihrem
Einfluß über Athen verloren hatte, machte die junge Danae
vor dem bloßen Gedanken eines solchen Besuchs zittern. Indessen
wurde doch jeder Augenblick dazu angewandt, ihre
kleine Person in ein Licht zu setzen, welches ihr den ersten
Blick einer so berühmten Kennerin des Schönen günstig machen
möchte. Beinahe bin ich versucht zu sagen, sie hatte, wie
Sokrates, eine Art von Genius, der ihr bei solchen Gelegenheiten
sagte, was sie nicht thun sollte. Krobyle, welcher die
Casse des Alcibiades zu Dienste stand, war der Meinung, ihre
Reizungen müßten durch einen schimmernden Putz der Aufmerksamkeit
einer so großen Dame, wie Aspasia wäre, empfohlen
werden. Aber Danae verstand ihren Vortheil besser.
Nichts konnte einfacher und ungekünstelter seyn als ihr Kopfputz
und ganzer Anzug; aber anziehender hätte er nicht seyn können,
wenn die Grazien selbst ihre Aufwärterinnen gewesen
wären.Niemals in meinem Leben schlug mir das Herz, wie in
dem Augenblicke, da ich von einer lieblichen jungen Sklavin,
durch Gemächer, die den Aufenthalt einer Königin ankündigten,
in das Zimmer der Aspasia geführt wurde. Verblendet von
dem Glanze, der meinem schüchternen Blick allenthalben entgegen
schimmerte, glaubte ich, da ich es endlich wagte, die Augen
zu ihr zu erheben, daß ich eine Göttin vor mir sehe. Sie saß
auf einem Persischen Ruhebette, und schien sich mit beobachtendem
Blick an meiner Verwirrung zu ergötzen. Aber sie hatte
in einer Gesichtsbildung, die ausdrücklich für die Majestät ihrer
Figur gemacht war, etwas so unwiderstehlich Reizendes, und
dieser forschende Blick war durch ein so einnehmendes Lächeln
gemildert, daß es unmöglich war, sie ohne Liebe anzusehen.
Was in diesen Augenblicken in meiner Seele vorging, ist wirklich
über alle Beschreibung. Ich fühlte ein neues Wesen, eine
andere vollkommnere Art von Daseyn, gleich der Versetzung
in die Wohnung der Götter, oder in Elysium. Meine durch
das Anschauen eines Gegenstandes, der alle Träume meiner
Phantasie auslöschte, befriedigte Seele schwamm in einem
Aether von Liebe und Wonne. Ich warf mich zu ihren Füßen,
und hob Augen zu ihr auf, in welchen, wie ich glaube, alles
was ich fühlte ausgedrückt war, Augen, die von Thränen der
süßesten Empfindlichkeit glänzten.Aspasia fuhr noch etliche Augenblicke fort, der sympathetischen
Wollust, die ihr mein Entzücken mittheilte, zu genießen;
aber endlich warf sie ihre schönen Arme um meinen Leib, hob
mich zu sich auf, drückte mich an ihren Busen, und sagte:
liebenswürdiges Machen, diese Empfindlichkeit hat dir in
Aspasien eine Freundin mit der ganzen Zärtlichkeit einer Mutter
gewonnen.Was ich ihr antwortete, erräth Agathon. Keine Worte
—ich hatte keine; und Worte würden auch nicht ausgedrückt
haben, was ich empfand —aber sie war mit mir zufrieden. Und
nun mußte ich mich neben sie auf das Ruhebette setzen.Welch eine Veränderung in meinem Zustande hatten diese
wenigen Minuten hervorgebracht! Wie hätte die Tochter einer
armen Flötenspielerin von Chios, die Pflegetochter der alten
Krobyle, die vor kurzem noch genöthigt war dem Maler
Aglaophon die Dienste einer beweglichen Statue zu thun, sich
träumen lassen dürfen, in wenigen Stunden an Aspasiens
Seite zu sitzen, und mit den zärtlichsten Liebkosungen von ihr
überhäuft zu werden? Aber wie unglücklich würde sie sich auch
gefühlt haben, hätte sie nach einem so wonnevollen Zustande
wieder in die Hütte der alten Krobyle zurückkehren, und sich
selbst sagen müssen, daß alles nur ein entzückender Traum
gewesen sey! Dieß nur zu denken hätte die glückliche Danae
auf einmal aus dem Sitze der Götter in den Tartarus herabgestürzt.
Aber ihre ganze Seele war von dem gegenwärtigen
Anblicke verschlungen; sie konnte jetzt an nichts Künftiges
denken.Die großmüthige Aspasia vermied alles, was das arme
Mädchen aus ihrer angenehmen Bezauberung hätte erwecken
können. Sie fragte nicht nach ihren vorigen Umständen, und
ließ ihr auch nicht merken, daß sie davon unterrichtet sey.
Sie sprach nicht einmal von ihren Talenten; und um sogar
der Besorgniß, daß ihr Glück nur von kurzer Dauer sein möchte,
zuvorzukommen, stand sie nach einer kleinen Weile auf, und
führte mich in ein sehr schönes Gemach, wovon das Cabinet
unmittelbar an ihr eignes Schlafzimmer stieß. Dieß, meine
liebste Danae, sagte sie, ist dein eignes Zimmer, und wird es
so lange seyn, als es dir gefällt, und als dir Aspasia lieb
genug bleiben wird, um sie nicht ohne Schmerz verlassen zu
können. — So werd' ich es ewig bewohnen, rief die entzückte
Danae.—————
Charakter des Alcibiades, von Aspasien geschildert. Wie die junge
Danae in Aspasiens Hause erzogen wird.Bald darauf kam Alcibiades. Er that nicht als ob er
mich kennte, und ersparte mir dadurch die Fortdauer der Verlegenheit
und des Erröthens, worein mich seine Erscheinung
setzte. Sein Bezeigen gegen mich war zurückhaltend und voll
von dieser ungezwungenen Urbanität, die den Athener von
den übrigen Griechen eben so sehr unterscheidet, als die Griechen
überhaupt allen andern Völkern an Witz und Lebensart vorgehen.
Die Unterredung zwischen ihm und Aspasien war lebhaft,
und so neu für mich, daß ich lauter Ohr und Auge war.
Er sprach von Staatssachen und Liebeshändeln mit dem gleichen
muntern Ton, und mit dem Leichtsinne, dessen verführerischer
Reiz ihn für die Ruhe seines Vaterlandes eben so gefährlich
machte als für die Ruhe der weiblichen Herzen. Nach einiger
Zeit stand er auf, entschuldigte sich, daß er den Abend nicht
mit ihr zubringen könnte, und gab zur Ursache davon eine
Lustbarkeit vor, die zwischen ihm und einigen jungen Herren
von seiner Bekanntschaft angestellt sey. Die schöne Spartanerin
wird dabei seyn, setzte er hinzu, indem er einen beobachtenden
Seitenblick auf mich warf; und so verschwand er.Der leichtsinnigste, witzigste, verwegenste, aber liebenswürdigste
Bösewicht, auf den je die Sonne geschienen hat! —
sagte Aspasia, nachdem er fortgegangen war. Ich weiß keine
Tugend, keine Vollkommenheit, wovon er nicht entweder den
Schein oder die Wirklichkeit besäße; aber er allein hat das
Mittel gefunden, mit allem, was einen Mann schätzbar und
liebenswürdig macht, alle Laster, deren die menschliche Natur
fähig ist, zu verbinden. Perikles, dessen Pflegesohn er war,
hat in seinem ganzen Leben nichts Tadelnswürdiger's gethan,
als daß er durch zu viel Nachsicht diesen verzärtelten Menschen aus
ihm gemacht hat, der er nun ist. Doch das ganze Athen, der
weise Sokrates selbst machte es nicht besser. Von seiner Kindheit
an wurde er angewöhnt, der allgemeine Liebling aller Welt
zu seyn. Alles was er that gefiel, seine Unarten waren angenehme
Lebhaftigkeiten, seine Wildheit das Feuer einer Heldenseele,
seine muthwilligsten Ausschweifungen witzige Einfälle
und Ergießungen eines fröhlichen, nichts Arges denkenden
Herzens. Immer hatte er das Glück, oder vielmehr das
Unglück, daß man seine Untugenden, um der schönen Form
willen, die er ihnen zu geben wußte, entschuldigte, oder gar
für Verdienste gelten ließ. Er übte seine Leichtfertigkeiten
mit einer so guten Art aus, gab seinen Lastern eine so angenehme
Wendung, eine so eigene Grazie, daß man ihn auch
da, wo er Tadel und Bestrafung verdiente, immer liebenswürdig
fand. Dinge, die man einem andern nie vergeben hätte,
wurden an ihm bewundert, oder wenigstens dadurch, daß
man bloß darüber lachte, gebilliget und aufgemuntert. Nun,
da es zu spät ist, fangen die Athener an gewahr zu werden,
daß sie übel daran gethan haben. Aber sein Genius überwältigt
sie auch wider ihre bessere Ueberzeugung, und die
Bezauberung wird nicht eher völlig aufhören, als wenn er
sie zu Grunde gerichtet haben wird. Es geht ihnen nicht
besser mit ihm, als unsern Schönen. Seine Unbeständigkeit,
seine Treulosigkeit, sein Uebermuth gegen unser Geschlecht,
sind weltkundig. Tausend warnende Beispiele sollten uns klug
gemacht haben. Aber alles ist umsonst. Eine jede, die es noch
nicht erfahren hat, eilt was sie eilen kann, die Zahl der Betrogenen
zu vermehren. Jede schmeichelt sich, reizender, oder
geschickter, oder wenigstens glücklicher zu seyn als ihre Vorgängerinnen.
Man thut alles ihn zu gewinnen, alles ihn zu
erhalten; er wird mit der pünktlichsten Treue geliebt; kein
Opfer, das er fordern kann, ist zu groß; man glaubt nie zu
viel für ihn thun zu können; man verblendet sich über seine
Untreue; und zuletzt, wenn man nicht mehr daran zweifeln
kann, tröstet man sich wenigstens mit dem süßen Gedanken,
daß man doch einmal von Alcibiades geliebt worden sey, und
jede schmeichelt sich, es mehr gewesen zu seyn als die übrigen.
Ich habe es für nöthig gehalten, Danae (fuhr sie fort), dir
den gefährlichen Menschen in seiner wahren Gestalt zu zeigen;
denn du wirst ihn täglich in meinem Hanse sehen. Ich selbst
erfahre das allgemeine Loos: ich liebe ihn; wiewohl die Zeit.
da er mir gefährlich war, schon lange vorüber ist. Die deinige,
meine liebe Danae, wird noch kommen. Ich mußte dich warnen,
weil ich dich liebe. Aber nun überlass' ich dich deinem
Herzen. Alles was ich um dich zu verdienen wünsche, ist,
daß du mich zu deiner Vertrauten machest, sobald du eine
Vertraute nöthig haben wirst.Ich versprach es ihr mit einer Naivität, über die sie
lächeln mußte, und setzte hinzu: die Begierde mich ihrer Liebe
würdig zu machen, würde meinem Herzen keine Zeit lassen,
sich mit einem andern Gegenstande zu beschäftigen. — Du
hast noch nicht lange genug gelebt, meine Tochter, erwiederte
sie, um dein Herz zu kennen; und noch weniger, um alle die
Gefahren zu kennen, wovon es umgeben ist. In einigen Jahren
wird dich deine eigene Erfahrung gelehrter gemacht haben.
Indessen wird es nur auf dich ankommen, dich der meinigen
zu deinem Vortheil zu bedienen. Ein gefühlvolles Herz ist
sehr zu beklagen, wenn es bloß auf eigene Unkosten lernen
muß, sich gegen ein Geschlecht zu verwahren, das bei uns
nichts als seine Befriedigung sucht, und von dem wir immer
betrogen werden, so lange wir es nach uns selbst beurtheilen. —
Ich versicherte sie, mit einem Ton in den mein ganzes Herz
einstimmte, daß von nun an mein angelegenstes Geschäft seyn
würde, mich nach ihr zu bilden und ihren Lehren zu folgen.Meine Erfahrung, bester Agathon, hat mich gelehrt, wie
wichtig es für ein junges Mädchen ist, frühzeitig eine Person
ihres Geschlechts kennen zu lernen, welche vortrefflich genug
ist, sich ihres Herzens zu bemächtigen. Vor wenigen Stunden
war das meinige noch ganz von dem Bilde des verführerischen
Alcibiades erfüllt. Wie leicht würde ihm sein Sieg geworden
seyn, wenn er damals, anstatt mich in Aspasiens Schutz zu
bringen, sich der Mittel, woran er nur allzu reich war, hätte
bedienen wollen, mich in seine eigene Gewalt zu bekommen!
Aber er wollte sich seinen Sieg schwer machen; wiewohl er in
der Folge mehr als Einmal Ursache fand zu wünschen, daß
er sich weniger auf die Unwiderstehlichkeit seiner Verdiente
und Gaben verlassen haben möchte. Der erste Augenblick, da
ich Aspasia sah, schien mich zu einer andern Person umzuschaffen.
Der Wunsch, dem Ideal weiblicher Vollkommenheit,
welches ich in ihr zu erblicken glaubte, ähnlich zu werden,
wurde die herrschende Leidenschaft meiner Seele. Mir war
als ob mein Herz mir sagte: diese Göttin ist doch immer nicht
mehr als was du auch werden kannst; sie ist —doch nur ein
Weib. Dieser Gedanke machte mich stolz auf mein Geschlecht;
und, ohne diesen Stolz, womit sollten wir uns gegen den
Uebermuth des eurigen schützen? Alcibiades schien mir nun
ein ganz andrer Mann, da ich ihn neben Aspasien sah. Ihr
Glanz verdunkelte den seinigen; ich konnte ihn ungeblendet
ansehen. Meine Augen verweilten darum nicht mit minderm
Vergnügen auf seiner Gestalt; ich fühlte seine Reizungen nicht
schwächer: aber ich empfand stärker den Werth der meinigen.Aspasia pflegte beinahe alle Abende Gesellschaft zu sehen,
und an gewissen Tagen versammelte sich alles, was in Athen
durch Stand, Schönheit, Geist und Talente vorzüglich war,
in ihrem Hause. Sie sagte mir, wenn ich lieber allein seyn
wollte, sollten einige von ihren Mädchen mir den Abend angenehm
zubringen helfen. Ich ersuchte sie darum. Sie verließ
mich unter neuen Ausdrücken einer Zärtlichkeit, die mich
über allen Ausdruck glücklich machte. Bald darauf traten
drei angenehme junge Mädchen in mein Zimmer, wovon die
älteste kaum vierzehn Jahre hatte. Sie glichen in ihrer
leichten und niedlichen Kleidung den Freuden, welche die
Dichter und Maler, in Gestalt junger Mädchen, vor dem
Wagen der Liebesgöttin hertanzen lassen. Wir wurden in
kurzer seit vertraut miteinander; denn sie begegneten mir als
ob wir uns immer gekannt hätten. Sie waren Sklavinnen
der Aspasia, in ihrem Hause geboren, und, da sie vorzügliche
Gaben zu den Künsten der Musen zeigten, zu ihrem Vergnügen
erzogen. Es befanden sich noch mehrere von dieser
Art im Hause, die an Reizungen und Geschicklichkeiten vollkommen
genug gewesen wären, den Hof eines Königs zu zieren;
und dieß mag wohl in einer Stadt, wo der zaumlose Muthwille
der Komödienschreiber weder Talente noch Tugend,
weder Götter noch Menschen schont, Gelegenheit zu gewissen
Verleumdungen gegeben haben, die dir nicht unbekannt seyn
können. Es ist wahr, die Freiheit eines Hauses, welches eine
Art von Tempel aller Musen und Götter der Freude war,
schien den Aristophanes einigen Vorwand zu geben. Aber um
diesem Vorwand alle Scheinbarkeit zu benehmen, braucht man
nur zu bedenken, daß Aspasia die Gemahlin des Ersten unter
allen Griechen war; daß Sokrates seine jungen Freunde, und
die edelsten Athener ihre Gemahlinnen in keine bessere Gesellschaft
führen zu können glaubten; und daß man die verdorbnen
Sitten eines Aristophanes haben mußte, um die
Akademie des Geschmacks, der Philosophie, der Wohlredenheit
und der feinsten Lebensart, dem niedrigsten Pöbel, der das
nicht kennt noch kennen kann was edle Seelen Freude nennen,
als ein Gelag von Bacchanten und Mänaden, oder als eine
Schule der Ausschweifung und Liederlichkeit vorzuschildern.Dieser erste Abend, da ich mit den liebenswürdigen
Sklavinnen der Aspasia Bekanntschaft zu machen anfing, lehrte
mich, wie welt ich noch in der einzigen Kunst, in welcher
ich mir einige Stärke zugetraut hatte, von der Vollkommenheit
entfernt war. Einige Tage darauf machte Aspasia Gelegenheit,
daß es schien als ob sie von ungefähr dazu komme,
als ich mich mit den drei Mädchen in pantomimischen Tänzen
übte. Sie setzte sich unter uns hin, und wurde unsre Lehrmeisterin,
indem sie scherzend vorgab, bloß unsre Richterin
seyn zu wollen. Sie gab uns Fabeln aus der Göttergeschichte,
oder Begebenheiten aus der Heldenzeit zu Tänzen auf. Meine
Gelehrigkeit und feine Empfindung erhielt ihren Beifall. In
der That verstand ich ihre leisesten Winke; und da sie sich
eine Ergötzlichkeit daraus machte, diese Uebungen fortzusetzen,
so erreichte ich in kurzer Zeit eine Fertigkeit darin, die vielleicht
nicht wenig dazu beitrug mich zu ihrem Liebling zu
machen. Denn sie selbst hatte ehmals den Ruhm der vollkommensten
Tänzerin; und noch itzt liebte sie diese Kunst so
sehr, daß sie, wenn sie mich einen Charakter oder eine Situation
vorzüglich gut machen sah, in einem augenblicklichen Vergessen
dessen was sie itzt war, ausrief: mich däucht ich sehe
mich selbst in meine Jugend zurück versetzt!Mit diesen Uebungen wurden alle andern verbunden, die
man bei uns Griechen zur vollkommnen Erziehung einer
Schönen rechnet. Aspasia, welche so viele Ursache hatte die
meinige als ihr eignes Werk anzusehen, schien den ganzen
Umfang ihres Vermögens in Vewollkommnung eines Werkes,
worin sie sich selbst gefiel, erschöpfen zu wollen. Die Virtuosen
von allen Arten, die das Haus des Perikles als ihr eigenes
anzusehen gewohnt waren, eiferten in die Wette, diese Absicht
meiner edlen Wohlthäterin befördern zu helfen. Ein
jeder schien seinen größten Stolz darin zu suchen, wenn er
sich rühmen könnte, etwas zu Verschönerung und Vollendung
dieser Danae, in welcher Aspasia sich selbst wieder hervorbringen
wollte, beigetragen zu haben. Alles Verdienst, was
ich mir selbst dabei zueignen kann, war Gelehrigkeit, und
brennende Begierde einer Wohlthäterin zu gefallen, die alles
für mich that, was die beste Mutter für eine einzige Tochter
thun kann, und die ich, auch ohne Rücksicht auf das was ich
ihr schuldig war, um ihrer selbst willen unaussprechlich liebte.
Und war nicht auch diese Gelehrigkeit, dieser Enthusiasmus
für das Schöne, dieses Verlangen, einer Wohlthäterin, deren
Güte ich durch nichts anders vergelten konnte, das Vergnügen,
ihre Absicht mit mir erreicht zu sehen, zu gewähren —
war nicht auch dieß ein bloßes Geschenk der Natur?—————
Absichten des Alcibiades mit der jungen Danae. Er umringt seinen
Plan um selbstgemachten Schwierigkeiten, und wird in seiner eigenen
Schlinge gefangen.Alcibiades — denn zu ihm müssen wir doch wieder zurückkehren;
er spielt eine Hauptrolle in meiner Geschichte, und in
der That, er war nicht gemacht in irgend einer Sache eine
andere zu spielen — Alcibiades sah mit Vergnügen, wie seine
Danae (er zählte gänzlich darauf, daß sie es sey) unter den
Händen der Musen und Grazien täglich sich verschönerte. So
stark der Eindruck gewesen zu seyn schien, den sie in dem
Arbeitssaale des Malers Aglaophon auf ihn gemacht hatte,
so war gleichwohl sein Entwurf, nicht eher ernsthafte und
entscheidende Anfälle auf ihr Herz zu thun, bis sie, unter
Aspasiens Augen, alles was sie werden könnte geworden wäre.
Seinem Stolze schmeichelte kein geringerer Sieg. Die Gefälligkeit
der Schönen zu Athen setzte ihn in den Stand, diesen
Zeitpunkt ganz gemächlich abzuwarten; und wenn es auch eine
kleine Ueberwindung gekostet hätte, so hielt er sich durch das
Vergnügen, ein noch so neues Herz zu beobachten, und so
viel Versuche als ihm belieben könnten damit anzustellen,
reichlich entschädiget.Die junge Danae, so sehr sie ein Neuling war, unterließ
doch nicht in dem Betragen ihres Liebhabers etwas
wahrzunehmen, welches ihr, es mochte nun natürlich oder
gekünstelt seyn, von seiner Art zu lieben nicht die vortheilhafteste
Meinung gab. Sie bemerkte in seinen Augen weniger
Vergnügen an ihrem Anschauen, als Begierde in ihrer Seele
zu lesen; und in den Momenten, wo er mehr als gewöhnlich
gerührt schien, weniger Zärtlichkeit als Feuer. Sie machte
nach und nach ausfindig, daß es ihm weit mehr darum zu
thun wäre, sie von der Macht seiner eignen Reizungen als
von den Wirkungen der ihrigen zu überzeugen, und daß diejenige,
welche schwach genug wäre sich von ihm einnehmen zu
lassen, ihre gefährlichste Nebenbuhlerin in seiner Eitelkeit
finden würde. Ein junges Mädchen von lebhaftem Geist und
feiner Empfindung, zumal wenn es sich vorzüglicher Reizungen
bewußt zu seyn glaubt, hat selbst zu viel Eitelkeit, um einem
Liebhaber die seinige zu übersehen. Sie sah das Betragen
des Alcibiades als eine Art von Aufforderung an, und nahm
so starke Entschließungen gegen ihn, als ein Mädchen von
fünfzehn Jahren nehmen kann. Aber was das gute Mädchen
selbst nicht wußte, und also auch dem erfahrnen und scharfsichtigern
Alcibiades nicht verbergen konnte, war: daß sie,
dessen ungeachtet, lebhaft genug von ihm eingenommen war,
um nichts Schöner's zu finden als seine Figur, nichts Reizender's
als alles was er sagte oder that, sich nirgends besser zu
gefallen als wo er war, durch niemands Beifall mehr geschmeichelt
zu seyn als durch den seinigen, und für seinen
Ruhm und für den Erfolg seiner Unternehmungen sich so lebhaft
zu interessiren, daß in der That nur eine sehr alte
Freundschaft oder eine sehr junge Liebe die Quelle davon
seyn konnte.Der Vortheil, welchen Alcibiades dadurch über sie gewann,
war zu groß, als daß er Aspasiens Aufmerksamkeit hätte entgehen
können: aber Danae täuschte sich selbst, weil die scheinbare
Freiheit, die er ihrem Herzen ließ, sie sicher machte.
Sie war gewohnt, sich die Liebe unter einer ganz andern
Gestalt vorzustellen, als diejenige war, in welcher sie von ihr
überschlichen wurde. Ernsthaft, tiefsinnig, zerstreut, unruhig
in der Gegenwart des Geliebten, traurig in seiner Abwesenheit
seyn; sich über nichts erfreuen das sich nicht auf ihn
bezieht; die Einsamkeit suchen, oder mitten in Gesellschaft
sich einbilden, man habe bloß Bäume und Felsen und rieselnde
Quellen zu Zeugen seiner Empfindungen; staunen ohne zu
wissen was, seufzen ohne zu wissen warum; — dieß waren,
ihrer Meinung nach, die wahren Symptomen der Liebe: und
da sie von allem diesem, seit ihrer Bekanntschaft mit dem
Alcibiades, nichts an sich bemerkte, so ließ sie sich gar nicht
einfallen das geringste Mißtrauen in ihr Herz zu setzen.
Alcibiades belustigte sie. Seine Lebhaftigkeit, seine Launen,
sein Witz, sein Talent das Lächerliche an allen Leuten ausfindig
zu machen und auf die feinste Art zu verspotten, seine
Geschicklichkeit in Erzählungen und Abschilderungen, die ihm
eigene Gabe, aus einer Kleinigkeit, durch die Wendung die
er ihr gab, etwas Unterhaltendes zu machen, kurz, alle diese
Eigenschaften, die ihn zur Lust aller Leute von Verstand und
zum Schrecken aller Thoren machten, machten auch ihr seinen
Umgang angenehm. Sie gestand den Geschmack den sie an
ihm fand; aber sie konnte nicht begreifen, was der Mann so
Gefährliches haben sollte: und dieß war es eben, was er zu
seinen Absichten vonnöthen hatte. Niemand, der ihn nicht
genau kannte, hätte nur vermuthen können, daß er Absichten
auf Dingen habe. Sein einziges Bemühen schien, ihr Kurzweile
zu machen; und er unterhielt sie oft Stunden lang von
den Mängeln andrer jungen Frauenzimmer in der Stadt,
ohne daß er ein Wort von ihren eigenen Vorzügen mit einfließen
ließ. Freilich sagte er ihr zuweilen sehr schmeichelhafte
Dinge vor; aber dieß geschah mit einem so freien, so aufgeweckten
Wesen, in einem so leichtsinnigen, unempfindsamen
Tone, daß er ihr in diesem Tone die stärke Liebeserklärung
hätte machen können, ohne daß sie für nöthig gehalten hätte,
einen Augenblick ernsthaft dabei auszusehen.Durch diese Ausführung erhielt der schlaue Mann einen
doppelten Vortheil: Danae gewöhnte sich keine Vorsichtigkeit
gegen ihn zu gebrauchen; und er durfte sich, unter dem Vorrecht
eines Freundes, eines nahen Verwandten der Aspasia,
eines Mannes den man täglich sah, allerlei kleine Freiheiten
herausnehmen, welche in der Vertraulichkeit, worin sie mit
einander standen, von keiner Bedeutung zu seyn schienen.
Unvermerkt erweiterte er seine Vorrechte, aber mit einer so
guten Art, mit Beobachtung einer so feinen Gradation, daß
Danae, da sie weder in ihn noch in sich selbst das mindeste
Mißtrauen setzte, die Veränderung nicht einmal gewahr worden
wäre, wenn Aspasia (welche, ohne sich's anmerken zu lassen,
beide genau beobachtete) ihr über seine Absichten und ihre Gefahr
die Augen nicht geöffnet hätte.Der Gedanke, sich wie eine unbesonnene Thörin fangen
zu lassen, beleidigte den Stolz des jungen Mädchens. Sie
wurde aufmerksamer. Sie untersuchte ihr eignes Herz, und
fand, daß sie fähig wäre den bösen Mann zu lieben, wenn die
Natur, die in allen andern Stücken so verschwenderisch gegen
ihn gewesen war, nicht unglücklicher Weise sein Herz allein verwahrloset
hätte. Aber diese Entdeckung bestärkte sie nur desto
mehr in dem Vorsatze, ihn dafür zu bestrafen, daß er zwischen
ihr und einer Nemea keinen bessern Unterschied zu machen
wußte. Aspasia, welche aus besondern Ursachen seinen Uebermuth
gedemüthiget zu sehen wünschte, unterrichtete sie, wie
sie sich betragen sollte, um ihm, wenn er den glücklichen Moment
gefunden zu haben glauben würde, das Fehlschlagen seiner
Hoffnung desto empfindlicher zu machen. Es war Gefahr
dabei, und Aspasia machte ihr kein Geheimniß daraus; aber
die Ehre, die erste zu seyn, die ihr Geschlecht an dem muthwilligsten
und gefährlichsten Verächter desselben rächen würde,
war zu groß um nicht alles zu wagen.Alcibiades, wenig besorgend, daß man solche Anschläge
gegen ihn schmiede, rechtfertigte in kurzem die Vermuthungen
der klugen Aspasia. Er glaubte seine Maßregeln aufs schlaueste
genommen zu haben. Alles schien sein Vorhaben zu begünstigen,
und ihm einen glücklichen Erfolg zu weissagen. Danae
selbst war in einer Laune, die einem minder unternehmenden
Liebhaber Muth gemacht hätte. Ihre Munterkeit gränzte
an den reizenden Muthwillen, der in ihrem Alter den Gaben
der Aurora und der Venus etwas so Anlockendes gibt. Ihr
Blut schien in ihren Adern zu tanzen, und ihre Augen versprachen
alles — was sie nicht zu halten entschlossen war.
Alcibiades, ein zu feiner Wollüstling, um durch Uebereilung
sich des kleinsten Vergnügens zu berauben, das den Werth seines
Sieges vollkommen machen konnte; wollte sie durch stufenweise
Vorbereitungen führen, in deren Theorie und Ausübung
er niemand über sich zu haben stolz war. Eine von seinen
Regeln war: daß man weniger darauf bedacht seyn müsse die
Sinnen, als die Einbildungskraft einer Schönen, auf die man
Absichten habe, ins Spiel zu ziehen. Diesem Grundsatze gemäß,
nahm er von einem Discurs des Sokrates über die
Gränzen des Schönen Gelegenheit, die Frage aufzuwerfen:
wie weit die pantomimische Tanzkunst in Vorstellung gewisser
aus der ärgerlichen Chronik des Olymps genommenen Begebenheiten
gehen dürfte? Er sprach über diesen Gegenstand
wie ein zweiter Sokrates, und affectirte (ohne Zweifel um
Danaen zum Widerspruch zu reizen) eine Strenge, welche in
dem Munde dieses weisen Mannes vielleicht ehrwürdig gewesen
wäre, aber in des Alcibiades seinem lächerlich war. Eine
Ariadne, die sich von dem schönen Bacchus trösten läßt, war
von Sokrates selbst gebilliget worden. So weit, meinte er,
möchte in Sachen dieser Art die Kunst aufs höchste gehen
dürfen; aber eine Leda! — eine Leda könnte, ohne Beleidigung
der Grazien, nicht getanzt werden. Der Verräther
kannte die schwache Seite der jungen Person, die er vor sich
hatte. Danae liebte den pantomimischen Tanz bis zur Ausschweifung.
Man legte ihr darin ein mehr als gewöhnliches
Talent bei —"Man hatte nur zu viel Ursache dazu," sagte Agathon —
Und besonders erhob man ihre Delicatesse im Ausdruck
der feinsten Grade und Schattirungen der Leidenschaften. Gereizt
von seiner Strenge, die ihr übertrieben schien, vielleicht
auch aus jugendlicher Eitelkeit, eine Kunstprobe abzulegen,
deren Schwierigkeiten unläugbar waren, behauptete sie: daß
es nicht unmöglich wäre; den Schleier der Sokratischen Grazien
um die Fabel der Leda zu ziehen, ohne der Wahrheit des Ausdrucks
in der Vorstellung Abbruch zu thun. Alcibiades behauptete
die Unmöglichkeit so zuversichtlich, daß kein anderes Mittel
ihn zu widerlegen übrig blieb als der Augenschein. Ihres
Sieges gewiß unternahm sie es, Leda zu seyn; — und wenn
ihr Aspasia (welche bei dieser ganzen Scene eine ungesehene
Zuschauerin abgab) nicht geschmeichelt hat, so führte sie aus
was sie versprochen hatte. Wenn eine Grazie an der Stelle
der Leda seyn, oder sich einfallen lassen könnte sie vorzustellen,
so würde sie es gerade so gemacht haben, sagte Aspasia. Aber
Alcibiades, wiewohl er von dem Tanze der jungen Thörin, und
von den Reizen die sie dabei entwickelte, ganz entzückt zu seyn
vorgab, wollte nicht eingestehen, daß Wahrheit in ihrem Spiel
gewesen sey.Der kleine Streit, der sich darüber zwischen ihnen erhob,
wurde zuletzt lebhaft genug, um (seiner Meinung nach) das
Zeichen zu einem andern zu seyn, wobei er unfehlbar den Sieg
davon zu tragen hoffte. Was seine junge Freundin verhinderte,
dieses Strick wirklich zum Triumph ihrer Kunst zu
machen, wäre bloß der Mangel an Erfahrung, meinte er. Unmöglich
kann man seine Dienste mit einer bessern Art anbieten
als er that; und, ungewarnt, möchte es der neuen Leda vielleicht
nicht besser als ihrem Urbild ergangen seyn. Aber Aspasiens
Warnungen und Unterricht — und, was unstreitig ihrer
Schwäche am meisten zu Hülfe kam, das Bewußtseyn der heimlichen
Gegenwart Aspasiens — gaben ihr eine Stärke, auf
welche freilich Alcibiades nicht gerechnet hatte. Gleichwohl
hatte ihr Widerstand zu viel Anlockendes, um von einem so
geübten Helden, wie er war, für Ernst genommen zu werden.
Er verfolgte also seinen vermeintlichen Sieg; aber, da er sich's
am wenigsten versah, entschlüpfte ihm die ungelehrige Leda aus
den Händen. Er kannte Aspasiens Haus zu wohl, um nicht zu
wissen, daß der Weg, den sie im Fliehen nahm, in ein kleines
Cabinet führte, dessen Einrichtung zu den Unterweisungen, die
er ihr geben wollte, noch bequemer war als der Ort wo sie
sich befanden. Dieß schien ein Umstand von guter Vorbedeutung
zu seyn. Er hielt sich also, da er ihr nacheilte, seiner
Sache wenigstens so gewiß, als Apollo, da er die fliehende
Daphne an das Ufer des Peneus verfolgte. Aber wie groß
war seine Betroffenheit, als er sie beim Eintritt ins Cabinet
in — Aspasiens Arme fliegen sah, einer Person, deren Gegenwart
er hier eben so wenig erwartete, als sie ihm willkommen
war!Die Sache sah einer Abrede zu ähnlich um für einen Zufall
gehalten zu werden; und niemals vielleicht in seinem Leben
hatte es ihm so viel gekostet, den Unmuth, sich so unbedachtsam
in seinen eigenen Schlingen gefangen zu haben, nicht ausbrechen
zu lassen. Indessen war doch weiter nichts zu thun,
als, mit Danaen einstimmig, aus der ganzen Sache einen
Scherz zu machen, und so gut er konnte mitzulachen, da die
beiden Damen über die Mißlingung des Anschlags, dessen sie
ihn beschuldigten, mit aller Schärfe des Attischen Witzes so
lange kurzweilten, bis er, der ungemächlichen Rolle die er dabei
spielte überdrüssig, sich zurückzog; sehr ungewiß, wie er die
Rache nehmen wollte, die er der kleinen Betrügerin und ihrer
unzeitigen Schutzgöttin in seinem Herzen angelobte.Ob übrigens die schöne Aspasia wohl oder übel daran gethan
habe, daß sie ein junges Mädchen, bei welchem sie die
Stelle einer Mutter zu vertreten übernommen hatte, einer
Gefahr aussetzte, aus der es immer unmöglich war ganz unbeschädigt
zu entkommen, dieß kann wohl keine Frage seyn.
Ohne Zweifel that sie übel; aber vermuthlich war es gar nie
in ihre Gedanken gekommen, aus der jungen Danae etwas
Vollkommneres als eine zweite Aspasia zu machen. Vielleicht
sah sie auch die Eindrücke, welche von dieser Scene in ihrer
Einbildung zurückbleiben könnten, nicht für so bedeutend an,
daß sie den Vortheil überwiegen sollten, den ihr eine solche Uebung
in der Kunst List durch List zu vereiteln bringen würde;
einer Kunst, worin man (ihrer Meinung nach) in Danae's
Umständen, und mit den Gaben die man ihr zuschrieb, nicht
anders als auf Unkosten seiner Sicherheit ein Fremdling seyn
konnte.Wie dem auch seyn mochte, dieß ist gewiß, daß Danae
durch ihr gutes Benehmen in dieser Begebenheit in Aspasiens
Augen unendlich viel gewann. Von dieser Zeit an begegnete
sie ihr als einer Person, welcher sie alle ihre Geheimnisse vertrauen,
und alle ihre Kenntnisse mittheilen könnte. "Du bist
dazu gemacht, sagte sie ihr unter der zärtlichsten Umarmung,
Aspasiens Nachfolgerin zu seyn: der Antheil, den ich daran
haben werde, befriedigt meinen Stolz genug, um, ohne Neid,
mich von dir sogar übertroffen zu sehen." Sie machte sich
itzt mehr als jemals ein Geschäft daraus, meinen Verstand
auszubilden, mich den Menschen und die Welt kennen zu
lehren, und besonders mich in den Geheimnissen der Kunst zu
iniziiren, welche einen Sokrates zu ihrem Schüler, einen
Perikles zu ihrem Gemahl, und sie selbst, ohne andre Vorzüge
als ihre Gaben und Geschicklichkeiten, zur Seele der öffentlichen
Angelegenheiten ihrer Zeit in Griechenland gemacht
hatte.Danae's eigne Sinnesart, welche sie von dem Gedanken,
jemals eine große Rolle auf dem Schauplatze der Welt zu
spielen, gänzlich entfernte, erlaubte ihr nicht, sich Aspasiens
Beispiel und Unterricht so vollkommen, als es diese zu wünschen
schien, zu Nutze zu machen; aber gleichwohl gesteht sie gern,
daß sie beiden die Ausbildung ihres Geistes, die Verfeinerung
ihres Geschmacks, und Kenntnisse, deren Werth die Erfahrung
sie erst recht schätzen lehrte, zu danken gehabt hat. Soll sie dir noch
mehr gestehen, Agathon? Die Unterredungen, welche Aspasia
mit mir pflog, oder wobei mir erlaubt war eine Zuhörerin abzugeben,
schienen mir so wichtig, daß ich nicht ein Wort davon
zu verlieren wünschte. Ich schrieb sie also, da sie mir frisch
im Gedächtnisse lagen, damals heimlich auf; und ich brachte
nach und nach eine Sammlung von Diskursen dieser außerordentlichen
Frau zusammen, die ich immer fur meinen größten
Schatz angesehen habe. Dieser Schatz ist, wie du vermuthen
kannst; noch in meinen Händen. Es war eine Zeit, da ich sie
als Geheimnisse ansah, die ich, so standhaft als eine Pythagoräerin
die ihrigen, vor ungeweihten Augen verwahrte.
Aber außerdem, daß die Absichten, die ich hierbei haben konnte,
nicht mehr stattfinden, warum sollte ich sie vor einem Freunde
wie Agathon verbergen wollen? Du sollst sie also sehen, Agathon;
und ich bin gewiß, daß ich dem Andenken meiner Freundin —
der vollkommensten Sterblichen, die jemals den Ruhm
unsers Geschlechts an dem eurigen gerochen hat — keine
größere Ehre erzeigen kann.—————
Neue Kunstgriffe des Alcibiades. Eine Philippika gegen das männliche
Geschlecht, als eine Probe der Philosophie der schönen Aspasia.Da dem Leser wenig daran gelegen seyn muß, wie oft
Danae in ihrer Erzählung entweder durch die Zwischenreden
ihres Zuhörers oder durch irgend einen andern Zufall unterbrochen
worden: so glauben wir am besten zu thun, wenn
wir annehmen, als ob sie niemals unterbrochen worden sey,
und sie so lange fortreden lassen als es ihr beliebt; einbedungen,
daß wir nicht verbunden sind, ihr länger zuzuhören,
als sie uns interessiren wird.Alcibiades (fuhr sie fort) empfand es sehr hoch, nicht
allein, daß ihm sein Anschlag auf die junge Danae, die er
als sein rechtmäßiges Eigenthum ansah, mißlungen war —
denn dieß hätte sich wohl leicht wieder gut machen lassen,
dachte er — sondern daß es auf eine Art geschehen war,
die, wenn er auch hoffen könnte nicht die Fabel von ganz
Athen dadurch zu werden, ihn wenigstens in seinen eignen
Augen herabsetzte. Er glaubte sich an Danaen nicht besser
dafür rächen zu können, als indem er ihr eine Gleichgültigkeit
zeigte, die ihr, wofern sie sich jemals geschmeichelt hätte
sein Herz gerührt zu haben, auch nicht den Schatten einer
solchen Einbildung übrig ließe.Zu diesem Ende entführte er, so öffentlich und mit so
vielem Geräusch als nur immer zu machen möglich war, eine
junge Sklavin der Aspasia, die (außer einem vortrefflichen
Ansatz zur Ausgelassenheit) nichts hatte, was die ungeheure
Leidenschaft, die er für sie affectirte, rechtfertigen konnte, als
eine sehr mittelmäßige Stimme und einiges Talent zur Pantomimik.
Seine Absicht dabei war, Aspasien und ihre junge
Freundin recht empfindlich zu kränken, indem er diese kleine
Creatur zu der bewundernswürdigsten Person von Griechenland
machte, oder wenigstens die Welt beredete daß sie es sey. Da
er schon lange im Besitz war in allen Sachen den Ton anzugeben;
da er einen ganzen Hof von Freunden, Schmeichlern
und Parasiten um sich hatte, die sich ohne Bedenken zu blinden
Werkzeugen aller seiner Einfälle gebrauchen ließen; da er,
um eine Absicht, so unbedeutend auch ihr Gegenstand seyn
mochte, durchzusetzen, keine Mühe zu groß, keinen Aufwand
zu kostbar, kein Mittel zu ausschweifend fand: so gelang es
ihm auch, wiewohl mit vieler Mühe, die kleine Pannychis auf
etliche Augenblicke zum Abgott der Athener zu machen. Aber
der Triumph, Aspasien und ihre junge Freundin dadurch so sehr
zu demüthigen als er sich geschmeichelt hatte, wurde ihm
durch die unbegränzte Gelehrigkeit der letztern gegen die Anweisungen
der erstern vereitelt.Um so aufrichtig zu bleiben als ich bisher in meiner Erzählung
gewesen bin, darf ich nicht verbergen, daß die junge
Danae das muthwillige Vergnügen, dem Alcibiades einen
kleinen Streich gespielt zu haben, durch die Eindrücke, welche
diese Scene in ihrem Gehirne zurückließ, weit über seinen
Werth bezahlen mußte. Sobald sie allein war, drangen sich
die verführerischen Bilder ihrer Einbildung auf. Ein beunruhigender
Vorwitz machte sie lüstern, zu wissen was daraus erfolgt
seyn möchte, wenn sie dem Alcibiades mehr Gelehrigkeit
gezeigt hätte. Sie erröthete vor sich selbst, wie sie sich bei dem
Wunsch ertappte, noch einmal eine solche Gelegenheit zu bekommen;
aber es war nicht in ihrer Gewalt — und in der
That wandte sie auch keine große Gewalt an — diesen Wunsch
zu unterdrücken. Das Bild des Alcibiades stellte sich ihr von
dieser Zeit an mit so lebhaften Farben, mit so besiegenden
Reizungen dar, daß die Ruhe ihres Herzens darunter zu leiden
anfing. Urtheile selbst, wie empfindlich es ihr, in einer solchen
Lage des Gemüths, seyn mußte, sich um eine Pannychis verachtet
und verlassen zu sehen! Ohne Aspasiens Beistand würde
sie viel zu schwach gewesen seyn, dem Verräther ihren Schmerz
darüber zu verbergen; zumal da selten ein Tag vorbeiging,
ohne daß er gekommen wäre, um sie mit Beweisen seiner vollkommensten
Gleichgültigkeit und mit Abschilderungen der unendlichen
Reizungen ihrer Nebenbuhlerin und seiner Leidenschaft
zu quälen.Aber Aspasia, die das Vertrauen, womit ihr Danae ihr
Innerstes aufzuschließen pflegte, nicht nöthig hatte, um jede
Bewegung ihrer Seele wahrzunehmen, kam ihr noch zu rechter
Zeit zu Hülfe. Da sie bald entdeckte, daß die Krankheit ihrer
jungen Freundin mehr in der Einbildung als im Herzen ihren
Sitz habe, so schien ihr die Cur desto leichter zu seyn: und,
wiewohl das Mädchen die Offenherzigkeit nicht völlig so weit
gegen sie trieb als gegen sich selbst; so glaubte sie doch zu sehen,
daß die Erhitzung ihrer Phantasie und die Empfindlichkeit ihrer
beleidigten Eigenliebe einem jeden liebenswürdigen Manne,
der sich den Augenblick zu Nutze zu machen wüßte, zu Statten
kommen, und ihr wenigstens Stärke genug geben würde, der
Gleichgültigkeit des Alcibiades so viel Kaltsinn entgegen zu
setzen, als vonnöthen wäre, um ihn über seine abermals fehlgeschlagene
und so theuer erkaufte Erwartung zur Verzweiflung
zu bringen.Ariochus, ein junger Mann, der in jeder Betrachtung
niemand als den Alcibiades über sich sah, und auch diesem
(wiewohl er einer von seinen Freunden war) ungern den Vorzug
eingestand, war der Mann, durch den sie ihre Absichten am
gewissesten zu erreichen hoffte. Er hatte für Danaen vom
ersten Anblick an eine heftige Leidenschaft gefaßt, welche durch
den Widerstand, den er in ihrem Vorurtheile für seinen
Freund gefunden, nur desto heftiger geworden war. Zwanzig
andere befanden sich ungefähr in dem nämlichen Falle: aber
Alcibiades hatte sie alle in einer gewissen Entfernung gehalten.
Sein Abenteuer mit der Tänzerin Pannychis erneuerte ihre
Ansprüche. Der Gedanke, diesen ganzen Schwarm von Rivalen
zu zerstreuen, und den Alcibiades selbst — der, seiner
Gewohnheit nach, seinen Sieg über Danae's Herz für vollständiger
ausgegeben hatte als er war — aus ihrem Andenken
auszulöschen, däuchte dem schönen Ariochus würdig alle
seine Reizungen gegen die nichts übels besorgende Danae
aufzubieten.Aspasia, deren Verwandter er war, unterstützte seine
Hoffnungen; und Danae, ohne sich selbst das was in ihr
vorging recht entziffern zu können, rechtfertigte in kurzem die
Vermuthungen ihrer weiseren Freundin. Ohne das Geringste
von diesen zärtlichen Regungen, die allein des Namens der
Liebe würdig sind, für Ariochus zu empfinden, fühlte sie
sich unvermerkt von den Reizen seiner Person getroffen: und
wiewohl sie den Vorsatz nicht hatte, ihm Aufmunterungen zu
geben, so neigte sich doch ihr williges Ohr zu seinen verliebten
Beschwörungen, und ihr Auge verweilte mit Vergnügen
auf seiner Gestalt, welche — den unerklärbaren Zauber,
der dem Alcibiades eigen war, ausgenommen — als
Statue betrachtet, von vielen der seinigen selbst vorgezogen
wurde. Ohne voraussehen zu wollen, wohin diese Sorglosigkeit
sie führen könnte, überließ sie sich dem angenehmen
und ihr neuen Spiele des Instincts und der Eitelkeit, welche
sich vereinigten, sie über den Verlust eines Liebhabers zu
trösten, dessen Betragen die hassenswürdige Abschilderung,
welche ihr Aspasia von ihm gemacht hatte, so sehr zu rechtfertigen
schien.Ariochus schmeichelte sich, mit jedem Tag einen neuen
Vortheil über Danae's Herz erhalten zu haben, und wurde,
mit aller Kenntniß unsers Geschlechts (eines Zweiges von
Gelehrsamkeit, worauf er sich viel zu Gute that), nicht gewahr,
daß er alle diese vermeintlichen Vortheile nicht sich
selbst, sondern ganz allein eben diesem Alcibiades, den er
verdrängt zu haben glaubte, zu danken hatte. Indessen würde
er vielleicht am Ende durch den Irrthum der von sich selbst
betrognen Danae glücklich geworden seyn, wenn Aspasia nicht
abermal die Stelle ihres guten Genius vertreten hätte. Diese
außerordentliche Frau wachte zu eben der Zeit, da sie ihre
Untergebene auf die schlüpfrigen Wege leitete, wo die Unschuld
bei jedem Schritte in Gefahr ist auszuglitschen, über jede ihrer
Bewegungen, und bediente sich aller Scharfsichtigkeit, die ihr
ein durchdringender Geist und eine große Kenntniß des Herzens
gab, sie vor Fehltritten zu bewahren. — Warum, o
Agathon! warum mußte jemals der Augenblick kommen, wo
die vereinigten Verführungen des Herzens, da Einbildung
und der Sinne die Wirkung ihrer Lehren unkräftig machten!"Die Männer, sagte Aspasia zu ihr, haben aus einer angemaßten
Machtvollkommenheit; fur welche sie nicht den mindesten
Titel aufweisen können, die ungerechteste Theilung mit
uns gemacht, die sich denken läßt. Nicht zufrieden, uns von
allen andern wichtigen Geschäften auszuschließen, haben sie sich
sogar der Gesetzgebung einseitig bemächtiget, sie gänzlich zu
ihrem eignen Vortheil eingerichtet, uns hingegen tyrannischer
Weise genöthiget, Gesetzen zu gehorchen, zu denen wir unsre
Einwilligung nicht gegeben haben, und die uns beinahe aller
Rechte vernünftiger und freigeborner Wesen berauben. Nachdem
sie alles gethan was nur immer zu thun war, um uns
des bloßen Gedankens einer Empörung gegen ihre unrechtmäßige
Herrschaft unfähig zu machen, sind sie unedelmüthig
genug, unsrer Schwäche, die ihr Werk ist, noch zu spotten;
nennen uns das schwächere Geschlecht; behandeln uns als ein
solches; fordern zum Preis alles Unrechts, das wir von ihnen
leiden, unsre Liebe; wenden alle nur ersinnlichen Verührungen
an, uns zu überreden, daß sie ohne uns nicht glücklich seyn
können; und bestrafen uns gleichwohl dafür, wenn wir sie
glücklich machen. Doch in diesem einzigen Punkte find' ich sie
lobenswürdig. Wir verdienen bestraft zu werden, wenn wir
blöde genug sind, die Feinde unsrer Ruhe, die Tyrannen unsers
Lebens, die Räuber unsrer angebornen Rechte zu lieben.
Warum fühlen wir nicht die Vortheile, die uns die Natur
über sie gegeben hat? Warum bedienen wir uns derselben
nicht? Wir sollten das schwächere Geschlecht seyn? Sie das
stärkere? Die lächerlichen Geschöpfe! Wie fein steht es ihnen
an, mit ihrer Stärke gegen uns zu prahlen, da die schwächste
aus unserm Mittel es in ihrer Gewalt hat, ihre Helden, ihre
eingebildeten Halbgötter selbst, mit einem lächelnden oder
sauren Blick zu ihren Füßen zu legen! In der Güte unsers
Herzens liegt unsre Schwäche; die schönste unserer Tugenden
ist es, die uns von den Unverschämten zum Verbrechen gemacht
wird. — Sie das stärkere Geschlecht? Wo ist eine
Fähigkeit, ein Talent, eine Kunst, eine Vollkommenheit, eine
Tugend, in der sie nicht weit hinter uns zurückblieben? An
Schönheit, an Reiz, an feinem Gefühl, an Behendigkeit und
Feuer des Geistes, an Großmuth, sogar an Entschlossenheit
und Standhaftigkeit, übertreffen wir sie unläugbar; — und
ich möchte den Mann sehen, der den Muth hätte zu thun
oder zu leiden, was eine Frau zu thun oder zu leiden fähig
ist. Unter welchem Geschlechte haben wir die meisten und
außerordentlichsten Beispiele von Thaten, die nur eine große
Seele unternehmen kann? und alle diese Vorzüge — sind
gleichwohl nur der Ueberrest dessen, was sie uns genommen
haben! Aller Hülfsmittel zur Vervollkommnung, so viel an
ihnen liegt, beraubt, haben wir nichts, als was uns die Tyrannen
nicht nehmen konnten; und dieß beweis't was wir seyn
würden, wenn die Erziehung, die sie uns geben, die Vorurtheile,
womit sie uns fesseln, der Cirkel von Kleinigkeiten,
in den sie uns einsperren, die Entwicklung und den freien
Schwung unsrer Fähigkeiten nicht verhinderte. — Aber unsre
Tyrannen haben uns zu bloßen Werkzeugen ihres Vergnügens
herabgewürdiget. Sie fürchteten die Macht unsrer Reizungen,
wenn sie durch die Vollkommenheiten des Geistes unterstützt
würden; sie fühlten, daß es ihnen alsdann unmöglich seyn
würde eine Herrschaft zu behaupten, zu der sie, außer der
Stärke ihrer Knochen, nicht das mindeste natürliche Vorrecht
haben. Kurz, es ist ihnen gelungen uns zu unterjochen; und
ihre Usurpation ist durch die Länge der Zeit zu sehr befestiget,
als daß die wenigen unter uns, welche durch irgend einen
günstigen Zufall zum Besitz ihrer natürlichen Vorzüge gelangen,
daran denken könnten die Befreiung ihres Geschlechts zu unternehmen.
Alles was uns also übrig bleibt, ist, daß jede, so
gut sie kann, für sich selbst sorge: und wenn sie glücklich genug
gewesen ist, es so weit als Aspasia zu bringen; warum sollte
sie nicht geneigt seyn, jungen Personen ihres Geschlechts, die
durch vorzügliche Gaben von der Natur zu einer edlern Rolle
ausgezeichnet sind, durch Mittheilung einer vielleicht theuer
genug erkauften Weisheit nützlich zu werden? zumal da ihr
kein andrer Weg, sich um ihre Gattung verdient zu machen,
übrig gelassen ist?"Höre mich also, liebste Danae, fuhr sie fort, und sey
versichert, daß das Glück deines Lebens von dem Gebrauch
abhangen wird, den du von dem, was ich dir sage, machen
wirst."Eine Person unsers Geschlechts, die sich mit dem zweideutigen
Vorzuge begabt sieht, durch einen mehr als gewöhnlichen
Grad von Liebenswürdigkeit die Augen der Männer
auf sich zu heften, hat alle ihre Sorgen und Bemühungen
auf den gedoppelten Zweck zu richten — sich selbst von diesen
Herren der Schöpfung unabhängig zu erhalten, und so viel
Gewalt über sie zu bekommen, als nur immer möglich ist.
Zu dem letztern hat uns die Natur mit einer Art von bezauberten
Waffen versehen, gegen welche alle ihre eingebildete
Stärke und Weisheit ohne Wirkung bleibt. Hier ist der
Vortheil ganz auf unsrer Seite. Aber unglücklicher Weise
scheint sie, über der Sorge uns zum Angriff auf die Herzen
unsrer Gegner zu bewaffnen, vergessen zu haben unsre eignen
gehörig zu verschanzen. Die Vertheidigung, liebste Danae,
ist unsre blinde Seite; und hier ist es, wo wir am meisten
vonnöthen haben, den Fehler der Natur durch Kunst zu verbessern."Sehr reizbare Sinnen, eine warme, immer geschäftige
Einbildung, und ein Herz voll sympathetischer zärtlicher Gefühle
sind auf einer Seite das, was unsern größten Werth
ausmacht, aber auf einer andern gerade das, was uns den
Nachstellungen unsrer Feinde am gewissesten Preis gibt. Wundre
dich nicht, daß ich ein so hartes Wort gebrauche: nichts ist
nöthiger, als daß du dich angewöhnest, dir die Männer unter
diesem verhaßten Bilde vorzustellen. Eine junge Person ist
durch die Güte und Aufrichtigkeit ihres eigenen Herzens nur
zu sehr geneigt, jeden der ihr liebkoset für einen Freund anzusehen.
Da sie, in glücklicher Eintracht mit der ganzen
Natur, lauter wohlwollende Blicke um sich herwirft: woher
sollte sie in einem Geschöpfe, dessen Annäherung ihr Herz in
so angenehme Regungen setzt, dessen Worte sich so sanft in
ihre Seele einschmeicheln, den Zerstörer ihrer Glückseligkeit
argwohnen? Gleichwohl ist dieß die wahre Gestalt des gefallenden
Betrügers; der, wenn unsre gutherzige Thorheit
ihm nichts mehr zu wünschen übrig gelassen hat, von der
Person, die er vorstellte, da ein einziger Hoffnung gebender
Blick ihn in Entzückung setzen konnte, so verschieden ist, als
es zwei Wesen von ganz verschiedner Gattung nur immer
seyn können."Die sichersten Mittel, unser Herz gegen ihre Berührungen
zu bewahren, sind — wenn wir sie so gut kennen lernen,
daß sie uns keine Hochachtung einflößen können; denn
dieß ist doch gewöhnlich die Empfindung, unter deren Schutz
sie unsre Liebe erschleichen; — wenn wir eine große Meinung
von der Würde unsers eignen Geschlechts und eine geringe
von dem ihrigen fassen; — wenn wir ihre anmaßlichen Vorzüge
auf ihren wirklichen Werth heruntersetzen, und einsehen
lernen, daß es der Gipfel der Thorheit wäre, sie für die Vortheile,
die sie von unsrer Unterdrückung ziehen, noch belohnen
zu wollen; — wenn wir, anstatt uns selbst über die Quelle
ihrer vorgeblichen Empfindungen für uns zu verblenden, aufrichtig
genug sind uns zu gestehen, daß es bloß die Befriedigung
ihrer Begierden oder ihrer Eitelkeit ist, was sie bei uns
suchen; — wenn wir, ohne uns alberner Weise der Natur zu
schämen, uns selbst über diesen Punkt eben so viel Gerechtigkeit
widerfahren lassen als ihnen; — und endlich, wenn wir
durch Beschäftigungen und Zerstreuungen die Schärfe unsrer
Empfindlichkeit stumpfer zu machen suchen, und, indem wir
unser Gemüth auf einmal so vielen und mannichfaltigen Eindrücken,
als nur immer möglich ist, aussetzen, verhindern,
daß kein besonderer Gegenstand sich unsrer ganzen Empfindlichkeit
bemächtige."Die 'Belohnung, die uns für das Beschwerliche dieser
Wachsamkeit über unser Herz entschädigt, und uns die angenehmen
Täuschungen, deren wir uns berauben indem wir der
Liebe entsagen, reichlich ersetzt, ist das Vergnügen, uns durch
das Verdienst unsers eignen Betragens in alle Vorrechte
unsers Geschlechts eingesetzt zu sehen. Denn je weniger Gewalt
wir unsern Verehrern über unser Herz gestatten, je
größer ist diejenige, die wir über das ihrige erlangen. Ich
setze zum voraus, was sich von selbst versteht, daß wir nie
zu viel Reizungen und Talente, nie zu viel Eigenschaften
haben können, wodurch wir anlocken, gefallen, bezaubern, uns
den Reiz der Neuheit geben, und durch die Mannichfaltigkeit
und Größe der Vortheile, die sie in unserm Umgang finden,
uns ihnen unentbehrlich machen können. Die ganze Theorie,
von der ich dir spreche, ist nur für die Danaen und ihresgleichen
gemacht. Aber außerdem, daß es uns ungleich leichter
als den Männern wird, in allen Dingen die Vollkommenheit
zu erreichen, sollte der gedoppelte Vortheil, den wir durch
Ausbildung unsers Geistes erhalten, nicht fähig seyn, uns
auch die größten Schwierigkeiten, die damit verbunden seyn
könnten, übersteigen zu helfen? Die Schönheit ist ein vorgeblicher
Firniß, um den Vorzügen des Geistes und den
Talenten einen höhern Glanz zu geben: aber nichts ist gewisser,
als daß sie von ihnen mehr zurück empfängt als sie
ihnen gibt; und daß die Vorzüge eines durch schöne Kenntnisse,
Philosophie und Geschmack aufgeklärten, erhöhten und
verfeinerten Geistes, verbunden mit den Reizungen eines
schimmernden Witzes und eines gefälligen Umgangs, hinlänglich
sind, um die unbedeutendste Figur über jedes belebte
Venusbild, dem diese innere Quelle mannichfaltiger und nie
veralternder Reizungen mangelt, triumphiren zu machen.
Die Schönheit thut ihre stärkste Wirkung beim ersten Anblick,
und verliert ihre anziehende Kraft in dem Maße, wie man
mit ihr bekannter wird. Ueberdieß gibt es Stunden, Tage,
ganze Perioden des Lebens, wo besondere Beschaffenheiten des
Leibes oder der Seele — Sättigung — Launen — erschöpfte
Lebensgeister — oder Sorgen und Unruhe des Gemüths —
oder ernsthafte Geschäfte — oder der Frost des Alters, allem
Zauder der Schönheit Trotz bieten. Vergebens berührt die
schöne Circe den von Minerva mit einem Gegenmittel versehenen
Ulysses mit ihrem Zauberstab, und befiehlt ihm die
Gestalt anzunehmen die sie ihm geben will: unverwandelr
bleibt Ulysses vor ihr stehen, und Circe ist für ihn keine
Zaubrerin, sondern eine gemeine Frau. Aber sobald ihn die
Sirenen, unter feinen Schmeicheleien seiner Ruhmbegierde,
zu Vergnügungen des Geistes einladen, ihm sagen, "daß sie
alles wissen, was geschehen ist und geschehen wird:" — dann
fühlt er einen unwiderstehlichen Hang, verliert alle Gewalt
über sich selbst, und würde in die Wellen springen, um zu den
Ufern dieser Seelenbezwingerinnen hinüber zu schwimmen,
wenn seine Gefährten die Bande nicht verdoppelten, womit
er an den Mast gebunden ist. Ich weiß nicht, ob Homer die
Absicht hatte, unter diesen Bildern die Wahrheit anzudeuten,
von der ich rede; aber dieß ist gewiß, daß sie sich nicht besser
dazu schicken könnten, wenn er sie ausdrücklich dazu gewählt
hätte. Die Schöne, welche, ohne darum weniger ein Gegenstand
angenehmer Empfindungen zu seyn, den Verstand eines
Liebhabers, oder — was im Grunde auf dasselbe hinaus
kommt — eines Freundes zu interessiren weiß; die sich ihm
durch ihren Rath in Geschäften, durch ihren Witz in Verlegenheiten,
durch ihre Scherze in trübsinnigen Stunden, durch
ergötzende Talente, wenn er belustiget, durch ernsthafte Gespräche,
wenn er unterhalten seyn will, nothwendig machen
kann; — die Schöne, die eine Schülerin und Gespielin der
Musen ist, und von den Charitinnen die Gabe empfangen hat,
Anmuth und Gefälligkeit über alles was sie sagt und thut zu
gießen, —glaube mir, Danae, diese Schöne ist mehr Königin,
als die oberste Sklavin des Despoten von Persien. Sie
herrschet über die Herzen. Alles was Empfindung und Verstand
hat, huldiget ihr. Die Philosophen, die Helden, die
Virtuosen machen ihren Hof aus. In ihren Augen, von
ihren Lippen erwartet jeder die Bestätigung seiner eignen
Vorzüglichkeit. Der Dichter, der Künstler ist nicht eher mit
seinem Werke zufrieden, bis er ihres Beifalls gewiß ist; und
der Weise selbst erröthet nicht, sich für ihren Schüler anzugeben.
Aber nicht nur über das Reich des Schönen erstreckt
sich ihre Herrschaft; ihr Einfluß über diejenigen, die am Ruder
der Staaten sitzen, macht sie zur ersten Bewegerin der Triebräder
der politischen Welt; und öfter als es diejenigen vermuthen,
die nicht in das Innere der Maschine sehen, entscheidet
sie, wohl oder übel, das Schicksal der Völker."Wir sind allein, Danae — warum sollte mich eine falsche
Bescheidenheit zurückhalten, dir über alles dieses mich selbst
zum Beispiel aufzustellen? Die schöne Thargelia, die, nachdem
sie in Ionien lange eine glänzende Rolle gespielt hatte,
in Thessalien endlich einen Thron bestieg, diese Thargelia ist
mir eben das gewesen, was ich dir zu seyn wünsche. Ihr
Unterricht und ihr Beispiel bildeten mich. Der Ruhm, den
ich mir schon zu Milet erworben hatte, bahnte mir den Weg
nach Athen. Eine Frau, die mit allem, was die Männer
bei unserm Geschlechte suchen, alle die Eigenschaften verband,
die sie als ein Eigenthum des ihrigen anzusehen gewohnt sind,
war in Athen eine Art von Wunder. Aspasia erregte die
allgemeine Aufmerksamkeit; in kurzem wurde sie der Gegenstand
der Bewunderung der einen und der Mißgunst der
andern. Man machte ihr ein Verbrechen daraus, daß sie die
edelsten und wichtigsten Personen des Staats durch den Reiz
der Vergnügungen in ihr Haus zöge; und eben davon, daß
es nur Personen vom ersten Rang oder von dem ausgezeichnetsten
Verdienste offen war, nahm der große Haufe der Ausgeschlossenen
Anlaß, ihre Sitten zu lästern. Aber sie ging ihren
Weg fort, Zufrieden die ersten Männer der Nation unter
ihren Freunden zu sehen, verachtete sie die Urtheile des Pöbels
und die Spöttereien der Athenischen Possenspiele. Ihr
Haus war eine Art von Akademie der schönsten Geister und
der größten Künstler Gräciens. Staatsmänner besuchten es,
um im Schooß der Musen und Grazien auszuruhen; die
Anaxagoras und Sokrates, um ihre Philosophie aufzuheitern;
die Phidias und Zeuxis, um schöne Ideen zu haschen; die
Dichter, um ihren Werken die letzte Politur zu geben; die
edelste Jugend von Athen, um sich zu bilden, oder wenigstens
um sich rühmen zu können in Aspasiens Schule gebildet zu
seyn. Viele der ersten Redner Griechenlands schätzten sich's
zur Ehre, die Geheimnisse ihrer Kunst von Aspasien gelernt
zu haben; und diese Aspasia — die in ihrem ersten Anfange
nichts mehr gewesen war, als was Danae war, da der schöne
Alcibiades sie aus der Werkstätte des Malers Aglaophon und
den Klauen der alten Krobyle rettete — endigte damit, die
Gemahlin des Perikles zu werden, und einige Jahre, ohne
Diadem, unumschränkter in Griechenland zu herrschen, als
ihre Lehrmeisterin Thargelia mit einem Diadem in Thessalien
geherrscht hatte."Aber laß mich dir zum zweitenmal sagen, was nicht
oft genug wiederholt werden kann: Aspasia würde diese edle
Rolle nicht gespielt haben, würde höchstens eine Nemea, eine
Theodota gewesen seyn, wenn sie weniger Meister von ihrem
Herzen weniger vorsichtig in ihrer Aufführung, und (ungeachtet
einer überlegten Verachtung der Urtheile des Pöbels)
weniger sorgfältig gewesen wäre, sich die Hochachtung derjenigen
zu erwerben, deren Beifall für den öffentlichen Bürge
ist. Glaubst du, Perikles würde sich haben einfallen lassen,
sie zu seiner Gemahlin zu machen, wenn er Ursache gefunden
hätte, nur zu vermuthen, daß sie um einen andern Preis zu
haben wäre?"Ich habe mich (fuhr Danae nach einer kleinen Pause fort)
von der Gelegenheit, und von dem Eindrucke, den diese Rede
in mein Gedächtniß gemacht, verleiten lassen, dir durch diesen
Auszug davon eine Probe von den Discursen der Aspasia zu
geben, die ich dir schriftlich mitzutheilen versprochen habe.
Ihre Neigung zu mir, welche täglich zunahm, ging zuletzt so
weit, daß sie mir ihre Geschichte, ohne selbst den geheimsten
Theil davon auszunehmen, mit einer Offenherzigkeit vertraute,
die durch Einwebung einer Menge feiner und lehrreicher Anmerkungen
sie für mich unendlich interessant machte.Hier unterbrach sie Agathon um sie zu versichern, daß
diese Geschichte es eben so sehr für ihn seyn würde; und er
setzte hinzu, er hoffe, Danae werde sie nicht weniger als die
übrigen Unterredungen der schönen Aspasia aufgeschrieben haben.
Ihre Antwort gab ihm einige Hoffnung, daß sie seine Neugier
vielleicht auch in diesem Stücke würde befriedigen können;
und nun setzte sie, auf sein Bitten, ihre eigene Geschichte
folgendermaßen fort.—————
Fünfzehntes Buch.Verfolg und Beschluß der geheimen Begebenheiten der
Danae.—————
Aspasiens Tod. Erste Verirrung der schönen Danae.Danae hätte in den Händen einer so vortrefflichen Frau,
als die Wittwe des Perikles war, billig eine zweite Aspasia
werden sollen. Man schmeichelte ihr auch in der Folge mit
diesem Namen, der in ihren Augen alles was Schönes, Liebenswürdiges
und Großes von einem weiblichen Wesen gedacht
werden kann, in sich schließt. Aber wenn sie gleich, weder
durch ihre persönlichen Eigenschaften noch durch ihr Betragen,
sich einer solchen Lehrmeisterin unwürdig zeigte, so ist doch
gewiß, daß die Natur eine Quelle von Schwachheit in ihr
Herz gelegt hatte, die den Lehren und Warnungen der weisen
Aspasia den größten Theil von ihrer Kraft benahm, und Ursache
war, daß sie so weit hinter ihrem geliebten und bewunderten
Urbilde zurück geblieben ist. Der Verfolg ihrer Geschichte wird
mehr als zu deutliche Beweise davon enthalten.Da sie sich seit jener großen Unterredung Aspasiens Führung
mehr als jemals überließ, so wurde es ihr nun [um]so
viel leichter, den Anschlag des schönen Ariochus gegen sie zu
vereiteln, weil die Eindrücke, die er auf sie machte, nicht
stark genug waren, um bis zu ihrem Herzen einzudringen.
Indessen begegnete sie ihm doch, nach Aspasiens eignem Rathe,
so wohl, daß alle Welt, und sogar Alcibiades (der, ungeachtet
seiner scheinbaren Sorglosigkeit, kein Auge von ihr verwandte)
ihn für glücklicher hielt als er war. Ariochns selbst
dachte zu gut von seinen eignen Vollkommenheiten, um nicht
jeden Blick, jedes Wort, und sogar die Strenge, die man ihn
erfahren ließ, zu seinem Vortheil auszulegen; und so vermehrte
er den Argwohn und die Eifersucht seines Freundes durch die
vertraulichen Eröffnungen, die er ihm von seinen vermeinten
Progresse machte. Raum bildete sich Alcibiades ein, daß
ein andrer im Begriff sey, sich eines Gutes zu bemächtigen,
welches er dem Jupiter selbst nicht abzutreten entschlossen
war: so kehrte seine Neigung mit verdoppelter Lebhaftigkeit
wieder. Die kleine Pannychis wurde, mit eben so vielem Geräusche
als womit man sie angenommen hatte, wieder abgeschafft;
und, anstatt daß seine erste Liebe zu Danaen mehr
Geschmack als Leidenschaft gewesen war, so schien hingegen
das, was er itzt für sie empfand, oder zu empfinden vorgab,
alle Kennzeichen derjenigen Art von Liebe zu tragen, die von
der Göttin zu Paphos denen zugeschickt wird, welche sie für
die Verachtung ihrer Macht bestrafen will. Wenn wahre Sympathie
wenig oder keinen Antheil an diesen seinen Empfindungen
hatte, so ist doch gewiß, daß er selbst mehr von seinem
eignen Herzen betrogen wurde, als daß er den Vorsatz gehabt
hätte zu betrügen. Gewohnt überhaupt alles was er wollte
mit feuriger Ungeduld zu wollen, und in einem Augenblick
mit der größten Leichtigkeit die Farbe des Gegenstandes anzunehmen,
dem er zu gefallen wünschte, setzte er alle seine
Freunde, und vielleicht sich selbst, durch eine Verwandlung
in Erstaunen, die er für ein Wunder der Liebe hielt, wiewohl
sie, wenn ja Liebe Theil daran hatte, gewiß nur ein Wunder
seiner Eigenliebe war. Mit Einem Worte, die Furcht vor
Ariochus (einem Rival, dem er eben darum weniger als irgend
einem andern aufgeopfert werden wollte, weil er fähig schien
ihm den Vorzug streitig zu machen) scheuchte ihn eine Zeit
lang aus seinem eigenthümlichen Charakter heraus: er wurde
zärtlich, aufmerksam, bescheiden; hatte keine Augen als für
seine Geliebte, keinen Gedanken, den nicht die Begierde ihr
zu gefallen zeugte, und (was in der That einem Wunder nahe
kam) schien alle seine hohen Einbildungen von sich selbst zu
den Füßen seiner Göttin niedergelegt zu haben. Zum Unglück
für ihn ließ Aspasia ihre junge Freundin den kleinen Triumph,
den ihre Eigenliebe über alle diese vermeinten Siege ihrer Liebenswürdigkeit
zu halten bereit war, nicht ungestört genießen.
Sie entwickelte ihr die wahren Ursachen davon mit so vieler
Scharfsichtigkeit, daß Alcibiades (wiewohl er demungeachtet
einen geheimen Fürsprecher in Danaens Herzen behielt) die
Vortheile wenigstens nicht einerntete, die er sich davon hätte
versprechen können.Um dir nicht mit einer wenig interessirenden Umständlichkeit
beschwerlich zu seyn, begnüge ich mich zu sagen: daß
Aspasia, durch ihre unermüdeten Bemühungen, den Hang
ihrer Freundin zur Zärtlichkeit zu vermindern — ihre Eigenliebe
(das natürliche Gegengewicht desselben) zu verstärken —
ihrer Einbildung tausend Zerstreuungen zu geben — und ihre
Liebhaber, durch die mannichfaltigen Operationen, wodurch
einer des andern Absichten zu vernichten bemüht war, für
sie zu Gegenständen einer das Herz frei lassenden Belustigung
zu machen, — daß, sage ich, Aspasia durch alle diese Bemühungen
so viel erhielt, daß, so lange sie lebte, keiner von den
gefährlichen Leuten, von denen ihre junge Freundin umringt
war, sich eines entscheidenden Vortheils über ihr Herz rühmen
konnte. Alcibiades, — der niemals einen Begriff davon gehabt
hatte, wie man ihm so lange widerstehen könnte, —
nachdem er alles Mögliche versucht hatte, den Sieg über Aspasiens
Einfluß (denn er sah nur zu wohl daß Danae alle ihre
Stärke aus dieser Quelle zog) zu erhalten, that nun eben so
viel um über eine Leidenschaft zu siegen, welche durch Schwierigkeiten,
die sich täglich erneuerten und vermehrten, wider
seinen Willen ernsthaft geworden war. Aber alle seine Bestrebungen
schienen vergeblich. Je leichter es ihm die Schönen
von Athen machten, je mehr sie in die Wette stritten ihn zu
entschädigen: je gewisser kam er nach jeder kleinen Untreue zu
seiner Unerbittlichen zurück, deren kleinste Gunstbezeugungen,
weil sie alles waren was er von ihr erhalten konnte, mehr
Reiz für ihn hatten, als die vollständigsten Siege, die er taglich
ohne Mühe über Personen erhalten konnte, welche in ihrem
Stand und Rang ein Recht zu finden glaubten, den Trieben
dessen, was sie ihr Herz zu nennen beliebten, freien Lauf zu
lassen. Er endigte endlich damit, allen andern Verbindungen
gänzlich zu entsagen, und mit einer Regelmäßigkeit, welche
Aspasien selbst in Erstaunen setzte, alle Stunden, die er den
Geschäften entziehen konnte, einer Liebe zu widmen, welche
nunmehr bei der armen Danae ansteckend zu werden anfing.
In der That war er damals so liebenswürdig, daß ich —
wiewohl ich hierin zu parteiisch seyn mag um Glauben zu verdienen —
selbst itzt, nachdem meine Einbildung in mehr als
zwanzig Jahren Zeit genug gehabt hat sich abzukühlen, nicht
begreife, wie es möglich gewesen seyn sollte, nicht von ihm
eingenommen zu werden.Aspasia — laß mich dem Andenken der vollkommensten
Frau, die jemals gewesen ist, diese Thräne opfern —Aspasia
starb um diese Zeit. Der Schmerz über den Verlust einer
Beschützerin von so unersetzlichem Werthe verschlang eine Zeit
lang alle andern Gefühle in meiner Seele. Alcibiades schien
seiner selbst zu vergessen, um die Traurigkeit mit mir zu theilen,
in welche sich mein erster Schmerz nach und nach auflöste.
Er selbst hatte Aspasien einst geliebt; und, wiewohl ihm seine
unüberwindliche Unbeständigkeit nicht gestattet hatte, ihr so zu
begegnen wie sie es verdiente, so behielt er doch immer einen
Grad von Hochachtung für sie, den einem Manne wie er nur
eine Aspasia einflößen konnte. Die zarte, achtungsvolle Zurückhaltung,
welche seit ihrem Tode in seinem Betragen gegen
Danae herrschte; die aus einem selbst gerührten Herzen entspringende
Theilnehmung an ihrer Traurigkeit; die Gefälligkeit;
womit er sich dazu bequemte, daß Aspasia viele Tage lang
der einzige Inhalt ihrer Gespräche war; kurz, ein Benehmen,
worin die bescheidenste Liebe nur unter dem Schutze der zärtlichsten
Freundschaft um Duldung zu bitten schien, stellte unvermerkt
ein Verständniß zwischen ihnen her, an dessen Folgen
Danae nicht dachte. Da sie kein Bedenken trug, ihm ihre
Empfindungen für ihre verstorbene Freundin ohne einige Zurückhaltung
zu zeigen: so gewöhnte sie sich unvermerkt, ihn
in ihrer Seele lesen zu lassen. Alcibiades gewann täglich
mehr Raum in ihrem Herzen; und da das Bedürfniß etwas
zu lieben, welchem durch Aspasiens Tod seine gewohnte Nahrung
entzogen war, hinzukam; wie hätte sie sich erwehren
können, endlich von der Leidenschaft eines Mannes gerührt zu
werden, der in ihren Augen der liebenswürdigste unter allen
Sterblichen war?Es würde unfreundlich seyn, lieber Agathon, wenn ich dich
mit einer Abschilderung der Glückseligkeit meiner ersten Liebe
unterhalten wollte. Aber dieß bin ich doch seinem Andenken
schuldig, zu gestehen, daß, so lange der süße Irrthum unsrer
Herzen dauerte — und nie hatte er bei Alcibiades so lange
gedauert — mein ganzes Daseyn ein einziger Augenblick von
Entzücken war.Nichts scheint gewisser zu seyn, als daß die Seele, nach
dem Grade der Intension womit sie liebt, sich in den Gegenstand
ihrer Liebe zu verwandeln sucht. Mich dünkt, dieß ist es, was
unsre Dichter durch die Fabel von der Nymphe Salmacis haben
andeuten wollen. Alcibiades legte, während seine Liebe sich
dem äußersten Punkt ihrer Höhe näherte, unvermerkt seinen
eigenthümlichen Charakter ab, und der flatterhasteste, muthwilligste,
ungezähmteste unter den Männern wurde sanft; zärtlich,
empfindsam. Aber sobald auch die erste Trunkenheit der
glücklichen Liebe vorüber war, trat er durch eben so unmerkliche
Stufen in seine eigne Person zurück; und so verlor er wieder,
was er durch Danaens Einfluß auf sein Herz gewonnen hatte.Die arme Danae, welche natürlicher Weise stärker liebte
als er, mußte also auch desto mehr durch jene Wirkung der
Liebe verlieren; und was sie dadurch gewann, wiewohl ich nicht
so strenge seyn möchte ihm allen Werth abzusprechen, war doch
in aller Betrachtung nur ein schlechter Ersatz. Alcibiades theilte
ihr nach und nach so viel von seiner leichtsinnigen Fröhlichkeit —
wozu er ohnehin Anlage genug in ihrer Sinnesart fand —
und durch diese so viel von seiner Art zu denken mit, daß sie
unvermerkt über die feinen Gränzlinien hinweg kam, in welche
Aspasiens Unterricht den Plan ihres sittlichen Verhaltens eingeschlossen
hatte. Die Abweichungen waren klein; aber es waren
doch immer Abweichungen, wodurch sie, um so viel als sie von
ihrem Urbilde sich entfernte, den Nemeen und Theodoten —
mit denen sie doch verglichen zu werden erröthet hätte —
näher kam.Eine der wichtigsten Folgen dieser Untreue an den Grundsätzen
ihrer Lehrmeisterin, wozu der reizende Verführer sie
verleitete, war wohl diese: daß sie, auch nachdem sie sich selbst
nicht mehr verbergen konnte, daß alles Geistige von seiner
Liebe gänzlich verraucht war, gleichwohl schwach oder leichtsinnig
genug blieb, sich an dem zu begnügen, was nur für
eine Nemea ein würdiges Opfer seyn konnte. Zwei Betrachtungen
könnten ihr vielleicht zu einiger Entschuldigung dienen: —
die eine, daß er Achtung genug für sie hegte, um das Auffallende
in seinem Betragen durch sehr seine Gradationen zu
vermindern; — die andre, daß ihre Neigung zu ihm niemals
auf wirkliche Sympathie gegründet, sondern bloßer Geschmack
war, dem die Umstände die Gestalt der Liebe gaben.Aber ich selbst. mein lieber Agathon, fühle zu sehr, daß
Entschuldigungen eine schlimme Sache nicht besser machen,
als daß ich von diesen einigen Vortheil zu ziehen hoffen sollte.
Indessen bin ich doch der Wahrheit das Geständniß schuldig,
daß dieser Irrthum nicht lange genug dauerte, um Danaen
in den Augen ihres flatterhaften Liebhabers, oder (was noch
schlimmer gewesen wäre) in ihren eignen verächtlich zu machen.
Und, wie vielleicht kein Uebel ist, das nicht zu etwas gut seyn
sollte, so diente er wenigstens dazu, daß sie unvermerkt auf
den Augenblick vorbereitet wurde, der bei einem Liebhaber wie
Alcibiades früher oder später nothwendig kommen mußte
und daß sie die angenehme Bezauberung, unter welcher sie
sich befunden hatten, mit einer Art von Gleichgültigkeit verschwinden
sah, die zwar der Eitelkeit ihres Ungetreuen nicht
sehr schmeichelte, aber ihm doch auch die tragischen Auftritte
ersparte, womit gewöhnlich die Heldinnen verliebter Geschichten
den Ausgang derselben veredeln zu können glauben.Danae war durch Aspasiens Tod ohne Zweifel zu früh
einer Führerin beraubt worden, deren Aufsicht und Gewalt
über ihr Herz sie vielleicht vor den Verirrungen, deren sie
sich anklagen muß, bewahrt hätte. Aber wenigstens hatte diese
großmüthige Freundin dafür gesorgt, daß die Noth — unter
allen Ursachen, die uns in Abwege stürzen können, die grausamste —
nicht die Schuld tragen möchte, wenn die junge
Danae ihrer Lehren jemals vergessen sollte; und Alcibiades,
der bei allen seinen Fehlern ein königliches Herz besaß, hatte
Mittel gefunden, dieses Vermächtniß aus eine so edle Weise
zu verdoppeln, daß er ihr keinen Vorwand ließ, seine Wohlthaten
auszuschlagen. Sie sah sich dadurch im Stande, die
Lebensart fortzuführen, an welche sie in Aspasiens Hause gewöhnt
worden war. Aber demungeachtet wurde ihr der
Aufenthalt an einem Orte, der das Grabmal ihrer Freundin
in sich hielt, von dem Augenblick an verhaßt, da die Letheische
Kraft der ersten Liebe zu wirken aufhörte.Ein Umstand, der ihren Entschluß, Athen zu verlassen,
nothwendig machte und beschleunigte, war das Verlangen,
sich dem Ungestüm des großen Haufens ihrer Liebhaber zu entziehen,
welche ihre Anmaßungen wieder erneuerten, sobald es
bekannt war, daß Alcibiades sich zurückgezogen habe. Die Art,
wie diese Herren sich dabei benahmen, bewies ihr, wie viel sie
durch ihre Schwachheit (welche, Dank ihrer eigenen Unvorsichtigkeit,
ganz Athen zum Zeugen hatte) in den Augen der Welt
verloren haben mußte. Diese Vorstellung war ihr um so unerträglicher,
je weiter sie von dem Gedanken entfernt war,
durch einen zweiten freiwilligen Fehltritt die Schuld des ersten,
des gewissermaßen unvorsentzlich genannt werden konnte, zu vergrößern.
Denn ungeachtet ihre Verbindung mit dem Alcibiades
den Namen der Liebe, in der edelsten Bedeutung dieses
Wortes, nicht verdiente: so machten doch alle die besondern
Umstände, die dabei vorgewaltet hatten, daß sie als eine Ausnahme
von der gemeinen Regel angesehen werden konnte. Das
Herz hatte wenigstens vielen Antheil an ihrem Irrthume
gehabt; und die außerordentlichen Eigenschaften ihres Besiegers
entschuldigten sie einigermaßen in den Augen derjenigen, die
in solchen Fällen irgend eine Entschuldigung gelten lassen.
Aber was hätte sie entschuldigen können, wenn sie die Zahl
derjenigen hätte vermehren wollen, welche ihre Niederlage
voraussehen, den ganzen Plan ihres Verfahrens zu diesem
Endzweck anordnen, und dem Wohlstande völlig genug gethan
zu haben glauben, wenn sie nicht zu wissen scheinen, was nur
einer gänzlichen Unerfahrenheit unbekannt seyn kann?Nicht wenige von den vornehmsten Frauen in Athen befanden
sich damals in diesem Falle. Aber Danae erinnerte
sich zu lebhaft wieder des Gelübdes, welches sie in ihrer ersten
Jugend den Grazien gethan, und der Lehren, die sie von
Aspasien empfangen hatte, um in fremden Beispielen ein Heilungsmittel
wider die Verachtung ihrer selbst zu finden."Aber das Bedürfniß etwas zu lieben?" sagte Agathon. —
Gestehen wir, es war ein wenig hart von ihm (wiewohl er's
nur mit leiser Stimme that) diesen aus ihrem eignen Munde
aufgefaßten Einwurf gegen sie geltend zu machen. Auch schien
die gute Danae die ganze Grausamkeit desselben zu empfinden.
Sie schwieg etliche Augenblicke; doch nicht lange genug, daß
es das Ansehen hätte haben können, als ob sie auf Ausflüchte
denken müsse. — Wenn Agathon noch nicht müde ist meiner
Erzählung zuzuhören, versetzte sie, so wird ihm der Verfolg
meiner Begebenheiten die Antwort auf eine Frage geben, welche,
so natürlich sie an sich selbst ist, aus dem Mund eines Freundes
unerwartet seyn könnte.Agathon fühlte die Stärke dieses Vorwurfs desto tiefer,
je sanfter er war. Er war nicht mehr jung genug, um seine
Sache durch Entschuldigungen schlimmer zu machen. Sie schwiegen.
Er wagte es eine gute Weike nicht, Danaen anzusehen.
Endlich hob er die Augen zu ihr auf, um sie mit einem von
diesen Blicken, womit eine Seele die andre zu durchdringen
scheint, um Vergebung zu bitten. Er sah eine Thräne in ihren
schönen Augen zittern, und sank unaussprechlich gerührt zu
ihren Füßen.Dieß war ein gefährlicher Augenblick! Danae fühlte es,
und hatte Stärke genug, ihn nicht länger als wenige Augenblicke
dauern zu lassen. Sie stand auf, indem sie zugleich seine
Hand ergriff. — Sie befanden sich eben damals in einem
kleinen Gartensaale, welchem hohe Gebüsche von wilden Lorbern
und Myrten Schatten und Kühlung gaben. — Die Scene
(wie wir schon einmal erinnerten) ist in solchen Umständen
nicht gleichgültig. — Komm, Agathon, sagte sie, wir wollen
unsre Psyche aufsuchen. Wir werden sie ganz gewiß mit ihren
Kindern unter den Blumen sitzend finden. Ich fühle, daß ich
eines solchen Anblicks vonnöthen habe.Agathon druckte zitternd ihre Hand an seinen Mund, und
folgte ihr, stillschweigend, ohne Widerstand.—————
Danae und Cyrus.Wir haben (so fuhr Danae, als sie sich wieder dazu aufgelegt
fand, in ihrer Geschichte fort) einen Mann aus dem Gesichte
verloren, der nicht die Miene hatte, aufzutreten um nur
wieder zu verschwinden.Ariochus, als der erste unter des Alcibiades Freunden und
als Aspasiens Erbe, hatte zu viel Veranlassung, auch nach dem
Tode derselben die mit Danaen in ihrem Hause gemachte
Bekanntschaft zu unterhalten — und hatte vormals schon zu
viel Hoffnung glücklich bei ihr zu werden gehabt, als daß er
sich nicht, vor allen andern, mit einem Vorrecht an die von
seinem Freund erledigte Stelle in ihrem Herzen hätte schmeicheln
sollen. Die Schwierigkeiten, die seinen erneuerten Bemühungen
entgegengesetzt wurden, verdoppelten seinen Muth,
so lange er sie für bloße Grimassen ansah; aber da er sie endlich
fur Ernst erkennen mußte, wurde er behutsamer. Er betrachtete
sie als Schlingen, wodurch man ihn dahin zu bringen
hoffte, wohin Aspasia den großen Perikles gebracht hatte. Es
war natürlich, daß er alles Mögliche anwandte, seine Leidenschaft
um einen geringern Preis zu befriedigen. Allein, da
ihm Danae mit einer Vorsichtigkeit, die der Schülerin Aspasiens
würdig war, alle Gelegenheit, ihr mit einigem Schein von
Wohlstand andre Vorschläge zu thun, abschnitt: so stimmte er
zuletzt sein Betragen und seine Sprache auf einen solchen Ton,
daß sie unrecht zu thun geglaubt hätte, ihm nicht wenigstens so
gut zu begegnen, als es die scheinbare Anständigkeit seiner Absichten
zu erfordern schien.Ariochus hatte den größten Theil seines Vermögens in der
Nachbarschaft von Milet; und in eben dieser Gegend lag ein
kleines Gut, welches Aspasia ihrer jungen Freundin hinterlassen
hatte. Danae beschloß (unter dem Schutz einer ehmaligen vertrauten
Freundin ihrer Wohlthäterin, welche gewöhnlich zu
Milet wohnte) sich dahin zu begeben. Ariochus, welcher vermuthlich
auf eine oder andere Art Vortheil davon zu ziehen
hoffte, bestärkte sie in diesem Vorsatz, und half ihr die Ausführung
desselben beschleunigen.Danae befand sich itzt in dem Alter, wo ihr Spiegel mit
ihrer Eitelkeit so gut einverstanden war, daß sie die Lobsprüche,
die man ihren Reizungen gab, für etwas mehr als Schmeicheleien
halten mußte. In der That, Agathon, ich würde mir selbst
noch lächerlicher scheinen als dir, wenn ich von dem, was ich
damals in meinen eignen Augen war, eine Abschilderung zu
machen versuchen wollte. Indessen, wenn ich mir zu viel
schmeichelte, bin ich mir wenigstens die Gerechtigkeit schuldig
zu sagen, daß alle, die mich sahen, es verabredet zu haben
schienen, mich des Gegentheils zu überreden. Und wie hätte
eine Person von zwanzig Jahren, die unter der Form bald einer
Aurora oder Latona, bald einer Diana oder Venus oder einer
von den Nymphen für welche sich Jupiter verwandelte, allenthalben
ihr eignes Bildniß erblickte, wie hätte sie nicht in gewissen
Augenblicken so vielen Versuchen zur Eitelkeit unterliegen
sollen? Wie natürlich war es, wenn sie zuweilen dachte,
was eine Semiramis, eine Rhodope, eine Thargelia ursprünglich
gewesen, und wodurch sie sich bis zu dem, was das äußerste
Ziel der menschlichen Wünsche ist, hinaufgeschwungen hatten, —
daß sie sich alsdann in Träume verirrte, die zu Wünschen und
aus Wünschen oft zu Entwürfen wurden! — So viel Thörichtes
auch immer in allen diesen Dingen seyn mochte, so fand sie
doch darin ein mächtiges Gegenmittel gegen die Versuchungen,
von denen sie umgeben war, und selbst gegen das Bedürfniß
etwas zu lieben, dessen du neulich erwähntest. Dieses Bedürfniß
müßte außerordentlich dringend seyn, und wenigstens seinen
Grund nicht im Herzen haben, wofern es nicht eine Zeit lang
von Eitelkeit und Ehrbegierde überwogen werden könnte. Je
mehr wir in uns selbst verliebt sind, pflegte Aspasia zu sagen,
je weniger sind wir fähig etwas außer uns zu lieben. —Das Schicksal spielt zuweilen so wunderlich mit den Sterblichen,
daß Danae in der Folge nahe dabei war, dasjenige erfüllt
zu sehen, was sie selbst fur den ausschweifendsten Traum
gehalten hatte.Um die Zeit da ich nach Asien überzugehen beschloß, machten
die Cilicischen und Pisidischen Seeräuber, unter dem Schutze,
den ihnen die Statthalter des Königs von Persien gegen einen
beträchtlichen Antheil an ihrer Beute angedeihen ließen, die
Griechischen Meere mehr als jemals unsicher. Ich hatte das
Unglück, auf meiner Ueberfahrt nach Milet in die Hände eines
von diesen Corsaren zu fallen. Antiochus, der mich begleitete,
bezahlte meine Vertheidigung mit seinem Leben, und ich wurde
als Sklavin nach Sardes verkauft, wo sich damals Cyrus, der
jüngere Bruder des großen Königs, aufhielt.Die außerordentlichen Eigenschaften dieses Prinzen, sein
Entwurf seinen Bruder vom Throne zu werfen, und sein unglückliches
Ende sind dir bekannt. Die Natur schien sich in
seiner Hervorbringung erschöpft zu haben. Eine barbarische
Erziehung hatte wenig gethan seine Fähigkeiten auszubilden,
und daher behielten seine Tugenden selbst etwas Wildes, das
ihnen oft das Ansehen von Ausschweifungen gab. Aber die
Majestät seiner Gestalt, seine außerordentliche Leibesstärke,
seine Geschicklichkeit in allen kriegerischen Uebungen, seine
Großmuth und Freigebigkeit, kurz das Heldenmäßige, das die
Morgenländer an ihren Königen so sehr lieben, nahm die Persischen
Völker dergestalt fur ihn ein, daß sie ihn allein für
würdig hielten, den Thron des Cyrus, dessen Namen er führte,
auszufüllen.Dieser Prinz unterhielt nach der Gewohnheit seines Landes
ein zahlreiches Gynäceum, welches die Intendanten seiner Vergnügungen
mit Schönheiten aus allen Gegenden der Welt anzufüllen
besorgt waren. Danae hatte die Ehre, zugleich mit
fünf oder sechs andern jungen Griechinnen, für diese Sammlung
gekauft zu werden. Die Veränderung ihres Schicksals
war zu plötzlich und zu stark, um mit Gleichgültigkeit ertragen
zu werden. Gleichwohl kam ihr in diesen Umständen die Philosophie
der schönen Aspasia, und (was nicht zu vergessen ist)
eine Sinnesart, die sehr gut zu ihr stimmte, nicht wenig zu
Statten. "Sklavin oder frei, ein schönes Weib, das seine
Macht kennt und sie gelten zu machen weiß, ist allenthalben
Königin wohin sie kommt," — war, wie du dich erinnerst der
erste Grundsatz ihres Systems.Danaens neue Gespielen oder Rivalinnen (denn daß sie
das letzte seyn würden, kündigte ihr Betragen deutlich an)
kamen nicht aus Aspasiens Schule. Sie glaubten es vortrefflich
gemacht zu haben, wenn sie die Sinnen ihres neuen
Herrn mit allen ihren Reizen und Künsten auf einmal betrinken.
Ihre Blicke, ihre Gebärden, ihr Ton, ihr Putz, erklärten
ihm in der ersten Minute, da wir ihm vorgestellt
wurden, ihre Absichten auf eine so unzweideutige Art, daß der
Prinz keinen Augenblick zweifelhaft bleiben konnte, zu welchem
Gebrauch er sie zu bestimmen hätte. Danae, in ihren Schleier
eingewickelt, stand hinter den übrigen, und wurde zuletzt bemerkt:
aber Cyrus schien von ihrem Anblick getroffen zu werden.
Er betrachtete sie eine Weile mit einer Art von angenehmem
Erstaunen, welches an einem morgenländischen
Fürsten, dessen Augen sich vermuthlich an allen Arten der
Schönheit satt gesehen hatten, schmeichelhaft seyn mußte. Ein
Wink mit der Hand machte die Rivalinnen verschwinden, und
Danae befand sich mit ihrem neuem Gebieter allein.Gebieter! — dieß Wort befand sich nicht in dem Wörterbuch
einer Schülerin der Aspasia. Auch wurde Cyrus bald
genug überzeugt, daß es unmöglich seyn würde, sie jemals mit
der Bedeutung desselben zu versöhnen. Eine Schöne, die
etwas mehr Seele hat, als vonnöthen ist um eine Bildsäule
zu beleben, schien eine große Neuigkeit für ihn zu seyn. —
Ich hoffe, Agathon, du erlässest mir eine genaue Umständlichkeit
in der Erzählung dieser Scene, und einiger folgenden, welche
der Streit zwischen den Anmaßungen eines despotischen Liebhabers
und der Ungeschmeidigkeit einer freigebornen und an
die vorerwähnten Grundsätze gewöhnten Griechin nothwendig
veranlassen mußte. Bei Gegenständen dieser Art ist es allzu
schwer seine eigne Geschichte zu erzählen, wenn man, um der
Wahrheit getreu zu bleiben, sich den Schein der Parteilichkeit
gegen sich selbst zuziehen muß. Agathon weiß, daß ich weit von
der Thorheit entfernt bin, auf die Vorzüge, die ich der Natur
und dem Glücke zu danken haben kann, einbildisch zu seyn.
Und eben so wenig denke ich falsch genug, mir daraus ein Verdienst
machen zu wollen, daß ich keinen Beruf in mir spürte,
mit den übrigen demüthigen Werkzeugen der Vergnügungen
eines üppigen Barbaren, so blendend auch immer seine Geburt
und seine persönlichen Vorzüge seyn mochten, in die nämliche
Classe gestellt zu werden. Genug, mein Betragen, worin
Sprödigkeit und Gefälligkeit, anziehende und zurückstoßende
Kräfte seltsam genug zusammen spielten, gab durch den Erfolg
einen neuen Beweis von der Nichtigkeit des Systems der weiblichen
Politik, wovon Aspasia in gewinnt Verstande als die
Urheberin angesehen werden kann.Cyrus hätte nur der Erziehung genossen haben sollen,
welche Perikles und Sokrates an den ausschweifenden Alcibiades
verschwendeten, und er würde der beste unter den Fürsten geworden
seyn. Seine Fehler lagen weder in seinem Kopfe
noch in seinem Herzen: es waren Fehler eines zu leicht aufwallenden
Blutes, oder Fehler seines Standes, seiner Nation,
seiner schlechten Erziehung; und die von der letzten Art —
nicht eingewurzelt genug, um nicht noch einige Verbesserung
zuzulassen; zumal da ihn seine natürliche Neigung zu allem,
was schön und gut und edel ist, hinzog. Es gelang also Danaen
endlich, den halb erstickten Keim von zärtlicher Empfindung,
den die Natur in seine Seele gelegt hatte, wieder aufleben
zu machen. Cyrus, der das bloße Spiel der Sinne so lange
für Liebe gehalten hatte, lernte lieben, und wurde selbst liebenswürdig.Von diesem Augenblick an war Danae die einzige Besitzerin
seines Herzens; sie vermochte alles über ihn, und theilte seine
Zuneigung mit keiner andern. Man sagte, sie hätte dieß zur
unumgänglichen Bedingung ihrer Gefälligkeiten für ihn gemacht.
Aber diejenigen, die dieß sagten oder glaubten, kannten
sie nicht. Sie verstand sich besser auf ihre Vortheile, um
etwas zu fordern, das ihre Gesinnungen für ihn verdächtig
hätte machen müssen. Aller Antheil, den sie an der Entlassung
seiner Beischläferinnen hatte, war, daß sie das Geheimniß besaß,
ihm, zu eben der Zeit da sie ihm am schlimmsten zu begegnen
schien, einen Grad von Hochachtung einzuflößen, den er noch
für keine andre ihres Geschlechts empfunden hatte. Die Vergleichung,
die er zwischen ihr und ihren Rivalinnen anstellte,
war diesen nachtheilig; und er entfernte sie, weniger um
Danaen ein Opfer zu bringen, als um sich selbst von beschwerlichen
Gegenständen zu entledigen. Die allzu willigen Geschöpfe
hatten sich an der demüthigen Ehre begnügt, seine
Begierden zu erwecken; Danae hingegen ließ ihm keine
Hoffnung, jemals anders als durch Gewinnung ihres Herzens
glücklich bei ihr zu werden. Jene hatten höchstens nur seine
Person in ihm geliebt: Danae überzeugte ihn, daß sie seine
Glückseligkeit suche, an seinem Ruhm Antheil nehme, und sobald
sie den Prinzen Cyrus eines so glorreichen Namens würdig
sähe, alles für ihn zu thun fähig sey. Natürlicher Weise mußte
seine Liebe zu ihr mit dieser Ueberzeugung von ihren Gesinnungen
in gleichem Verhältnisse steigen. Eben so natürlich
ging es zu, daß sie, auch nachdem sie aus Dankbarkeit und Neigung
seine Liebe gekrönt hatte, sich unverändert in dem Besitz
seines Herzens erhielt. Die Perserinnen konnten nicht begreifen,
wie dieß ohne Zaubermittel zugehen könne. Sie
wußten nicht, daß man, nachdem was bei ihnen die letzte Gunst
war, noch unendlich viel zu bewilligen haben könne. Danae
hatte von Aspasien (und, um aufrichtig zu seyn, von einem
noch größern Meister) die Kunst gelernt, die man die Oekonomie
der Liebe nennen könnte. Sie wußte Kleinigkeiten einen Werth
zu geben, und verkleidete das Vergnügen in so mancherlei
Gestalten, daß es immer den Reiz der Neuheit hatte. Cyrus
fand in ihrem Geist, in ihrem Herzen, in ihren Talenten, in
ihren Launen selbst, unerschöpfliche Quellen gegen lange Weile
und Ueberdruß; aber, was das wichtigste war, er fühlte daß er
besser durch sie wurde. Mit Einem Worte, sie wurde für ihn
was Aspasia für Perikles gewesen war, und er gefiel sich selbst
so wohl in dieser Vorstellung, daß er sie gewöhnlich nur seine
Aspasia zu nennen pflegte.Gewohnt alle seine Geheimnisse, Anschläge und Sorgen
mit ihr zu theilen, entdeckte er ihr auch sein Vorhaben gegen
den König seinen Bruder: und Danae, nachdem sie es lange
bestritten hatte, ergab sich endlich (es sey nun daß sie recht
oder unrecht daran that) der Stärke seiner Gründe. In der
That konnte sie die Sachen in dem Lichte, worin sie ihr dargestellt
wurden, nicht anders sehen. Cyrus hatte große Beschwerden
gegen Artaxerres zu führen; sein Geburtsrecht zur
Krone war so unläugbar als seine persönlichen Vorzüge; die
Herzen der Völker waren für ihn; man hoffte die glücklichen
Zeiten des ersten Cyrus unter ihm wieder kommen zu sehen;
überdieß war die Erbitterung zwischen dem König und ihm schon
so weit gekommen, daß nothwendig einer von beiden das
Opfer davon werden mußte. und wie wollte ich einem Manne,
der das menschliche Herz so gut kennt wie Agathon, verbergen
können, daß die Parteilichkeit für einen Prinzen den ich hochschätzte,
und die Aussichten womit meiner Eigenliebe durch
seine Entwürfe geschmeichelt wurde, mehr als hinlänglich waren,
jenen Betrachtungen ein überwiegendes Gewicht zu geben?
Welches Frauenzimmer würde, wenn es in ihrer Gewalt
stande, den Mann, von dem sie angebetet wird, nicht zum
Monarchen des Erdbodens machen?Danae, unter dem Namen Aspasia, den er ihr beigelegt
hatte, begleitete den Cyrus in den Feldzug, dessen Ausgang
alle ihre Hoffnungen mit seinem Leben endigte. Seine Liebe
zu ihr war so groß, daß sie ihn nur mit vieler Mühe dahin
bringen konnte, sie den Gefahren und der Ungewißheit seines
eigenen Schicksals ausgesetzt zu sehen. Der Gedanke, daß sie
im unglücklichen Falle, die Beute des ihm so sehr verhaßten
Artaxerres werden könnte, war ihm unerträglich; auch erhielt
sie seine Einwilligung nicht eher, bis alle mögliche Vorsicht für
ihre Sicherheit gebraucht worden war. Sie folgte ihm in
männlichen Kleidern. Unter ihren Begleiterinnen befand sich
eine junge Griechin, die ihr an Gestalt ähnlich genug, und
überdieß mit Vorzügen versehen war, welche sie im Nothfalle
fähig machten, die Aspasia des Prinzen in einem Persischen
Harme vorzustellen. Der unglückliche Ausgang der entscheidenden
Schlacht bei Kynara machte diese Vorsicht nur allzu
nothwendig. Danae hatte den Muth — oder die Schwachheit
— einen Prinzen zu überleben, von dem sie so zärtlich geliebt
worden, und der eines glücklichern Schicksals so würdig war.
Vielleicht ist dieß der schwärzeste Flecken in ihrem ganzen Leben: —
aber (setzte sie mit einem Blick hinzu, der fähig gewesen
wäre einen noch schwätzern Flecken auszulöschen) ich
überlasse es dem Agathon selbst, mich hierüber zu entschuldigen. —
Daß Agathon etwas hierauf gesagt haben werde,
läßt sich leicht vermuthen; aber es gehört nicht zur Geschichte
der Danae, und wir lassen sie selbst fortreden.—————
Danae zu Smyrna. Beschluß ihrer Geschichte, mit dem schönen Siege,
den sie über Agathon erhält.Die List, die ich nicht weniger aus eigner Neigung, als
um den geliebten Schatten eines unglücklichen Prinzen zu befriedigen,
dem Artaxerres spielte, gelang vollkommen. Die
schöne Milto, meine Vertraute, ging an meiner Statt in die
Hände des Siegers über, flößte diesem Monarchen die heftigste
Leidenschaft ein, und spielte, unter dem Namen Aspasia, viele
Jahre lang zu Babylon und Ekbatana eine Rolle, welche Stoff
genug für eine Milesische Fabel von zwanzig oder dreißig
Büchern geben könnte. Die wahre Danae hingegen, welche
von den Herrlichkeiten des Serails zu Babylon einen zu richtigen
Begriff hatte, um ihre Freiheit dagegen zu vertauschen,
entkam mit eben dem sonderbaren Glücke, welches alle Perioden
ihres Lebens bezeichnet, erwählte Smyrna — den reizendsten
Ort der Welt für eine Person, die noch nicht daran denken
konnte den Vergnügungen des Lebens zu entsagen — zu ihrem
beständigen Aufenthalt, und fand sich durch die Vorsorge des
Prinzen Cyrus in den Stand gesetzt, unter ihrem eigenen Namen
auf demjenigen Fuß daselbst zu leben, von welchem
Agathon ein Augenzeuge gewesen ist.Der Name Danae, unter welchem sie sich ankündigte,
und der zu Smyrna nicht unbekannt war, überhob sie der
Mühe, den Neugierigen von ihrer Person nähere Rechenschaft
zu geben: und ihre Lebensart besänftigte nach und nach das
Vorurtheil, das dieser Name gegen sie erwecken konnte. So
leicht die Fesseln gewesen waren, welche sie während ihrer Verbindung
mit dem Prinzen Cyrus getragen hatte, so waren es
doch Fesseln gewesen, deren Erinnerung ihr die wieder erlangte
Freiheit unschätzbar machte. Diese Freiheit, von niemand als
ihrem eignen Herzen Gesetze anzunehmen, war in ihren Augen
ein so großes Gut, daß kein Glück in der Welt sie hätte in
Versuchung setzen können, es dagegen zu vertauschen. Nur
die öffentliche Hochachtung wollte sie dieser Freiheit nicht aufopfern:
und so schwer es vielleicht an jedem andern Orte der
Welt gewesen seyn möchte, beide mit einander zu verbinden,
so wohl gelang es ihr zu Smyrna, wo der sanfteste Himmel
den Geist der Gefälligkeit und der Freude über ein glückliches
Volk ausgießt; welchem das Geheimniß eigen ist, die Emsigkeit
mit den Vergnügungen und persönliche Freiheit mit politischer
Ordnung zu vereinbaren. Ohne zu irgend einer besondern
Classe zu gehören, genoß Danae des Vergnügens, für die
Einzige in ihrer Art erkannt zu werden; und, es sey nun mit
Recht oder Unrecht, ihre Eitelkeit fand sich durch diesen Gedanken
geschmeichelt. Wenn sie Aspasien — für deren Tochter
man sie zu Smyrna hielt — zu ihrem Muster nahm, so geschah
es auf eine Art, die ihr den Ruhm erwarb, selbst unnachahmlich
zu seyn; so wie die vorzüglichsten Schüler des
Sokrates ihren Meister von so verschiedenen Seiten nachbildeten,
daß jeder selbst ein Urbild wurde.Eine ihrer ersten Verrichtungen, nachdem sie sich in
Smyrna festgesezt hatte, war, den Grazien einen Tempel zu
bauen. — Du kennst ihn, Agathon!Hier bemühte sich die schöne Danae vergebens einen
Seufzer zu unterdrücken, von dem sich ihr Herz bei diesen
letzten Worten erleichterte. Agathon sah ihn, wie er sich allmählich
aus ihrem schönen Busen emporarbeitete, und seufzte
mit. O was für rinnerungen! — rief er, indem er mit
einem Blick, in welchem alle diese Erinnerungen gemalt waren,
ihre Hand ergriff.Danae — welche keinen Erinnerungen Platz lassen wollte,
die ihren Entschluß hätten erschüttern können — war grausam
genug keine Antwort auf diese Ausrufung zu geben, und nach
einer Pause fuhr sie also fort: aber —laß uns der Wahrheit
dieß Opfer bringen! — die Grazien, zu deren Priesterin sie
sich weihte, waren nicht die Grazien des Pindarus; nicht die
Gespielen und Begleiterinnen der himmlischen Venus; nicht
die keuschen Göttinnen, denen deine Psyche als Jungfrau, als
Freundin, als Gattin und als Mutter, diente. Danae erröthet
weniger über das was sie war, als über den Gedanken, sich
selbst oder ihrem Freunde verbergen zu wollen, wie weit sie,
selbst in dem höchsten Triumphe der Liebenswürdigkeit, die
man ihr damals zuschrieb, unter einer Psyche war. Die
Tänzerin der Leda beleidigt die Gottheit der Grazien eben
dadurch, daß sie ihren keuschen Schleier um einen solchen
Charakter werfen will. So empfinde ich's itzt; und ich kann
mir so gute Ursachen geben diese Empfindung zu rechtfertigen,
daß ich nicht besorgen darf von ihr betrogen zu werden. Aber
damals machte mich eine angenehme Täuschung der Einbildung
und des Herzens anders denken.Drei oder vier Olympiaden, mein lieber Freund, können
den Gesichtspunkt, woraus wir die Sachen ansehen, sehr verrücken.
Wie natürlich ist es, wenn Jugend und blühende Gesundheit
den Geist der Freude über uns und alles um uns her
ausgießt, daß wir dann alles in einem zu milden Lichte betrachten;
daß alsdann die Gränzen des Wahren und Falschen,
des Guten und Bösen oft in unsern Begriffen schwimmen und
in einander fließen; und daß wir uns noch viel darauf zu gute
thun, wenn wir das Geheimniß gefunden zu haben glauben,
die Weisheit mit den Grazien und die Grazien mit der
Wollust in Eine schöne schwesterliche Gruppe zusammen zu
schlingen!Zu allem diesem kam noch die begeisternde Liebe der
Musenkünste, das Vergnügen, das mit der Besiegung großer
Schwierigkeiten verbunden ist, und der zauberische Reiz, womit
ein vielleicht bloß eingebildetes Ideal der Vollkommenheit unsre
ganze Seele anzieht. Vergib mir, Agathon, wenn ich selbst
itzt, da ich das Unwesentliche dieser angenehmen Verblendungen
einzusehen glaube, noch schwach genug bin, mich's nicht
gereuen zu lassen, daß ich — Danae war.Agathon fand nur zu viel Ursache in seinem Herzen, ihr
diese Schwachheit zu vergeben. — Götter! rief er, dich's gereuen
zu lassen, das liebenswürdigste unter allen Geschöpfen
gewesen zu seyn! Brauchte es mehr als nur Eine Danae
an jedem Orte wo Menschen wohnen, um die Erde in ein
Elysium zu verwandeln?Bester Agathon! erwiederte sie, in diesem Augenblicke
betrügt dich doch wohl deine Phantasie sichtbarlich! — Archytas,
der mildeste Weise den ich jemals gesehen habe, würde finden,
daß es an Einer Danae schon zu viel sey; und du willst ihrer
unzählige?Aber wie, wenn du dich besinnest, daß die Freiheit, in
welcher Danae lebte, eine Ausnahme von einem Grundgesetze
der Gesellschaft macht, welche sie zu machen nicht berechtigt
war, wiewohl die Sitten der Griechen solche Ausnahmen dulden?
Ich wollte dir einen ganz andern Wunsch anrathen,
wenn jemals die Erfüllung eines Wunsches in deine Gewalt
gestellt würde. Nur eine einzige Familie, wie diese worin du
itzt lebst, nur Einen Archytas, Eine Psyche, Einen Kritolaus,
und, lass' mich hinzusetzen, Einen Agathon, der, von den Irrungen
der Phantasie und der Empfindung zurückgekommen,
weise genug geworden ist, um sich dem höchsten Schönen, der
Tugend, ganz zu ergeben — nur Eine solche Familie, an jedem
Orte wo Menschen wohnen; so können wir die Lykurge und
Solonen ihres Amts entlassen: Plato selbst würde keine Gesetze
erfinden können, welche mehr Gutes wirkten, als ein
solches Beispiel der Tugend und der Glückseligkeit.Und warum, Danae, kannst du ungerecht genug gegen
dich selbst seyn, dich von dieser Familie auszuschließen? sagte
Agathon lebhaft. Durch deinen Beitritt würde sie vollkommen
werden. Und ist nicht Danae, die in bittender Stellung die
Bildsäule der Tugend umfaßt, der herrlichste Triumph der
Tugend?Die Freundschaft macht dich vergessen, erwiederte sie, daß
eine Person, die der Tugend so viel abzubitten hat als Danae,
sich niemals selbst würdig fühlen kann, der Familie eines
Archytas einverleibt zu werden. Und kannst du ihr verdenken,
wenn sie zu stolz ist; als daß sie den Gedanken — alle Augenblicke
vor Personen, welche nichts abzubitten haben, erröthen
zu müssen — erträglich finden sollte? Glaube übrigens nicht,
daß sie zu strenge gegen sich selbst sey. Sie ist nur zu sehr
geneigt, den Entschuldigungen der Eigenliebe mehr als sie
vielleicht sollte Gehör zu geben. In der That sah sie damals,
als sie kein größeres Vergnügen kannte als über die Herzen
zu herrschen, und, wie Homers Jupiter aus seinen beiden Urnen,
Glück und Unglück nach Gefallen auszutheilen, freilich
sah sie damals die Gegenstände ihrer itzigen Verachtung mit
ganz andern Augen an. Sie gefiel sich selbst in ihren angenehmen
Irrthümern. Ihr Witz webte sie in ein System,
welches ihren Empfindungen zu sehr schmeichelte, um nicht
für wahr gehalten zu werden. Zwar konnte sie sich selbst nicht
verbergen, daß die Regel, von welcher sie die Ausnahme
machte, ordentlicherweise keine Ausnahmen leide; aber sie
glaubte sich gerade in dem einzigen außerordentlichen Falle zu
sehen, wo eine Ausnahme stattfinden könne. Das Bewußtseyn
der Tugenden, welche sie hatte weil sie ihr nichts kosteten,
der guten Handlungen, die sie eben darum desto leichter,
desto häufiger that, weil sie keinen andern als den gefährlichen
Beweggrund des Vergnügens sie zu thun kannte — dieses
Bewußtseyn beruhigte sie über die einzige Tugend, die ihr
mangelte. Ja ihr Selbstbetrug ging so weit, daß sie sich nicht
einmal diesen Mangel eingestand. "Gemeine Formen sind
keine Regeln für große Seelen, sagte sie zu sich selbst. Ist
wohl unter allen diesen ehrbaren Geschöpfen, welche mich verdammen,
eine einzige, welche nicht Danae wäre, wenn sie es
seyn könnte? Sie machen ihr ein Verbrechen daraus, von
einem Hofe von Liebhabern umgeben zu seyn? Aber sie vergessen,
daß diese Liebhaber die vortrefflichsten Männer von
Ionien sind, oder, wenn sie es noch nicht waren, es in Danaens
Umgang werden. Wo ist der wilde Jüngling, den sie
nicht gesittet gemacht, wo ist der Verdienstlose, den sie nicht
zu edeln Unternehmungen begeistert hätte? Wie viele Väter
haben ihr die Tugend ihrer Söhne, wie viele Frauen das
gute Betragen ihrer Männer zu danken! Wie manchen guten
Bürger, wie manchen großen Mann hat sie seinem Vaterlande
gegeben! Nur die Besten, nur die Verdienstvollesten und
Vollkommensten konnten sich Hoffnung machen, jemals ihr
Herz zu rühren; und wie viele Verwandlungen, wie manches
sittliche Wunder wirkte diese Hoffnung nicht! Wo ist in
ganz Smyrna, in ganz Athen, die untadelhafte Matrone, die
keusche Priesterin der Diana oder Minerva, die sich rühmen
könnte, der Tugend so gute Dienste geleistet zu haben?" —
Ich wollte nicht dafür stehen, mein lieber Agathon, daß alles
dieß sich immer im strengsten Verstande und ohne alle Ausnahmen
so befunden hätte. Aber es war doch immer Wahrheit
genug darin, um den Schlüssen, die sie daraus zog,
Scheinbarkeit zu geben. Ueberdieß hatte sie an dem Sophisten
Hippias einen Freund —O nenne mir diesen Namen nicht, rief Agathon mit
Ungeduld.Gleichwohl, versetzte sie mit eben so viel anscheinendem
Kaltsinn, war diese Danae, mit welcher du so große Absichten
hast, schwach genug, diesen Hippias in den Fall zu setzen,
daß er sich eines Sieges über ihr Herz rühmen konnte, den
er nie erhalten hatte.Der Unverschämte! — rief Agathon — und hielt plötzlich
inne, indem er Danaen mit Augen ansah, welche sie zu bitten
schienen, daß sie ihm nicht den Schatten eines Argwohns
über diesen Punkt übrig lassen möchte.Ich verstehe dich, sagte Danae mit lächelnden Augen,
aber mit einem Erröthen, welches von schlimmer Vorbedeutung
war — Hippias hatte kein Recht sich eines Sieges über
mein Herz zu rühmen, es ist wahr — aber —Wie, Danae? Ist's möglich? — rief Agathon.O, mein bester Agathon, versetzte sie — du hast die
Menschen, du hast dich selbst kennen gelernt, und du weißt
nicht was möglich ist? — Was können die Umstände, was
kann der Augenblick nicht möglich machen?Und was könnt' ich dir nicht vergeben, Danae! —seufzte
Agathon.Zu viel Nachsicht könnte mir eben sowohl schädlich seyn
als andern, antwortete Danae in einem scherzenden Tone,
der nicht zu dem seinigen stimmte. Und dennoch muß ich dir
sagen, Agathon, daß Hippias vielleicht nicht das Schlimmste
ist, was du mir zu vergeben hättest."Nicht das Schlimmste!"Ich will sagen, nicht das, was deiner Freundin am wenigsten
Ehre macht. Hippias war ein Mann von Talenten
und ausgebreitetem Ruhme, dem — seine Grundsätze ausgenommen —
alles Uebrige das Wort redete; der die Gabe
hatte, selbst diesen Grundsätzen den lebhaftesten Anstrich von
Wahrheit zu geben, und der überdieß schon lange im Besitz war,
selten abgewiesen zu werden. Ein solcher Mann konnte, nach
einem Umgang von etlichen Jahren, gar wohl schlau oder glücklich
genug seyn, den Augenblick zu finden, der vielleicht in dem
ganzen Lauf ihres beiderseitigen Lebens der einzige war, wo
er durch Ueberraschung erhalten konnte, was er von ihrem
Herzen nie erhalten hätte. Er hatte Unrecht, sich ein Verdienst
aus einem Werke des Zufalls machen zu wollen: aber
Danae würde vielleicht nicht weiser seyn als er, wenn sie sich
darüber mehr Vorwürfe machen wollte, als über Schwachheiten,
an denen die Ueberlegung mehr Antheil hatte."Du hast beschlossen mich zum Aeußersten zu treiben,
Danae."Nein, guter Agathon; bloß, dich auf ewig einem Entwurf
entsagen zu machen, der, wie du siehest, auf falsche Voraussetzungen
gegründet war. Glaube nicht, daß es mir keine
Ueberwindung gekostet habe, so aufrichtig zu seyn! Aber konnt'
ich weniger thun, da es darauf ankam, die verwundete Einbildung
eines Freundes von deinem Werthe wieder herzustellen?
Wenn diese Danae, von der du so günstig dachtest, und die
(um nicht ganz ungerecht zu seyn) in der That in manchem
Stücke deine Meinung rechtfertiget — wenn diese Danae von
dem Augenblick an, da sie durch den Tod des Cyrus wieder
frei wurde, glücklich genug gewesen wäre in die Bekanntschaft
einer Familie zu kommen, wie die des Archytas ist; wenn sie
damals schon gedacht und gelebt hätte, wie sie jetzt thut: dann
hätte sie vielleicht, ohne zu viel zu wagen, der Stimme deines
Herzens und ihres eigenen Gehör geben mögen! Aber — die
Götter selbst haben keine Gewalt über das was geschehen ist.
Lass' es genug seyn, bester Agathon! Fordere keine umständlicheren
Bekenntnisse! Unterwirf dich mit mir einem gemeinschaftlichen
Schicksal; und, wenn du jemals bei der Erinnerung
an unsre Liebe erröthen solltest; so erinnre dich auch, daß diese
Liebe Danaens Wiederkehr zur Tugend veranlaßte. Ohne dich
würde sie noch immer Danae seyn. —Aber was hälfe ihr das Glück dich gekannt zu haben, wenn
du nicht großmüthig genug wärest, deine Wohlthat zu vollenden? —
Von diesem Augenblick an werde ein Name nicht
mehr zwischen uns genannt, der uns beide demüthiget! Lass'
deine Freundin unter dem Namen Chariklea, unter dem sie
hier allein bekannt ist, sich des Glückes würdig machen, die
Schülerin eines Archytas und die Gespielin einer Psyche zu
seyn. Und wenn du sie liebest, so freue dich mit ihr, daß sie
dieses Glück in einem Alter gefunden hat, wo die Opfer, die
sie der Tugend bringt, noch verdienstlich sind!Der Ton, womit sie diese letzten Worte sagte, rührte das
edle Herz unsers Helden. Er glaubte die Stimme einer Gottheit
zu hören, und fühlte in demselben Augenblicke, daß die
bessere Seele die Oberhand in ihm gewann. Er warf sich zu
ihren Füßen, ergriff ihre Hand, drückte sie an sein Herz. Die
Liebe, von welcher seine Seele in diesem Augenblick brannte,
war heiliges Feuer. Ja, rief er, bei dieser Hand schwör' ich
es, Chariklea, der Tugend, der du dich geweiht hast, und die
in diesem entscheidenden Augenblicke aus deinem Munde zu
mir spricht, ewig getreu zu bleiben! Für sie, für sie allein
sind unsre Herzen gemacht! Wir verirrten uns von ihr —
aber nur um weiser zu werden, nur um mit desto mehr Ueberzeugung
zu ihr zurückzukehren, und desto standhafter bei ihr
auszuhalten. Ja, Chariklea, ich fühl' es, daß ich, indem ich
hier im Angesichte des Himmels dieser geliebten Hand entsage,
glücklicher bin durch das was ich dir und der Tugend aufopfre,
als ich durch die Befriedigung aller eigennützigen Wünsche werden
könnte! Niemals, niemals werd' ich aufhören dich zu
lieben, beste Chariklea, — aber zu lieben, wie ich die Tugend
liebe; mit einer Liebe, die deiner würdig, selbst die schönste
der Tugenden ist.Danae, — oder, um sie nicht durch einen Namen zu beleidigen,
dem sie nun auf ewig entsagt hat, — Chariklea, so
angenehm ihrem mitempfindenden Herzen das schöne Feuer
war, welches sie in dem Busen ihres Freundes angezündet
hatte, fand doch nicht für gut, es in diesem Augenblicke zu
unterhalten. Sie kannte die Gefahren solcher Aufwallungen;
und ohne in die Aufrichtigkeit seiner Empfindungen den mindesten
Zweifel zu setzen, wußte sie doch mehr als zu wohl, daß
die Zeit noch nicht gekommen war, wo sie sich schmeicheln
konnte, von einem Liebhaber für eine bloße Seele angesehen zu
werden. Sie hatte nun ihren Zwecke erreicht; und die Zufriedenheit,
die aus ihren schönen Augen leuchtete, bewies, daß
wir nicht zu günstig von ihr urtheilten, da wir versicherten,
daß ihr Betragen gegen unsern Helden wirklich ohne alle eigenützigen
Absichten gewesen sey.—————
Sechzehntes Buch.Beschluß.Agathon faßt den Entschluß, sich dem Archytas noch genauer zu entdecken,
und zu diesem Ende sein eigener Biograph zu werden.Je näher Agathon mit dem Charakter des vortrefflichen
Mannes bekannt wurde, in welchem sein glückliches Schicksal
ihn einen zweiten Vater finden ließ, desto dringender wurde
sein Verlangen, mit einem solchen Manne in ganz reinem
Verhältnisse zu stehen. Zwar konnte er ziemlich sicher seyn,
daß ein Archytas in seiner guten Meinung von ihm weder
aus Uebereilung noch aus Schwäche zu weit gehen werde:
aber er fühlte nichtsdestoweniger, daß er nicht ganz ruhig
seyn könne, bis er selbst von allem, was ihn vielleicht besser
scheinen machte als er in seinem eigenen Bewußtseyn war, sich
vor den Augen desselben entkleidet haben würde. Mit jedem
Tage, den er in seinem Hause verlebte, bestärkte er sich in
der Hoffnung, durch seinen Beistand wieder zu jener heitern
Stille der Seele, jenem seligen Frieden in und mit sich selbst
zu gelangen, die er zu Smyrna unvermerkt verloren, und
deren Verlust er zu Syrakus zwar öfters lebhaft und schmerzlich
empfunden, aber, mit allem Bestreben sich in seiner neuen
Vorstellungsart fest zu machen, nicht zu ersetzen vermocht
hatte. Archytas, oder sonst niemand in der Welt, konnte
ihn von den leidigen Zweifeln befreien, die ihm seit jenem
Zeitraume die erhabenen Grundlehren der Orphischen Theosophie,
in welchen er erzogen worden war, und mit ihnen die
seligsten Gefühle seiner Jugend verdächtig gemacht hatten.
Er betrachtete diesen ehrwürdigen Greis als einen Sterblichen,
der den höchsten Punkt der Vollkommenheit, nach welchem
ein menschliches Wesen streben kann, erreicht habe; ja, wenn
er ihn, nach Beendigung der Geschäfte des Tages, in der
Vorhalle seiner Wohnung, an den Strahlen der untergehenden
Sonne, so traulich im Kreise seiner Kinder und Freunde sitzen
sah, schien er ihm oft weniger ein angesessener Einwohner
dieser Welt, als ein Wesen von höherer Art, ein den Menschen
gewogener Genius zu seyn, der sich freundlich zu diesen
guten Seelen herabgelassen, um sie durch die leise Einwirkung
seiner Gegenwart in der Liebe der Weisheit und der Tugend
zu befestigen, und dadurch für jede schöne Freude des Menschenlebens
desto empfänglicher zu machen. Auch er glaubte schon
allein dadurch, daß er ein Hausgenosse dieses göttlichen Mannes
war, sich in seinem Innern mit jedem Tage besser zu
befinden: aber nur um so fester wurde sein Entschluß, sich
ganz vor ihm zu enthüllen, und ihm besonders von jener Veränderung
in seiner moralischen Verfassung, die sich während
seines Aufenthalts in Smyrna zugetragen hatte, die genaueste
Rechenschaft zu geben; denn sein Herz sagte ihm, daß er seit
diesem Zeitpunkt an innerem Werth eher ab- als zugenommen
habe. Er konnte und wollte die Lücken, die damals im
System seiner Meinungen und Ueberzeugungen entstanden
waren, nicht länger unberichtigt lassen. Die Uneinigkeit, die
sich unvermerkt zwischen seinem Kopf und seinem Herzen entsponnen
hatte, mußte schlechterdings aufs Reine gebracht
werden: und wer hätte ihn in dieser, für die Ruhe und Gesundheit
seiner Seele so wichtigen Angelegenheit, sicherer
leiten, ihm gewisser zu einem glücklichen Ausgang aus dem
Labyrinth seiner Zweifel verhelfen können, als Archytas?Dieser Vorsatz auf der einen Seite, und auf der andern
die Besorgniß, daß ihm bei einer mündlichen Erzählung, im
Feuer der unvermerkt sich erhitzenden Einbildungskraft, mancher
erhebliche Umstand entfallen, oder ohne seinen Willen
manches in ein verschönerndes Licht, manches in einen zu
dunkeln Schatten gestellt werden könnte, brachte ihn auf den
Gedanken, seine Beichte schriftlich abzulegen, und die Geschichte
seiner Seele in den verschiedenen Epochen seines Lebens
so getreu und lebendig, als er sie in der Stille einsamer
Stunden in sein Gedächtniß zurückrufen könnte, zu Papier zu
bringen. Er wandte hierzu hauptsächlich die frühen Morgenstunden
an, über welche ihm sein Aufenthalt auf dem Lande
freie Hand ließ, und war größtentheils damit zu Stande
gekommen, als das unverhoffte Wiederfinden der schönen
Danae, das neue Verhältniß, worein sie sich gegen ihn setzte,
und sein Verlangen, sie in die Familie des Archytas aufgenommen
zu sehen, ihm zur Pflicht zu machen schien, denjenigen
Theil seiner Geschichte, worin sie die Hauptrolle spielt,
sorgfältiger zu bearbeiten, als er es anfangs, bei der Voraussetzung,
daß die Heldin dieses erotischen Drama's in Tarent
persönlich unbekannt bleiben werde, für nöthig befunden hatte.
Nicht als ob er sich erlaubt hätte, der Wahrheit in diesem
Theile seiner Erzählung weniger getreu zu seyn als in allen
übrigen. Bei solchen Personen wie Archytas, Kritolaus, und
die übrigen Glieder dieser edeln Familie, lief eine Chariklea
auch als Danae keine Gefahr, durch die Aufrichtigkeit ihres
Biographen zu viel zu verlieren; denn wahre Weisheit ist
immer gerecht, und wahre Tugend immer geneigt, mehr
Nachsicht gegen andere zu beweisen, als gegen sich selbst.
Aber es kommt doch immer bei Gegenständen von so großer
Zartheit sehr vieles auf die Darstellung an; und wer sollte es
ihm verdenken können, wenn er den Schleier der Grazien,
dessen Danae in ihrer Geschichte Erwähnung that, über einige
Theile derselben warf, die einer leichten Bedeckung nicht wohl
entbehren konnten? — Auf diese Weise entstand nun die von
Agathon selbst ausgesetzte geheime Geschichte seines Geistes
und Herzens, welche aller Wahrscheinlichkeit nach die erste
und reinste Quelle ist, woraus die in diesem Werk enthaltenen
Nachrichten geschöpft sind.Es währte nicht lange, bis Agathon sowohl in dem
freundschaftlichen Verhältniß, in welches Chariklea durch ihn
mit dem Hause des Archytas gekommen war, als in seinem
eigenen Gefühle, daß er den Beistand eines solchen Freundes
gegen sich selbst vonnöthen haben würde, neue Bewegungsgründe
fand, sobald als möglich den Gebrauch von seiner
Arbeit zu machen, um dessentwillen er sie unternommen
hatte. Er suchte also nur eine bequeme Gelegenheit, und
diese gab ihm Archytas selbst, da er, in einem traulichen
Gespräche, worin Agathon der schönen Schwärmerei seiner
Jugend mit Bedauern ihrer nicht mehr fähig zu seyn erwähnte,
ihm ein Verlangen zeigte, von den Umständen und
der Art und Weise, wie seine Seele von jenem hohen Ton
herabgestimmt worden, recht genau unterrichtet zu seyn.
Dein Wunsch, mein Vater, kommt dem meinigen entgegen,
sagte Agathon: schon lange fühl' ich ein dringendes Bedürfniß,
dir das Innerste meiner Seele aufzuschließen. Ich
glaubte dieß durch eine schriftliche Darstellung alles dessen,
was ich mir seit ihrer ersten Bildung von den verschiedenen
Veränderungen, durch welche sie bisher gegangen ist, bewußt
bin, vollständiger und getreuer als durch eine mündliche
Erzählung, bewerkstelligen zu können. Diese Arbeit beschäftigt
mich schon seit einiger Zeit; ich bin vor kurzem damit
fertig geworden, und wartete nur auf einen günstigen Augenblick
sie dir zu übergeben. Du kannst, versetzte Archytas,
keinen bequemern erwarten, als den gegenwärtigen, da ich
gerade auf mehrere Tage ohne Geschäfte bin. — Und so
eilte Agathon seine Handschrift zu holen, stellte sie seinem
ehrwürdigen Freunde zu, und entfernte sich mit der sichtbaren
Freude eines Menschen, der sich eines drückenden Geheimnisses
erledigt hat.Archytas, dessen zärtliche Theilnehmung an unserm Helden
durch das Lesen dieser Papiere noch inniger wurde als
sie bereits war, glaubte daraus zu sehen, daß es, um ihn
auf den Weg zu bringen, auf welchem er das höchste Ziel
menschlicher Vollkommenheit nicht verfehlen könnte, nur noch
auf zwei Punkte ankomme: seine Liebe zu Chariklea auf immer
vor einem Rückfall in die Leidenschaft für Danae sicher
zu stellen; und durch unerschütterliche Gründung seines Gedankensystems
über das, was die wesentlichste Angelegenheit
des moralischen Menschen ausmacht, seinen Kopf mit seinem
Herzen auf ewig in Einverständniß zu setzen. Jenes war,
seiner Meinung nach, nur durch eine ziemlich lange Entfernung
möglich, auf deren Nothwendigkeit er aber aus eigner
Bewegung kommen, und wobei ein großer Zweck seinen Geist
in beständiger Thätigkeit erhalten müßte: zu diesem hoffte
Archytas ihm selbst um so gewisser verhelfen zu können, da
er noch nie einen Sterblichen gefunden zu haben glaubte, der
einen hellern Sinn für Wahrheit, mit einer so reinen Liebe
zum Guten und mit einem so herzlichen Widerwillen gegen
Sophisterei und Selbsttäuschung in sich vereinigt hätte, als
Agathon.Dieses letztere war nun von Stund' an sein Hauptaugenmerk,
und veranlaßte verschiedene Unterredungen zwischen
ihm und seinem jungen Freunde, die es ohne Zweifel verdienten,
denjenigen von unsern Lesern, denen es mehr um
Unterricht und Besserung als um Kürzung der langen Weile
zu thun ist, mitgetheilt zu werden, wenn sie — noch vorhanden
wären. Daß dieß nicht der Fall ist, davon liegt die
Schuld bloß an Agathon, der von allen diesen Gesprächen
nur ein einziges — vermuthlich ihm selbst das wichtigste —
zu Papier brachte, und der mehrerwähnten geheimen Geschichte,
wovon die Handschrift (wie es scheint) sich lange Zeit
bei seiner Familie erhielt, als einen Anhang beifügte. Glücklicher
Weise hat eben der gute Genius, der jene für uns
aufbewahrte, sich auch des letztern angenommen, und uns in
den Stand gesetzt, dieses Werk mit einem Dialog zu bereichern,
welchem wir wünschen, daß er allen unsern Lesern,
oder doch einigen, allenfalls auch nur Einem von ihnen, eben
so nützlich seyn möchte, als er unserm Helden war.—————
Eine Unterredung zwischen Agathon und Archytas.Es war an einem paradiesischen Sommermorgen, als Agathon
den ehrwürdigen Alten, in welchem er immer seinen
guten Dämon zu sehen glaubte, in einem Saale, dessen Thüren
gegen den Garten und die aufgehende Sonne offen standen,
mit einem aufgeschlagnen Buch auf den Knien, allein und,
wie es schien, in Gedanken sitzen sah. Er wollte aus Bescheidenheit
unbemerkt vorübergehen; aber Archytas, der ihn schon
von fern erblickt hatte, stand auf, rief ihm näher zu kommen,
und bot sich ihm auf seinem Spaziergang zum Begleiter an.Die Wohnung, wo Archytas mit einem Theil seiner Familie
sich den Sommer über aufzuhalten pflegte, war, ungeachtet
ihrer geringen Entfernung von der Stadt, eine eigentliche
Villa, und größtentheils mit weitläufigen Gärten umgeben,
die sich auf der einen Seite in einem sanften Abhang
bis zum Meerufer hinzogen, auf der andern eben so unmerklich
zu einer Anhöhe emporstiegen, wo ein kleiner Tempel des
Apollo, aus einem Lorberwäldchen hervorglänzend, dem Aug'
einen schönen Ruhepunkt gab. Schlängelnde Gänse zwischen
Hecken von Myrten, hier und da von schlanken Pappeln und
weinbekränzten Ulmen unterbrochen, und mit blühenden Lauben
und Moosbänken zum Ausruhen abgesetzt, führten von verschiedenen
Seiten zu diesem Tempel, dessen auf Ionischen
Säulen ruhende Vorhalle eine herrliche Aussicht auf die Stadt
Tarent, ihren Hafen und ihren von allen Arten von Fahrzeugen,
Handelsschiffen und Fischerbarken belebten Meerbusen
gewährte.Du hättest mir nicht gelegner begegnen können, Agathon,
sagte Archytas, indem sie einen der Gänge einschlugen, die zu
dem Tempel führten; ich war eben mit dir beschäftigt, und
eine Stelle deiner Lebensgeschichte, die ich schon zum zweitenmale
lese, erregte das Verlangen in mir, dir die Gedanken,
auf welche sie mich führte, auf der Stelle mitzutheilen. Du
wirst dich erinnern, daß es dir schon mehr als Einmal begegnet
ist, der schönen Schwärmerei deiner Jugend gegen mich
zu erwähnen, und von dem glücklichen Zustande, worein sie
dich versetzte, als von etwas, dessen unwiederbringlichen Verlust
du beklagtest, zu sprechen. Wie ich finde, trug deine Versetzung
aus der heiligen Stille des Delphischen Hains in das
Getümmel von Athen, und eine allzu frühe Verwicklung in
politische Verhältnisse und Geschäfte allerdings etwas, aber
doch im Grunde nur sehr wenig zu diesem Verluste bei; denn
die Unfälle, die dort auf dich zusammenstürzten, schienen vielmehr
deiner Seele ihren ganzen vorigen Schwung wieder gegeben
zu haben. Das Haus der schönen Danae zu Smyrna
war es, wo eine fur dich ganz neue Art ben Bezauberung
dein nichts Böses besorgendes Herz unvermerkt auf den Ton
der Personen und Gegenstände, die dich umgaben, herabstimmte.
Ich finde ein sehr treffendes Bild der Täuschung, die du damals
erfuhrest, in dem Wettstreite der Sirenen und Musen,
den dir Danae in den ersten Tagen einer noch schuldlosen
Liebe zu hören — und zu sehen gab. Du glaubtest durch den
Gesang einer Muse in den Tempel der himmlischen Aphrodite
versetzt zu seyn; und in der That war es die gefährlichste aller
Sirenen, die dich, an Aug' und Ohr und Herz gefesselt, ohne
dein Wissen in ihre Klippen zog. Die Verwandlung, die
während dieser süßen Bezauberung mit dir vorging, war in
der That groß, Agathon: viel größer vielleicht — als du dir
selbst vorstellst. —Du erschreckst mich, Archytas! — rief Agathon erblassend,
indem er seine Augen mit verdoppelter Aufmerksamkeit und
Erwartung auf das freundlich-ernste Gesicht des Alten heftete.Hier ist die Stelle, fuhr Archytas fort, deren ich vorhin
erwähnte, und die mich auf diese Vermuthung gebracht hat.
Du bestrebtest dich, der schönen Danae — welcher wahrscheinlich
alles, was du ihr damals vorsagtest, seltsam und wunderbar
genug vorkommen mußte — einen Begriff davon zu geben,
wie es möglich gewesen sey, daß die Orphische Theosophie, in
welcher du zu Delphi erzogen wurdest, sich deiner Seele so
gänzlich habe bemächtigen können; und du thatest dieß mit
Wendungen und Ausdrücken, die, wenn ich nicht sehr irre,
eine Art von falscher Scham verrathen, als ob du befürchtetest,
deiner Zuhörerin, wiewohl du sie damals noch nicht als
die Pflegetochter Aspasiens kanntest, lächerlich zu scheinen,
wenn du jener schönen Schwärmerei, wie du es nanntest,
einen höhern Werth beilegtest, als sie (damals wenigstens) in
ihren Augen haben konnte. Und doch hätte Orpheus und
Pythagoras selbst das Wahre und Erhabne jener göttlichen
Philosophie nicht stärker in so wenig Worten zusammenfassen
und darstellen können, als du es in folgender Stelle thatest:
— "Wie willkommen ist uns in diesem Alter eine Philosophie,
welche den Vortheil unsrer Wißbegierde mit der Neigung zum
Wunderbaren, die der Jugend eigen ist, vereiniget, alle unsre
Fragen beantwortet, alle Räthsel erklärt, alle Aufgaben auflöset! —
Eine Philosophie, die alles Todte aus der Natur
verbannt, jeden Atom der Schöpfung mit geistigen Wesen bevölkert,
jeden Punkt der Zeit mit Begebenheiten befruchtet,
die für künftige Ewigkeiten reifen! — Ein System, in welchem
die Schöpfung so unermeßlich ist als ihr Urheber; welches
uns in der anscheinenden Verwirrung der Natur eine
majestätische Symmetrie, in der Regierung der moralischen
Welt einen unveränderlichen Plan; in allen Classen und Geschlechtern
der Wesen einen einzigen Staat, in den verwickelten
Bewegungen aller Dinge einen allgemeinen Ruhepunkt, in
unsrer Seele einen künftigen Gott, in der Zerstörung unsers
Körpers die Wiedereinsetzung in unsre ursprüngliche Vollkommenheit,
und im finstern Abgrunde der Zukunft helle Aussichten
in gränzenlose Wonne zeigt!" — Und von einer solchen Philosophie,
Agathon, konntest du der schönen Danae sagen: "Glückliche
Erfahrungen" — welche andere als die, wozu sie selber
dir verholfen hatte? — "hätten dich das Schwärmende und
Unzuverlässige derselben kennen gelehrt?" —Wiewohl Archytas seinem jungen Freunde diesen in eine
Frage an sein Herz gehüllten Vorwurf wit einem Blick und
einem Tone der Stimme machte, die ihm die Hälfte seiner
Strenge benahmen: so zeigte doch Agathon durch sein Erröthen
und sein niedergeschlagenes Auge, daß er dessen ganze Stärke
fühle. Nur zu gewiß, sagte er, befand ich mich damals unter
einem gefährlichen Zauber, da ich meine Erfahrungen mit den
Schlüssen, die ich daraus zog, verwechselte, ohne gewahr zu
werden, wie viel Antheil die Verführung meiner Sinne an
dessen Trugschlüssen hatte. Daß die Orphischen Geheimlehren
so viel von der vollen Stärke ihrer vormaligen Wirkung auf
mein Gemüth verloren hatten, bewies im Grunde nichts gegen
ihre Zuverlässigkeit: es war die natürliche Folge unmerklich
entgegenwirkender Einflüsse, des täglichen Umgangs mit Danae
und ihrer Gesellschaft, der für mich ganz neuen Welt; in der
ich lebte, der neuen Sprache und Vorstellungsart, an die ich
unvermerkt in ihr gewöhnt wurde, und der süßen Trunkenheit,
in welche mich die Liebe zu einer in jeder Betrachtung
so außerordentlichen Person gesetzt hatte. Noch itzt fühle ich
mich, durch ich weiß nicht welche innere Gewalt, genöthigt zu
glauben, daß es damit eben so natürlich zuging, als wenn das
ganze majestätische Heer der Sterne, dessen Anblick eine in
sich gesammelte Seele mit so großen Gefühlen und Ahnungen
begeistert, vor der Allgewalt der emporsteigenden Sonne aus
unsern Augen weggedrängt wird. Die Täuschung ist in beiden
Fällen dieselbe, wiewohl wir unser Leben für die Wahrheit
dessen, was wir dabei fühlen, verbürgen könnten.Weil das, was wir fühlen, für uns wirklich wahr ist,
versetzte Archytas. Denn die Sterne bleiben zwar in Gegenwart
der Sonne wo sie sind, und funkeln immer mit gleicher
Lebhaftigkeit fort: aber da sie nicht mehr in unsre Augen
funkeln, sind sie für uns erloschen. Indessen läßt sich daraus
nicht folgern, wir hätten uns getäuscht als wir sie sahen.
Eher ließe sich mit einigem Scheine vermuthen, daß die Sonne,
deren Licht das ganze Sternenheer in unsern Augen vernichtet,
ein mächtigeres Wesen sey als sie: und doch wäre auch
dieser Schluß trüglich; denn der kleinste dieser Sterne würde
eben so wohl vermögend seyn die Sonne aus unsern Augen
verschwinden zu machen, wenn er uns näher stände als sie.
Auch bedarf es, um den ganzen gestirnten Himmel auszulöschen,
eben keiner Sonne: ein so armseliges Ding als eine
Pechfackel, wenn sie unserm Auge nah' genug ist, vermag eben
dasselbe, wo nicht mit ihrem Scheine, wenigstens mit ihrem
Dampfe. Aber wir wollen der Würde unsrer Natur nichts
vergeben, lieber Agathon. Auch damals, da die Fackel in
Amors Hand, die deinen bezauberten Augen eine Sonne schien,
das erhabene System der Orphischen Theosophie nach und
nach in deiner Seele verschwinden machte, blieb doch noch
etwas zurück, das ohne Zweifel, wenn du ihm getreuer gewesen
wärest, und dich der ganzen Kraft, die es dir mittheilen
konnte, hättest bedienen wollen, dich schon damals zum Herrn
über deine Leidenschaft gemacht, und alles in deinem Innern
wieder in den vorigen, oder vielmehr in einen noch bessern
Stand gesetzt haben würde.O gewiß, fiel Agathon ein; denn in dem nämlichen Augenblicke,
da ich schwach oder verblendet genug war, der schönen
Danae mit einem so großen Siege zu schmeicheln, war dieß
Etwas mächtig genug wir das Geständniß abzunöthigen, "ich
fühlte, daß in jenen Ideen, — die dem sinnlichen Menschen
nichts Besseres als ausschweifende Träume scheinen, wiewohl
ihre Uebereinstimmung mit unsern edelsten Neigungen der ächte
Stempel ihrer Wahrheit ist, — daß selbst in jenen Träumen
mehr Wirklichkeit mehr Unterhaltung und Aufmunterung für
unsern Geist, eine Quelle reinerer Freuden, und ein festerer
Grund der Selbstzufriedenheit liege, als in allem was uns die
Sinne Angenehmes anzubieten haben."Dieß fühltest du, mein Bester, sagte Archytas, — und
wie hättest du nicht fühlen sollen was die gewisseste aller Wahrheiten
ist? — du fühltest es selbst im Angesicht der reizenden
und mit Schwärmerei geliebten Danae, und unterlagest dennoch
der Versuchung, dieses so mächtige, so wohlthätige, so
heilige Gefühl unbenutzt wieder erkalten zu lassen? Oder
ließest du dich wohl gar durch die Sophistereien einer von
Leidenschaft und Sinnlichkeit besprochenen Vernunft bereden, es
für schwärmerisch und unzuverlässig zu halten?In der That, erwiederte Agathon, schwankte mein Gemüth
in jenem Zeitraume zwischen zwei entgegengesetzten,
gleich mächtigen Gefühlen, und ich wußte den Zwiespalt, der
aus meiner veränderten Vorstellungsart in meinem Inwendigen
entstanden war, zuletzt nicht anders beizulegen als durch
einen gezwungnen Waffenstillstand, der eine bloße Folge der
Erschöpfung beider streitenden Parteien ist, und, da der Gegenstand
des Kriegs unentschieden bleibt, die Gelegenheit zu
neuen Fehden immer offen läßt. Nachdem einmal jene
sublimen Ideen und Grundlehren in der Zauberluft, die ich
in Danaens Hause athmete, eben so viel von ihrer Macht
über meine Seele verloren hatten, als Liebe und Befriedigung
der feinsten und (wenn ich so sagen kann) geringsten
Sinnlichkeit über sie gewann: so war es nur allzunaturlich,
daß die Allgewalt gegenwärtiger wirklicher Gefühle auch die
lebhaftesten Erinnerungen ehmaliger Empfindungen, deren
Gegenstände außerhalb dieser sichtbaren Welt lagen, verdunkelte,
und unvermerkt dem Gedanken Raum verschaffte, daß diese
Empfindungen wohl nur Kinder der Phantasie, schöne Träume
und süße Täuschungen einer jugendlichen, nach hoher Glückseligkeit
dürstenden Seele gewesen seyn könnten. Die mannichfaltigen
Vollkommenheiten der liebenswürdigen Danae, die
Feinheit der Bande, womit sie mein ganzes Wesen umwickelte,
die Natur meiner Liebe selbst, die mit der Liebe der Musen,
mit dem reinsten Wohlgefallen an allem, was Natur und
Kunst dem feinsten Geschmack Schönes zu genießen geben
können, so innig verwebt war, und selbst an die edelsten
Triebe und Gesinnungen des Herzens, an alles sittlich Schöne
und Gute, so sanft und gefällig sich anschmiegte, — alles dieß
gab unvermerkt der Einbildung immer mehr Wahrscheinlichkeit,
in Danae das wirklich gefunden zu haben, was ich in den
Hainen von Delphi nur geahnet, und aus Unerfahrenheit in
die überirdischen Formen und Bilder, die durch die Orphischen
Mysterien in meine Seele gekommen wären, gekleidet hätte.
Und nun war es einer von Liebe und Vergnügen, wie du
sagtest, bestochenen Vernunft ein Leichtes, die Einwürfe eines
Hippias gegen die Realität jener übersinnlichen Ideen und
Lehrpunkte, zumal aus den reizenden Lippen einer Danae,
immer scheinbarer, und zuletzt gar unwiderleglich zu finden.
Nun schien mir nichts überzeugender, als daß es Thorheit
sey, von Platons überhimmlischen Gegenden — einer Welt
die uns von allen Seiten verschlossen und unzugangbar ist —
mehr wissen zu wollen, als daß wir nichts von ihr wissen.
Unsre größte Angelegenheit (sagte ich mir) ist, zu wissen, wer
wir selbst sind, wo wir sind, und wozu wir sind. Hierin
führen uns unsre Sinne mit Hülfe unsrer Vernunft gerade
so weit, aber nicht einen Schritt weiter, als nöthig ist um
einzusehen, daß wir in diesem kurzen Daseyn unsern Wünschen
und Bestrebungen kein höheres Ziel setzen können, als selbst
glücklich zu seyn, und so viel Glück als möglich um uns her
zu verbreiten. Weiter reicht unser Vermögen nicht. Den
undurchdringlichen Schleier, der auf dem Geheimnisse der
Natur liegt, aufdecken zu wollen, wäre eben so vergeblich als
vermessen. Ich soll nicht wissen, weder woher ich kam noch
wohin ich gehe; soll nicht wissen, wie und durch welche Kraft
dieses unermeßliche All, worin ich der unbedeutende Bewohner
eines Sonnenstaubes bin, zusammen gehalten wird: und so
will ich denn auch nichts von dem allen wissen, was die Natur
eben darum vor mir verborgen hat, weil ich nichts davon
wissen soll! — Dieß, mein ehrwürdiger Freund, waren die
Resultate der Vorstellungsart, die sich während meines Aufenthalts
in Smyrna meines Kopfes bemächtigte, ohne jedoch
weder mein Herz gänzlich zu befriedigen, noch verhindern zu
können, daß nicht von Zeit zu Zeit eine geheime Stimme in
mir sich gegen die Gleichgültigkeit erhob, mit welcher meine
Vernunft dem Gebrauch ihrer wesentlichsten Kräfte so enge
Gränzen setzte. Immer, so oft ich diese Stimme hörte, nahm
ich mir vor, sobald ich wieder zu der Stille gelangen könnte,
die zum Forschen in den Tiefen unsers eigenen Wesens nöthig
ist, eine scharfe Untersuchung über mich selbst ergehen zu
lassen, und nicht eher zu ruhen, bis ich eine völlige Harmonie
zwischen meinem Kopf und Herzen wieder hergestellt hätte.
Aber der Wirkungskreis, worin ich mich zu Syrakus herumtrieb,
ließ mich nie zu dieser Stille kommen. Ich lebte dort
in einem Elemente, das meine Vorstellungsart, so zu sagen,
immer noch mehr verdickte; die neuen Erfahrungen, die ich
machte, waren der Hippiassischen Theorie zu günstig, als daß
die entgegenstehende nicht eher dadurch hätte verlieren als
gewinnen sollen. Mein Herz blieb zwar noch immer mein
einziger Führer: aber auch dieses gerieth durch allzugroße
Sicherheit in Gefahr sich selbst zu täuschen; und es bedurfte
des unvermutheten Besuchs, den ich von Hippias in meinem
Verhaft erhielt, mich aus dem Zauberschlummer einer allzugroßen
Selbstzufriedenheit zu erwecken. Denn dieser veranlaßte
mich zu einer Prüfung meines Innern, wovon das
Resultat war, daß ich zwar erfahrner und klüger, aber nicht
besser von Syrakus weggehen würde, als ich gekommen sey.
Ich fühlte nun mehr als jemals den Mangel der Unterstüzung,
die ein inniges Gefühl unsers Zusammenhangs mit
der unsichtbaren Welt der Tugend gibt; meine zeitherige
Vorstellungsart wurde mir zweifelhaft; und wiewohl meine
Ruhe nicht sehr dadurch gestört wurde, so war es mir doch
zuweilen lästig, daß ich mir die Einwürfe meiner Vernunft
gegen jene Lehrsätze, zu denen mein Herz eine so besondere
Anmuthung hatte, auf keine befriedigende Weise aufzulösen
vermögend war. In dieser Verfassung, bester Archytas, kam
ich hierher; sahe dich, sahe dein Haus, dein Privatleben,
dein öffentliches Leben, und war so glücklich in Verhältnisse
mit dir zu kommen, die mir Gelegenheit verschafften mich zu
überzeugen, daß diese moralische Vollkommenheit, die dich so
hoch über alle gewöhnlichen Menschen erhebt, die Frucht eben
derselben Ideen und Grundsätze ist, von denen ich noch im
Hause des Sophisten zu Smyrna begeistert wurde: mit dem
großen Unterschied zwischen uns, daß bei dir Weisheit ist,
was bei mir schwerlich fur etwas Besseres als schöne Schwärmerei
gelten konnte, da es mehr auf Gefühl und Phantasie
als auf feste Ueberzeugung und deutlich gedachte Begriffe gegründet
war, und daher auch in der Probe, worauf Hippias
und Danae diese vermeinte Weisheit setzten, so schlecht bestand.
Nun, Archytas, habe ich dir alles gesagt, was du
wissen mußtest, um meinen Zustand gründlich zu beurtheilen,
und zu sehen (setzte er lächelnd hinzu), ob Hoffnung da ist,
mich mit mir selbst in bessere Uebereinstimmung zu bringen.Die beste Hoffnung, erwiederte Archytas in einem eben
so muntern Tone, sofern (wie ich bei dir mit gutem Fug
voraussehen kann) der Grund des Uebels nicht im Willen
sitzt. Denn dieß haben die Krankheiten der Seele vor den
körperlichen voraus, daß keine unheilbar ist sobald der Patient
geheilt seyn will.Unter diesen Reden waren sie unvermerkt bei dem Tempel
des Apollo angekommen, in dessen von Lorberbäumen umschatteter
Vorhalle sie sich auf einen marmornen Sitz niederliessen.
Der herrliche Anblick des von der Morgensonne angestrahlten
Meerbusens hätte zu einer andern Zeit alle andern
Bilder in Agathons Seele ausgelöscht: aber itzt zog er seinen
nur flüchtig über diese prächtige Scene hinlaufenden Blick
gar bald wieder zurück, um ihn auf die ernst-heitere Stirne
des alten Weisen zu heften, und alle seine Sinne den Aufschlitzen
zu öffnen, die er aus einem Munde erwartete, von
welchem man, wie von Homers Nestor, sagen konnte: | Daß von der Zunge ihm süßer als Honig die Rede dahin floß. | Nach einer kurzen Stille fuhr Archytas fort: nichts ist
gewisser, Agathon, als daß den heiligen Schleier, der das
Geheimniß der Natur verhüllt, kein Sterblicher aufzudecken
vermag, und daß es, wie du sagtest, thörichte Vermessenheit
wäre, es versuchen zu wollen. Aber hieraus mit den Hippiassen
zu folgern, was über uns sey, gehe uns nichts an,
wäre der rasche Schluß einer zum Dienst der Sinnlichkeit
erniedrigten Vernunft, die sich selbst ihre verlorne Würde zu
verbergen sucht, und auf ihr edelstes Vorrecht Verzicht thut.
Denn wer, der jenem goldenen, vom Delphischen Gotte dem
Menschen empfohlnen "Erkenne dich selber" gehorsam war,
könnte läugnen wollen, daß diese Vernunft, die uns über
unsre thierischen Halbbrüder so hoch erhebt, noch eine edlere
Bestimmung habe, als die bloße Verschönerung unsers animalischen
Lebens? Unstreitig ist der Mensch, wenigstens in
dieser Periode seines Daseyns, nach allen seinen Anlagen zu
schließen, weniger zum Forschen als zum Thun geboren. Aber
wenn ihm gleich verborgen ist und bleiben soll, woher er kam,
und wohin er geht (beides vermuthlich weil es für ihn selbst
so besser ist), so steht es doch in seiner Macht, zu wissen,
wie und wodurch er mit dem großen Ganzen, dessen Theil
er ist, zusammenhängt, und wie er handeln muß, um seiner
Natur gemäß zu handeln, und seine Bestimmung im Weltall
zu erfüllen. Lass' ihn immerhin nur einen beseelten Atom auf
einem Planeten seyn, der selbst nur ein Atom im Unendlichen
ist: der Geist, der in diesem Atom webt und wirkt, strebt
mit seinen Gedanken über Raum und Zeit empor, und ist
stark genug, mit seiner Kraft einer über ihm zusammenstürzenden
Welt Trotz zu bieten. Seine Sinne begränzen sich,
so zu sagen, selbst, und scheinen ihn in den engen Kreis der
Thierheit einzuschließen: aber wo sind die Gränzen der Kraft
und Thätigkeit jenes Geistes, der ihm Erde und Meer unterwürfig
gemacht hat? des Geistes, der ihm Mittel entdeckt
hat, in tausend Fällen die Unzulänglichkeit des äußern Sinnes
zu ersetzen, die Irrthümer desselben zu berichtigen, und selbst
im Umfang der sichtbaren Natur, der durch ihn unermeßlich
erscheint, der wirklichen Beschaffenheit der Dinge viel näher
zu kommen, als der bloße Sinn vermögend ist?Doch lass' es auch seyn, daß in der sichtbaren Welt das
Meiste für uns Täuschung, alles nur Erscheinung ist; lass'
seyn, daß wir mit unsern äußerlichen Sinnen so wenig in
das innere Wesen der Dinge als in Platons überhimmlische
Gegend dringen können: liegt nicht unserm innern Sinn eine
unsichtbare Welt in uns selbst aufgedeckt, deren Gränzen noch
kein Sterblicher erflogen hat? Und was liegt uns näher, geht
uns mehr an, als diese nur dem Auge des Geistes anschauliche
Welt unsrer eigenen Gefühle, Gedanken, Ahnungen,
Triebe und Bestrebungen, in deren Mitte unser geistiges
Ich, wie ein Gott im Chaos, Gesetze gibt, Licht werden
heißt, das Verschiedene trennt, das Gleichartige zusammenordnet,
Wirkungen mit Ursachen, Mittel mit Zwecken verbindet,
und indem er so, vermöge seiner gottähnlichen Natur,
das Viele und Mannichfaltige immer zu Einem zu verbinden,
und das Besondere dem Allgemeinen, das Zufällige dem Nothwendigen,
das Geringere dem Bessern, unterzuordnen beschäftigt
ist, von Ursache zu Ursache, von Zweck zu Zweck,
von System zu System, als auf einer von der Erde über
die Wolken emporsteigenden Leiter, sich bis zur Idee eines
alles umfassenden allgemeinen Systems und eines alles belebenden,
allem gesetzgebenden, alles erhaltenden und regierenden
Geistes zu erheben fähig ist? Hier, in diesem heiligen
Kreise, Agathon, liegt unser wahres, höchstes, ja, genau zu
reden, einziges Interesse; dieß ist der Kreis unsrer edelsten
und freiesten Thätigkeit; hier, oder nirgends müssen wir die
Wahrheit suchen, die uns zum sichern Leitfaden durch diese
Sinnenwelt dienen soll; und hier ist für den, der sie redlich
sucht, keine Täuschung möglich!Diese Redlichkeit gegen mich selbst, dieß unverwandte innere
Streben, dem was ich für den Zweck meines Daseyns
erkenne genug zu thun, ist das, was deine Liebe zu mir nur
sehr uneigentlich Vollkommenheit nennt —denn diese ist ein
Ziel, das wir nie ergreifen werden, wiewohl wir ihm ewig
nähern. — Aber es ist hinlänglich dein Zutrauen zu rechtfertigen;
und mir selbst legt es die Pflicht auf, dir den ganz
einfachen Weg vorzuzeichnen, auf welchem ich zu diesem Frieden
mit mir selbst und der ganzen Natur, zu dieser mitten
im Getümmel der Welt sich immer erhaltenden, nur selten
durch vorübergehende Wolken leicht beschatteten Heiterkeit der
Seele, und zu dieser Ruhe, womit ich dem Ende eines langen,
immer beschäftigten Lebens entgegenstehe, gelangt bin, die von
allem was ich besitze das Einzige sind, was ich mein nennen
kann, und denen ich den reinen Genuß alles andern Guten
zu danken habe.—————
Darstellung der Lebensweisheit des Archytas.Meine erste Jugend, Agathon, hat dieß mit der deinigen
gemein, daß ich in den Grundbegriffen und Maximen der Pythagorischen
Philosophie die in der Hauptsache von der Orphischen
wenig unterschieden ist; erzogen wurde. Durch sie erhielt ich
also insofern meine erste Bildung, als ihre Grundlehren eine
besondere Empfänglichkeit in meiner Seele antrafen, auf welche
es außerdem schwer war einen bleibenden Eindruck zu machen:
aber demungeachtet kann ich sagen, daß ich zu meiner Theorie
der Lebensweisheit auf einem ganz praktischen Wege gekommen
bin. Von meiner Kindheit an war Aufrichtigkeit und ein
tödtlicher Haß gegen Verstellung und Unwahrheit der stärkste
Zug meines Charakters. Zu diesem gesellte sich gar bald ein
ihm gleichartiger, eben so lebhafter Abscheu vor allem, was
ich für unrecht und unbillig hielt, sollte es auch nur ein gering
geachtetes Thier oder selbst ein lebloses Ding betroffen haben.
Dieser entschiedene Hang für Wahrheit und Recht, der noch
nicht durch die Nachsicht gemildert war, die wir den Fehlenden
schuldig sind, zog mir viel Unangenehmes in und außer
dem väterlichen Hause zu; und weil man keine Rücksicht auf
die Wärme nahm, womit ich jedes Unrecht; das andern widerfuhr,
fast noch stärker empfand als ob es mir selbst geschehen
wäre, so setzte sich unvermerkt die Meinung fest; daß ein hartherziger,
ungefälliger und hoffärtiger Mensch aus mir werden
würde. Ich hatte daher unter den Knaben meinen Alters
nicht nur keinen Freund, sondern gewöhnlich vereinigten sich
bei jeder Gelegenheit alle gegen mich: und so wurde ich, wiewohl
es mir nicht an Neigung zur Geselligkeit fehlte, genöthigt mich
in mich selbst zurückzuziehen, und beinahe alle meine Unterhaltung
in dem Fleiße zu suchen, womit ich vorzüglich den
mathematischen und mechanischen Wissenschaften oblag, die
ich, der Schärfe ihrer Beweise und des Gebrauchs wegen, der
sich von ihnen bei so vielerlei Verrichtungen des Lebens machen
läßt, allen andern vorzog, deren Nutzbarkeit weniger in die
Augen fiel.So wie ich an Verstand und Alter zunahm, bildete sich
durch die Aufmerksamkeit auf mich selbst, an die ich so früh
gewöhnt worden war, auch die vorhin erwähnte Anlage meines
Charakters aus: die Liebe zur Wahrheit machte, daß ich nichts
so sehr scheute, als besser zu scheinen als ich mich selbst fühlte;
die Liebe zur Gerechtigkeit, daß ich mich immer sorgfältiger
hütete, andern durch rasche Urtheile oder zu scharfe Strenge
Unrecht zu thun. Aber was ich am stärksten scheute, war,
durch eine zu schmeichelhafte Meinung von meinem eignen
Werthe mich selbst zu hintergehen; und das Gefühl, vor mir
selbst Unrecht zu haben, wurde der empfindlichste Schmerz,
dessen ich fähig war: lieber hätte ich die schärfste körperliche
Pein erduldet, als einen Vorwurf von meinem eignen Herzen.
Zu meinem Glücke trug ich einen Angeber in meinem Busen,
dessen Wachsamkeit nicht der kleinere Fehltritt entging, und
einen Richter, der sich durch keine Ausflüchte oder Entschuldigungen
der Eigenliebe bestechen ließ. Ich mußte mich also, um
Friede vor ihnen zu haben, der möglichsten Unsträflichkeit befleißigen;
und so bewirkte die Scheu vor mir selbst, was bei
vielen keine andere Furcht erzwingen kann.Ich hatte kaum das zwanzigste Jahr zurückgelegt, als ein
Krieg, der zwischen den Tarentinern und einem benachbarten
Volke ausbrach, mir zur Pflicht machte, mit andern Jünglingen
meines Alters ins Feld zu ziehen. Ich diente, wie es
unsre Gesetze fordern, von unten auf, und zog mir durch
mein Verhalten im Lager sowohl, als bei allen gefährlichen
Gelegenheiten woran ich Theil nehmen mußte, die Aufmerksamkeit
und den Beifall meiner Obern zu. Die Ruhmbegierde,
die dadurch in mir erweckt wurde, durch die Grundtriebe meines
Charakters geleitet und beschränkt, spornte mich zu mehr
als gewöhnlichen Anstrengungen. Ich that mich hervor: und
wiewohl das Feuer, womit ich, mehr als Einmal, um einen
meiner Cameraden zu retten, mein eignes Leben wagte, mir
die Liebe der Menge zu erwerben schien; so zeigte sich doch
bei Gelegenheit, daß nur wenige mir das öffentliche Lob und
die Preise, die ich mehrmals von unsern Obern erhielt, verzeihen
konnten. Aber auch unter den letztern waren einige,
auf deren Söhne oder Anverwandte die öffentliche Meinung
von meinen Vorzügen einen Schatten warf, der ihre Eitelkeit
beleidigte, oder ihren Entwürfen nachtheilig seyn mochte; und
diese ermangelten nicht, mir bei jedem Anlaß Beweise ihres
bösen Willens zu geben. Man stellte meine Handlungen in
ein falsches Licht, verkleinerte meine Verdienste, machte mich
für fremde Fehler verantwortlich, kurz, man ließ nichts unversucht,
was meine Ruhmbegierde abzukühlen und meinen
Diensteifer zu ermüden und abzuschreiben dienen konnte.
Der Verdruß, der bei diesen Kränkungen mein Gemüth bald
empörte, bald verdüsterte, war um so lebhafter, da ich aus
eignem Gefühle nichts von Neid wußte, und mir nicht vorstellen
konnte, wie gerade das, was einem Menschen Achtung
und Liebe erwerben sollte, ihm Haß und Verfolgung zuziehen
könne. Indessen wußte mein guter Genius auch diese Widerwärtigkeiten
zu meinem Besten zu kehren. Diese Ruhmbegierde,
welcher ich mich bisher mit zu vieler Sicherheit überlassen
hatte, und die mir itzt so oft die peinlichste Unruhe
verursachte, wurde vor Gericht gefordert, um die Gültigkeit
ihrer Ansprüche und Beschwerden untersuchen zu lassen; und
es befand sich, daß sie nicht zu Recht bestehen konnten. Was
hat die Ungerechtigkeit andrer Menschen mit deiner Pflicht zu
schaffen? sagte der Richter in meinem Busen: wie? du thust
also deine Schuldigkeit als Bürger, du handelst edel und großmüthig
als Mensch, um durch fremden Beifall dafür belohnt
zu werden? Erröthe vor dir selbst! Willst du die Ruhe deines
Gemüths vor den Pfeilen des Neides sicherstellen, so strebe
nach jeder Tugend, jedem Verdienst, weil es deine Schuldigkeit
ist! Thue bei jeder Aufforderung zum Handeln das Beste,
was dir möglich ist, weil du nicht weniger thun könntest, ohne
einen Vorwurf von deinem eignen Herzen zu verdienen: und
laß dir an dem Bewußtseyn genügen deine Pflicht gethan zu
haben, andere mögen es erkennen oder nicht! — Ich fühlte
die Wahrheit und Gerechtigkeit dieses Urtheils, und bestrebte
mich von diesem Augenblick an, jede Empfindlichkeit über Beleidigungen
meiner Eigenliebe zu ersticken, und eben so gleichgültig
gegen unverdiente Demüthigung, als bescheiden bei verdientem
Ruhme zu bleiben.Auf diese Weise, lieber Agathon, bildete und befestigte sich
mein moralischer Charakter, bevor ich mich noch in mir selbst
gedrungen, oder von außen veranlaßt fand, über die theoretischen
Grundsätze, in welchen ich erzogen war, und an denen
ich mehr durch Gefühl und Glauben als durch wissenschaftliche
Ueberzeugung hing, schärfer nachzudenken. Als der Friede in
meinem Vaterlande wieder hergestellt war, unternahm ich eine
Reise nach Griechenland, Asien und Aegypten. Ich ließ mich
in den Mysterien von Eleusis und Samothrake, und zu Sais
in den geheimen Orden der Isis und des Osiris iniziiren, und
machte zufälligerweise Bekanntschaft mit verschiedenen Philosophen
und Sophisten von Profession, deren Lehrsätze von den
Pythagorischen weit abgingen, und von welchen einige durch
die Subtilität ihrer Unterscheidungen in Begriffen, worin ich
nichts mehr zu unterscheiden fand, und durch die scheinbare
Stärke ihrer Einwürfe gegen Sätze, die ich immer als ausgemacht
angenommen hatte, meine bisherige Sicherheit über
diese Dinge um so mehr zu beunruhigen anfingen, da ich eben
so wenig aufgelegt war einen Schüler als einen Antagonisten
dieser spitzfindigen Vernünftler abzugeben. Mein entschiedner
Widerwille gegen alles was nach Sophisterei schmeckte, und
gegen alle Speculationen, die mir ins praktische Leben keinen
Einfluß zu haben schienen, oder das Gemüth nur in einen Labyrinth
von Zweifeln führten, um es ihm dann selbst zu überlassen
wie es sich wieder herausfinden könnte, hatte mich immer
von subtilen Nachforschungen über bloß intelligible Gegenstände
entfernt. Aber die Ideen von einem allgemeinen System
der Wesen; von einem unendlichen Geiste, der diesen unendlichen
Körper beseelt, und einer unsichtbaren Welt, die der
Typus der sichtbaren ist; von Gott als dem obersten Gesetzgeber
dieser beiden Welten; von der ewigen Fortdauer aller
Bürger der Stadt Gottes, und von den Stufen, aus welchen
die verschiedenen Classen der Wesen sich dem unerreichbaren
Ziele der Vollkommenheit ewig nähern: diese erhabenen Ideen
waren mir immer wichtig gewesen, hatten stark auf mein
Gemüth gewirkt und, da sie durch die Pythagorische Erziehung
zu Glaubenspunkten bei mir geworden waren, sich mit meiner
ganzen Vorstellungsart so verwebt, daß es mir itzt, da ich dem
Grund ihrer Wahrheit nachforschen sollte, beinahe eben so
vorkam, als ob man mir zumuthete den Grund von meinem
eigenen Bewußtseyn anzugeben. Indessen sah ich scharfsinnige
und gelehrte Männer, denen diese Ideen unerweislich, andere,
denen sie schwärmerisch und chimärisch vorkamen; und je
mehr ich die Welt kennen lernte, desto augenscheinlicher bewies
mir der ungeheure Contrast der gemeinen Vorstellungsart und
Lebensweise der Menschen mit derjenigen, die unmittelbar aus
jenen Ideen folgt, wie unendlich klein die Zahl derjenigen seyn
müsse, die von der Wahrheit derselben überzeugt genug wären,
um sie zum Regulativ ihres Lebens zu machen. Gleichwohl
schienen unsere weisesten Gesetzgeber, so wie die Stifter unsrer
ehrwürdigsten Mysterien, sie als etwas Ausgemachtes angenommen,
und entweder von ihnen ausgegangen zu seyn, oder
auf sie hingeführt zu haben. Von jeher glaubten die besten
unter den Menschen an sie, und lebten nach Maximen, die
sich auf diesen Glauben gründeten. Und du selbst, sagte ich
mir, würdest du den deinigen um irgend einen Preis aufgeben
wollen? dich nicht für höchst unglücklich halten, wenn es jemals
einem Sophisten gelingen könnte, dich zu bereden, daß er
Täuschung sey? Wäre dieß, wenn diese Ideen nicht in dem
Innersten deiner Natur gegründet wären? Und sind sie dieß,
sollte es wohl so schwer seyn, bloß mit Hülfe des allgemeinen
Menschenverstandes bis auf ihren Grund zu kommen?Ich beschloß mich von dieser Möglichkeit durch die That
selbst zu überzeugen."Die Wahrheit, sagte ich zu mir selbst, die für alle wahr
und allen unentbehrlich ist, die den Menschen zu seiner Bestimmung,
zu dem was für ihn das höchste Gut ist führen soll,
kann nicht in dem Brunnen des Demokritus versenkt liegen;
sie kann kein Arcanum seyn, dessen Besitz die Natur einigen
Wenigen ausschließlich anvertraut hätte, und welchem zu Liebe
man nach Memphis oder Sais, oder zu den Gymnosophisten
am Ganges reisen müßte. Sie muß uns allen nahe genug liegen,
um durch bloße Aufmerksamkeit auf uns selbst, durch bloßes
Forschen in unsrer eignen Natur, so weit das Licht in
uns selbst den Blick des Geistes dringen läßt, gefunden zu
werden."Das erste, was die auf mich selbst geheftete Betrachtung
an mir wahrnimmt, ist, daß ich aus zwei verschiedenen
und einander entgegengesetzten Naturen bestehe: einer thierischen,
die mich mit allen andern Lebendigen in dieser sichtbaren
Welt in Eine Linie stellt; und einer geistigen, die mich
durch Vernunft und freie Selbstthätigkeit unendlich hoch über
jene erhebt. Durch jene hange ich auf tausendfache Weise von
allem, was außer mir ist, ab, bin den Bedürfnissen, die allen
Thieren gemein sind, unterworfen, und selbst in der thätigen
Aeußerung meiner Triebe an die Gesetze der Bewegung, der
Organisation und des animalischen Lebens durch eben dieselbe
Nothwendigkeit gefesselt, welcher jedes andere Thier unterthan
ist. Durch diese fühle ich mich frei, unabhängig, selbstthätig,
und bin nicht nur Gesetzgeber und König einer Welt in mir
selbst, sondern auch fähig, mich bis auf einen gewissen Grad
zum Herrn über meinen Körper und über alles andere, was
innerhalb der Gränzen meines Wirkungskreises liegt, zu
machen."Natürlicherweise wird durch diese wunderbare, mir
selbst unerklärliche Vereinigung zweier so ungleichartiger Naturen,
die thierische auf tausendfache Weise veredelt, die geistige
hingegen, die ihrer Natur nach lauter Kraft, Licht und
Feuer ist, abgewürdigt, verdüstert, erkältet, und, um mich
eines sehr passenden Platonischen Bildes zu bedienen, durch
die Verwicklung in die niedrigen Geschäfte und Bedürfnisse
des Thiers, wie ein Vogel der an der Leimruthe hängen
blieb, verhindert, ihren natürlichen freien Flug zu nehmen,
und sich in ein reineres Element zu gleichartigen Wesen aufzuschwingen."Gleichwohl, da nun einmal diese Vereinigung das ist,
was den Menschen zum Menschen macht: worin anders könnte
die höchste denkbare Vollkommenheit der Menschheit bestehen,
als in einer völligen, reinen, ungestörten Harmonie dieser
beiden zu Einer verbundenen Naturen? — Eine Vollkommenheit,
welche, wie unerreichbar sie auch mir, und vermuthlich
jedem andern Menschen seyn mag, dennoch, insofern ich
sie durch getreue Anwendung der Mittel, die in mir selbst
liegen, befördern kann, das unverrückte Ziel meiner ernstlichsten
Bestrebung seyn muß."Wenn aber eine solche Harmonie unter irgend einer Bedingung
stattfinden kann, so ist es gewiß nur unter dieser,
daß der thierische Theil meines Wesens von dem geistigen,
nicht umgekehrt der leztere von dem erstern, regiert werde;
denn was kann widersinniger seyn, als daß der Blinde den
Sehenden führe, und der Verständige dem Unverständigen gehorche?
Diese Unterordnung ist um so gerechter, weil der thierische
Theil bei der Regierung des vernünftigen keine Gefahr
läuft, und nicht die geringste Beeinträchtigung in seinen rechtmäßigen
Forderungen von ihm zu besorgen hat: indem dieser
zu gut erkennt, was zum gemeinsamen Besten des ganzen
Menschen erfordert wird, um dem thierischen Theil etwas zu
versagen, was die Natur zu einer Bedingung seiner Erhaltung
und seines Wohlseyns gemacht hat. Das Thier hingegen weiß
nichts von den höhern Bedürfnissen des Geistes; es kümmert
sich nichts darum, ob sein unruhiges Bestreben jede seiner Begierden
zu befriedigen den Geist in edlern Geschäften und reinern
Vergnügungen beeinträchtiget, und ist so wenig geneigt,
seinen eigennützigen Forderungen Ziel und Maß setzen zu lassen,
daß es sich vielmehr jeder Einschränkung entgegen sträubt, und,
sobald die Vernunft einschlummert oder den Zügel nicht fest
genug hält, sich einer Willkürlichkeit und Oberherrschaft anmaßt,
wovon die Zerrüttung der ganzen innern Oekonomie
des Menschen die unfehlbare Folge ist."Da nun dieß (wie die Erfahrung zeigt) der Fall — wo
nicht bei allen, doch gewiß bei der ungleich größern Zahl der
Menschen auf dem ganzen Erdboden ist, und von jeher gewesen
zu seyn scheint; und da nicht nur die allgemein anerkannte
sittliche Verdorbenheit, sondern selbst der größte Theil
der physischen Uebel und Leiden, die das Menschengeschlecht
drücken und peinigen, nothwendige Folgen dieser Herrschaft
des thierischen Theils unsrer Natur über den geistigen sind,
und der schändlichen Dienstbarkeit, zu welcher die Vernunft
sich nur zu leicht bequemt, wenn der Sirenengesang der Leidenschaften
einmal den Eingang zu unserm Herzen gefunden
hat: so folgt hieraus, als eine Regel, die — ohne Rücksicht
auf mögliche, seltne Ausnahmen — mit gutem Fug für allgemein
gelten kann: "daß ein rastloser Kampf der Vernunft
mit der Sinnlichkeit, oder des geistigen Menschen mit dem
thierischen, das einzige Mittel sey, wodurch der Verderbniß
unsrer Natur und den Uebeln aller Arten, die sich aus ihr erzeugen,
abgeholfen werden könne; und daß dieser innerliche
Krieg in jedem Menschen so lange dauern müsse, bis das zum
Dienen geborne Thier die weise und gerechte Herrschaft der
Vernunft anerkennt und willig dulden gelernt hat." — Eine
Bedingung, wozu das thierische Ich, dessen Thätigkeit immer
nur seine eigene Befriedigung zum Zweck hat, schwerlich auf
eine andere Art zu bringen ist, als wenn das geistige durch
jede mögliche Verstärkung seiner Kraft und Energie eine ganz
entschiedene Uebermacht gewonnen hat."Wenn dieß, wie ich innigst überzeugt bin, Wahrheit ist,
so habe ich von diesem Augenblick an kein dringenderes Geschäft,
als mich zu diesem Endzweck aller Kräfte und Hülfsquellen, die
in der Natur meines Geistes liegen, in ihrer ganzen Stärke
bedienen zu lernen; und nun begreife ich erst, warum der
Delphische Apollo (hierin das Organ der höchsten Weisheit
die zu allen Menschen spricht) denen, die in seinen Tempel
eingehen, nichts Wichtigeres zu empfehlen wußte, als: kenne
dich selbst! Denn worin anders als in dieser Unbekanntheit
mit der hohen Würde unsrer Natur mit der unendlichen Erhabenheit
des Unsichtbaren in uns über das Sichtbare, und mit
der unerschöpflichen Stärke unsrer bloß durch Nichtgebrauch so
wenig vermögenden Geisteskraft worin anders liegt die erste
Quelle aller unsrer Uebel? — Ich entschlage mich hierbei jeder
Untersuchung die aus Mangel eines festen Grundes, worauf
die Vernunft fußen könnte, sich in bloße Hypothesen verliert.
Woher es auch komme — es sey nun, daß die Seele, wie
Plato sagt, durch den Sturz aus jenen überhimmlischen Gegenden
(dem Element ihres vorigen Lebens) in die Materie, wo
sie in einen irdischen Körper gefesselt wird, betäubt, nur langsam
und stufenweise wieder zur Besinnung kommen könne; oder
daß die Schwäche des kindischen Alters, die langsame und meistens
sehr mangelhafte Ausbildung des Instruments, von dessen
Tauglichkeit und reiner Stimmung ihre eigene Entwicklung
größtentheils abhängt, und die übrigen Umstände, deren Einfluß
sich bei den meisten auf ihr ganzes Leben erstreckt, hinlänglich
sey, jene traurige Erfahrung zu erklären — genug, die
Sache selbst liegt am Tage. Nur die Unkunde seiner eigenen
Natur und Würde kann den Geist in einen so unnatürlichen
Zustand versetzen, daß er, anstatt zu herrschen, dient; anstatt
sich vom Stoffe loszuwinden, immer mehr in ihn verwickelt
wird; anstatt immer höher emporzusteigen, immer tiefer herabsinkt;
anstatt mit Götterspeise sich zu nähren, an thierischen
Genüssen oder leeren Schaugerichten sich genügen läßt. Aber
selbst in diesem schmählichen Zustande dringt sich ihm ein geheimes
Gefühl seiner höhern Natur wider Willen auf; er ist
weit entfernt sich in seiner Erniedrigung wohl zu befinden;
er macht sich selbst Vorwürfe über jede seiner unwürdige Gefälligkeit
gegen die Tyrannen, deren Ketten er sich zu tragen
schämt, und die ewige Unruhe in seinem Innern, das stete
Bestreben sein eigenes Bewußtseyn zu übertäuben, das häufige
Wechseln der Gegenstände seiner Begierden und Leidenschaften,
das ewige Sehnen nach einem unbekannten Gute, dessen er
bei jeder Veränderung vergebens habhaft zu werden hofft, beweiset
überflüssig, wie wenig Befriedigung er in jenen Genüssen
findet, und daß keine Glückseligkeit für ihn ist, so lang'
ihm ihre reinste Quelle im Grunde seines eigenen Wesens
verborgen und verschlossen ist."Wohl mir, sagte ich bei diesen Betrachtungen zu mir
selbst, daß ein Zusammenfluss günstiger Umstände, Erziehung,
Unterricht, frühzeitige Anstrengung des Geistes, und Aufmerksamkeit
auf die Stimme meines guten Dämons mich davor
bewahrt haben, diese unglücklichen Erfahrungen an mir selbst
zu machen! Wohl mir, daß weder ein überwiegender Hang
zur Sinnlichkeit, noch irgend eine andre selbstsüchtige Leidenschaft,
die Liebe zur Wahrheit, und das Bestreben den Beifall
des Richters in meinem Herzen zu verdienen, in mir überwältigte!
Aber darf ich mir darum schmeicheln, die Oberherrschaft
der Vernunft in mir sey nun auf immer so fest gegründet,
daß es keiner Vorsicht gegen den vielleicht nur versteckten
Feind bedürfe, der, gerade wenn ich mich seiner am
wenigsten versehe, aus irgend einem Hinterhalt hervorbrechen,
und mein unbesonnenes Selbstvertrauen zu Schanden machen
könnte? Ich habe die Laufbahn des Lebens kaum begonnen
— Geburt, Erziehung, Verhältnisse und die Erwartung meiner
Mitbürger bestimmen mich zu den öffentlichen Geschäften meines
Vaterlandes — tausend Gelegenheiten, wo meine Rechtschaffenheit,
meine Geduld, meine Gewalt über mich selbst,
meine Beharrlichkeit im Guten aus unerwartete Proben gesetzt
werden mögen, stehen mir bevor — mancher schwere
Kampf, vielleicht mit einem mir noch unbekannten Gegenkämpfer
in meinem Busen, oder doch gewiß mit den Leidenschaften,
Irrthümern und Lastern andrer Menschen, mit welchen
mein Lauf in der Republik oder meine Verhältnisse im
bürgerlichen Leben mich verwickeln werden, und — was von
allen Gefahren vielleicht die gefährlichste ist — der Geist der
Welt, die unmerkliche Ansteckung herrschender Beispiele, Vorurtheile
und Gewohnheiten! — Werde ich auf einer so
schlüpfrigen Bahn nie ausglitschen? unter so mancherlei Geschäften,
Sorgen und Zerstreuungen, bei einer so vielfach getheilten
Aufmerksamkeit auf die Dinge außer mir, die Aufmerksamkeit
auf mein Inneres nie verlieren? unter dem lärmenden
Getümmel von außen die Stimme der Weisheit, die
leisen Warnungen meines guten Dämons nie überhören? —
Es ist so schwer emporzusteigen, so leicht herabzuschlüpfen;
und auf der Bahn, die ich zu gehen entschlossen bin, kommt
man durch bloßes Stillstehen schon zurück! — O gewiß,
Archytas, hast du jede mögliche Verstärkung, die deinem Willen
eine auf immer entschiedene Uebermacht geben kann, gewiß
hast du ein System von Lebensweisheit vonnöthen, das auf
einem Grunde stehe, den keine entgegenwirkende Kraft weder
von außen noch innen zu erschüttern vermögend sey!"Aber warum solltest du suchen was du bereits gefunden
hast? Oder wie wolltest du unter den Träumereien müßiger
Grübler, oder in den Schulen geschwätziger Sophisten, die aus
ihrer Denkkraft eine gymnastische Kunst machen, und stolz darauf
sind, mit gleicher Fertigkeit und gleichem Erfolg heute für
die Ideen des Parmenides, morgen für die Atomen des Leucippus
zu fechten, wie solltest du bei ihnen eine bessere Norm
deiner ganzen innern Verfassung, einen sicherern Leitfaden
durch den Labyrinth des Lebens, ein edleres Ziel deines Daseyns,
mehr Aufmunterung und Kraft zur Tugend, und einen
festern Grund guter Hoffnungen finden können, als in den
Grundlehren eben dieser erhabenen Weisheit, in welcher du erzogen
wurdest? Den Glauben, "daß dieses unermeßliche
Weltall — worin die Vernunft, sobald ihr reiner Blick durch
keine zufällige Ursache verdüstert ist, selbst in den bloßen Schattenbildern
der wesentlichen Dinge, die durch die äußern Sinne
in den innern fallen, einen so genauen Zusammenhang von
Ursache und Wirkung, Mittel und Endzweck, eine so schöne
Einfalt in der unerschöpflichsten Mannichfaltigkeit, im ewigen
Streit der verschiedensten Elemente und Zusammensetzungen
so viel Harmonie, im ewigen Wechsel der Dinge so viel Einförmigkeit;
bei aller anscheinenden Verwirrung so viel Ordnung,
im Ganzen einen so reinen Zusammenklang aller Theile zu
Einem gemeinschaftlichen Zweck wahrnimmt, — nicht das
Werk eines blinden Ungefährs oder mechanisch wirkender plastischer
Formen sey, sondern die sichtbare Darstellung der Ideen
eines unbegränzten Verstandes, die ewige Wirkung einer ewigen
geistigen Urkraft, aus welcher alle Kräfte ihr Wesen ziehen,
eine einzige nach einerlei Gesetz regierte Stadt Gottes, deren
Bürger alle vernünftige Wesen, deren Gesetzgeber und Regierer
die Gerechtigkeit und Weisheit selbst, deren ewiges Grundgesetz
gemeinschaftliches Aufstreben nach Vollkommenheit ist."Je mehr ich diesen großen, alles umfassenden Gedanken
durchzudenken strebe, je völliger fühle ich mich überzeugt, daß
sich die ganze Kraft meines Geistes in ihm erschöpft, daß er
alle seine wesentlichen Triebe befriedigt, daß ich mit aller möglichen
Anstrengung nichts Höheres, Besseres, Vollkommneres
denken kann, und — daß eben dieß der stärkste Beweis seiner
Wahrheit ist. Von dem Augenblick an, da mir dieser göttlichste
aller Gedanken, in der ganzen Klarheit, womit er meine
Seele durchstrahlt, so gewiß erscheint, als ich mir selbst meiner
vernünftigen Natur bewußt bin, fühle ich, daß ich mehr als ein
sterbliches Erdenwesen, unendlich mehr als der bloße Thiermensch
bin, der ich äußerlich scheine; fühle, daß ich durch unauflösliche
Bande mit allen Wesen zusammenhange, und daß
die Thätigkeit meines Geistes, anstatt in die traumähnliche
Dauer eines halb thierischen Lebens eingeschränkt zu seyn, für
eine ewige Reihe immer höherer Auftritte, immer reinerer
Enthüllungen, immer kraftvollerer, weiter gränzender Anwendungen
eben dieser Vernunft bestimmt ist, die mich schon in
diesem Erdenleben zum edelsten aller sichtbaren Wesen macht.Von diesem Augenblick an fühle ich, daß der Geist allein
mein wahres Ich seyn kann, daß nur seine Geschäfte, sein
Wohlstand, seine Glückseligkeit, die meinigen sind; daß es Unsinn
wäre, wenn er einen Körper, der ihm bloß als Organ
zur Entwicklung und Anwendung seiner Kraft und zu Vermittlung
seiner Gemeinschaft und Verbindung mit den übrigen
Wesen zugegeben ist, als einen wirklichen Theil seiner selbst
betrachten, und das Thier, das ihm dienen soll, als seinesgleichen
behandeln wollte; aber mehr als Unsinn, Verbrechen
gegen das heiligste aller Naturgesetze, wenn er ihm die Herrschaft
über sich einräumen, oder sich in ein schnödes Bündniß
gegen sich selbst mit ihm einlassen, eine Art von Centaur aus
sich machen, und die Dienste, die ihm das Thier zu leisten genöthigt
ist, durch seiner selbst unwürdige Gegendienste erwiedern
wollte.Von diesem Augenblick an, da mein Rang in der Schöpfung,
die Würde eines Bürgers der Stadt Gottes, die mich zum Genossen
einer höhern Ordnung der Dinge macht, entschieden ist,
gehöre ich nicht mir selbst, nicht einer Familie, nicht einer besondern
Bürgergesellschaft, nicht einer einzelnen Gattung, noch
dem Erdschollen, den ich mein Vaterland nenne, ausschließlich
an; ich gehöre mit allen meinen Kräften dem großen Ganzen
an, worin mir mein Platz, meine Bestimmung, meine Pflicht,
von dem einzigen Oberherrn, den ich über mir erkennen darf,
angewiesen ist. Aber eben darum, und nur darum, weil in
diesem Erdenleben mein Vaterland der mir unmittelbar angewiesene
Posten, meine Hausgenossen, Mitbürger, Mitmenschen,
diejenigen sind, auf welche meine Thätigkeit sich zunächst beziehen
soll, erkenne ich mich verbunden, alles mir Mögliche zu ihrem Besten
zu thun und zu leiden, sofern keine höhere Pflicht dadurch verletzt
wird. Denn von diesem Augenblick an sind Wahrheit, Gerechtigkeit,
Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit, ohne
eigennützige Rücksicht auf mich selbst; die höchsten Gegenstände
meiner Liebe; ist das Bestreben, diese reinsten Ausstrahlungen
der Gottheit in mir zu sammeln und außer mir zu verbreiten,
mein letzter Zweck, die Regel aller meiner Handlungen, die
Norm aller Gesetze, zu deren Befolgung ich mich verbindlich
machen darf. Mein Vaterland hat alles von mir zu fordern,
was dieser höchsten Pflicht nicht widerspricht: aber sobald sein
vermeintes Interesse eine ungerechte Handlung von mir forderte,
so hörten für diesen Moment alle seine Ansprüche an mich auf,
und wenn Verlust meiner Güter, Verbannung und der Tod
selbst auf meiner Weigerung stände, so wäre Armuth, Verbannung
und Tod der beste Theil den ich wählen könnte.Kurz, Agathon, von dem Augenblick an, da jener große
Gedanke von meinem Innern Besitz genommen hat und die
Seele aller meiner Triebe, Entschließungen und Handlungen
geworden ist, verschwindet auf immer jede Vorstellung, jede
Begierde, jede Leidenschaft, die mein Ich von dem Ganzen,
dem es angehört, trennen, meinen Vortheil isoliren, meine
Pflicht meinem Nutzen oder Vergnügen unterordnen will.
Nun ist mir keine Tugend zu schwer, kein Opfer, das ich ihr
bringe, zu theuer, kein Leiden um ihrentwillen unerträglich.
Ich scheine, wie du sagtest, mehr als ein gewöhnlicher Mensch;
und doch besteht mein ganzes Geheimniß bloß darin, daß ich
diesen Gedanken meines göttlichen Ursprungs, meiner hohen
Bestimmung, und meines unmittelbaren Zusammenhangs mit
der unsichtbaren Welt und dem allgemeinen Geist, immer in
mir gegenwärtig, hell und lebendig zu erhalten gesucht habe,
und daß er durch die Länge der Zeit zu einem immerwährenden
leisen Gefühl geworden ist. Fühle ich auch (wie es kaum
anders möglich ist) zuweilen das Loos der Menschheit, den
Druck der irdischen Last, die an den Schwingen unsers Geistes
hängt, verdüstert sich mein Sinn, ermattet meine Kraft, —
so bedarf es nur einiger Augenblicke, worin ich den schlummernden
Gedanken der innigen Gegenwart, womit die alles
erfüllende Urkraft auch mein innerstes Wesen umfaßt und
durchdringt, wieder in mir erwecke, und es wird mir, als ob
ein Lebensgeist mich anwehe, der die Flamme des meinigen
wieder ansagt, wieder Licht durch meinen Geist, Wärme durch
mein Herz verbreitet, und mich wieder stark zu allem macht,
was mir zu thun oder zu leiden auferlegt ist.Und ein System von Ideen, dessen Glaube diese Wirkung
thut, sollte noch eines andern Beweises seiner Wahrheit bedürfen
als seine bloße Darstellung? Ein Glaube, der die
Vernunft so völlig befriedigt, der mir sogar durch sie selbst
aufgedrungen wird, und dem ich nicht entsagen kann ohne
meiner Vernunft zu entsagen; ein Glaube, der mich auf dem
geradesten Wege zur größten sittlichen Güte und zum reinsten
Genuß meines Daseyns führt, die in diesem Erdenleben möglich
sind; ein Glaube, der, sobald er allgemein würde, die
Quellen aller sittlichen Uebel verstopfen, und den schönen Dichtertraum
vom goldnen Alter in seiner höchsten Vollkommenheit
realisiren würde; — ein solcher Glaube beweiset sich selbst,
Agaton! und wir können alle seine Gegner getrost auffordern,
einen vernunftmäßigern und der menschlichen Natur zuträglichen
aufzustellen. Wirf einen Blick auf das, was die Menschheit
ohne ihn ist, — was sie wäre, wenn sich nicht in den Gesetzgebungen,
Religionen, Mysterien und Schulen der Weisen
immer einige Strahlen und Funken von ihm unter den Völkern
erhalten hätten, — und was sie werden könnte, werden
müßte, wenn er jemals herrschend würde, — was sie schon
allein durch bloße stufenweise Annäherung gegen dieses vielleicht
nie erreichbare Ziel werden wird: und alle Zweifel, alle
Einwendungen, die der Unglaube der Sinnlichkeit und die
Sophisterei der Dialektik gegen ihn aufbringen können, werden
dich so wenig in deiner Ueberzeugung stören, als ein Sonnenstäubchen
eine vom Uebergewicht eines Centners niedergedrückte
Wagschale steigen machen kann.Ich kenne nur einen einzigen Einwurf gegen ihn, der
beim ersten Anblick einige Scheinbarkeit hat; den nämlich, daß
er zu erhaben für den großen Haufen, zu rein und vollkommen
für den Zustand sey, zu welchem das Schicksal die Menschheit
auf dieser Erde verurtheilt habe. Aber, wenn es nur zu
wahr ist, daß der größte Theil unsrer Brüder sich in einem
Zustande von Rohheit, Unwissenheit, Mangel an Ausbildung,
Unterdrückung und Sklaverei befindet, der sie zu einer Art
von Thierwelt zu verdammen scheint, worin dringende Sorgen
für die bloße Erhaltung des animalischen Lebens den Geist
niederdrücken und ihn nicht zum Bewußtseyn seiner eignen
Würde und Rechte kommen lassen: wer darf es wagen, die
Schuld dieser Herabwürdigung der Menschheit auf das Schicksal
zu legen? Liegt sie nicht offenbar an denen, die aus
höchst sträflichen Bewegursachen alle nur ersinnlichen Mittel
anwenden, sie so lange als möglich in diesem Zustande von
Thierheit zu erhalten? — Doch, diese Betrachtung würde
uns jetzt zu weit führen. — Genug, wir, mein lieber Agathon,
wir kennen unsre Pflicht: nie werden wir, wenn Macht
in unsre Hände gegeben wird, unsre Macht anders als zum
möglichsten Besten unsrer Brüder gebrauchen; und wenn wir
auch sonst nichts vermögen, so werden wir ihnen, so viel an
uns ist, zu jenem "Kenne dich selbst" behülflich zu seyn suchen,
welches sie unmittelbar zu dem einzigen Mittel führt, wodurch
den Uebeln der Menschheit gründlich geholfen werden
kann. Freilich ist dieß nur stufenweise, nur durch allmähliche
Verbreitung des Lichtes, worin wir unsre wahre Natur und
Bestimmung erkennen, möglich: aber auch bei der langsamsten
Zunahme desselben, wofern es nur zunimmt, wird es
endlich heller Tag werden; denn so lange die Unmöglichkeit
einer stufenweise wachsenden Vervollkommnung aller geistigen
Wesen unerweislich bleiben wird, können wir jenen trostlosen
Cirkel, worin sich das Menschengeschlecht, nach der Meinung
einiger Halbweisen, ewig herumdrehen soll, zuversichtlich für
eine Chimäre halten. Bei einer solchen Meinung mag wohl
die Trägheit einzelner sinnlicher Menschen ihre Rechnung finden;
aber sie ist weder der Menschheit im Ganzen zuträglich,
noch mit dem Begriffe, den die Vernunft sich von der
Natur des Geistes macht, noch mit dem Plane des Weltalls
vereinbar, den wir uns, als das Werk der höchsten Weisheit
und Güte, schlechterdings in der höchsten Vollkommenheit, die
wir mit unsrer Denkkraft erreichen können, vorzustellen schuldig
sind; und dieß um so mehr, da wir nicht zweifeln dürfen,
daß die undurchbrechbaren Schranken unsrer Natur, auch der
der höchsten Anstrengung unsrer Kraft, uns immer unendlich
weit unter der wirklichen Vollkommenheit dieses Plans und
seiner Ausführung zurückbleiben lassen.Auch der Einwurf, daß der Glaube einer Verknüpfung
unsers Geistes mit der unsichtbaren Welt und dem allgemeinen
System der Dinge gar zu leicht die Ursache einer der gefährlichsten
Krankheiten des menschlichen Gemüthes, der religiösen
oder dämonistischen Schwärmerei, werden könne, ist
von keiner Erheblichkeit. Denn es hängt ja bloß von uns
selbst ab, dem Hange zum Wunderbaren die Vernunft zur
Gränze zu setzen, Spielen der Phantasie und Gefühlen des
Augenblicks keinen zu hohen Werth beizulegen, und die Bilder,
unter welchen die alten Dichter der Morgenländer ihre
Ahnungen vom Unsichtbaren und Zukünftigen sich und andern
zu versinnlichen gesucht haben, für nichts mehr als das was
sie sind, für Bilder übersinnlicher und also unbildlicher Dinge
anzusehen. Verschiedenes in der Orphischen Theologie, und
das Meiste, was uns in den Mysterien geoffenbaret wird,
scheint aus dieser Quelle geflossen zu seyn. Diese lieblichen
Träume der Phantasie sind dem kindischen Alter der Menschheit
angemessen, und die Morgenländer scheinen auch hierin,
wie in allem Uebrigen, immer Kinder bleiben zu wollen. Aber
uns, deren Geisteskräfte unter einem gemäßigtern Himmel
und unter dem Einfluß der bürgerlichen Freiheit entwickelt,
und durch keine Hieroglyphen, heilige Bücher und vorgeschriebene
Glaubensformeln gefesselt werden, — uns, denen erlaubt
ist, auch die ehrwürdigsten Fabeln des Alterthums für —
Fabeln zu halten, liegt es ob, unsre Begriffe immer mehr zu
reinigen, und überhaupt von allem, was außerhalb des Kreises
unsrer Sinne liegt, nicht mehr wissen zu wollen, als was
die Vernunft selber davon zu glauben lehrt, und als für unser
moralisches Bedürfniß zureicht. Die Schwärmerei, die sich
im Schatten einer unbeschäftigten Einsamkeit mit sinnlichgeistigen
Phantomen und Gefühlen nährt, läßt sich freilich an
einer so frugalen Beköstigung nicht genügen; sie möchte sich
über die Gränzen der Natur wegschwingen, sich durch Ueberspannung
ihres innern Sinnes schon in diesem Leben in einen
Zustand versetzen können, der uns vielleicht in einem andern
bevorsteht; sie nimmt Träume für Erscheinungen, Schattenbilder
für Wesen, Wünsche einer glühenden Phantasie für
Genuß; gewöhnt ihr Auge an ein magisches Helldunkel, worin
ihm das volle Licht der Vernunft nach und nach unerträglich
wird, und berauscht sich in süßen Gefühlen und Ahnungen,
die ihr den wahren Zweck des Lebens aus den Augen rücken,
die Thätigkeit des Geistes einschläfern, und das unbewachte
Herz wehrlos jedem unvermutheten Anfall auf seine Unschuld
Preis geben. Gegen diese Krankheit der Seele ist Erfüllung
unsrer Pflichten im bürgerlichen und häuslichen Leben das
sicherste Verwahrungsmittel; denn innerhalb dieser Schranken
ist die Laufbahn eingeschlossen, die uns hienieden angewiesen
ist, und es ist bloße Selbsttäuschung, wenn jemand sich berufen
glaubt, eine Ausnahme von diesem allgemeinen Gesetze zu
seyn. Die reine, einfache, ganz und allein auf das Bedürfniß
unsers Geistes gegründete Theosophie der Pythagoräer
setzt uns unmittelbar in diese Laufbahn; und, weit entfernt
uns von den Geschäften des Lebens abzuziehen, unterweiset
und übt sie uns vielmehr in der besten Art sie auszurichten,
und bewaffnet uns mit moralischen Kräften, die uns jede
Tugend, jede Selbstüberwindung, jedes Opfer das wir der
Pflicht zu bringen haben, nicht nur möglich, sondern sogar
leicht und natürlich machen. Meine Erfahrung, liebster Agathon,
gibt mir das Recht hierüber so zuversichtlich zu sprechen.
Wenn ich in fünfzig den öffentlichen Angelegenheiten
meines Vaterlandes aufgeopferten Jahren, worin ich alle
Stufen durchgegangen und fünfmal die höchste Würde unsrer
leland , Agathon, iii. 21
Republik in Krieg und Frieden bekleidet habe, nie müde wurde
meine Schuldigkeit zu thun, wie mannichfaltig und hartnäckig
auch der Widerstand war, den ich zu bekämpfen hatte; wenn
ich jeden Wechsel des Glücks und der Volksgunst mit Mäßigung
und Geduld ertrug, und aus jeder Prüfung meiner
Rechtschaffenheit reiner und geläuterter hervorging; wenn endlich,
wie ich mit frohem Herzen sagen kann, die allgemeine
Liebe und das unbegränzteste Vertrauen meiner Mitbürger
die einzige, wiewohl in meinen Augen die reichste Belohnung
ist, die ich mit meinen Diensten gewonnen habe: so sagt mir
mein innerstes Bewußtseyn, daß ich nicht dazu hätte gelangen
können, wenn meine Kräfte nicht immer durch den Glauben
an dieses geistige Band, das mich mit einer höhern Ordnung
der Dinge, mit der allgemeinen Stadt Gottes und mit der
Gottheit selbst verknüpft, — genährt, ermuntert, gestillt, und
in besondern Lagen sogar über ihr gewöhnliches Maß erhöhet
worden wären. Indessen darf ich nicht vergessen, hinzuzusetzen,
daß mir in dem langen Laufe meines Lebens vornehmlich
zwei Maximen zu Statten gekommen sind, ohne welche
dieser Glaube seine ganze Wohlthätigkeit nicht erweisen, ja
vielmehr in manchen Fällen eher nachtheilig wirken könnte.
Die erste war: bei jeder Aufforderung der Pflicht eben so zu
handeln und meiner selbst so wenig zu schonen, als ob alles
bloß auf meine eigenen Kräfte ankäme, und nur nach gewissenhaftester
Erfüllung dieser Bedingung mich eines höhern Beistandes
gewiß zu halten; die zweite: ungeachtet meines Glaubens
an den Zusammenhang unsers gegenwärtigen Lebens mit
einem zukünftigen, welches den Schlüssel zu allem, was uns
in jenem unerklärbar ist, enthält — mein gegenwärtiges Leben
als ein Ganzes zu betrachten, ihm eine eben so große Wichtigkeit
beizulegen, und allem, was meine jetzigen Verhältnisse
von mir forderten, eben so sorgfältig genug zu thun, kurz,
so viel möglich, jeden Augenblick desselben eben so wohl und
weislich anzuwenden, als ob mein ganzes Daseyn auf die
Dauer dieses Erdenlebens eingeschränkt wäre. Du wirst, bei
eigenem Nachdenken, diese Maximen in der Anwendung auf
die gemeinen und täglichen Pflichten des Lebens so reich an
praktischem Nutzen finden, Agathon, daß ich nicht nöthig habe,
sie dir als die heilsamsten Mittel gegen eine gewisse subtile
Schwärmerei, die uns unsre Schuldigkeit bequemer als recht
ist zu machen sucht, anzupreisen.Hier hielt der ehrwürdige Greis ein, um seine noch nicht
dunkel gewordnen Augen auf dem Gesichte seines jungen Freundes
ruhen zu lassen, aus welchem ihm die reine Beistimmung
seiner ganzen Seele lebendiger und stärker entgegen glänzte,
als er sie durch die beredtesten Worte auszudrücken vermögend
gewesen wäre. Agathon war um diese Zeit in jeder Ansicht
völlig dazu vorbereitet, durch eine solche Darstellung von der
Orphisch-Pythagorischen Glaubenslehre und Lebensphilosophie
überzeugt zu werden; und wofern auch noch einer oder ein
anderer Zweifelsknoten zurück geblieben wäre, so wurde er in
den Unterredungen, welche sie in der Folge öfters über diesen
Gegenstand und einige besondere Punkte des Pythagorischen
Systems mit einander pflogen, zu einer so völligen Befriedigung
seiner Vernunft, als in Dingen dieser Art verlangt werden
kann, aufgelöst. Denn sobald das Herz keine geheimen
Einwendungen gegen eine Lehre zu machen hat, die uns so
schwere Pflichten auferlegt, und die Aufopferungen, welche sie
fordert, bloß durch Vortheile und Freuden, die nur ein reines
Herz dafür zu erkennen und zu genießen fähig ist, vergütet:
so fällt es einem gesunden Verstande so wenig schwer, sich von
ihrer Wahrheit gewiß zu machen, daß es ihm vielmehr unmöglich
ist sie nicht zu glauben, oder sich durch Zweifel und
Einwürfe, selbst im Falle daß er sie nicht ganz aus dem Wege
räumen könnte, irre und ungewiß machen zu lassen.—————
Viertes Kapitel.Beschluß der Geschichte Agathons.Die Geschichte der ehmaligen Danae, ihre Verhältnisse
gegen Agathon, und alles was seit ihrem unverhofften Wiedersehen
zwischen ihnen vorgegangen, war nun, nachdem Agathon
den Archytas mit allen besondern Umständen der seinigen bekannt
gemacht hatte, für diesen Weisen und seine Familie kein
Geheimniß mehr. Es erfolgte was Agathon voraus gesehen
hatte. Chariklea, welche zu edel gesinnt war um eine erschlichene
Hochachtung usurpiren zu wollen, fand daß sie durch die
Geständnisse, wozu sie ihren Freund selbst aufgemuntert hatte,
in den Augen dieser im höchsten Grade gutartigen Menschen
mehr gewonnen als verloren habe; oder vielmehr, sie konnte
dadurch, daß sie alles von ihr wußten, nicht anders als gewinnen,
indem das, was sie als Danae gewesen war, den
Werth des Charakters erhöhte, den sie als Chariklea behauptete,
und sie um so viel achtungswürdiger machte, je weniger
ihr die Opfer, die sie der Tugend brachte, zu kosten schienen.Archytas belebte und stärkte, wie leicht zu erachten ist,
die lobenswürdige Entschließung, welche Chariklea unserm Helden
abgedrungen hatte; und Psyche entschädigte Charikleen für
das, was sie dabei verlor, durch Verdopplung der Freundschaft,
die sie einander gleich beim ersten Anblick einflößten.
Die letztere erwählte nun Tarent zu ihrem gewöhnlichen Aufenthalte.
Durch die Bande der Sympathie mit der Familie
des Weisen vereinigt, schien sie in kurzer Zeit einen Theil
derselben auszumachen. Ihre angenehmste Beschäftigung war,
der Schwester Agathons drei Töchter erziehen zu helfen, über
welche die Grazien alle ihre Gaben ausgegossen hatten. Sie
gewöhnte sich unvermerkt, diese holdseligen Kinder als ihre
eigenen anzusehen. Die Kinder wuchsen in der Ueberredung
auf, als ob sie zwei Mütter hätten, und Psyche fand das
größte Vergnügen daran, den angenehmen Irrthum, der aus
ihr und ihrer Freundin nur Eine Person machte, in diesen
jungen Herzen zu unterhalten.Agathon, dem Gelübde getreu, welches er der Tugend
und Charikleen gethan hatte, betrug sich von dieser Zeit an
so vorsichtig, daß — den einzigen Archytas und vielleicht Charikleen
selbst ausgenommen — niemand gewahr wurde, wie viel
ihm die Gewalt kostete, die er sich dabei anthun mußte.
Aber nach Verdruß einiger Monate erfuhr er, daß er mehr
versprochen habe als er halten könne. Es gibt Augenblicke von
Begeisterung, wo unsre Seele Kräfte in sich fühlt, die nicht
ihre eigenen sind, und auf deren Fortwirken sie vergebens Rechnung
macht. Entfernung allein konnte ihn retten. Der Gedanke,
sich von seinen Freunden, von Psyche, von Charikleen
entfernen zu müssen, war entsetzlich für ihn: aber von dem
Augenblick an, da er die Nothwendigkeit dieser Trennung
fühlte, war sein Entschluß gefaßt. Archytas billigte denselben;
und die Schwestern (so pflegten sich Psyche und Chariklea
zu nennen) liebten ihren Bruder zärtlich genug, um ihm eine
Trennung, deren wahren Beweggrund sie stillschweigend vermutheten,
so viel als nur möglich war zu erleichtern.Agathon durchreisete, in Gesellschaft eines gelehrten Freundes
aus der Pythagorischen Schule und eines Malers von
Sicilien, alle Provinzen der damals bekannten Welt, in welchen
die Griechische Sprache geredet oder wenigstens verstanden
wurde. Natur und Kunst, und was in beiden für den
Menschen das wichtigste ist, der Mensch, waren die Gegenstände
seiner aufmerksamen Beobachtung.Er nahm wenig Vorurtheile mit, da er auszog, und fand
sich auch von diesen wenigen entledigt, als er wieder zurück
kam. Da er während der ganzen Zeit seiner philosophischen
Wanderschaft einen bloßen Zuschauer des Weltschauspiels abgab,
so konnte er desto unbefangener von den Handlungen
sowohl als von den handelnden Personen urtheilen.Seine Beobachtungen vollendeten, was der Umgang mit
Archytas und anhaltendes Nachdenken über seine eigenen Erfahrungen
angefangen hatten: sie überzeugten ihn, daß die
Menschen, im Durchschnitt genommen, überall so sind, wie
Hippias sie schilderte, wiewohl sie so seyn sollten, wie Archytas
durch sein Beispiel lehrte.Er sah allenthalben — was man bis auf diesen Tag sehen
kann —daß sie nicht so gut sind; als sie seyn könnten, wenn sie
weiser wären: aber er sah auch, daß sie unmöglich besser werden
können, ehe sie weiser werden; und daß sie nicht weiser
werden können, bis ihre Väter und Mütter, Ammen, Pädagogen,
Lehrer und Priester, mit allen ihren übrigen Vorgesetzten
durch alle Stufen, vom Gassenvogte bis zum Könige, so
weise geworden sind, als jedes, nach dem Maße seiner Beziehung
und seines Einflusses, seyn müßte, um seiner Pflicht
genug zu thun und der menschlichen Gesellschaft wirklich nützlich
zu seyn.Er sah also, daß wahre Aufklärung zu moralischer Besserung
das Einzige ist, worauf sich die Hoffnung besserer Zeiten,
das ist, besserer Menschen, gründet. Er sah, daß alle
Völker, die wildesten Barbaren so gut als die cultivirten und
verfeinerten Griechen, die Tugend ehren, und daß keine Gesellschaft,
sollte es auch nur eine Horde Arabischer Räuber
seyn, ohne einigen Grad von Tugend, oder, richtiger zu reden,
ohne etwas das ihr ähnlich ist und ihre Stelle vertritt, bestehen
kann. Er fand jeden Ort, jede Provinz, jede Nation,
die er kennen lernte, desto glücklicher, je besser die Sitten der
Einwohner waren; und, ohne Ausnahme, sah er die meiste
Verderbniß, wo äußerste Armuth, oder äußerster Reichthum
herrschte.Er fand bei allen Völkern, die er durchwanderte, die
Religion in Aberglauben gehüllt, zum Schaden der bürgerlichen
Gesellschaft gemißbraucht, und durch Heuchelei oder offene Gewalt
zum Werkzeuge des Betrugs, der Herrschsucht, des Geizes,
der Wollust und des Müßiggangs herabgewürdigt. Er
sah, daß einzelne Menschen und ganze Völker Religion ohne
Tugend haben können, und daß sie dadurch desto schlimmer sind;
aber er sah auch, ohne Ausnahme, daß einzelne Menschen und
ganze Völker, wenn sie schon gut sind, durch Gottesfurcht desto
besser werden.Er sah die Gesetzgebung, die Staatsverwaltung und die
Polizei allenthalben voller Mängel und Gebrechen: aber er
sah auch, daß die Menschen ohne eben diese Gesetze, Staatsverwaltung
und Polizei noch weit schlimmer und unglücklicher
wären. Er hörte allenthalben über Mißbräuche klagen, sah
daß jedermann die Welt verbessert wissen wollte, sah eine
Menge Leute, die an der Verbesserung derselben zu arbeiten
bereit und an Vorschlägen unerschöpflich waren; aber keinen
einzigen, der die Verbesserung an ihm selbst anfangen lassen
wollte; — und er erklärte sich ganz natürlich daraus, warum
es nirgends besser werden wollte. Er sah die Menschen überall
durch zwei einander entgegen stehende Triebe beherrscht, den
Trieb zur Gleichheit, und den Trieb willkürlich über andre
den Meister zu spielen; und dieß überzeugte ihn, daß es, so
lange diesem Uebel nicht abgeholfen ist, durch keine Veränderung
der Regierungsform besser mit den Menschen werden
kann, sondern daß sie, in einem ewigen Cirkel, von königlichem
Despotismus und aristokratischem Uebermuth — zu
Volks- und Pöbels-Tyrannie, und von dieser wieder zu jenen,
so lange herumgewälzt werden müssen, bis eine aus den
Grundlehren der reinsten Religion und Moral abgeleitete Gesetzgebung,
und eine durch dieselbe veranstaltete Erziehung,
den thierischen Trieb zu gesetzloser Willkür in allen Menschen
gebändiget haben wird.Er sah, daß allenthalben Künste, Fleiß und gute Wirthschaft
den Reichthum, der Reichthum den Luxus, der Luxus
verdorbene Sitten, verdorbene Sitten den Untergang des
Staats, zur Folge haben: aber er sah auch, daß die Künste,
wenn sie ihre Richtung von der Weisheit erhalten, die Menschheit
verschönern, entwickeln, veredeln; daß Kunst die Hälfte
unsrer Natur, und der Mensch ohne Kunst das elendeste unter
allen Thieren ist.Er sah durch die ganze Oekonomie der Menschheit die
Gränzen des Wahren und Falschen, des Guten und Bösen,
des Rechts und Unrechts, unmerklich in einander fließen;
und überzeugte sich dadurch immer mehr von der Nothwendigkeit
weiser Gesetze, und von der Pflicht des guten Burgers,
dem Gesetz mehr zu glauben als seinem eigenen Gefühle.Alles aber, was er gesehen hatte, befestigte ihn in der
Ueberzeugung: "daß der Mensch — auf der einen Seite den
Thieren des Feldes, auf der andern den höhern Wesen und
der Gottheit selbst verwandt — zwar eben so unfähig sey, ein
bloßes Thier als ein bloßer Geist zu seyn; aber, daß er nur
alsdann seiner Natur gemäß lebe, wenn er immer empor
steige; daß jede höhere Stufe der Weisheit und Tugend, die er
erstiegen hat, seine Glückseligkeit erhöhe; daß Weisheit und
Tugend allezeit das richtige Maß sowohl der öffentlichen als
der Privatglückseligkeit unter den Menschen gewesen; und daß
diese einzige Erfahrungswahrheit, welche kein Zweifler zu entkräften
fähig ist, alle Trugschlüsse der Hippiasse zerstäube, und
die Theorie der Lebensweisheit des Archytas unerschütterlich
befestige."Diese Kenntnisse und diese Ueberzeugung waren die Früchte,
welche Agathon in Stunden der einsamen Betrachtung oder des
geselligen Nachforschens in freundschaftlichen Unterredungen,
zum Vortheil seines Moralsystems, aus seinen Beobachtungen
zog. Sie machten nur einen kleinen, aber in der That den wichtigsten
Theil des Schatzes von schönen und nützlichen Kenntnissen
aus, den er von einer dreijährigen Reise durch die vornehmsten
Theile der damaligen Welt nach Tarent zurück brachte.Er hatte die überschwängliche Freude, seinen alten Freund
Archytas und alle die er liebte in eben dem glücklichen Zustande
wieder anzutreffen, worin er sie verlassen hatte. Der Tag des
Wiedersehens war ein Fest der Freundschaft, an welchem das
ganze Tarent Antheil nahm. Was ihre Freude vollkommen
machte, war die Bemerkung, daß Agathon zwischen Psyche und
Chariklea keinen Unterschied machte, und gänzlich vergessen zu
haben schien, daß die letztere —einst Danae, und wie sehr sie
es für ihn gewesen war.Er befestigte sich nunmehr in dem Entschlusse, Tarent zu
seinem beständigen Sitze zu erwählen. Die Tarentiner beschenkten
ihn mit ihrem Bürgerrecht: er verdiente das Glück,
im Schooße der Freiheit und des Friedens unter gutartigen
Menschen zu leben, und sie waren eines solchen Mitbürgers
würdig.Durch alles was er erfahren und beobachtet hatte überzeugt,
"daß man in einem großen Wirkungskreise zwar mehr
schimmern, aber in einem kleinen mehr Gutes schaffen kann,"
widmete er sich mit Vergnügen und Eifer den öffentlichen Angelegenheiten
dieser Republik; und so lange Kritolaus und Agathon
lebten, glaubten die Tarentiner nichts dadurch verloren zu
haben, daß Archytas in eine bessere Welt gegangen war.—————
Anmerkungen.Buch 11.S. 6. Z. 21. Der Verfasser des Kratylus — Der
Platonische Dialog Kratylus hat den Verehrern Platons von jeher
viel zu schaffen gemacht wegen seiner Wortspielereien und schwerfälligen
Wortklaubereien, bis endlich Schleiermacher auch hier den richtigen
Gesichtspunkt nachgewiesen hat. Hier wird der Kratylus noch als ein
Beweis der Pedanterie seines Verfassers genommen.S. 13. Z. 27. Diesem Schüler des Sokrates Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen — Der Verfasser des
Agathons selbst hat dieß, viele Jahre später, in seinen Erläuterungen
zu den von ihm übersetzten Horazischen Briefen, so wie in den Briefen
Aristipps und der Lais, nach seiner Weise und, so viel wir wissen,
zur Zufriedenheit einiger competenter Richter in diesem Fache bewerkstelligt.
W.S. 15. Z. 28. Des Phalaris glühenden Ochsen
ausgenommen — In diesem ehernen Ochsen konnten Menschen
gebraten werden, deren Jammergeschrei das Brüllen des Ochsen vernehmen
ließ. Die Behauptung, worauf hier angespielt wird, daß der
Weise auch während dieser Qual sich glückselig fühle, kommt von einem
Philosophen, dem man sie wohl am wenigsten zugetraut hätte, von
Epikur. Wie sehr er dadurch mit sich in Widerspruch gerieth, bemerkte
schon Cicero, Tusc. Quaest. 2, 7.S. 54. Z. 4. Den Republiken vorwirft — Uebrigens
ist es vielleicht bemerkenswerth, daß alles Nachtheilige, was Agathon
von den Republiken sagt, durch die neu entstandene Französische
Republik so völlig bestätiget wurde, daß es Zug vor Zug nach ihr gezeichnet
zu seyn schien, wiewohl es mehr als fünf und zwanzig Jahre
vorher geschrieben wurde: zu einer Zeit, da sich noch niemand in der
größten Fieberhitze hätte träumen lassen, daß, noch vor Ausgang des
Jahrhunderts, aus dem Moder der aufgelösten Französischen Monarchie
ein politisches Ungeheuer hervor steigen werde, das uns schon
in den ersten Jahren seines Daseyns den gräßlich ekelhaften Anblick
aller der Unordnungen, Ungerechtigkeiten, Thorheiten, Verbrechen und
Gräuelthaten im Großen darstellt, welche uns die Geschichte an jenen
berühmten Freistaaten des alten Griechenlandes, in der Epoche ihrer
höchsten Verderbniß, im Kleinen zeigt. Welche Wahrscheinlichkeit, daß
eben dieselben Ursachen, die den Untergang jener alten Republiken nach
sich zogen, in Frankreich die Quellen des Gedeihens, der Dauerhaftigkeit
und des blühenden Wohlstandes einer neu gebornen Mißgeburt
von Republik, die das Princip ihrer baldigen Auflösung gleich mit auf
die Welt brachte, sollten werden können? W.Buch 12.S. 57. Vgl. mit diesem Anfang Lessings Hamb. Dramaturgie
— Bd. 2 St. LXlX. S. 150. fgg.S. 44. Z. 19. Odeon — Ein zu den musikalischen Wettstreiten
und Spielen bestimmtes öffentliches Gebäude. W.S. 48. Z. 14. Pallas — Die Schilderung dieses freigelassenen
des Claudius findet man bei Tacitus Annal. 11. 29 u. a, O.,
so wie die des Tigellinus bei demselben Histor. 1, 72. Vgl. Anm.
zu Bd. XXV.S. 52. Z. 15. Abt von Saint-Pierre — Dieser liebenswürdige
Weise, durch seine études de la Nature u. la chaumière indienne
rühmlich bekannt, sann auf den Plan zu einem ewigen Frieden.S. 62. Z. 20. Des Sokratischen Geheimnisses —
Ohne Zweifel ist hier angespielt auf die Stelle in Xenophons Sokratischen
Denkwürdigkeiten Buch 1. Kap. 3. §. 14. (vergl. Xenophons Gastmahl
4, 38). — Die gefällige Cypassis, Ovids Sklavin, ist aus dessen Liebesgedichten
bekannt. — Xenokrates durch Enthaltsamkeit berühmt, von
welcher sich der nur die Miene gibt, welcher seinen Trieb aus die leichteste
Weise bei dazu käuflichen Personen gefahrlos ableitet. Hierin besteht
eigentlich das Sokratische Geheimniß.S. 64. Z. 19. Ixion — An die Tafel der Götter gezogen, verliebte
sich in Juno, umarmte zwar nur ein von Zeus in ihrer Gestalt
geschaffenes Wolkenbild, mußte aber gleichwohl für diesen Frevel in der
Unterwelt hart büßen.S. 67. Z. 15. Nil admirari — Nichts zu bewundern, war
ein Hauptgrundsatz des Aristippischen Glückseligkeitssystems, welchen Wieland
zum 6ten Br. des Horaz im ersten Buche wohl am besten erläutert
hat.S. 71. Z. 25. 26. Die Schwester des Herzogs von Marlborough —
War Miß Churchill, deren schönen Körper, nach den
Mémoires du Comte de Grammont, ein Sturz vom Pferde entdeckte,
wovon die Wirkung war, daß sie dem Herzog von York den Herzog von
Berwick und Lady Waldgrave gebar.S. 100. Z. 9. Milesische Mährchen — Waren eine Art
von Romanen, denen man jenen Namen von der kleinasiatischen Stadt
Milet gab, weil dort zuerst mehrere Dichter sich damit beschäftigten,
Dichtungen dieser Art nach den Mustern der Persischen abzufassen.S. 117. Z. 28. Das Reich der Themis und des
Kronos — D. i. die glückselige Unschuld des goldenen Zeitalters, über
welches Kronos (Saturnus) geherrscht hatte, und nach welchem Themis,
die Göttin der Gerechtigkeit, von der entarteten Erde entflohen war.Buch 13.S. 169. 1. Doctor Peter Rezio von Aguero —
Der den Grundsatz des Hippokrates, daß alle Sättigung übel sey, so
geltend machte, ist aus dem 47sten Kapitel des Don Quixote eben so
bekannt als die Statthalter der Insel Barataria. — — Inanition,
Leerheit.S. 171. Z. 15. Artemisia — Gemahlin des Karischen Königes
Mausolus, fand nach dessen Tode keine Gränzen in Beweisen ihrer
Liebe. Die Asche des Verstorbenen trank sie in Wein gemischt, und
errichtete ihm eins der größten und prächtigsten Denkmale, wovon nachher
alle Todten-Denkmale den Namen der Mausoleen erhalten haben.Buch 14.S. 198. Z. 6. Diese Grazien — Danae sagt im Original
diese Verse Pindars (aus der neunten Olympischen Ode) mir seinen eigenen
Worten her. Das Unvermögen einem Pindar nachzufliegen hat uns
zu einer Umschreibung genöthigt, wodurch das Urbild vielleicht weniger
verliert als durch eine wörtliche Uebersetzung. W.S. 210. Z. 17. Wie Socrates eine Art von Genius —
Der Genius des Sokrates (der bis auf diesen Tag ein Problem für die Gelehrten
ist) sagte ihm nie, was er thun sollte: dazu hat uns Gott fünf
Sinne und Vernunft gegeben, sagte Sokrates. Aber es gibt Fälle,
wo uns diese Führer und Rathgeber in der Unwissenheit lassen, oder gar
irre führen; in solchen Fällen ist es glücklich einen warnenden Genius
zu haben, der uns sagt: thue das nicht! W.S. 218. Z. 20. Schien den Aristophanen einigen Vorwand
zu geben — Aristophanes in den Acharnern 524 führt als Ursache
des Peloponnesischen Kriegs an, daß einige trunkene Jünglinge
aus Megara die Hetäre Simätha geraubt, die Megarer dagegen, um
sich zu rächen, zwei andere aus Aspasia's Hause entführt hätten. —
Andere Komiker machten ähnliche Beschuldigungen.S. 226. Z. 16-17. Eine Ariadne ——gebilligt worden
— Xenophons Symposium gegen das Ende. W.S. 231. Z. 8. Eine Philippika — Nennt man eine starke,
kräftige, wohl auch zürnende, Rede nach Art derer, welche der berühmte
Athenische Redner Demosthenes gegen den Macedonischen König Philippos
hielt.S. 244. Z. 12. Thargelia — Von Milet, ward mit einem
Thessalischen Könige vermählt, und regierte dreißig Jahre lang mit Geist
und Glück.S. 245. Z. 25. 26. Nemea. Theodota — Namen zweier
ihrer Schönheit wegen berühmten Hetären der damaligen Zeit. W.Buch 15.S. 252. Z. 24. Die Nymphe Salmacis — Umfaßte
den Hermaphroditus, der sich in ihrem Gewässer badete, und schwur dem
Spröden, ihn nie zu verlassen. Die Götter verwandelten beide in Einen
Körper von doppeltem Geschlecht.S. 259. Z. 28. Semiramis — Wird von Griechischen Geschichtschreibern
eine Hirtin von ausgezeichneter Schönheit genannt. Ein
Syrischer Satrap sah, liebte und heirathete sie. Der Krieg trennte ihn
von ihr, seine Sehnsucht nach ihr erwachte, und er rief sie zu sich ins
Lager, wo sie bald eben so viel an Kriegsruhm als an Ruhm der Schönheit
gewann. Der Babylonische König Ninus ließ sie vor sich berufen,
entbrannte in Liebe zu ihr, und sie ward seine Gemahlin.S. 259. Z. 28. Rhodope — Nicht zu verwechseln mit der
Tochter des Aegyptischen Pharaonen Cheops, war eine geborne Sklavin
aus Thrazien, die durch ihre Schönheit sich die Freiheit erwarb. Sie
schloß ihre Laufbahn damit, daß sie Gemahlin des Pharaonen Amasis
wurde. Die Geschichte von ihrer Erhebung auf den Thron, wie sie bei
Herodot erzählt wird, hat ganz das Ansehen eines Orientalischen Mährchens.S. 261. Z. 15. Gynäceum — (Gynäkeion), Harem, Serail.S. 267. Z. 2. Kynara — Hieß der Ort in Babylonien,
einige Meilen südlich vom Eingange der Medischen Mauer, wo der jüngere
Kyros geschlagen wurde. — Dieser Erzählung, so wie dem, was
zu Anfange des folgenden Kapitels berichtet wird, dient zur Grundlage
die Stelle bey Xenoph. de exped. Cyri 1, 10.—————
Buch 16S. 304. Z. 7. Antagonist —Gegenkämpfer, Bekämpfer. —
Intelligible Gegenstände sind solche, die bloß durch den Verstand,
nicht durch Sinnenwahrnehmung erkennbar sind. — Typus, Vor-
und Musterbild.S. 305. Z. 28. Brunnen des Demokritus — Demokrit
behauptete, die Natur habe die Wahrheit in die Tiefe eines Brunnens
verborgen, und darum werde die Welt von Meinungen und Satzungen
regiert. Cic. Acad. Quaest. 1, 13. 2, 10.S. 306. Z. 3. Memphis — In Mittel- und Sais in Unter-Aegypten
waren Hauptorte, zu denen man um der Weisheit willen
zog, wie nach Indien zu den Gymnosophisten (nackten Weisen), oder vielmehr
Braminen. Die Braminen in Indien, und die ägyptischen Priester,
beide nicht unwahrscheinlich mit einander verwandt, standen im
Rufe vorzüglich tiefer Weisheit, und von den größten Philosophen Griechenlands
wird erzählt, daß sie Schüler derselben gewesen.—————
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