C. M. Wieland's
Werke.Fünfter Band.Leipzig.G. J. Göschen'sche Verlagshandlung.1853.
Buchdruckerei der J. G. Cotta'schen Buchhandlung in Stuttgart.
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Quid Virtus et quid Sapientia possit
Utile proposuit nobis exemplum.
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Zweiter Band.
Inhalt
des zweiten Theils.Seite
Siebentes Buch. Agathon erzählt die Geschichte seiner
Jugend, bis zu dem Zeitpunkte, da er seinen Vater fand.
Erstes Capitel. Agathons erste Jugend. Etwas von Idealen. 3
Zweites Capitel. Agathon wird in der Orphischen
Philosophie unterwiesen . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Drittes Capitel. En animam et mentem cum qua Di nocte
loquantur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Viertes Capitel. Die Liebe in verschiednen Gestalten. Die
Pythia tritt an Theogitons Stelle . . . . . . . . . . . . 20
Fünftes Capitel. Psyche . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
Sechstes Capitel. Die Absichten der Pythia entwickeln sich29
Siebentes Capitel. Agathon lehrt seine geliebte Unbekannte
näher kennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .35
Achtes Capitel. Ein neuer Versuch der Pythia. Psyche
wird unsichtbar. Agathons letztes Abenteuer zu Delphi . . 45
Neuntes Capitel. Agathon entflieht von Delphi, und findet
seinen Vater. Was für einen neuen Schwung sein Geist
durch die Veränderung seiner Umstände bekommt . . . . . . 52
Achtes Buch. Fortsetzung der Erzählung Agathons, von
seiner Versetzung nach Athen bis zu seiner Bekanntschaft
mit Danae.Erstes Capitel. Agathon kommt nach Athen und
widmet sich der Republik. Eine Probe der besondern Natur
denjenigen Windes,der von Horaz aura popularis genannt wird68
Zweites Capitel. Agathons Glück und Ansehen in der Republik
erreicht seinen höchsten Gipfel . . . . . . . . . . . . . 78
Drittes Capitel. Agathon wird als ein Staatsverbrecher
angeklagt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
Viertes Capitel. Ein Verwandter seines Vaters macht dem
Agathon sein Geburts- und Erbrecht streitig. Sein
Gemüthszustand unter diesen Widerwärtigkeiten . . . . . . 94
Fünftes Capitel. Wie Agathon sich vor den Athenern
vertheidiget. Er wird verurtheilt und auf immer aus
Griechenland verbannt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Sechstes Capitel. Agathon endigt seine Erzählung . . . . .108
Neuntes Buch. Fortsetzung der Geschichte Agathons und
der schönen Danae bis zur heimlichen Entweichung des erstern
aus Smyrna. SeiteErstes Capitel. Ein starker Schritt zur
Entzauberung unsers Helden . . . . . . . . . . . . . . . .114
Zweites Capitel. Vorbereitung zum Folgenden. Neue
Anschläge des Sophisten Hippias . . , . . . . . . . . . . 123
Drittes Capitel. Hippias wird zum Verräther an seiner
Freundin Danae . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .130
Viertes Capitel. Folgen des Vorhergehenden Agathon entfernt
sich heimlich aus Smyrna . . . . . . . . . . . . . . . . .141
Fünftes Capitel. Eine kleine Abschweifung . . . . . . . . 152
Sechstes Capitel. Agathon wird von einem kleinen Rückfall
bedroht. Ein unverhoffier Zufall bestimmt seine
Entschließung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .159
Siebentes Capitel. Betrachtungen, Schlüsse und Vorsätze . 166
Achtes Capitel. Eine oder zwei Abschweifungen . . . . . . 177
Zehntes Buch. Darstellung des Syrakusischen Hofes,
und des Merkwürdigsten, was sich kurz zuvor, ehe
Agathon zu Syrakus auftrat, an demselben begeben
hatte.Erstes Capitel. Charakter der Syrakuser, des
Dionysius und seines Hofes . . . . . . . . . . . . . . . .187
Zweites Capitel. Charakter des Dion, Anmerkungen über
denselben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194
Drittes Capitel. Ein Beispiel, daß die Philosophie so gut
zaubern kann als die Liebe . . . . . . . . . . . . . . . .202
Vierten Capitel. Philistus und Timokrates . . . . . . . . 215
Fünftes Capitel. Gemüthsverfassung des Dionysius.
Unterredung mit Dion und Platon. Folgen derselben . . . . 229
Sechstes Capitel. Kunstgriffe des Günstlings Timokrates.
Bacchidion. Dion und Platon werden entfernt . . . . . . . 236
Siebentes Capitel. Ein merkwürdiger Vortrag des Philistus.
Wozu ein großer Herr Philosophen und witzige Köpfe brauchen
kann. Dionysius stiftet eine Akademie von schönen Geistern243
Geschichte des Agathon.
Zweiter Theil.
Siebentes Buch.
Agathon erzählt die Geschichte seiner Jugend, bis zu dem Zeitpunkte, da er seinen Vater fand.
Erstes Capitel.
Agathons erste Jugend. Etwas von Idealen.
Ich war schon achtzehn Jahr alt, eh' ich denjenigen kannte,
dem ich mein Daseyn zu danken habe. Von der ersten Kindheit
an in den Hallen des Delphischen Tempels erzogen, war
ich gewohnt, die Priester des Apollo mit diesen kindlichen
Empfindungen anzusehen, welche das erste Alter über alle,
die für unsre Erhaltung Sorge tragen, zu ergießen pflegt.
Ich war noch ein kleiner Knabe, als ich schon mit dem geheiligten
Gewande, welches die jungen Diener des Gottes
von den Sklaven der Priester unterschied, bekleidet, und zum
Dienste des Tempels gewidmet wurde.Wer Delphi gesehen hat, wird sich nicht verwundern, daß
ein Knabe von gefühlvoller Art, der beinahe von der Wiege
an daselbst erzogen worden, unvermerkt eine Gemüthsbildung
bekommen mußte, die ihn von den gewöhnlichen Menschen
unterschied. Außer der besondern Heiligkeit, welche ein uraltes
Vorurtheil und die geglaubte Gegenwart des Pythischen
Gottes dem Delphischen Boden beigelegt hat, war in den
Bezirken des Tempels selbst kein Platz, der nicht von irgend
einem ehrwürdigen oder glänzenden Gegenstand erfüllt, oder
durch das Andenken irgend eines Wunders verherrlichet gewesen
wäre. Der Anblick so vieler wundervollen Dinge war
das erste, woran meine Augen gewöhnt wurden, und die
Erzählung wunderbarer Begebenheiten die erste mündliche
Unterweisung, die ich von meinen Vorgesetzten erhielt. Eine
Art von Unterricht, dessen ich bedurfte, weil es ein Theil
meines Berufs seyn sollte, den Fremden, von welchen der
Tempel immer angefüllt war, die Gemälde, Schnitzwerke
und Bilder, und den unsäglichen Reichthum von Geschenken,
wovon die Hallen und Gewölbe desselben schimmerten, zu
erklären.Für ungewohnte Augen ist vielleicht nichts Blendenderes,
als der Anblick eines von so vielen Königen, Städten und
reichen Privatpersonen in ganzen Jahrhunderten zusammen
gehäuften Schatzes von Gold, Silber, Edelsteinen, Perlen
und Elfenbein. Für mich, der dieses Anblicks gewohnt war,
hatte die bescheidene Bildsäule eines Solon mehr Reiz, als
alle schimmernden Denkmale einer abergläubischen Andacht,
welche ich bald mit eben der verachtenden Gleichgültigkeit ansah,
womit ein Knabe die Puppen und Spielwerke seiner Kindheit
anzusehen pflegt. Noch unfähig von den Verdiensten und
dem wahren Werthe der vergötterten Helden mir einen ächten
Begriff zu machen, stand ich oft vor ihren Bildern, und fühlte,
indem ich sie betrachtete, mein Herr mit geheimen Empfindungen
ihrer Größe und mit einer Bewunderung erfüllt, wovon
ich keine andre Ursache als mein inneres Gefühl hätte angeben
können. Einen noch stärkern Eindruck machte auf mich
die große Menge von Bildern der verschiednen Gottheiten,
unter welchen unsre Voreltern die erhaltenden Kräfte der
Natur, die mannichfaltigen Vollkommenheiten des menschlichen
Geistes, und die Tugenden des geselligen Lebens vorgestellt
haben, und wovon ich im Tempel und in den Hainen
von Delphi mich allenthalben umgeben fand.Meine damalige Erfahrung, schöne Danae, hat mich seitdem
oftmals auf die Betrachtung geleitet, wie groß der Beitrag
sey, welchen die schönen Künste zu Bildung des sittlichen
Menschen thun können, und wie weislich die Priester der
Griechen gehandelt, da sie die Musen und Grazien, deren
Lieblinge ihnen so große Dienste gethan, selbst unter die Zahl
der Gottheiten aufgenommen haben. Der wahre Vortheil der
Religion, insofern sie eine besondere Angelegenheit des priesterlichen
Ordens ist, scheint von der Stärke der Eindrücke
abzuhangen, die wir in denjenigen Jahren empfangen, worin
wir noch unfähig sind Untersuchungen anzustellen. Würden
unsere Seelen in Absicht der Götter und ihres Dienstes von
Kindheit an leere Tafeln gelassen, und anstatt der unsichern
und verworrenen aber desto lebhaftern Begriffe, welche wir
durch Fabeln und Wundergeschichten, und in etwas zunehmendem
Alter durch die Musik und die bildenden Künste, von
den übernatürlichen Gegenständen bekommen, allein mit den
unverfälschten Eindrücken der Natur und den Grundsätzen der
Vernunft überschrieben: so ist sehr zu vermuthen, daß der
Aberglaube noch größere Mühe haben würde, die Vernunft,
als, in dem Falle worin die meisten sich befinden, die Vernunft
Mühe hat, den Aberglauben von der einmal angenommenen
Herrschaft zu verdrängen. Der größte Vortheil, den
dieser über jene hat, hängt davon ab, daß er ihr zuvorkommt.
Wie leicht wird es ihm, sich einer noch unmündigen Seele zu
bemeistern, wenn alle diese zauberischen Künste, welche die
Natur im Nachahmen selbst zu übertreffen scheinen, ihre Kräfte
vereinigen die entzückten Sinne zu überraschen! Wie natürlich
muß es demjenigen werden, die Gottheit des Apollo zu glauben,
ja endlich sich zu bereden daß er ihre Gegenwart und Einflüsse
fühle, der in einem Tempel aufgewachsen ist, dessen
erster Anblick das Werk und die Wohnung eines Gottes ankündet; —
demjenigen, der gewohnt ist den Apollo eines
Phidias immer vor sich zu sehen, und das mehr als Menschliche,
welches die Kenner so sehr bewundern, der Natur des
Gegenstandes, nicht dem Geiste des Künstlers zuzuschreiben!So viel ich unsre Seele kenne, däucht mich, daß sich in
einer jeden, die zu einem merklichen Grade von Entwicklung
gelangt, nach und nach ein gewisses idealisches Schöne bilde,
welches (auch ohne daß man sich's bewußt ist) unsern Geschmack
und unsre sittlichen Urtheile bestimmt, und das allgemeine
Modell abgibt, wonach unsre Einbildungskraft die besondern
Bilder dessen, was wir groß, schön und vortrefflich nennen,
zu entwerfen scheint. Dieses idealische Modell bildet sich (wie
mich däucht) aus der Beschaffenheit und dem Zusammenhange
der Gegenstände, unter welchen wir zu leben anfangen. Daher
(wie die Erfahrung zu bestätigen scheint) so vielerlei besondere
Denk- und Sinnesarten, als man verschiedene Stände und
Erziehungsarten in der menschlichen Gesellschaft antrifft; daher
der Spartanische Heldenmuth, die Attische Urbanität. und
der Schwulst der Asiaten; daher die Verachtung des Geometers
für den Dichter, oder des speculirenden Kaufmanns
gegen die Speculationen des Gelehrten, die ihm unfruchtbar
scheinen, weil sie sich in keine Dariken verwandeln, wie die
seinigen; daher der grobe Materialismus des plumpen Handwerkers,
der rauhe Ungestüm des Seefahrers, die mechanische
Unempfindlichkeit des Soldaten und die einfältige Schlauheit
des Landvolks; daher endlich, schöne Danae, die Schwärmerei,
welche der weise Hippias deinem Kallias vorwirft; diese
Schwärmerei, die ich vielleicht in einem minder erhabnen
Lichte sehe, seitdem ich ihre wahre Quelle entdeckt zu haben
glaube; aber die ich nichtsdestoweniger für diejenige Gemüthsbeschaffenheit
halte, welche uns, unter gewissen Einschränkungen,
glücklicher als irgend eine andre machen kann.—————
Zweites Capitel.Agathon wird in der Orphischen Philosophie unterwiesen.Du begreifst leicht, schöne Danae, daß unter lauter Gegenständen,
welche über die gewöhnliche Natur erhaben und
selbst schon idealisch sind, jenes phantasirte Modell, dessen ich
vorhin erwähnte, in einem so ungewöhnlichen Grade abgezogen
und überirdisch werden mußte, daß bei zunehmendem
Alter alles, was ich wirklich sah, weit unter demjenigen war,
was sich meine Einbildungskraft zu sehen wünschte. In dieser
Gemüthsverfassung war ich, als einer von den Priestern zu
Delphi, aus Absichten welche sich erst in der Folge entwickelten,
es übernahm, mich in den Geheimnissen der Orphischen Philosophie
einzuweihen; der einzigen, die von unsern Priestern
hochgeachtet wurde, weil sie die Vernunft selbst auf ihre Partei
zu ziehen, und dem Glauben, von dessen unbeweglichem Ansehen
das ihrige abhing, einen festern Grund, als die mündliche
Ueberlieferung und die Fabeln der Dichter, zu geben
schien.Die Entzückung war unbeschreiblich, in die ich hinein gezogen
wurde, als ich, an den Händen dieses Stifters unsrer Religion
und Gelehrsamkeit, in das Reich der Geister eingeführt, und
mir zu einer Zeit, da die erhabensten Gemälde Homers und
Pindars ihren Reiz für mich verloren hatten, mitten in der
materiellen Welt eine neue, mit lauter unsterblichen Schönheiten
erfüllt und von lauter Göttern bewohnt, eröffnet
wurde.Ich stand damals eben in dem Alter, worin wir, aus
dem langen Traume der Kindheit erwachend, uns selbst zuerst
zu finden glauben, die Welt um uns her mit erstaunten Augen
betrachten, und neugierig sind, unsre eigne Natur und den
Schauplatz, worauf wir uns ohne unser Zuthun versetzt sehen,
kennen zu lernen. Wie willkommen ist uns da eine Philosophie,
die den Vortheil unsrer Wissensbegierde mit dieser
Neigung zum Wunderbaren und mit dieser arbeitscheuen Flüchtigkeit,
welche der Jugend eigen sind, vereiniget, alle unsre
Fragen beantwortet, alle Räthsel erklärt, alle Aufgaben auflöset!
Eine Philosophie, die desto mehr mit dem warmen
und gefühlvollen Herzen der Jugend sympathisirt, weil sie
alles Unempfindliche und Todte aus der Natur verbannt, jeden
Atom der Schöpfung mit lebenden und geistigen Wesen bevölkert,
jeden Punkt der Zeit mit verborgenen Begebenheiten
befruchtet, die für künftige Ewigkeiten heranreifen! Ein
System, worin die Schöpfung so unermeßlich ist als ihr Urheber;
welches uns in der anscheinenden Verwirrung der
Natur eine majestätische Symmetrie, in der Regierung der
moralischen Welt einen unveränderlichen Plan, in der unzählbaren
Menge von Classen und Geschlechtern der Wesen einen
einzigen Staat, in den verwickelten Bewegungen aller Dinge
einen allgemeinen Richtpunkt, in unsrer Seele einen künftigen
Gott, in der Zerstörung unsers Körpers die Wiedereinsetzung
in unsre ursprüngliche Vollkommenheit, und in dem nachtvollen
Abgrunde der Zukunft helle Aussichten in gränzenlose
Wonne zeigt! — Ein solches System ist zu schön an sich selbst,
zu schmeichelhaft für unsern Stolz, unsern innersten Wünschen
und wesentlichsten Trieben zu angemessen, als daß wir es in
einem Alter, wo alles Große und Rührende so viel Macht
über uns hat, nicht beim ersten Anblicke wahr finden sollten.
Vermuthungen und Wünsche werden hier zu desto stärkern
Beweisen, da wir in dem bloßen Anschauen der Natur zu viel
Majestät, zu viel Geheimnißreiches und Göttliches zu sehen
glauben, um besorgen zu können, daß wir jemals zu groß
von ihr denken möchten. Und, soll ich dir's gestehen, schöne
Danae? selbst itzt, nachdem glückliche Erfahrungen mich von
dieser hochfliegenden Art zu denken zurückgebracht haben,
glaube ich mit einer innerlichen Gewalt, die sich gegen jeden
Zweifel empört, zu fühlen, daß diese Uebereinstimmung mit
unsern edelsten Neigungen, die ihr das Wort redet, der ächte
Stempel der Wahrheit sey, und daß selbst in diesen Träumen,
welche dem sinnlichen Menschen so ausschweifend scheinen, für
unsern Geist mehr Realität, mehr Unterhaltung und Aufmunterung,
eine reichere Quelle von ruhiger Freude, und ein
festerer Grund der Selbstzufriedenheit liege, als in allem was
uns die Sinne Angenehmes und Gutes anzubieten haben.Doch ich erinnere mich, daß es die Geschichte meiner
Seele und nicht die Rechtfertigung meiner Denkart ist, wozu
ich mich anheischig gemacht habe. Es sey also genug, wenn
ich sage, daß die Lehrsätze des Orpheus und des Pythagoras
— von den Göttern, von der Natur, von unsrer Seele, von
der Tugend, und von dem was das höchste Gut des Menschen
ist, sich meines Gemüths so gänzlich bemeisterten, daß
alle meine Begriffe nach diesem Urbilde gemodelt, alle meine
Neigungen davon beseelt, und mein ganzes Betragen, so wie
alle meine Entwürfe für die Zukunft, mit dem Plan eines
nach diesen Grundsätzen abgemessenen Lebens übereinstimmig
waren.—————
Drittes Capitel.En animam et mentem cum qua Di nocte loquantur!Der Priester Theogiton, der sich zu meinem Mentor
aufgeworfen hatte, schien über den außerordentlichen Geschmack,
den ich an seinen erhabnen Unterweisungen fand, sehr vergnügt
zu seyn, und ermangelte nicht, meinen Enthusiasmus
bis auf einen Grad zu erhöhen, welcher mich, seiner Meinung
nach, alles zu glauben und alles zu leiden fähig machen müßte.
Ich war zu jung und zu unschuldig, um das kleinste Mißtrauen
in seine Bemühungen zu setzen, bei welchen die Aufrichtigkeit
meines eignen Herzens die edelsten Absichten voraussetzte.Er hatte die Vorsicht gebraucht, es so einzuleiten, daß
ich endlich aus eigner Bewegung auf die Frage gerathen
mußte: "Ob es nicht möglich sey, schon in diesem Leben mit
den höhern Geistern in Gemeinschaft zu kommen?"Dieser Gedanke beschäftigte mich lange bei mir selbst; ich
fand möglich, was ich mit der größten Lebhaftigkeit wünschte.
Die Geschichte der ersten Zeiten schien meine Hoffnung zu bestätigen.
Die Götter hatten sich den Menschen bald in Träumen,
bald in Erscheinungen entdeckt; verschiedene waren sogar
zu der Ehre gelangt, Günstlinge der Götter zu seyn. Hier
kamen mir Ganymedes, Endymion, Adonis, und so viele
andre zu statten, welche von Gottheiten geliebt worden waren.
Ich legte dasjenige, was die Dichter davon erzählen, nach den
erhabenen Begriffen aus, die ich von den höheren Wesen
gefaßt hatte. Die Schönheit und Reinigkeit der Seele, die
Abgezogenheit von den Gegenständen der Sinne, die Liebe zu
den unsterblichen und ewigen Dingen, schien mir dasjenige
zu seyn, was diese Personen den Göttern angenehm und zu
ihrem Umgange geschickt gemacht hatte.Endlich entdeckte ich dem Theogiton meine lange geheim
gehaltenen Gedanken. Er erklärte sich auf eine Art darüber,
die meine Neubegierde rege machte, ohne sie zu befriedigen.
Er ließ mich merken, daß dieß Geheimnisse seyen, welche er
Bedenken trage meiner Jugend anzuvertrauen. Doch setzte er
hinzu, die Möglichkeit der Sache sey keinem Zweite! unterworfen,
und bezauberte mich ganz mit dem Gemälde, das er
mir von der Glückseligkeit derjenigen machte, welche von den
Göttern würdig geachtet würden zu ihrem geheimen Umgange
zugelassen zu werden. Die geheimnißvolle Miene, die er annahm,
sobald ich nach den Mitteln hierzu zu gelangen fragte,
bewog mich ruhig zu erwarten, bis er selbst für gut finden
würde sich deutlicher zu entdecken. Er hat es nicht; aber er
machte so viele Gelegenheiten, meine erregte Neugierde zu
entflammen, daß ich mich nicht lange enthalten konnte neue
Fragen zu thun.Endlich führte er mich einmals tief im Haine des Apollo
in eine Grotte, welche ein uralter Glaube für eine Wohnung
der Nymphen hielt, deren Bilder in Blinden von Muschelwerk
das Innerste der Höhle zierten. Hier ließ er mich auf eine
bemooste Bank niedersitzen, und fing nach einer viel versprechenden
Vorrede an, mir (wie er sagte) das geheime Heiligthum
der göttlichen Philosophie des Hermes und Orpheus
aufzuschließen. Unzählige religiöse Waschungen, und eine Menge
von Gebeten, Räucherungen und andre geheime Anstalten mußten
vorhergehen, einen noch in irdische Glieder gefesselten
Geist zum Anschauen der himmlischen Naturen vorzubereiten.
Und auch alsdann würde unser sterblicher Theil den Glanz der
göttlichen Vollkommenheit nicht ertragen, sondern (wie die
Dichter unter der Geschichte der Semele zu erkennen gegeben)
gänzlich davon verzehrt und vernichtet werden, wenn sie sich
nicht mit einer Art von körperlichem Schleier umhüllen, und
durch diese Herablassung uns nach und nach fähig machen würden,
sich endlich selbst, entkörpert und in ihrer wesentlichen Gestalt,
anzuschauen. Ich war einfältig genug alle diese vorgegebenen
Geheimnisse für ächt zu halten. Ich hörte dem ernsten
Theogiton mit einem heiligen Schauer zu, und machte mir
seine Unterweisungen so wohl zu nutze, daß ich Tag und Nacht
an nichts anders dachte, als an die außerordentlichen Dinge,
wovon ich in kurzem die Erfahrung bekommen würde.Du kannst dir vorstellen, Danae, ob meine Phantasie in
dieser Zeit müßig war. "Ich würde nicht fertig werden, wenn
ich alles beschreiben wollte, was damals in ihr vorging, und
mit welch' einer Zauberei sie mich in meinen Träumen bald
in die glücklichen Inseln, welche Pindar so prächtig schildert,
bald zum Gastmahle der Götter, bald in die Elysischen Thäler,
die Wohnung seliger Schatten, versetzte.So seltsam es klingt, so gewiß ist es doch, daß die Kräfte
der Einbildung dasjenige weit übersteigen, was die Natur
unsern Sinnen darstellt: sie hat etwas Glänzenderes als Sonnenglanz,
etwas Lieblicheres als die süßesten Düfte des
Frühlings zu ihren Diensten, unsre innern Sinnen in Entzückung
zu setzen; sie hat neue Gestalten, höhere Farben, vollkommnere
Schönheiten, schnellere Veranstaltungen, eine neue
Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen, andere Zeitmaße
—kurz, sie erschafft eine neue Natur, und versetzt uns in der
That in fremde Welten, welche nach ganz andern Gesetzen als
die unsrige regiert werden. In unsrer ersten Jugend sind wir
noch zu unbekannt mit den Triebfedern unsers eignen Wesens,
um deutlich einzusehen, wie sehr diese scheinbare Magie der
Einbildungskraft in der That natürlich ist. Wenigstens war
ich damals leichtgläubig genug, Träume von dieser Art übernatürlichen
Einflüssen beizumessen, und sie für Vorboten der
Wunderdinge zu halten, welche ich bald auch wachend zu erfahren
hoffte.Als ich nun nach Theogitons Vorschrift acht Tage lang mit
geheimen Ceremonien und Weihungen, und in einer unablässigen
Anstrengung mein Gemüth von allen äußerlichen Gegenständen
abzuziehen, zugebracht hatte, und mich nunmehr für
berechtiget hielt etwas mehr zu erwarten, als was mir bisher
begegnet war, begab ich mich in später Nacht, da alles schlief,
in die Grotte der Nymphen. Nachdem ich eine Menge seltsamer
Lieder und Anrufungsformeln hergesagt hatte, lehnte ich
mich, mit dem Angesicht gegen den vollen Mond gekehrt, auf
die Ruhebank zurück, und überließ mich der Vorstellung, wie
mir seyn würde, wenn Luna aus ihrer Silbersphäre herabsteigen
und mich zu ihrem Endymion machen würde. Mitten in
diesen ausschweifenden Vorstellungen, unter denen ich allmählich
zu entschlummern anfing, weckte mich plötzlich ein liebliches
Getön, welches in einiger Entfernung über mir zu schweben
schien, und, wie ich bald erkannte, aus derjenigen Art von
Saitenspiel erklang, welche man dem Apollo zuzueignen pflegt.
Einem natürlich gestimmten Menschen würde gedäucht haben,
er höre ein gutes Stük von einer geschickten Hand; und so
hätte er sich nicht betrügen können. Aber in der Verfassung
worin ich damals war, hätte ich vielleicht das Gequäk eines
Chors von Fröschen für den Gesang der Musen gehalten. Die
Musik, die ich hörte, rührte, fesselte, entzückte mich; sie übertraf,
meiner eingebildeten Empfindung nach (denn die Phantasie
hat auch ihre Empfindungen), alles was ich jemals gehört
hatte; nur Apollo, der Vater der Harmonie, dessen Laute die
Sphären ihre Götter-vergnügenden Harmonien gelehrt hatte,
konnte so überirdische Töne hervorbringen. Meine Seele
schien davon wie aus ihrem Leibe emporgezogen, und, lauter
Ohr, über den Wolken zu schweben; als diese Musik plötzlich
aufhörte, und mich in einer Verwirrung von Gedanken und
Gemüthsregungen zurückließ, die mir diese ganze Nacht kein
Auge zu schließen gestattete.Des folgenden Tages erzählte ich meinem Lehrer was mir
begegnet war. Er schien nichts sehr Besondres daraus zu machen:
doch gab er, nachdem er mich um alle Umstände befragt
hatte, zu, daß es Apollo, oder eine von den Musen gewesen
seyn könne. Du wirst lächeln, Danae, wenn ich dir gestehe,
daß ich, so jung ich war, und ohne mir selbst recht bewußt zu
seyn, warum? doch lieber gesehen hätte, wenn es eine Muse
gewesen wäre. Ich unterließ nun keine Nacht, mich in der
Grotte einzufinden, um die vermeinte Muse wieder zu hören.
Aber meine Erwartung betrog mich; es war Apollo selbst.
Nach etlichen Nächten, worin ich mir an der stummen Gegenwart
der Nymphen von Cypressenholze genügen lassen mußte,
kündigte mir ein heller Schein, der auf einmal in die Grotte
fiel und durch die allgemeine Dunkelheit und meinen Wahnsinn
zu einem überirdischen Licht erhoben wurde, irgend eine
außerordentliche Begebenheit an. Urtheile, wie bestürzt ich
war, als ich mitten in der Nacht den Gott des Tages, auf
einer hell glänzenden Wolke sitzend, vor mir sah, der sich mir
zu Gefallen den Armen der schönen Thetis entrissen hatte.
Goldne Locken flossen um seine weißen Schultern, eine Krone
von Strahlen schmückte seine Scheitel, das silberne Gewand das
ihn umfloß, funkelte von tausend Edelsteinen, und eine goldne
Leyer lag in seinem linken Arme. Meine Einbildung that das
übrige hinzu, was zu Vollendung einer idealischen Schönheit
nöthig war. Allein Bestürzung und Ehrfurcht erlaubte mir
nicht, dem Gott genauer ins Gesicht zu sehen. Ich glaubte geblendet
zu seyn, und den Glanz von Augen, welche die ganze
Welt erleuchteten, nicht ertragen zu können. Er redete mich
an. Er bezeigte mir sein Wohlgefallen an meinem Dienst,
und an der feurigen Begierde, womit ich, mit Verachtung
der irdischen Dinge, mich den himmlischen widmete. Er munterte
mich auf, in diesem Wege fortzusetzen, und mich den
Einflüssen der Unsterblichen leidend zu überlassen; mit der Versicherung,
daß ich bestimmt sey, die Anzahl der Glücklichen zu
vermehren, welche er seiner besondern Gunst gewürdiget habe.
Er verschwand, indem er diese Worte sagte, so plötzlich, daß
ich nichts dabei beobachten konnte; und, so voreingenommen
als mein Gemüth war, hatte dieser Apollo seine Rolle viel ungeschickter
spielen können, ohne daß mir ein Zweifel gegen seine
Gottheit aufgestiegen wäre.Theogiton, dem ich von dieser Erscheinung Nachricht gab,
wünschte mir Glück dazu, und sagte mir von den alten Helden
unsrer Nation, welche einst Lieblinge der Götter gewesen und
nun als Halbgötter selbst Altäre und Priester hätten, so viel
herrliche Sachen vor, als er nöthig erachten mochte, meine
Betheuerung vollkommen zu machen. Am Ende vergaß er nicht,
mir Anweisung zu geben, wie ich mich bei einer zweiten Erscheinung
gegen den Gott zu verhalten hätte. Insonderheit ermahnte
er mich, mein Urtheil über alles zurückzuhalten mich durch nichts
befremden zu lassen, und der Vorschrift unsrer Philosophie immer
eingedenk zu bleiben, "welche eine gänzliche Unthätigkeit
von uns fordert, wenn die Götter auf uns wirken sollen."
Man mußte so unerfahren seyn als ich war, um keine Schlange
unter diesen Blumen zu merken. Nichts als die Entwicklung
dieser heiligen Mummerei konnte mir die Augen öffnen. Ich
konnte unmöglich aus mir selbst auf den Argwohn gerathen,
daß die Zuneigung einer Gottheit eigennützig seyn könne. Ich
hatte vielmehr gehofft, die größesten Vortheile für meine
Wissensbegierde von ihr zu ziehen, und mit mehr als menschlichen
Vorzügen begabt zu werden. Die Erklärungen des Apollo
befremdeten mich endlich, und seine Handlungen noch mehr. Zuletzt
entdeckte ich, was du schon lange vorher gesehen haben
mußt, daß der vermeinte Gott kein andrer als Theogiton selber
war. Dieser änderte nun, sobald er sein Spiel entdeckt
sah, auf einmal die Sprache, und suchte mich zu bereden, daß
er diese Komödie nur zu dem Ende gespielt habe, um mich von
der Eitelkeit der Theurgie, in die er mich so verliebt gesehen
hätte, desto besser überzeugen zu können. Er zog die Folge
daraus: daß alles, was man von den Göttern sagte, Erfindungen
schlauer Köpfe wären, womit sie Weiber und leichtgläubige
Knaben in ihr Netz zu ziehen suchten; kurz er vergaß
nichts was die unsittlichste Leidenschaft einem schamlosen
Verächter der Götter eingeben kann, um die Mühe einer so
wohl ausgesonnenen und mit so vielen Maschinen aufgestützten
Verführung nicht umsonst gehabt zu haben. Ich verwies ihm
seine Bosheit mit einem Zorne, der mich stark genug machte
mich von ihm los zu reißen. Des folgenden Tages hatte er
die Unverschämtheit, die priesterlichen Verrichtungen mit eben
der heuchlerischen Andacht fortzusetzen, womit er mich und
jeden andern bisher hintergangen hatte. Er ließ nicht die geringste
Veränderung in seinem Betragen gegen mich merken,
und schien sich des Vergangnen eben so wenig zu erinnern,
als ob er den ganzen Lethe ausgetrunken hätte. Diese Aufführung
vermehrte meine Unruhe sehr. Ich konnte noch nicht
begreifen, daß es Leute geben könne, welche mitten in den
Ausschweifungen des Lasters Ruhe und Heiterkeit, die natürlichen
Gefährten der Unschuld, beizubehalten wissen. Allein in
weniger Zeit darauf befreite mich die Unvorsichtigkeit dieses
Betrügers von den Besorgnissen, worin ich seit der Geschichte
in der Grotte geschwebt hatte. Theogiton verschwand aus
Delphi, ohne daß man die eigentliche Ursache davon erfuhr;
aber aus dem, was man sich in die Ohren murmelte, errieth
ich, daß Apollo endlich überdrüssig geworden seyn möchte, seine
Person von einem andern spielen zu lassen.Diese Begebenheiten führten mich natürlicher Weise auf
viele neue Betrachtungen; aber meine Neigung zum Wunderbaren
und meine Lieblingsideen verloren nichts dabei. Sie
gewannen vielmehr, indem ich sie nun in mich selbst verschloß,
und die Unsterblichen allein zu Zeugen desjenigen machte, was
in meiner Seele vorging. Ich fuhr fort, die Verbesserung
derselben nach den Grundsätzen der Orphischen Philosophie mein
vornehmstes Geschäfte seyn zu lassen. Ich fing nun an zu
glauben, daß keine andre als eine idealische Gemeinschaft zwischen
den höhern Wesen und den Menschen möglich sey. Nichts
als die Reinigkeit und Schönheit unsrer Seele, dacht' ich,
kann uns zu einem Gegenstande des Wohlgefallens jenes unnennbaren,
allgemeinen, obersten Geistes machen, von welchem
alle übrigen, wie die Planeten von der Sonne, ihr Licht, und
die ganze Natur ihre Schönheit und unwandelbare Ordnung
erhalten; und allein in der Uebereinstimmung aller unsrer
Kräfte, Gedanken und geheimsten Neigungen mit den großen
Absichten und allgemeinen Gesetzen dieses Beherrschers der
sichtbaren und unsichtbaren Welt liegt das wahre Geheimniß,
zu derjenigen Vereinigung mit demselben zu gelangen, welche
die natürliche Bestimmung und das letzte Ziel aller Wünsche
eines unsterblichen Wesens seyn soll. Beides, jene geistige
Schönheit der Seele und diese erhabene Richtung ihrer Wirksamkeit
nach den Absichten des Gesetzgebers der Wesen, glaubte
ich am sichersten durch die Betrachtung der Natur zu erhalten,
welche ich mir als einen Spiegel vorstellte, aus welchem das
Wesentliche, Unvergängliche und Göttliche in unsern Geist
zurückstrahle, und ihn nach und nach eben so durchdringe und
erfülle, wie die Sonne einen angestrahlten Wassertropfen. Ich
überredete mich, daß die unverrückte Beschauung der Weisheit
und Güte, welche sowohl aus der besondern Natur eines jeden
Theils der Schöpfung; als aus dem Plan und der allgemeinen
Oekonomie des Ganzen hervorleuchte, das unfehlbare Mittel
sey, selbst weise und gut zu werden. Ich brachte alle diese
Grundsätze in Ausübung. Jeder neue Gedanke der sich in mir
entwickelte, wurde zu einer Empfindung meines Herzens; und
so lebte ich in einem stillen und lichtvollen Zustande des Gemüthes,
dessen ich mich niemals anders als mit wehmüthigem
Vergnügen erinnern werde, etliche glückliche Jahre hin; unwissend
(und glücklich durch diese Unwissenheit), daß dieser Zustand
nicht dauern könne: weil die Leidenschaften des reifenden
Alters und (wenn auch diese nicht wären) die unvermeidliche
Verwicklung in den Wechsel der menschlichen Dinge jene Fortdauer
von innerlicher Heiterkeit und Ruhe nicht gestatten,
welche nur ein Antheil entkörperter Wesen seyn kann.—————
Viertes Capitel.Die Liebe in verschiedenen Gestalten. Die Pythia tritt an Theogitons
Stelle.Inzwischen hatte ich das achtzehnte Jahr erreicht, und
fing nun an, mitten unter den angenehmen Empfindungen,
von denen meine Denkungsart und meine Beschäftigungen
unerschöpfliche Quellen zu seyn schienen, ein Leeres in mir
zu fühlen, welches sich durch keine Ideen ausfüllen lassen
wollte. Ich sah die mannichfaltigen Scenen der Natur wie
mit neuen Augen an; ihre Schönheiten hatten für mich etwas
Herzrührendes, welches ich sonst nie auf diese Art empfunden
hatte. Der Gesang der Vögel schien mir etwas zu sagen, das
er mir nie gesagt hatte, ohne daß ich wußte was es war; und
die neu belaubten Wälder schienen mich einzuladen, in ihren
Schatten einer wollüstigen Schwermuth nachzuhängen, von
welcher ich oft mitten in den erhabensten Betrachtungen wider
meinen Willen überwältiget wurde. Nach und nach verfiel ich
in eine weichliche Unthätigkeit. Mir däuchte, ich sey bisher
nur in der Einbildung glücklich gewesen; und mein Herz sehnte
sich nach einem Gegenstande, in welchem ich jene idealischen
Vollkommenheiten wirklich genießen möchte, an denen ich mich
bisher nur wie an einem geträumten Gastmahle geweidet hatte.Damals zuerst stellten sich mir die Reizungen der Freundschaft
in einer vorher nie empfundenen Lebhaftigkeit dar:
ein Freund (bildete ich mir ein), ein Freund würde diese geheime
Sehnsucht meines Herzens befriedigen. Meine Phantasie
malte sich einen Pylades aus, und mein verlangendes
Herz bekränzte dieses schöne Bild mit allem was mir das Liebenswürdigste
schien, selbst mit jenen äußerlichen Annehmlichkeiten,
welche in meinem System den natürlichen Schmuck
der Tugend ausmachten. Ich suchte diesen Freund unter der
blühenden Jugend, welche mich umgab. Mehr als Einmal
glaubte mein getäuschtes Herz ihn gefunden zu haben; aber
eine kurze Erfahrung überwies mich meines Irrthums nur
zu bald. Unter einer so großen Anzahl von auserlesenen
Jünglingen, welche die Liverei des Gottes zu Delphi trugen,
war nicht ein einziger, den die Natur so vollkommen mit mir
zusammen gestimmt hätte, als die Spitzfindigkeit meiner Begriffe
es erforderte.Um diese Zeit geschah es, daß ich das Unglück hatte,
der Oberpriesterin eine Neigung einzuflößen, welche mit ihrem
geheiligten Stande und mit ihrem Alter einen gleich starken
Absatz machte. Schon seit geraumer Zeit hatte sie mich mit
vorzüglicher Gütigkeit angesehen, welche ich einer mütterlichen
Gesinnung beimaß, und mit aller der Ehrerbietung erwiederte,
die ich der Vertrauten des Apollo schuldig war. Stelle dir
vor, schöne Danae, was für ein Modell zu einer Bildsäule
des Erstaunens ich abgegeben hätte, als sich eine so ehrwürdige
Person herabließ, mir zu entdecken, daß alle Vertraulichkeit,
die ich zwischen ihr und dem Apollo voraussetzte, nicht
zureiche, sie über die Schwachheiten der gemeinsten Erdentöchter
hinweg zu setzen! Die gute Dame war bereits in demjenigen
Alter, worin es lächerlich wäre, das Herz eines Mannes
von einiger Erfahrung einer jungen Nebenbuhlerin streitig
machen zu wollen. Allein einem Neulinge, wofür sie mich
mit gutem Grund ansah, die ersten Unterweisungen zu geben,
dazu konnte sie sich ohne übertriebene Eitelkeit für reizend genug
halten. Male dir zu den Ueberbleibseln einer vormals
berühmten Schönheit eine Figur vor, wie man die blonde
Ceres zu bilden pflegt; große schwarze Augen, unter deren
angenommenem Ernste eine wollüstige Gluth hervor glimmte,
und zu allem diesem eine ungemeine Sorgfalt für ihre Person,
und die schlaue Kunst, die Vortheile ihrer Reizungen mit der
strengen Sittsamkeit der priesterlichen Kleidung zu verbinden:
so wird es dir leicht seyn, den Grad der Gefahr abzunehmen,
worin sich die Einfalt meiner Jugend bei ihren Nachstellungen
befand.Ohne Zweifel mag es ihr Mühe gekostet haben die ersten
Schwierigkeiten zu überwinden, welche ein mehr Ehrfurcht als
Liebe einflößendes Frauenzimmer in den hartnäckigen Vorurtheilen
eines achtzehnjährigen Jünglings findet. Ihr Stand
erlaubte ihr nicht sich deutlich zu erklären; und meine Blödigkeit
verstand die Sprache nicht, deren sie sich zu bedienen genöthigt
war. Zwar braucht man sonst zu dieser Sprache keinen
andern Lehrmeister als sein Herz; allein unglücklicher
Weise sagte mir mein Herz nichts für sie. Es bedurfte der lange
geübten Geduld einer bejahrten Priesterin, um nicht tausendmal
das Vorhaben aufzugeben, einem Menschen, der aus
lauter Ideen zusammengesetzt war, ihre Absichten begreiflich
zu machen. Und dennoch fand sie sich endlich genöthigt, sich
des einzigen Kunstgriffs zu bedienen, von dem man in solchen
Fällen einige Wirkung erwarten kann. Sie hatte noch Reizungen,
welche die ungewohnten Augen eines Neulings blenden
konnten. Die Verwirrung, worein sie mich durch den
ersten Versuch von dieser Art setzte, schien ihr von guter Vorbedeutung
zu seyn; und vielleicht hätte sie sich weniger in ihrer
Erwartung betrogen, wenn nicht ein Umstand, von dem ihr
nichts bekannt war, meinem Herzen eine mehr als gewöhnliche
Stärke gegeben hätte.Unsre Tugend, oder vielmehr gewisse moralische Erscheinungen,
welche das Ansehen haben, aus einer so edeln Quelle
zu fließen, haben sehr oft geheime Triebfedern, die uns, wenn
sie gesehen würden, wo nicht alles Verdienst, wenigstens
einen großen Theil desselben entziehen würden. Wie leicht ist
es, der Versuchung einer Leidenschaft zu widerstehen, wenn
ihr von einer stärkern die Wage gehalten wird!—————
Fünftes Capitel.Psyche.Kurz zuvor, ehe die schöne Pythia den besagten Versuch
machte, war das Fest der Diana eingefallen, welches zu
Delphi mit aller der Feierlichkeit begangen wird, die man der
Schwester des Apollo schuldig zu seyn vermeint. Alle Jungfrauen
über vierzehn Jahre erschienen dabei in schneeweißem
Gewande, mit aufgelösten fliegenden Haaren, den Kopf und
die Arme mit Blumenkränzen umwunden, und Hymnen zum
Preis der jungfräulichen Göttin singend. Auch alte halb erloschne
Augen heiterten sich beim Anblick einer so zahlreichen
Menge junger Schönen auf, deren geringster Reiz die frischeste
Blume der Jugend war. Urtheile, schöne Danae, ob derjenige,
den der bunte Schimmer einer blühenden Aue schon in eine
Art von Entzücken setzte, bei einem solchen Auftritt unempfindlich
bleiben konnte? Meine Blicke irrten in einer
zärtlichen Verwirrung unter diesen anmuthsvollen Geschöpfen
herum. Aber bald blieben sie auf eine einzige geheftet, deren
erster Anblick meinem Herzen keinen Wunsch übrig ließ, etwas
andres zu sehen. Vielleicht würde mancher sie unter so vielen
Schönen kaum besonders wahrgenommen haben. Den schönsten
Wuchs, die regelmäßigsten Züge, langes Haar, dessen
wallende Locken bis zu den Knieen herunter flossen, und die
reinste Jugendfarbe hatte sie mit allen ihren Gespielen gemein.
Viele übertrafen sie noch in einem oder dem andern Stücke
der Schönheit; und wenn ein Maler unter der ganzen Schaar
hätte entscheiden sollen, welche die Schönste sey, so würde sie
vielleicht übergangen worden seyn. Allein mein Herz urtheilte
nicht nach den Regeln der Kunst. Ich empfand, oder glaubte
zu empfinden (welches in Absicht der Wirkung allemal Eins
ist), daß nichts liebenswürdiger als dieses junge Mädchen seyn
könne. Ich dachte nicht daran, sie mit den übrigen zu vergleichen;
sie löschte alles andre aus meinen Augen aus. So
(dacht' ich) müßte die Unschuld aussehen, wenn sie, um sichtbar
zu werden, die Gestalt einer Grazie entlehnte; so rührend
würden ihre Gesichtszüge seyn, so stillheiter würden ihre Augen,
so holdselig ihre Wangen lächeln, so würden ihre Blicke, ihr
Gang, jede ihrer Bewegungen seyn. Dieser Augenblick
brachte in meiner Seele eine Veränderung hervor, welche mir,
als ich in der Folge fähig wurde über meinen Zustand zu denken,
dem Uebergang in eine neue vollkommnere Art des Daseyns
gleich zu seyn schien. Aber damals war ich zu sehr von
Empfindungen verschlungen, um mir meiner selbst recht bewußt
zu seyn. Meine Entzückung ging so weit, daß ich nichts mehr
von dem Pomp des Festes bemerkte; und erst, nachdem alles
gänzlich aus meinen Augen verschwunden war, wurde ich, wie
durch einen plötzlichen Schlag, wieder zu mir selbst gebracht.
Itzt hatte ich Mühe mich zu überzeugen, daß ich nicht aus
einem von den Träumen erwacht sey, worin meine Phantasie,
in überirdische Räume verzückt, mir zuweilen ähnliche Gestalten
vorgestellt hatte. Der Schmerz, eines so süßen Anblicks
beraubt zu seyn, konnte das reine Vergnügen nicht
schwächen, womit das Innerste meines Wesens erfüllt war.
Diesen ganzen Abend und den größten Theil der Nacht hatten
alle Kräfte meiner Seele keine andere Beschäftigung, als sich
dieß geliebte Bild bis auf die kleinsten Züge, mit allen seinen
namenlosen Reizen — welche vielleicht ich allein an dem Urbilde
bemerkt hatte — mit einer Lebhaftigkeit vorzumalen,
die ihm immer neue Schönheiten lieh. Mein Herz schmückte
es mit allen Vorzügen des Geistes, mit jeder sittlichen Schönheit,
mit allem, was nach meiner Denkungsart das Vollkommenste
und Beste war, aus. Was für ein Gemälde ist dasjenige,
wozu die Liebe die Farben gibt! — Und doch glaubte
ich immer zu wenig zu thun, strengte alle Kräfte meiner Einbildung
an, noch etwas Schöneres als das Schönste zu finden,
um die Idee, die ich mir von meiner Unbekannten machte, zu
vollenden, und gleichsam in das Urbild selbst zu verwandeln.
Diese liebenswürdige Person hatte mich zu eben der Zeit, da
ich sie erblickte, wahrgenommen; und es war (wie sie mir in
der Folge gestand) etwas mit den Regungen meines Herzens
Uebereinstimmendes in dem ihrigen vorgegangen. Ich erinnerte
mich (denn wie hätte ich ihre kleinste Bewegung vergessen
können!), daß unsre Blicke sich mehr als Einmal begegnet waren,
und daß sie jedesmal mit einer Schamröthe, die ihr ganzes
Gesicht mit Rosen überzog, die Augen niedergeschlagen hatte.
Ich war zu unerfahren, und in der That auch zu bescheiden,
aus diesem Umstande etwas Besondres zu meinem Vortheile
zu schließen. Aber doch erinnerte ich mich desselben mit einem
so innigen Vergnügen, als ob es mir geahnet hätte, wie
glücklich mich die Folge davon machen würde. Ich hatte die
Eitelkeit nicht, die uns zu schmeicheln pflegt, daß wir liebenswürdig
seyen; ich dachte an nichts weniger als auf Mittel
wieder geliebt zu werden. Aber die Schönheit der Seele, die
ich in ihrem Gesichte ausgedrückt gesehen hatte, diese sanfte
Heiterkeit, die aus dem natürlichen Ernst ihrer Züge hervor
lächelte, machte mir Hoffnung dazu. Und welch einen Himmel
von Wonne öffnete diese Hoffnung vor mir! Was für Aussichten!
welches Entzücken, wenn ich mir vorstellte, daß mein
ganzes Leben in ihrem Anschauen und an ihrer Seite dahin
fließen würde!So lebhafte Hoffnungen setzten voraus, daß ich sie wieder
finden würde; und dieser Wunsch brachte die Begierde mit
sich, zu wissen wer sie sey. Aber wen konnt' ich fragen? Ich
hatte keinen Freund, dem ich mich entdecken durfte. Von
einem jeden andern glaubte ich, daß er bei einer solchen Frage
mein ganzes Geheimniß in meinen Augen lesen würde; und
die Liebe, die ein sehr guter Rathgeber ist, hatte mich schon
einsehen gemacht, wie viel daran gelegen sey, daß der Pythia
nicht das geringste zu Ohren komme, was ihr den Zustand
meines Herzens verrathen, oder sie zu einer mißtrauischen
Beobachtung meines Betragens veranlassen könnte. Ich verschloß
also mein Verlangen in mich selbst, und erwartete mit
Ungeduld, bis irgend ein meiner Liebe günstiger Genius mir
zu dieser gewünschten Entdeckung verhelfen würde.Nach einigen Tagen fügte es sich, daß ich meiner geliebten
Unbekannten in einem der Vorhöfe des Tempels begegnete.
Die Furcht von jemand beobachtet zu werden, hielt mich in
eben dem Augenblicke zurück, da ich auf sie zueilen und meine
Freude über diesen unverhofften Anblick in Gebärden und
vielleicht in Ausrufungen ausbrechen lassen wollte. Sie blieb
einige Augenblicke stehen. Ich glaubte ein plötzliches Vergnügen
in ihrem schönen Gesicht aufgehen zu sehen; sie erröthete,
schlug die Augen wieder nieder und eilte davon.
Ich durft' es nicht wagen ihr zu folgen; aber meine Augen
folgten ihr, so lang' es möglich war; und ich sah, daß sie zu
einer Thür' einging, welche in die Wohnung der Priesterin
führte. Ich begab mich in den Hain, um meinen Gedanken
über diese angenehme Erscheinung ungestörter nachzuhängen.
Der letzte Umstand und ihre Kleidung brachte mich auf die
Vermuthung, daß sie vielleicht eine von den Aufwärterinnen
der Pythia sey, deren diese Dame eine große Anzahl hatte,
die aber (außer bei besondern Feierlichkeiten) selten sichtbar
wurden.—————
Sechstes Capitel.Die Absichten der Pythia entwickeln sichDiese Entdeckung beschäftigte mich nach der ganzen Wichtigkeit,
die sie für mich hatte, als ich, in der That zur ungelegensten
Zeit von der Welt, zu der zärtlichen Priesterin
gerufen wurde. Die Hoffnung, meine geliebte Unbekannte
vielleicht bei dieser Gelegenheit wieder zu sehen, machte mir
anfänglich diese Einladung sehr willkommen. Aber meine Freude
wurde bald von dem Gedanken vertrieben, wie schwer es alsdann
seyn würde, meine Empfindungen für sie den Augen
einer Nebenbuhlerin zu entziehen. Die Künste der Verstellung
waren mir zu unbekannt, und meine Gemüthsregungen bildeten
sich zu schnell und zu deutlich in meinem Aeußerlichen
ab, als daß ich mich bei der größten Bestrebung vorsichtig zu
seyn sicher halten konnte. Diese Gedanken gaben mir (wie ich
glaube) ein ziemlich verwirrtes Ansehen, als ich vor die Pythia
kam. Allein da ich Niemand als eine kleine Sklavin von neun
oder zehn Jahren bei ihr fand, erholte ich mich bald wieder.
Sie selbst schien mit ihren eigenen Bewegungen zu sehr beschäftigt,
um auf die meinige genau Acht zu geben; oder
(welches wenigstens eben so wahrscheinlich ist) sie legte die
Veränderung, die sie in meinem Gesichte wahrnehmen mußte,
zu Gunsten ihrer Reizungen aus. Sie mochte sich vermuthlich
desto mehr von ihnen versprechen, je mehr sie beflissen gewesen
war, sie in dieses reizende Schattenlicht zu setzen, welches die
Einbildungskraft zum Vortheil der Sinnen ins Spiel zu ziehen
pflegt. Sie saß oder lag (denn ihre Stellung war ein Mittelding
von beidem) auf einem mit Tyrischen Purpurdecken belegten
Ruhebette. Ihr ganzer Anzug hatte dieses zierlich
Nachlässige, hinter welches die Kunst sich auf eine schlaue Art
versteckt, wenn sie nicht dafür angesehen seyn will daß sie der
Natur zu Hülfe komme. Ihr Gewand, dessen bescheidene
Farbe ihrer eigenen eben so sehr als der Anständigkeit ihrer
Würde angemessen war, wallte zwar in vielen Falten um sie
her: aber es war auch dafür gesorgt, daß hier und da der
schöne Contur dessen, was damit bedeckt war, deutlich genug
wurde, um die Augen anzuziehen und die Neugier lüstern zu
machen. Ihre sehr schönen Arme waren in weiten, hoch aufgeschürzten
Aermeln fast ganz zu sehen; und eine Bewegung,
welche sie während unsers Gesprächs unwissender Weise gemacht
haben wollte, trieb einen Busen aus seiner Verhüllung
hervor, der ihr Gesicht um zwanzig Jahre jünger machte.
Sie bemerkte diese kleine Unregelmäßigkeit endlich; aber das
Mittel, wodurch sie die Sachen wieder in Ordnung zu bringen
suchte, war mit der Unbequemlichkeit verbunden, daß dadurch
ein Fuß sichtbar wurde, dessen die schönste Spartanerin sich
hätte rühmen dürfen.Die tiefe Gleichgültigkeit, worin mich alle diese Reizungen
ließen, war ohne Zweifel Ursache, daß ich Beobachtungen
machen konnte, wozu ein gerührter Zuschauer die Freiheit
nicht gehabt hätte. Indeß gab mir doch eine Art von
Scham, die ich im Namen der guten Pythia auf meinen Wangen
glühen fühlte, ein Ansehen von Verwirrung, womit die
Dame (welche in zweifelhaften Fällen allemal zu Gunsten ihrer
Eigenliebe urtheilte) ziemlich wohl zufrieden schien. Sie maß
es vermuthlich einer schüchternen Unentschlossenheit oder einem
Streite zwischen Ehrfurcht und Liebe bei, daß ich (ungeachtet
des Eindrucks den sie auf mich machte) ihrer Tugend keine
Gelegenheit gab, sich durch ihre Gewandtheit in der Vertheidigungskunst
in Achtung bei mir zu setzen. Ich hatte Aufmunterungen
nöthig, zu welchen man der einem geübtern
Liebhaber sich nicht herab gelassen hätte. Glücklicher Weise
diente ihr die Geschicklichkeit, die man mir in der Kunst die
Dichter zu lesen beilegte, zum Vorwand, mir einen Zeitvertreib
vorzuschlagen, von welchem sie sich einige Beförderung
dieser Absicht versprechen konnte. Sie versicherte mich, daß
Homer ihr Lieblings-Autor sey, und bat mich sie eine Probe
meines gepriesenen Talents hören zu lassen. Sie nahm
einen Homer der neben ihr lag, und stellte sich, nachdem sie
eine Weile gesucht hatte, als ob es ihr gleichgültig sey, welcher
Gesang es wäre. Sie gab mir den ersten den besten in
die Hände, und — es traf sich, daß es gerade derjenige
war, worin Juno, mit dem Gürtel der Venus geschmückt, den
Vater der Götter in eine so lebhafte Erinnerung der Jugend
ihrer Liebe setzt. Von dem dichterischen Feuer, welches in
diesem Gemälde glühet, und von dem süßen Wohlklang der
Homerischen Verse entzückt, beobachtete sie nicht, in was für
eine verführerische Unordnung ein Theil ihres Putzes durch eine
Bewegung der Bewunderung, welche sie machte, gekommen
war. Sie nahm von dieser Stelle Anlaß, die unumschränkte
Gewalt des Liebesgottes zum Gegenstande der Unterredung zu
machen. Sie schien die Meinung zu begünstigen, daß der
Gedanke, einer so mächtigen Gottheit widerstehen zu wollen,
nur in einer sehr vermessenen Seele geboren werden könne.Der Beifall, den ich dieser Meinung gab, verlor alles
Verdienstliche, das er in ihren Augen hätte haben können,
durch die Einschränkung, womit ich ihn begleitete. Denn ich
behauptete, daß die meisten in den Begriffen, welche sie sich
von diesem Gotte machten, der großen Pflicht, "von der
Gottheit nur das Würdigste und Vollkommenste zu denken,"
sehr zu nahe treten; und daß die Dichter, durch die allzu
sinnliche Ausbildung ihrer allegorischen Fabeln in diesem Stücke
sich keines geringen Vergehens schuldig gemacht hätten. Unvermerkt
schwatzte ich mich in einen Enthusiasmus hinein, in
welchem ich, nach den Grundsätzen meiner geheimnißreichen
Philosophie, von der geistigen Liebe, welche der Weg zum
Anschauen des wesentlichen Schönen ist, von der Liebe, welche
die Flügel der Seele entwickelt, sie mit jeder Tugend und
Vollkommenheit schwellt, und zuletzt durch die Vereinigung
mit dem Urbild des Guten in einen Abgrund von Licht, Ruhe
und unveränderlicher Wonne hinein zieht, worin sie gänzlich
verschlungen und zu gleicher Zeit vernichtiget und vergöttert
wird, —so erhabne, mir selbst, meiner Einbildung nach, sehr
deutliche, der schönen Priesterin aber so unverständliche Dinge
sagte, daß sie in eben dem Verhältniß, wie meine Einbildung
sich dabei erwärmte, nach und nach davon eingeschläfert wurde.
In der That konnte einem solchen Busen gegenüber nichts
seltsamer seyn, als eine Lobrede auf die geistige Liebe; auch
gab die betrogne Pythia nach dieser Probe alle Hoffnung auf,
mich für dießmal zu einer natürlichern Art zu denken herab zu
stimmen. Sie entließ mich also, indem sie mir mit einer
etwas räthselhaften Art zu verstehen gab, sie hätte besondre
Ursachen, sich meiner mehr anzunehmen, als irgend eines
andern Kostgängers des Apollo. Ich verstand aus dem was
sie mir davon sagte so viel, daß sie eine Anverwandten meines
mir selbst noch unbekannten Vaters sey; daß es ihr vielleicht
bald erlaubt seyn würde, mir das Geheimniß meiner Geburt
zu entdecken; und daß ich es allein diesem nähern Verhältniß
zuzuschreiben hätte, wenn sie mich durch eine Freundschaft unterscheide,
welche mich ohne diesen Umstand vielleicht hätte
befremden können.Diese Eröffnung, an deren Wahrheit mich ihre Miene
nicht zweifeln ließ, hatte die doppelte Wirkung — mich
zu bereden, daß ich in meinen Gedanken von ihren Gesinnungen
mich betrogen haben könne — und sie auf einmal zu einem
interessanten Gegenstande für mein Herz zu machen. In der
That sah ich sie, von dem Augenblick an, da ich hörte, daß
sie mit meinem Vater befreundet sey, mit ganz andern Augen
an; und vielleicht würde sie bloß von diesem Umstande mehr
Vortheil gezogen haben, als von allen den Kunstgriffen, womit
sie meine Sinnen hatte überraschen wollen. Aber die gute
Jungfrau wußte entweder nicht, wie viel man bei gewissen
Leuten gewonnen hat, wenn man Mittel findet ihr Herz auf
seine Seite zu ziehen; oder sie war über mein seltsames Betragen
erbittert, und glaubte ihre verachteten Reizungen nicht
besser rächen zu können, als wenn sie mich in eben dem Augenblicke
von sich entfernte, da sie in meinen Augen las, daß
ich gerne länger geblieben wäre. Alles Bitten, daß sie ihre
Gütigkeit durch eine deutlichere Entdeckung des Geheimnisses
meiner Geburt vollkommen machen möchte, war vergeblich;
sie schickte mich fort, und hatte Grausamkeit genug etliche
Wochen vorbeigehen zu lassen, eh' sie mich wieder vor sich
rufen ließ.Zu einer andern Zeit würde das Verlangen, diejenigen zu
kennen, denen ich das Leben zu danken hatte, mir diesen Aufschub
zu einer harten Strafe gemacht haben. Aber damals
brauchte es nur wenige Minuten Einsamkeit und einen Gedanken
an meine geliebte Unbekannte, um die Priesterin, mit allen
ihren Reizen und mit allem was sie mir gesagt und nicht gesagt
hatte, aus meinem Gemüthe wieder auszulöschen. Es
war mir unendlich angelegener zu wissen, wer diese Unbekannte
sey, und ob sie wirklich (wie ich mir schmeichelte) für
mich empfinde was ich für sie empfand. So lang' ich dieß
nicht wußte, würde ich die Entdeckung, daß ich der Erbe eines
Königs sey, mit Kaltsinn angesehen haben. Der Blick, den
sie diesen Abend auf mich geheftet hatte, schien mir etwas zu
versprechen, das für mein Herz unendlich mehr Reiz hatte als
alle Vortheile der glänzendsten Geburt. Mein ganzes Wesen
war von diesem Blicke wie von einem überirdischen Lichte durchstrahlt
und verklärt. Ich unterschied zwar nicht deutlich, was
in mir vorging; aber so oft ich sie mir wieder in dieser Stellung,
mit diesem Blicke, mit diesem Ausdruck in ihrem lieblichen
Gesichte vorstellte, zerfloß mein Herz vor Liebe und Vergnügen
in Empfindungen, für deren durchdringende Süßigkeit
keine Worte erfunden sind.Hier wurde Agathon (dessen Einbildungskraft, von den
Erinnerungen seiner ersten Liebe erhitzt, in einen hübschen
Schwung, wie man sieht, zu gerathen anfing) durch eine ziemlich
merkliche Veränderung in dem Gesichte seiner schönen Zuhörerin
mitten in dem Laufe seiner unzeitigen Schwärmerei
aufgehalten, und aus seinem achtzehnten Jahr, in welches er
in dieser kleinen Verzückung versetzt worden war, auf einmal
wieder nach Smyrna, zu sich selbst und der schönen Danae
gegenüber gebracht.—————
Siebentes Capitel.Agathon lernt seine geliebte Unbekannte näher kennen.Es ist eine alte Bemerkung, daß man einem Frauenzimmer
die Zeit schlecht vertreibt, wenn man sie von den Eindrücken,
die eine andre auf unser Herz gemacht hat, unterhält.
Je mehr Feuer, je mehr Wahrheit, ie mehr Beredsamkeit
wir in einem solchen Falle zeigen, je reizender unsre
Schilderungen, je schöner unsre Bilder, je beseelter unser
Ausdruck ist, desto gewisser dürfen wir uns versprechen unsre
Zuhörerin einzuschläfern. Diese Beobachtung sollte sich besonders
derjenige empfohlen seyn lassen, welcher eine im Besitz
stehende Geliebte mit der Geschichte seiner ehemaligen verliebten
Abenteuer unterhält.Agathon, der noch weit davon entfernt war von seiner
Einbildungskraft Meister zu seyn, hatte diese Regel gänzlich
aus den Augen verloren, da er einmal auf die Erzählung
seiner ersten Liebe gekommen war. Die Lebhaftigkeit seiner
Erinnerungen schien sie in Empfindungen zu verwandeln. Er
bedachte nicht, daß es weniger anstößig wäre, eine Geliebte
wie Danae mit der ganzen Metaphysik der intellectuellen Liebe,
als mit so begeisterten Beschreibungen der Vorzüge einer andern,
und der Gefühle, welche sie ihm eingeflößt hatte, zu
unterhalten. Eine Art von Mittelding zwischen Gähnen und
Seufzen, welches ihr an der Stelle, wo wir seine Erzählung
abgebrochen haben, entfuhr, und ein gewisser Ausdruck von
Langweile, der aus einer erzwungenen Miene von vergnügter
Aufmerksamkeit hervorbrach, machte, daß er endlich seine Unbesonnenheit
gewahr wurde. Er gerieth darüber in eine Verwirrung,
die er vergebens vor Danaen zu verbergen suchte:
und seine Erzählung würde vielleicht darüber ganz ins Stocken
gerathen seyn, wenn sie ihm nicht sogleich zu Hülfe gekommen,
und ihn mit der gefälligsten Miene und im naivsten Tone der
Theilnehmung ersucht hätte, sie durch die Fortsetzung einer
so interessanten Geschichte zu verbinden. Er fuhr also —
nachdem er sich ingeheim mehr Aufmerksamkeit auf seine Zuhörerin
und auf sich selbst angelobt hatte —folgendermaßen
in seiner Erzählung fort.Die süßen Träume, worein mein Herz sich so gerne zu
wiegen pflegte, hatten nicht Wahrheit genug, diesen angenehmen
Gemüthszustand lange zu unterhalten. Eine zärtliche
Schwermuth, welche nicht ohne eine Art von Wollust war,
bemächtigte sich meiner so stark, daß es Mühe kostete, sie
vor denjenigen zu verbergen, mit denen ich einen Theil des
Tages zubringen mußte. Ich suchte die Einsamkeit; und
weil ich den Tag über nur wenige Stunden in meiner Gewalt
hatte, fing ich wieder an, in den Hainen, die den Tempel
umgaben, mit meinen Gedanken und dem Bilde meiner
Unbekannten ganze Nächte zu durchwachen.In einer dieser Nächte begegnete es, daß ich mich von
ungefähr in eine Gegend verirrte, die das Ansehen einer
Wildniß hatte, aber der anmuthigsten die man sich nur einbilden
kann. Mitten darin ließ das Gebüsche, welches sich
in vielen Krümmungen, mit hohen Cypressen und selbstgewachsenen
Lauben abgesetzt, um sich selbst herum wand, einen
offnen Platz, der auf einer Seite mit einem halben Cirkel
von wilden Lorberbäumen eingefaßt, auf der andern nur mit
niedrigem Myrtengesträuch und Rosenhecken leicht umkränzt
war. Mitten darin lagen einige Nymphen von weißem Marmor,
welche auf ihren Urnen zu schlafen schienen; und aus
jeder Urne ergoß sich eine Quelle in ein geräumiges Becken
von schwarzem Granit, welches den Frauenspersonen, die
unter dem Schutze des Delphischen Apollo standen, in der warmen
Jahreszeit zum Bade diente. Dieser Ort war (einer alten
Sage nach) der Diana heilig. Kein männlicher Fuß durfte, bei
Strafe sich den Zorn dieser unerbittlichen Göttin zuzuziehen,
es wagen, ihrem geheiligten Ruheplatz nahe zu kommen.
Vermuthlich machte die Göttin eine Ausnahme zu Gunsten
eines unschuldigen Schwärmers, der (ohne den mindesten
Vorsatz ihre Ruhe zu stören, und ohne nur zu wissen wohin er
kam) sich hierher verirrt hatte. Denn anstatt mich ihren Zorn
empfinden zu lassen, begünstigte sie mich mit einer Erscheinung,
die mir angenehmer war, als wenn sie selbst mich zu ihrem
Endymion hätte machen wollen. Weil ich in eben dem Augenblicke,
da ich diese Erscheinung hatte, den Ort, wo ich mich
befand, für denjenigen erkannte, der mir öfters, um ihn desto
gewisser vermeiden zu können, beschrieben worden war: so war
wirklich mein erster Gedanke, daß es die Göttin sey, welche,
von der Jagd ermüdet, unter ihren Nymphen schlummere. Von
einem heiligen Schauer erschüttert, wollt' ich schon den Fuß
zurückziehen, als ich beim Glanze des seitwärts einfallenden
Mondlichts gewahr wurde, daß es meine Unbekannte sey.Ich will nicht versuchen zu beschreiben, wie mir in diesem
Augenblicke zu Muthe ward. Es war einer von denen, an
welche ich mich nur erinnern darf, um zu glauben, daß ein
Wesen, welches einer solchen Wonne fähig ist, zu nichts Geringerm
als zu der Wonne der Götter bestimmt seyn könne.
Itzt konnt' ich natürlicher Weise nicht mehr daran denken,
mich unbemerkt zurückzuziehen. Meine einzige Sorge war,
die liebenswürdige Einsame, zu einer Zeit und an einem Orte,
wo sie keine Zeugen, am allerwenigsten einen männlichen,
vermuthen konnte, durch keine plötzliche Ueberraschung zu erschrecken.
Die Stellung, worin sie an eine der marmornen
Nymphen angelehnt lag, gab zu erkennen, sie staune. Ich
betrachtete sie eine geraume Weile, ohne daß sie mich gewahr
wurde. Dieser Umstand erlaubte mir, meine eigene Stelle zu
verändern, und eine solche zu nehmen, daß sie, sobald sie die
Augen ausschlüge, mich unfehlbar erkennen müßte.Diese Vorsicht hatte die verlangte Wirkung. Sie stutzte
zwar, da sie mich erblickte; aber sie erkannte mich doch zu
schnell, um mich — für einen Satyr anzusehen, Meine
Erscheinung schien ihr mehr Vergnügen als Unruhe zu machen.
Ein jeder andrer, sogar ein Satyr, würde irgend ein artig
gedrehtes Compliment in Bereitschaft gehabt haben, um seine
Freude über eine so reizende Erscheinung auszudrücken. Die
Gelegenheit konnte nicht schöner seyn, sie für eine Göttin, oder
wenigstens für eine der Gespielen Dianens anzusehen, und
diesem Irrthum gemäß zu begrüßen. Aber ich, von neuen
nie gefühlten Empfindungen gedrückt, ich konnte — gar nichts
sagen. Zu ihren Füßen hätte ich mich werfen mögen; aber die
Schüchternheit, die mit der ersten Liebe so unzertrennlich
verbunden ist, hielt mich zurück; ich besorgte, daß sie sich
einen nachtheiligen Begriff von der tiefen Ehrerbietung, die
ich für sie empfand, aus einer solchen Freiheit machen möchte.Meine Unbekannte war nicht so schüchtern. Sie erhob sich,
mit dieser sittsamen Anmuth, die ihr beim ersten Anblick in
meinen Augen den Vorzug vor allen ihren Gespielen gegeben
hatte, und ging mir etliche Schritte entgegen. Wie finde ich
den Agathon hier? sagte sie mit einer Stimme, die ich noch zu
hören glaube, so lieblich, so rührend schien sie unmittelbar in
meine Seele zu tönen. Ich fand in der Eile keine bessere
Antwort, als sie zu versichern, daß ich nicht so verwegen
gewesen wäre ihre Einsamkeit zu stören, wenn ich vermuthet
hätte sie hier zu finden. Das Compliment war nicht so artig,
als es ein junger Athener bei einer solchen Gelegenheit gemacht
haben würde: aber Psyche (so nannte sich meine Unbekannte)
war zu unschuldig um Complimente zu erwarten, Ich erkenne
meine Unvorsichtigkeit, wiewohl zu spät, versetzte sie: was
wird Agathon von mir denken, da er mich an diesem
abgelegnen Ort in einer solchen Stunde allein findet? Und
doch (setzte sie erröthend hinzu) ist es glücklich für mich, wenn
ich ja einen Zeugen meiner Unbesonnenheit haben mußte, daß
es Agathon war. Ich versicherte sie, daß mir nichts natürlicher
vorkomme als der Geschmack, den sie an der Einsamkeit, an
der Stille einer so schönen Nacht und an einer so anmuthigen
Gegend zu finden scheine. Ich setzte noch vieles von den Annehmlichkeiten
des Mondscheins, von der majestätischen Pracht
des sternvollen Himmels, von der Begeisterung, welche die
Seele in diesem feierlichen Schweigen der ganzen Natur erfahre,
von dem Einschlummern der Sinne, und dem Erwachen
der innern geheimnißvollen Kräfte unsers unsterblichen
Theils, hinzu; — Dinge, die bei den meisten Schönen, zumal
in einem Myrtengebüsche und in der einladenden Dämmerung
einer lauen Sommernacht, übel angebracht gewesen
wären. Aber bei der gefühlvollen Psyche rührten sie die empfindlichsten
Saiten ihres Herzens. Das Gespräch, worin wir
uns unvermerkt verwickelten, entdeckte eine Uebereinstimmung
in unserm Geschmack und in unsern Neigungen, welche gar
bald ein eben so vertrauliches Verständniß zwischen unsern
Seelen hervorbrachte, als ob wir uns schon viele Jahre gekannt
hätten. Mir war, als ob ich alles, was sie sagte, durch unmittelbare
Anschauung in ihrer Seele lese; und hinwieder
schien das, was ich sagte (so abgezogen, idealisch und dichterisch
es immer seyn mochte), ein bloßer Widerhall ihrer eigenen
Empfindungen, oder die Entwicklung solcher Ideen zu seyn,
welche als Embryonen in ihrer Seele lagen, und nur den erwärmenden
Einfluß eines geübtern Geistes nöthig hatten, um
sich zu entfalten, und durch ihre naive Schönheit die erhabensten
Gedanken der Weisen zu beschämen. Die Zeit wurde uns
bei dieser Unterhaltung so kurz, daß wir kaum eine Stunde
bei einander gewesen zu seyn glaubten, als uns die aufgehende
Morgenröthe erinnerte, daß wir uns trennen müßten.Ich hatte nun durch diese Unterredung erfahren, daß meine
Geliebte von ihrer Herkunft eben so wenig wisse, als ich von
der meinigen. Sie war von ihrer Amme in der Gegend um
Korinth bis ins sechste Jahr erzogen, hernach von Räubern
entführt und an die Priesterin zu Delphi verkauft worden,
welche sie in allen weiblichen Künsten, und, da sie eine besondere
Neigung zum Lesen an ihr bemerkt, auch in der Kunst
die Dichter recht zu lesen, unterrichten ließ, und sie in der
Folge zu ihrer Leserin machte. Wie ungünstig auch diese Umstände
meiner Liebe waren, so ließ mich doch das Vergnügen
des gegenwärtigen Augenblicks noch nicht an das Künftige
denken. Unbekümmert, wohin die Empfindungen, von denen
ich eingenommen war, in ihren Folgen endlich führen könnten,
hing ich ihnen mit aller Gutherzigkeit der jugendlichen Unschuld
nach. Meine kleine Psyche zu sehen, zu lieben, es ihr
zu sagen, aus ihrem schönen Munde zu hören, in ihren seelenvollen
Augen zu sehen, daß ich wieder geliebt werde, —dieß
waren itzt alle Glückseligkeiten, an die ich Anspruch machte,
und über welche hinaus ich mir keine andere träumen ließ.
Ich hatte ihr etwas von den Eindrücken gesagt, die ihr erster
Anblick auf mein Herz gemacht habe; und sie hatte diese Eröffnungen
mit dem Geständniß der vorzüglichen Meinung,
welche ihr das allgemeine Urtheil von Delphi von mir gegeben,
erwiedert. Allein eine zärtliche und ehrfurchtsvolle Schüchternheit
erlaubte mir nicht, ihr alles zu sagen was ich empfand.
Meine Ausdrücke waren lebhaft und feurig; aber sie waren
von der gewöhnlichen Sprache der Liebe so unterschieden, daß ich
weniger zu sagen glaubte, indem ich in der That unendliche Mal
mehr sagte, als ein gewöhnlicher Liebhaber, der mehr von seinen
Begierden beunruhigt, als von dem Werthe seiner Geliebten
gerührt ist. Nur da wir uns trennen mußten, würde
mich mein allzu volles Herz verrathen haben, wenn Psychens
unerfahrne Jugend einiges Mißtrauen in Empfindungen hätte
setzen können, welche sie nach der Unschuld ihrer eigenen beurtheilte.
Ich zerfloß in Thränen, und drang auf eine so
zärtliche, so bewegliche Art in sie, sich in der folgenden Nacht
wieder in dieser Gegend finden zu lassen, daß es ihr unmöglich
war mich ungetröstet wegzuschicken.Wir setzten also, da uns alle andere Gelegenheiten abgeschnitten
waren, diese nächtlichen Zusammenkünfte fort; und
unsre Liebe wuchs und verschönerte sich zusehends, ohne daß
wir dachten, daß es Liebe sey. Wir nannten es Freundschaft,
und genossen ihrer reinsten Süßigkeiten, ohne durch einige Besorgnisse,
Bedenklichkeiten oder andere natürliche Zeichen der
Leidenschaft beunruhigt zu werden. Psyche hatte sich eine
Freundin, wie ich mir einen Freund, gewünscht; nun glaubten
wir gefunden zu haben was wir wünschten. Unsere Denkungsart
und die Güte unserer Herzen flößte uns ein vollkommenes
und unbegränztes Zutrauen gegen einander ein. Meine Augen,
die schon lange gewohnt waren, anders zu sehen als man in
meinem damaligen Alter zu sehen pflegt, sahen in Psyche kein
reizendes Mädchen, sondern die liebenswürdigste aller Seelen,
deren geistige Schönheit aus dem durchsichtigen Flor eines irdischen
Gewandes hervor schimmerte: und die wissensbegierige
Psyche, welche nie so glücklich gewesen war, als da ich ihr die
erhabenen Geheimnisse meiner dichterischen Philosophie entfaltete,
glaubte den göttlichen Orpheus oder den Apollo selbst
zu hören wenn ich sprach.Es liegt in dem Wesen der Liebe (so zärtlich und unkörperlich
sie immer seyn mag) so lange zuzunehmen, bis sie das
Ziel erreicht hat, wo die Natur sie erwartet. Die unsrige
nahm auch zu, und ging nach und nach durch mehr als Eine
Verwandlung; aber sie blieb sich selbst doch immer ähnlich.
Als uns zuletzt der Name der Freundschaft nicht mehr bedeutend
genug schien, dasjenige was wir für einander empfanden
auszudrücken: wurden wir eins, "daß die Liebe eines Bruders
und einer Schwester zugleich die stärkste und die reinste aller
Zuneigungen sey." Die Vorstellung, die wir uns davon machten,
entzückte uns; und nachdem wir oft bedauert hatten, daß
uns die Natur diese Glückseligkeit versagt habe, wunderten wir
uns endlich, wie wir nicht eher eingesehen hätten, daß es nur
von uns abhange, ihre Kargheit in diesem Stücke zu ersetzen.
Wir waren also Bruder und Schwester, und blieben es einige
Zeit, ohne daß die Vertraulichkeit und die unschuldigen Liebkosungen,
wozu uns diese Namen berechtigten, der Tugend,
welcher wir zugleich mit der Liebe eine ewige Treue geschworen
hatten, den geringsten Abbruch (wenigstens in unsern
Augen) thaten. Oft waren wir enthusiastisch genug, die Vermuthung,
oder vielmehr die bloße Möglichkeit, einander
vielleicht so nahe verwandt zu seyn als wir es wünschten, für
die Stimme der Natur zu halten; zumal da eine wirkliche
oder eingebildete Aehnlichkeit unserer Gesichtszüge diesen Wahn
zu rechtfertigen schien. Da wir uns aber die Betrüglichkeit dieser
vermeinten Sprache des Blutes nicht immer verbergen konnten,
so fanden wir desto mehr Vergnügen darin, den Vorstellungen
von einer natürlichen Verschwisterung der Seelen, und von
einer schon in einem vorhergehenden Zustande in bessern Welten
angefangenen Bekanntschaft, nachzuhängen, und sie in tausend
angenehme Träume auszubilden. Aber auch bei diesem
Grade ließ uns der phantasiereiche Schwung, den die Liebe
unsern Seelen gegeben hatte, nicht still stehen. Wir strengten
das äußerste Vermögen unserer Einbildungskraft an, um uns
einen Begriff davon zu machen, wie in den überirdischen Welten
die reinen Geister einander liebten. Keine andere Art zu
lieben schien uns zu gleicher Zeit der Stärke und der Reinigkeit
unserer Empfindungen genug zu thun, noch für Wesen
sich zu schicken, die im Himmel entsprungen und dahin wiederzukehren
bestimmt wären. Darf ich dir's gestehen, schöne
Danae? Noch itzt erwehre ich mich bei der Erinnerung an diese
glückliche Schwärmerei meiner ersten Jugend kaum des Wunsches,
daß die Bezauberung ewig hätte dauern können! Denn
Bezauberung war es doch; und es ist nichts gewisser, als daß
sich diese allzu geistigen Empfindungen endlich verzehrt, und
die Natur (welche ihre Rechte nie verliert) uns zuletzt unvermerkt
auf eine gewöhnlichere Art zu lieben geführt haben
würde, wenn uns die Pythia Zeit dazu gelassen hätte.—————
Achtes Capitel.Ein neuer Versuch der Pythia. Psyche wird unsichtbar. Agathons
letztes Abenteuer zu Delphi.Diese ließ einige Wochen vorbei gehen, ohne (dem Ansehen
nach) sich meiner zu erinnern; und ich hatte sie in der Zeit
so gänzlich vergessen, daß ich nicht wenig bestürzt war, als sie
mich wieder rufen ließ. Ich fand nur zu bald, daß die Göttin
von Paphos, welche sich vielleicht wegen irgend einer ehemaligen
Verschuldung an ihr rächen wollte, ihr in dieser Zwischenzeit
nicht so viel Ruhe gelassen habe, als für sie und mich zu wünschen
war. Vermuthlich hatte sie, wie die Phädra des Euripides,
allen ihren weiblichen und priesterlichen Stolz zusammen
gerafft, um eine Leidenschaft zu unterdrücken, deren Uebelstand
sie sich selbst unmöglich verbergen konnte. Allein vielleicht
mochte sie sich selbst durch eben dieselben Trugschlüsse, welche
Euripides der Erzieherin dieser unglückseligen Prinzessin in den
Mund legt, wieder beruhigt, und endlich den herzhaften Entschluß
gefaßt haben, ihrem Verhängniß nachzugeben. Denn,
nachdem sie alle ihre Mühe verloren sah, mich das, was sie mir
zu sagen hatte, errathen zu lassen, brach sie endlich ein Stillschweigen,
dessen Bedeutung ich eben so wenig verstehen wollte,
und entdeckte mir mit einer Dunkelheit und mit einem Feuer,
welche mich erröthen und erzitten machten, daß sie liebe und
wieder geliebt seyn wolle. Die Unglückliche hatte nichts vergessen,
was sie vermuthlich für geschickt hielt, mir den Werth
des mir angebotenen Glückes mehr als jemals einleuchtend zu
machen. Ich muß noch itzt erröthen, wenn ich an die Verwirrung
denke, worin ich mit allen meinen erhabenen Begriffen
in diesem Augenblick war, die menschliche Natur so erniedrigt,
den Namen der Liebe so entweiht zu sehen! In der
That, die Pythia selbst konnte von der Art, wie ich ihre Zumuthungen
abwies, nicht empfindlicher beschämt und gequält
werden, als ich durch die Nothwendigkeit, ihr so übel zu begegnen.
Ich bestrebte mich, die Härte meiner Antworten durch
die sanftesten Ausdrücke zu mildern, die ich in meiner Verlegenheit
finden konnte. Aber ich erfuhr, daß heftige Leidenschaften
sich, so wenig als Sturmwinde, durch Worte beschwören lassen.
Die ihrer selbst nicht mehr mächtige Priesterin nahm für beleidigenden
Spott auf, was ich aus der wohlgemeinten, aber
freilich sehr unzeitigen Absicht, ihrer sinkenden Tugend zu Hülfe
zu kommen, sagte. Sie gerieth in Wuth; sie brach in Verwünschungen
und Drohungen, und einen Augenblick darauf in
einen Strom von Thränen und in so bewegliche Apostrophen
aus, daß ich beinahe schwach genug gewesen wäre mit ihr zu
weinen. Ich ergriff endlich das einzige Mittel das mir übrig
blieb, mich der albernen Rolle, die ich in dieser Scene spielte,
zu erledigen: ich entfloh.In eben dieser Nacht sah ich meine geliebte Psyche wieder
an dem gewöhnlichen Orte. Mein Gemüth war von der Geschichte
dieses Abends zu sehr beunruhigt, als daß ich ihr ein
Geheimniß daraus hätte machen können. Wir bedauerten die
Priesterin, so viele Mühe es uns auch kostete, die Wuth und
die Qualen einer Liebe, welche der unsrigen so wenig ähnlich
war, uns als möglich vorzustellen; aber wir bedauerten noch
viel mehr uns selbst. Die Raserei, worin ich die Pythia verlassen
hatte, hieß uns das Aergste besorgen. Wir zitterten
eines für des andern Sicherheit; und aus Furcht, daß sie
unsere Zusammenkünfte entdecken möchte, beschlossen wir sie
eine Zeit lang seltner zu machen. Dieß war das erste Mal,
daß die reinen Vergnügungen unserer schuldlosen Liebe von
Sorgen und Unruhe unterbrochen wurden, und wir mit schwerem
Herzen von einander Abschied nahmen. Es war als ob
es uns ahnete, daß wir uns zu Delphi nicht wieder sehen würden;
und wir sagten uns wohl tausendmal Lebewohl, ohne uns
einander aus den Armen winden zu können. Wir redeten mit
einander ab, erst in der dritten Nacht wieder zusammen zu
kommen. Inzwischen fügte sich's zufälliger Weise, daß ich mit
der Priesterin in einer Gesellschaft zusammentraf, wo wir einander
gleich unerwartet waren. Es war natürlich, daß sie in
Gegenwart fremder Personen ihrem Betragen gegen mich den
freundschaftlichen Ton der Anverwandtschaft gab, welche zwischen
uns vorausgesetzt wurde, und wodurch sie ihren Umgang
mit mir gegen die Urtheile der argwöhnischen Welt sicher gestellt
hatte; doch bemerkte ich, daß sie etliche Mal, wenn sie
von niemand beobachtet zu seyn glaubte, die zärtlichsten Blicke
auf mich heftete. Ich war zu gutherzig, Verstellung unter
diesem Zeichen der wiederkehrenden Liebe zu vermuthen; und
der Schluß, den ich daraus zog, beruhigte mich gänzlich über
die Besorgniß, daß sie meinen Umgang mit Psyche entdeckt
haben möchte. Ich flog also mit ungeduldiger Freude zu unsrer
abgeredeten Zusammenkunft: aber wie groß war meine Bestürzung,
als nach stundenlangem ungeduldigem Harren keine
Psyche zum Vorschein kommen wollte! Ich wartete so lange,
daß mich der Tag beinahe überrascht hätte; ich durchsuchte den
ganzen Hain: aber sie war nirgends zu finden. Eben so ging
es in der folgenden und in der dritten Nacht. Mein Schmerz
war unaussprechlich. Damals erfuhr ich zum ersten Mal, daß
meine Einbildungskraft, welche bisher nur zu meinem Vergnügen
geschäftig gewesen war, in eben dem Maße, wie sie mich
glücklich gemacht hatte, mich elend zu machen fähig sey. Ich
zweifelte nun nicht mehr, daß die Pythia unsre Liebe entdeckt
habe; und die Folgen dieser Entdeckung für die arme Psyche
stellten sich mir mit allen Schrecknissen einer sich selbst quälenden
Einbildung dar. Ich faßte in der Wuth meines Schmerzens
tausend heftige Entschließungen, von denen immer eine
die andre verschlang. Ich wollte die Priesterin unversehens
überfallen und meine Psyche von ihr fordern; ich wollte den
Priestern ihre verbrecherische Leidenschaft entdecken; kurz, ich
wollte — das Ausschweifendste was man in der Verzweiflung
wollen kann. Ich glaube, daß ich fähig gewesen wäre, den
Tempel anzuzünden, wenn ich hätte hoffen können meine Psyche
dadurch zu retten. Und doch hielt mich ein Schatten von Hoffnung,
daß sie vielleicht bloß durch zufällige Ursachen verhindert
worden sey ihr Wort zu halten, noch zurück, einen unbesonnenen
Schritt zu thun, welcher ein bloß eingebildetes Uebel wirklich
und unheilbar hätte machen können. Vielleicht (dachte ich)
weiß die Priesterin noch nichts von unserem Geheimniß; und
wie unselige wär' ich in diesem Falle, wenn ich selbst mein
eigener Verräther wäre!Dieser Gedanke führte mich zum vierten Mal in den
Ruheplatz der Diana. Nachdem ich wohl zwei Stunden vergebens
gewartet hatte, warf ich mich in einer Betäubung von
Schmerz und Verzweiflung zu den Füßen einer von den Nymphen
hin. Ich lag eine Weile ohne meiner selbst mächtig zu
seyn. Als ich mich wieder erholt hatte, sah ich einen frischen
Blumenkranz um den Hals und die Arme der Nymphe gewunden.
Ich sprang auf, um genauer zu erkundigen, was dieß
bedeuten möchte, und fand ein Briefchen an den Kranz geheftet,
worin mir Psyche meldete: "Daß ich sie in der folgenden
Nacht unfehlbar an diesem Platz antreffen würde; sie verspare
es auf diese Besprechung mir zu sagen, durch was für Zufälle
sie diese Zeit über verhindert worden mich zu sehen oder mir
Nachricht von sich zu geben; ich dürfte aber vollkommen ruhig
und gewiß seyn, daß die Priesterin nichts von unserer Bekanntschaft
wisse."Die heftige Begierde, womit ich wünschte, daß dieses
Briefchen von Psyche geschrieben seyn möchte, ließ mich nicht
daran denken ein Mißtrauen darein zu setzen, ungeachtet mir
ihre Handschrift unbekannt war. Dieß war das erste Mal, da
ich erfuhr, was der Uebergang von dem äußersten Grade des
Schmerzens zu der äußersten Freude ist. Ich wand den Glück
weissagenden Blumenkranz um mich herum, nachdem ich die
unsichtbaren Spuren der geliebten Finger, die ihn gewunden,
von jeder Blume weggeküßt hatte. Den folgenden Abend
wurde mir jeder Augenblick bis zur bestimmten Zeit ein Jahrhundert.
Ich ging eine halbe Stunde früher, den guten
Nymphen zu danken, daß sie unsere Liebe in ihren Schutz
genommen hatten. Endlich glaubte ich, Psyche zwischen den
Myrtenhecken hervor kommen zu sehen. Die Nacht war nur
durch den Schimmer der Sterne beleuchtet; aber ich erkannte
die gewöhnliche Kleidung meiner Freundin, und war von dem
ersten Rauschen ihrer Annäherung schon zu sehr entzückt, um
gewahr zu werden, daß die Gestalt, die sich mir näherte,
mehr von der üppigen Fülle einer Bacchantin als von der
jungfräulichen Geschmeidigkeit einer Gespielin Dianens hatte.
Wir flogen einander mit gleichem Verlangen in die Arme.Die sprachlose Trunkenheit des ersten Augenblicks verstattet
nicht Bemerkungen zu machen. Aber es währte nicht lange,
bis ich nothwendig fühlen mußte, daß ich mit einer Heftigkeit,
die von der Unschuld einer Psyche nicht vermuthlich war, an
einen kaum verhüllten und üngestüm klopfenden Busen gedrückt
wurde. —Dieß konnte nicht Psyche seyn. —Ich wollte mich
aus ihren Armen los winden; aber sie verdoppelte die Stärke,
womit sie mich umschlang, zugleich mit ihren üppigen Liebkosungen;
und da ich nun auf einmal, mit einem Entsetzen, welches
mir alle Sehnen lähmte, meinen Irrthum erkannte, so
machte die Gewalt, die ich anwenden wollte, mich von der rasenden
Priesterin los zu reißen, daß wir mit einander zu Boden sanken.Ich wünschte aus Hochschätzung des Geschlechts, welches in
meinen Augen der liebenswürdigste Theil der Schöpfung ist,
daß ich diese Scene aus meinem Gedächtniß auslöschen könnte.
Ich hatte meine ganze Vernunft nöthig, um nicht alle Achtung,
die ich wenigstens ihrem Geschlechte schuldig war, aus den Augen
zu setzen. Aber ich zweifle nicht, daß eine jede Frauensperson,
welche noch einen Funken von sittlichem Gefühl übrig
hätte, lieber den Tod, als die Vorwürfe und die Verwünschungen,
womit sie überströmt wurde, ausstehen wollte. — Sie
krümmte sich, in Thränen berstend, zu meinen Füßen. —Dieser
Anblick war mir unerträglich. Ich wollte entfliehen; sie verfolgte
mich, sie hing sich an, und bat mich ihr den Tod zu geben.
Ich verlangte mit Heftigkeit, daß sie mir meine Psyche wieder
geben sollte. Diese Worte schienen sie unsinnig zu machen.
Sie erklärte mir, daß das Leben dieser Sklavin in ihrer Gewalt
sey, und von dem Entschluß den ich nehmen würde,
abhange. Sie sah das Entsetzen, das bei dieser Drohung
mein ganzes Wesen erschütterte; wir verstummten beide eine
Weile. Endlich nahm sie einen sanftern, aber nicht weniger
entschlossenen Ton an, um mir ihre vorige Erklärung zu bekräftigen.
Die Eifersucht machte sie so vieles sagen, daß ich
Zeit bekam mich zu fassen, und eine Drohung weniger fürchterlich
zu finden, zu deren Ausführung ich sie, wenigstens
aus Liebe zu sich selbst, unfähig glaubte. Ich antwortete ihr
also mit kälterm Blute, daß sie, auf ihre Gefahr, über das
Leben meiner jungen Freundin gebieten könne. Doch ersuchte
ich sie sich zu erinnern, daß sie selbst mich zum Meister über
das ihrige, und über das was ihr noch lieber als das Leben
seyn sollte, gemacht habe. Das meinige (setzte ich mit entschlossenem
Ton hinzu) hört mit dem Augenblick auf, da Psyche
für mich verloren ist; denn, bei dem allsehenden Gott, dessen
Gegenwart dieses heilige Land erfüllt! keine menschliche Gewalt
soll mich aufhalten, ihrem geliebten Geist in eine bessere
Welt nachzueilen, wohin uns das Laster nicht folgen kann,
unsere geheiligte Liebe zu beunruhigen!Meine Standhaftigkeit schien den Muth der Priesterin
niederzuschlagen. Sie sagte mir endlich: die Einbildung, daß
ich in meiner Gewalt habe sie zu Grunde zu richten, könnte mich
sehr betrügen; ich möchte thun was ich wollte; nur sollte ich
versichert seyn, daß ihr Psyche für jeden Schritt bürgte, den
ich machen würde. Mit diesen Worten entfernte sie sich, und
ließ mich in einem Zustande, dessen Abscheulichkeit, nach der
Empfindung die ich davon hatte abgemessen, über allen Ausdruck
ging. Ich wußte nun alles. Nach dieser Niederträchtigkeit
war keine Bosheit so ungeheuer, deren ich diese Elende
nicht fähig gehalten hätte. Ich besorgte nichts für mich selbst,
aber alles für die arme Psyche, welche ich der Gewalt einer
Nebenbuhlerin überlassen mußte, ohne daß mir alle meine
Zärtlichkeit für sie das Vermögen geben konnte, sie zu befreien.—————
Neuntes Capitel.Agathon entflieht, und findet seinen Vater. Was für einen neuen
Schwung sein Geist durch die Veränderung seiner Umstände bekommt.Nachdem ich etliche Tage in der grausamen Ungewißheit,
was aus meiner Geliebten geworden seyn möchte, zugebracht
hatte, erfuhr ich endlich von einer Sklavin der Pythia, daß
sie nicht mehr in Delphi sey. Dieß war alle Nachricht die ich
von ihr einziehen konnte; aber es war genug, mir den längern
Aufenthalt an diesem Ort unerträglich zu machen. Ich
bedachte mich keinen Augenblick was ich thun wollte, sondern
stahl mich in der nächsten Nacht hinweg, ohne um die Folgen
eines so unbesonnenen Schrittes bekümmert zu seyn; oder,
richtiger zu sagen, in einem Gemüthszustande, worin ich
aller Besinnung unfähig war. Ich irrte eine Zeit lang überall
herum, wo ich eine Spur von meiner Freundin zu entdecken
hoffte; thöricht genug, mir einzubilden, daß sie mich, wo sie
auch seyn möchte, durch die magische Gewalt der Sympathie
unsrer Seelen nach sich ziehen werde. Aber meine Hoffnung
betrog mich: niemand konnte mir die geringste Nachricht von
ihr geben. Unempfindlich gegen alles Elend, welches ich auf
dieser unsinnigen Wanderschaft erfahren mußte, fühlte ich
keinen andern Schmerz, als die Trennung von meiner Geliebten
und die Ungewißheit was ihr Schicksal sey. Ich würde
die Versicherung, daß es ihr wohl gehe, gern mit meinem
Leben bezahlt haben.Endlich führte mich der Zufall oder eine mitleidige Gottheit
nach Korinth. Die Sonne war eben untergegangen, als
ich, von den Beschwerlichkeiten der Reise und einer ungewohnten
Diät äußerst abgemattet, vor dem Hof eines der prächtigen
Landgüter ankam, welche die Küsten des Korinthischen
Meeres verschönern. Ich warf mich unter eine hohe Cypresse
nieder, und verlor mich in den Vorstellungen der natürlichen,
aber in der Hitze der Leidenschaft nicht vorhergesehenen Folgen
meiner Flucht von Delphi. In der That war meine Lage
fähig den herzhaftesten Muth niederzuschlagen. In eine gänzlich
fremde Welt ausgestoßen, ohne Freunde, ohne Geld, unwissend
wie ich ein Leben erhalten wollte, dessen Urheber mir
nicht einmal bekannt war, warf ich traurige Blicke um mich
her. Die ganze Natur schien mich verlassen zu haben. Auf
dem weiten Umfang der mütterlichen Erde sah ich nichts,
worauf ich einen Anspruch machen konnte, als —ein Grab, wenn
mich die Last des Elends endlich aufgerieben haben würde.
Und selbst dieses konnte ich nur von der Frömmigkeit irgend
eines mitleidigen Wanderers hoffen. Diese melancholischen
Gedanken wurden durch die Erinnerung meiner vergangnen
Glückseligkeit, und durch das Bewußtseyn, daß ich mein Elend
durch keine Bosheit des Herzens oder irgend eine entehrende
Uebelthat verdient hätte, nur schmerzender gemacht. Ich sah
mit thränenvollen Augen um mich her, als ob ich ein Wesen
in der Schöpfung suchen wollte, dem mein Zustand zu
Herzen ginge.In diesem Augenblick erfuhr ich den wohlthätigen Einfluß
dieser glückseligen Begeisterung, "welche die Natur dem
empfindlichsten Theile der Sterblichen zu einem Gegengewicht
gegen die Uebel, denen sie durch die Schwäche ihres Herzens
ausgesetzt sind, gegeben zu haben scheint." Ich wandte mich
an die Unsterblichen, mit denen meine Seele schon so lange
in einer Art von unsichtbarer Gemeinschaft stand. Der Gedanke,
daß sie die Zeugen meines Lebens, meiner Gedanken.
meiner geheimsten Neigungen gewesen seyen, goß lindernden
Trost in mein verwundetes Herz. Ich sah meine geliebte
Psyche unter ihre Flügel gesichert. "Nein, rief ich aus, die
Unschuld kann nicht unglücklich seyn, noch das Laster seine Absichten
ganz erhalten! In diesem majestätischen All, worin
Welten und Stäubchen sich mit gleicher Unterwürfigkeit nach
den Winken einer weisen und wohlthätigen Macht bewegen,
wär' es Unsinn und Gottlosigkeit, sich einer entnervenden
Kleinmuth zu überlassen. Mein Daseyn ist der Beweis, daß
ich eine Bestimmung habe. Hab' ich nicht eine Seele welche
denken kann, und Gliedmaßen, die ihr als Sklaven zur Ausrichtung
ihrer Gedanken zugegeben sind? Bin ich nicht ein
Grieche? Und, wenn mich mein Vaterland nicht erkennen
will, bin ich nicht ein Mensch? Ist nicht die ganze Erde mein
Vaterland? Und gibt mir nicht die Natur ein unverlierbares
Recht an Erhaltung und an jedes wesentliche Stück der Glückseligkeit,
sobald ich meine Kräfte anwende, die Pflichten zu
erfüllen, die mich mit der Welt verbinden?"Diese Gedanken beschämten meine Thränen, und richteten
mein Herz wieder auf. Ich fing an, die Mittel zu überlegen,
die ich in meiner Gewalt hätte mich in bessere Umstände zu
setzen: als ich einen Mann von mittlerm Alter gegen mich
herkommen sah, dessen Ansehen und Miene mir Ehrerbietung
und Zutrauen einflößten. Ich raffte mich vom Boden auf,
und beschloß bei mir selbst, ihn anzureden, ihm meine Umstände
zu entdecken, und mir seinen Rath auszubitten. Er
kam mir zuvor. "Du scheinest vom Weg ermüdet zu seyn,
junger Fremdling (sagte er zu mir, in einem Tone, der ihm
sogleich mein Herz gewann), und da ich dich unter dem wirthlichen
Schatten meines Baumes gefunden habe, so hoffe ich,
du werdest mir das Vergnügen nicht versagen, dich diese Nacht
in meinem Hause zu beherbergen." Er betrachtete mich, indem
er dieß sagte, mit einer Aufmerksamkeit, an welcher sein
Herz Antheil zu haben schien. Ich gestand ihm mit einer
Offenherzigkeit, die von meiner wenigen Kenntniß der Welt
zeugte: daß ich im Begriff gewesen sey, ihn um dasjenige zu
ersuchen, was er mir auf eine so edle Art anbiete. Ich weiß
nicht, was ihn zu meinem Vortheil einzunehmen schien.
Mein Aufzug wenigstens konnte es nicht seyn; denn ich hatte,
aus Furcht entdeckt zu werden, meine Delphische Kleidung
gegen eine schlechtere vertauscht, die auf meiner Wanderschaft
ziemlich abgenutzt worden war. Er wiederholte mir, wie angenehm
es ihm sey, daß mich der Zufall vielmehr ihm als einem
seiner Nachbarn zugeführet habe; und so folgte ich ihm in sein
Haus, dessen Weitläuftigkeit, Bauart und Pracht einen Besitzer
von großem Reichthum und vielem Geschmack ankündigte.
Die Galerie, in die wir zuerst traten, war mit Gemälden
von den berühmtesten Meistern und mit einigen Bildsäulen
und Brustbildern von Phidias und Alkamenes ausgeziert. Ich
liebe, wie dir bekannt ist, die Werke der schönen Künste bis
zur Schwärmerei, und mein langer Aufenthalt in Delphi hatte
mir einige Kenntniß davon gegeben. Ich bewunderte einige
Stücke, setzte an andern dieß oder jenes aus, nannte die
Künstler, deren Hand oder Manier ich erkannte, und nahm
Gelegenheit von andern Meisterstücken zu reden, die ich von
ihnen gesehen hatte. Ich bemerkte, daß mein Wirth mich mit
Verwunderung ansah, als ob er betroffen wäre, einen jungen
Menschen, den er in einem so wenig versprechenden Aufzug
unter einem Baume liegend gefunden, mit so vieler Kenntniß
von den Künsten sprechen zu hören.Nach einer Weile wurde gemeldet, daß das Abendessen
bereitet sey. Er führte mich in einen kleinen Saal, dessen
Wände von einem der besten Schüler des Parrhasius niedlich
bemalt waren. Wir aßen ganz allein. Die Tafel, das Geräthe,
die Aufwärter, alles stimmte mit dem Begriff überein,
den ich mir von dem Geschmack und dem Stande des Hausherrn
gemacht hatte. Unter dem Essen trat ein junger Sklave
von feinem Ansehen und zierlich gekleidet auf, und recitirte
ein Stück aus der Odyssee mit vieler Geschicklichkeit. Mein
Wirth sagte mir, daß er bei Tische diese Art von Gemüthsergötzung
den Tänzerinnen und Flötenspielerinnen vorzöge, womit
man sonst der den Tafeln der Griechen sich zu unterhalten
pflege. Das Lob, das ich seinem Leser beilegte, gab zu
einem Gespräch über die beste Art zu recitiren und über die
Griechischen Dichter Anlaß, wobei ich meinem Wirthe abermal
Gelegenheit gab zu stutzen. Die Verwunderung, womit er
mich betrachtete, vermischte sich zusehens mit einer zärtlichen
Bewegung; und da er sah, daß ich es gewahr wurde, sagte
er mir: die Verwunderung, womit er mich von Zeit zu Zeit
betrachte, würde mich weniger befremden, wenn ich die außerordentliche
Aehnlichkeit meiner Gesichtsbildung und Miene mit
einer Person, welche er ehmals gekannt habe, wüßte. Doch
du sollst selbst davon urtheilen, setzte er hinzu, indem er anfing
von andern Dingen zu reden, bis der Wein und die Früchte
aufgestellt wurden.Bald darauf führte er mich in ein Cabinet, worin ein
Schreibtisch, ein Büchergestell, einige Polster, und ein Gemälde
in Lebensgröße, auf welches ich nicht gleich Acht gab,
alle Geräthschaft und Zierrathen ausmachten. Er hieß mich
niedersetzen, und nachdem er das Bildniß, welches ihm gegenüber
hing, eine Weile mit Rührung angesehen hatte, redete
er mich also an: "Deine Jugend, liebenswürdiger Fremdling,
die Art, wie sich unsere Bekanntschaft angefangen, die Eigenschaften,
die ich in dieser kurzen Zeit an dir entdeckt habe,
und die Zuneigung, die ich in meinem Herzen für dich finde,
rechtfertigen mein Verlangen, von deinem Namen und von
den Umständen benachrichtiget zu seyn, welche dich in einem
solchen Alter von deiner Heimath entfernt und in diese fremden
Gegenden geführt haben können. Es ist sonst meine Gewohnheit
nicht, mich beim ersten Anblick für jemand einzunehmen.
Aber bei deiner Erblickung hab' ich einem geheimen
Zuge nicht widerstehen können; und du hast in diesen wenigen
Stunden meine voreilige Neigung so sehr gerechtfertiget, daß
ich mir selbst Glück wünsche, ihr Gehör gegeben zu haben.
Befriedige also mein Verlangen, und sey versichert, daß die
Hoffnung, dir vielleicht nützlich seyn zu können, weit mehr
Antheil daran hat als ein unbescheidener Vorwitz. Du siehest
einen Freund in mir, dem du dich, unbeachtet der kurzen
Dauer unsrer Bekanntschaft, mit allem Zutrauen eines langwierigen
und bewährten Umgangs entdecken darfst."Ich wurde durch diese Anrede so sehr gerührt, daß sich
meine Augen mit Thränen füllten. Ich glaube, daß er darin
lesen konnte was ihm mein Herz antwortete, ob ich gleich
eine Weile keine Worte dazu fand. Endlich entdeckte ich ihm,
daß ich von Delphi käme; daß ich daselbst erzogen worden;
daß man mich Agathon genannt, und daß ich nie erfahren
können, wem ich das Leben zu danken hätte. Alles was ich
davon wisse, sey, daß ich in einem Alter von vier oder fünf
Jahren in den Tempel gebracht, mit andern dem Dienste des
Apollo gewidmeten Knaben erzogen, und, nachdem ich zu
mehrern Jahren gekommen, von den Priestern mit einer
vorzüglichen Achtung angesehen, und in allem, was zur Erziehung
eines freigebornen Griechen erfordert werde, geübt
worden sey.Stratonikus (so wurde mein Wirth genannt) zeigte während
meiner Erzählung eine Unruhe, die er vergebens zu verbergen
suchte; sein Gesicht veränderte sich; er wollte etwas
sagen, schien sich aber wieder anders zu bedenken und fragte
mich bloß, warum ich Delphi verlassen hätte. So natürlich
die Aufrichtigkeit sonst meinem Herzen war, so konnte ich doch
dießmal unmöglich über die Bedenklichkeiten hinaus kommen,
welche mir über meine Liebe zu Psyche den Mund verschlossen.
Einem Freunde von meinen Jahren, für den ich mein Herz
eben so eingenommen gefunden hätte, als für Stratonikus,
würde ich das Innerste meines Herzens ohne Bedenken aufgeschlossen
haben, sobald ich hätte vermuthen können, daß er
meine Empfindungen zu verstehen fähig sey. Aber hier hielt
mich etwas zurück, davon ich mir selbst die Ursache nicht angeben
konnte. Ich schob also die ganze Schuld meiner Entweichung
von Delphi auf die Pythia, indem ich ihm, so ausführlich
als es meine jugendliche Schamhaftigkeit gestatten
wollte, von den Versuchungen, in welche sie meine Tugend
geführt hatte, Nachricht gab. Er schien mit meiner Ausführung
zufrieden zu seyn; und nachdem ich meine Erzählung
bis auf den Augenblick, wo ich ihn zuerst erblickt, und auf
dasjenige was ich sogleich für ihn empfunden, fortgeführt hatte;
stand er mit einer lebhaften Bewegung auf, warf seine Arme
um meinen Hals, und sagte mit Thränen der Freude und
Zärtlichkeit in seinen Augen: — "Mein liebster Agathon,
siehe deinen Vater! — Hier (setzte er hinzu, indem er mich
sanft umwendete und auf das Gewälde wies, welchem ich
bisher den Rücken zugekehrt hatte), hier, in diesem Bilde,
erkenne die Mutter, deren geliebte Züge mich beim ersten
Anblick in deiner Gesichtsbildung rührten, und diese Bewegung
erregten, die ich nun für die Stimme der Natur
erkenne."Du kennest mich zu wohl, liebenswürdige Danae, um
dir meine Empfindungen in diesem Augenblicke nicht lebhafter
einzubilden, als ich sie beschreiben könnte. Solche Augenblicke
sind keiner Beschreibung fähig. Für solche Freuden hat
die Sprache keine Namen, die Natur keine Bilder, und die
Phantasie selbst keine Farben. —Das Beste ist, zu schweigen
und den Zuhörer seinem eigenen Herzen zu überlassen. Mein
Vater schien durch meine Entzückung, welche sich lange Zeit
nur durch Thränen, sprachlose Umarmungen und abgebrochene
Töne ausdrücken konnte, doppelt glücklich zu seyn. Das Vergnügen,
womit er mich für seinen Sohn erkannte, schien ihn
selbst wieder in die glücklichsten Augenblicke seiner Jugend zu
versetzen, und Erinnerungen wieder aufzuwecken, denen mein
Anblick neues Leben gab. Da er nicht zweifeln konnte, daß
ich begierig seyn würde die Ursachen zu wissen, welche einen
Vater, der mich mit so vielem Vergnügen für seinen Sohn
erkannte, hatten bewegen können, diesen Sohn so viele Jahre
von sich verbannt zu halten: so gab er mir hierüber alle Erläuterungen
die ich nur wünschen konnte, durch eine umständliche
Erzählung der Geschichte seiner Liebe zu meiner
Mutter.Seine Bekanntschaft mit ihr hatte sich zufälliger Weise in
einem Alter angefangen, worin er noch gänzlich unter der
väterlichen Gewalt stand. Sein Vater war das Haupt eines
von den edelsten Geschlechtern in Athen. Meine Mutter war,
sehr jung, sehr schön, und eben so tugendhaft als schön, unter
der Aufsicht einer alten Frau, die sich ihre Mutter nannte,
dahin gekommen. Die strenge Eingezogenheit, worin sie
kümmerlich von ihrer Handarbeit lebte, verwahrte die junge
Musarion vor den Augen und vor den Nachstellungen der
müßigen reichen Jünglinge, welche gewohnt sind, junge
Mädchen, die keinen andern Schutz als ihre Unschuld, und
keinen andern Reichthum als ihre Reizungen haben, für ihre
natürliche Beute anzusehen. Dem ungeachtet konnte sie nicht
verhindern zufälliger Weise meinem Vater bekannt zu werden,
der sich durch seine Sitten von den meisten jungen Athenern
seiner Zeit unterschied. Sein tugendhafter Charakter schützte
ihn nicht gegen die Reizungen der jungen Musarion; aber er
machte daß seine Liebe die Eigenschaft seines Charakters annahm:
sie war tugendhaft, bescheiden, und eben dadurch
stärker und dauerhafter. Sein Stand, sein guter Ruf, sein
zurückhaltendes Betragen gegen den Gegenstand seiner Liebe
gaben zusammen genommen einen Beweggrund ab, der die
Nachsicht entschuldigen konnte, womit die Alte seine geheimen
Besuche duldete. Nichts kann natürlicher seyn, als eine geliebte
Person dem Mangel nicht ausgesetzt sehen zu können:
aber nichts ist auch in den Augen der Welt zweideutiger, als
die Freigebigkeit eines jungen Mannes gegen ein Mädchen,
welches das Unglück hat durch seine Annehmlichkeiten den
Neid und durch seine Armuth die Verachtung des großen
Haufens zu erregen. Man kann sich nicht bereden, daß in
einem solchen Falle derjenige, welcher gibt, nicht eigennützige
Absichten habe, oder diejenige, welche annimmt, ihre Dankbarkeit
nicht auf Unkosten ihrer Unschuld beweise. Stratonikus
gebrauchte zwar die äußerste Vorsichtigkeit, um die Wohlthaten,
womit er diese kleine Familie von Zeit zu Zeit unterstützte,
vor aller Welt und vor ihnen selbst zu verbergen. Allein sie
entdeckten doch zuletzt ihren unbekannten Wohlthäter; und
diese neuen Proben seiner edelmüthigen Sinnesart vollendeten
den Eindruck, den er schon lange auf das unerfahrne Herz der
zärtlichen Musarion gemacht hatte, und gewannen es ihm
gänzlich. Niemals würde die Liebe, von der innigsten Gegenliebe
erwiedert, zwei Herzen glücklicher gemacht haben, wenn
die Umstände der jungen Schönen einer gesetzmäßigen Vereinigung
nicht Schwierigkeiten in den Weg gelegt hätten, welche
ein jeder anderer als ein Liebhaber für unüberwindlich gehalten
hätte. Endlich war Stratonikus so glücklich zu entdecken, daß
seine Geliebte wirklich eine Athenische Bürgerin sey, die Tochter
eines rechtschaffenen Mannes, welcher im Peloponnesischen
Kriege sein Leben auf eine rühmliche Art verloren hatte. Nunmehr
wagte er es, seinem Vater das Geheimniß seiner Liebe
zu entdecken. Er wandte alles an, seine Einwilligung zu erhalten:
aber der Alte, der die Reizungen und Tugenden der
jungen Musarion für keinen genugsamen Ersatz des Reichthums,
der ihr fehlte, ansah, blieb unerbittlich. Stratonikus liebte
zu inbrünstig, um dem Befehl, nicht weiter an seine Geliebte
zu denken, gehorsam zu seyn. Er würde sich selbst für den
Unwürdigsten unter den Menschen gehalten haben, wenn er
fähig gewesen wäre ihr das geringste von seinen Empfindungen
zu entziehen. Die Widerwärtigkeiten und Hindernisse, womit
seine Liebe kämpfen mußte, thaten vielmehr die entgegengesetzte
Wirkung: sie concentrirten das Feuer ihrer gegenseitigen
Zuneigung, und bliesen eine Flamme, welche, so lange sie
von Hoffnung genährt wurde, drei Jahre sanft und rein fortgebrannt
hatte, zu der heftigsten Leidenschaft an. Das Herz
ermüdet endlich durch den langen Kampf mit seinen süßesten
Regungen: es verliert die Kraft zu widerstehen; und je länger es
unter den Qualen einer zugleich verfolgten und unbefriedigten
Liebe geseufzet hat, je heftiger sehnet es sich nach einer Glückseligkeit,
wovon ein einziger Augenblick genug ist, das Andenken
aller ausgestandenen Leiden auszulöschen, das Gefühl
der gegenwärtigen zu ersticken, und die Augen, benebelt
von der süßen Trunkenheit der glücklichen Liebe, gegen alle
künftige Noth blind zu machen. Außer diesem hatte Musarion
noch den Beweggrund einer Dankbarkeit, von deren drückender
Last ihr Herz sich zu erleichtern suchte. Kurz, sie schworen
einander ewige Treue, überließen sich dem sympathetischen
Verlangen ihres Herzens, und bedienten sich der Gewalt, die
ihnen die Liebe gab, einander glücklich zu machen. Die Glückseligkeit,
welche eines dem andern zu danken hatte, unterhielt
und befestigte die zärtliche Vereinigung ihrer Herzen, anstatt
sie zu schwächen oder gar aufzulösen; denn noch niemals ist
der Genuß das Grab der wahren Zärtlichkeit gewesen. Ich
schöne Danae, war die erste Frucht ihrer Liebe. Glücklicher
Weise fiel meinem Vater eben damals durch den letzten Willen
eines Oheims ein kleines Vorwerk auf einer von den Inseln
zu, weiche unter der Botmäßigkeit der Athener stehen. Dieses
mußte meiner Mutter zur Zuflucht dienen. Ich wurde daselbst
geboren, und genoß drei Jahre lang ihrer eigenen Pflege; bis
sie mir durch eine Schwester entzogen wurde, deren Leben der
liebenswürdigen Musarion das ihrige kostete. Stratonikus
hatte inzwischen manchen Versuch gemacht das Herz seines
Vaters zu erweichen; aber allemal vergebens. Es blieb ihm
also nichts übrig, als seine Verbindung mit meiner Mutter
und die Folgen derselben geheim zu halten. Ihr frühzeitiger Tod
vernichtete die Entwürfe von Glückseligkeit, die er für die
Zukunft gemacht hatte, ohne die zärtliche Treue, die er ihrem
Andenken widmete, zu schwächen. Die Sorge für das, was
ihm von ihr übrig geblieben war, hielt ihn zurück, sich einer
Traurigkeit völlig zu überlassen, welche ihn lange Zeit gegen
alle Freuden des Lebens gleichgültig und zu allen Beschäftigungen
desselben verdrossen machte. Der Tempel zu Delphi schien
ihm der tauglichste Ort zu seyn, mich zu gleicher Zeit zu verbergen
und einer guten Erziehung theilhaftig zu machen. Er
hatte Freunde daselbst, denen ich besonders empfohlen wurde,
mit dem gemessensten Auftrag, mich in einer gänzlichen Unwissenheit
über meinen Ursprung zu lassen. Sein Vorsatz war,
sobald der Tod seines Vaters ihn zum Meister über sich selbst
und seine Güter gemacht haben würde, mich abzuholen und
nach Athen zu bringen, wo er seine Verbindung mit meiner
Mutter bekannt machen und mich öffentlich für seinen Sohn
und Erben erklären wollte. Aber dieser Zufall erfolgte erst
wenige Monate vor meiner Flucht, und seit demselben hatten
ihn dringende Geschäfte genöthiget, meine Abholung aufzuschieben.Nachdem mein Vater diese Erzählung geendigt hatte, ließ
er einen alten Freigelassenen zu sich rufen, und fragte ihn: ob
er den kleinen Agathon kenne, den er vor vierzehn Jahren dem
Schutze des Delphischen Apollo überliefert habe? Der gute
Alte, dessen Züge mir selbst nicht unbekannt waren, erkannte
mich desto leichter, da er binnen dieser Zeit von seinem Herrn
öfters nach Delphi abgeschickt worden war, sich meines Wohlbefindens
zu erkundigen. In wenigen Augenblicken wurde
das ganze Haus mit allgemeiner Freude erfüllt. Die Zufriedenheit
meines Vaters über mich, und das Vergnügen, womit
alle seine Hausgenossen mich als den einzigen Sohn ihres
Herrn bewillkommten, machte die Freude vollkommen, die ich
bei einem so plötzlichen Uebergang von dem Elend eines sich
selbst unbekannten, nackten, allen Zufällen des Schicksals Preis
gegebenen Flüchtlings zu einem so blendenden Glücksstande
nothwendig empfinden mußte. Blendend hätte er wenigstens
für manchen andern seyn können, der durch die Art seiner Erziehung
weniger als ich vorbereitet gewesen wäre, einen solchen
Wechsel mit Bescheidenheit zu ertragen. Inzwischen bin ich
mir selbst die Gerechtigkeit schuldig, zu sagen, daß die Versicherung,
ein Bürger von Athen, und durch meine Geburt
und die Tugend meiner Voreltern zu Verdiensten und schönen
Thaten berufen zu seyn, mir ungleich mehr Vergnügen machte,
als der Anblick der Reichthümer, welche die Gütigkeit meines
Vaters mit mir zu theilen so begierig war, und welche in
meinen Augen nur dadurch einen Werth erhielten, weil sie
mir das Vermögen zu geben schienen, desto freier und vollkommener
nach meinen Grundsätzen leben zu können.Ich unterhielt mich nun mit einer neuen Art von Träumen,
die durch ihre Beziehung auf meine neu entdeckten Verhältnisse
für mich so wichtig, als durch ihre Ausführung eben so viele
Wohlthaten für das menschliche Geschlecht zu seyn schienen.
Solltest du denken, daß ich mit nichts Geringerem umging, als
mit Entwürfen, wie die erhabenen Lehrsätze meiner idealischen
Sittenlehre auf die Einrichtung und Verwaltung eines gemeinen
Wesens angewandt werden könnten? — Diese Betrachtungen,
welche einen guten Theil meiner Nächte wegnahmen,
erfüllten mich mit dem lebhaftesten Eifer für ein Vaterland,
welches ich nur aus Geschichtsschreibern kannte. Ich zeichnete
mir selbst auf den Fußstapfen der Solonen und Aristiden einen
Weg aus, bei welchem ich an keine andern Hindernisse dachte,
als an solche, die durch Muth und Tugend zu überwinden sind.
Dann setzte ich mich in meiner patriotischen Entzückung an das
Ende meiner Laufbahn, und sah in Athen nichts Geringeres als
die Hauptstadt der Welt, die Gesetzgeberin der Nationen, die
Mutter der Wissenschaften und Künste, die Königin des Meers,
den Mittelpunkt der Vereinigung des ganzen menschlichen Geschlechtes.
Kurz, ich machte ungefähr eben so chimärische und
eben so ungeheure Projecte als Alcibiades; nur mit dem sehr
wesentlichen Unterschied, daß nicht Eitelkeit und Ehrsucht, sondern
ein von Güte und allgemeiner Wohlthätigkeit beseeltes
Herz die Quelle der meinigen war. Sie hatten noch dieses
Besondere, daß ihre Ausführung (die moralische Möglichkeit
derselben vorausgesetzt) keiner Mutter eine Thräne, und
keinem Menschen in der Welt mehr als die Aufopferung seiner
Vorurtheile und solcher Leidenschaften, welche die Ursache alles
Privatelends sind, gekostet haben würde. Ihre Ausführung
schien mir also, weil ich mir die Hindernisse nur einzeln und
nicht in ihrem Zusammenhang und vereinigten Gewichte vorstellte,
so leicht zu seyn, daß ich mich über nichts so sehr wunderte,
als wie ein Perikles, unter den kleinfügigen Bemühungen,
Athen zur Meisterin von Griechenland zu machen, habe
übersehen können, wie viel leichter es sey, es zum Tempel
eines ewigen Friedens und der allgemeinen Glückseligkeit der
Welt zu machen.Diese schönen Entwürfe gaben etliche Mal den Stoff zu
den Unterredungen ab, womit ich meinen Vater des Abends
die Zeit zu verkürzen pflegte. Die Lebhaftigkeit meiner Einbildungskraft
schien ihn eben so sehr zu belustigen, als sein
Herz, dessen Ebenbild er in dem meinigen erkannte, sich an den
tugendhaften Gesinnungen vergnügte, die er, wie ich selbst (vielleicht
beide ein wenig zu parteiisch), für die Triebfedern meiner
politischen Träume hielt. Alles, was er mir von den Schwierigkeiten
ihrer Ausführung sagen konnte, überzeugte mich so
wenig, als einen Verliebten die Einwendungen eines kaltblütigen
Freundes überzeugen werden. Ich hatte eine Antwort für
alle; und dieser neue Schwung, den mein Enthusiasmus bekommen
hatte, wurde bald so stark, daß ich es kaum erwarten konnte,
mich in Athen und in solchen Umständen zu sehen, daß ich die
erste Hand an das große Werk, wozu ich gewidmet zu seyn
glaubte, lesen könnte.—————
Achtes Buch.Fortsetzung der Erzählung Agathons, von seiner Versetzung
nach Athen bis zu seiner Bekanntschaft mit
Danae.Erstes Capitel.Agathon kommt nach Athen, und widmet sich der Republik. Eine
Probe der besondern Natur desjenigen Windes, welcher von Horaz
aura popularis genannt wird.Mein Vater hielt sich nur so lange zu Korinth auf, als
es seine Geschäfte erforderten, und eilte, mich in dieses Athen
zu versetzen, welches sich meiner verschönernden Einbildung in
einem so herrlichen Lichte darstellte.Ich gestehe dir, Danae (und ich hoffe die fromme Pflicht
gegen meine Vaterstadt nicht dadurch zu beleidigen), daß der
erste Anblick mit dem, was ich erwartete, einen starken Absatz
machte. Mein Geschmack war zu sehr verwöhnt, um das
Mittelmäßige, worin es auch seyn möchte, erträglich zu finden.
Er wollte gleichsam alles in diese feine Linie eingeschlossen
sehen, in welcher das Erhabene mit dem Schönen zusammen
fließt: und wenn er diese Vollkommenheit an einzelnen Theilen
gewahr wurde, so wollte er, daß alles zusammen stimmen
und ein sich selbst durchaus ähnliches, symmetrisches Ganzes
ausmachen sollte. Von diesem Grade der Schönheit war Athen,
so wie vielleicht jede andere Stadt in der Welt, noch weit entfernt.
Indessen hatte sie doch der gute Geschmack und die
Verschwendung des Perikles, mit Hülfe der Phidias, der Alkamenes
und andrer großer Meister, in einen solchen Stand gestellt,
daß sie mit den prächtigsten Städten der Welt um den
Vorzug streiten konnte. Wenigstens sah ich bald, daß die Ergänzung
dessen, was ihr von dieser Seite noch abging, der
leichteste Theil meiner Entwürfe, und eine natürliche Folge
derjenigen Veranstaltungen seyn werde, welche sie, meiner
Einbildung nach, zum Mittelpunkt der Stärke und der Reichthümer
des ganzen Erdbodens machen sollten.Sobald wir in Athen angekommen waren, ließ mein
Vater seine erste Sorge seyn, mich auf eine gesetzmäßige Art
für seinen Sohn zu erkennen, und unter die Athenischen Bürger
aufnehmen zu lassen. Dieß machte mich eine Zeit lang zu
einem Gegenstande der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die
Athener sind, wie dir nicht unbekannt ist, mehr als irgend ein
andres Volk in der Welt, geneigt, sich plötzlich mit der äußersten
Lebhaftigkeit für oder wider etwas einnehmen zu lassen.
Ich hatte das Glück ihnen beim ersten Anblick zu gefallen.
Die Begierde mich zu sehen und Bekanntschaft mit mir zu
machen, wurde eine Art von epidemischer Leidenschaft unter
Jungen und Alten. Jene machten in kurzem einen glänzenden
Hof um mich, und diese faßten Hoffnungen von mir, welche
mich unvermerkt mit einem geheimen Stolz erfüllten, und die
allzuhochfliegende Meinung, die ich ohnehin geneigt war von
meiner Bestimmung zu fassen, bestätigten. Dieser subtile
Stolz, der sich hinter meine besten Neigungen und tugendhaftesten
Gesinnungen verbarg, und dadurch meinem Bewußtseyn
sich entzog, benahm mir nichts von einer Bescheidenheit, wodurch
ich von den meisten jungen Leuten meiner Gattung mich
zu unterscheiden schien. Ich gewann dadurch, nebst der allgemeinen
Hochachtung des geringern Theils des Volkes, den
Vortheil, daß die Vornehmsten, die Weisesten und Erfahrensten
mich gern um sich haben mochten, und mir durch ihren Umgang
eine Menge besonderer Kenntnisse mittheilten, welche
meinem frühzeitigen Auftritt in der Republik sehr zu Statten
kamen. Die Reinigkeit meiner Sitten, der gute Gebrauch den
ich von meiner Zeit machte, der Eifer womit ich mich zum
Dienste meines Vaterlandes vorbereitete, die fleißige Besuchung
der Gymnasien, die Preise die ich in den Uebungen davon trug;
alles vereinigte sich, das günstige Vorurtheil zu unterhalten,
welches man einmal für mich gefaßt hatte. Da mir überdieß
noch die Verdienste meines Vaters und einer langen Reihe
von Voreltern den Weg zur Republik bahnten, so war es kein
Wunder, daß ich in einem Alter, worin die meisten Jünglinge
nur mit ihren Vergnügungen beschäftigt sind, den Muth hatte,
in den öffentlichen Versammlungen aufzutreten, und das Glück,
mit einem Beifall aufgenommen zu werden, der mich in Gefahr
setzte, eben so schnell als ich emporgehoben wurde, entweder
durch meine eigene Vermessenheit oder durch den Neid
meiner Nebenbuhler, wieder gestürzt zu werden.Die Beredsamkeit ist in Athen, wie in allen Freistaaten
wo das Volk Antheil an der öffentlichen Verwaltung hat, der
nächste Weg zu Ehrenstellen, und das gewisseste Mittel sich
auch ohne dieselben Ansehen und Einfluß zu verschaffen. Ich
ließ es mir also sehr angelegen seyn, die Geheimnisse einer
Kunst zu studieren, von deren Ausübung, und dem Grade der
Geschicklichkeit, den ich mir darin erwerben würde, die glückliche
Ausführung aller meiner Entwürfe abzuhangen schien.
Denn wenn ich bedachte, wozu Perikles und Alcibiades die
Athener zu bereden gewußt hatten: so zweifelte ich keinen
Augenblick, daß ich sie, mit einer gleichen Gesetzlichkeit, zu
Maßnehmungen würde überreden können, welche außerdem
daß sie an sich selbst edler waren) zu weit glänzendern Vortheilen
führten, ohne so ungewiß und gefährlich zu seyn.In dieser Absicht besuchte ich die Schule des Platon, welcher
damals zu Athen in seinem höchsten Ansehen stand, und,
indem er die Weisheit des Sokrates mit der Beredsamkeit
eines Gorgias und Prodikus vereinigte, nach dem urtheil meiner
alten Freunde, weit geschickter als diese Wortkünstler war,
einen Redner zu bilden, welcher mehr durch die Stärke der
Wahrheit, als durch die Blendwerke und Kunstgriffe einer
hinterlistigen Dialektik, sich die Gemüther seiner Zuhörer unterwerfen
wollte. Der vertrautere Zutritt, den mir dieser berühmte
Weise vergönnte, entdeckte eine so große Uebereinstimmung
meiner Denkungsart mit seinen Grundsätzen, daß die
Freundschaft, die ich für ihn faßte, sich in eine fast schwärmerische
Leidenschaft verwandelte. Sie würde mir in den Augen
der Welt schädlich gewesen seyn, wenn man damals schon so
von ihm gedacht hätte, wie man dachte, nachdem er durch die
Bekanntmachung seiner metaphysischen Dialogen bei den Staatsleuten,
und selbst bei vielen die seine Bewunderer gewesen
waren, den Vorwurf, welchen Aristophanes ehemals (wiewohl
höchst unbillig) dem weisen Sokrates machte, sich mit besserm
Grund oder mehr Scheinbarkeit zugezogen hatte. Aber damals
hatte Plato weder seinen Timäus noch seine Republik geschrieben.
Indessen existirte diese letztere doch bereits in seinem
Gehirne. Sie gab sehr oft den Stoff zu unsern Gesprächen
in den Spaziergängen der Akademie ab; und er bemühete sich
desto eifriger, mir seine Begriffe von der besten Art die menschliche
Gesellschaft einzurichten und zu regieren, eigen zu machen,
da er das Vergnügen zu haben hoffte, sie durch mich in einigem
Grade realisirt zu sehen.Sein Eifer in diesem Stücke mag so groß gewesen seyn
als er will, so war er doch gewiß nicht größer, als meine
Begierde dasjenige auszuüben, was er speculirte. Allein, da
meine Vorstellung von der Wichtigkeit der Pflichten eines
Staatsmannes der Lauterkeit und innerlichen Güte meiner
Absichten angepaßt war, und ich desto weiter von Ehrsucht
und andern eigennützigen Leidenschaften entfernt zu seyn glaubte,
je gewisser ich (wenn ich es für erlaubt gehalten hätte, bei der
Wahl einer Lebensart bloß meine Privatneigung zu folgen)
eine von städtischem Getümmel entfernte Freiheit und den Umgang
mit den Musen der Ehre, eine ganze Welt zu beherrschen,
vorgezogen hätte: so glaubte ich mich nicht genug vorbereiten
zu können, eh' ich auf einem Theater erschiene, wo der erste
Auftritt gemeiniglich das Glück des ganzen Schauspiels
entscheidet. Ich widerstand bei etlichen Gelegenheiten, welche
mich aufzufordern schienen, sowohl dem Zudringen meiner
Freunde als meiner eigenen Neigung; wiewohl es (seitdem
Alcibiades mit so gutem Erfolg den Anfang gemacht hatte)
nicht an jungen Leuten fehlte, welche —ohne durch andre Talente,
als die Geschicklichkeit ein Gastmahl anzuordnen, sich
zierlich zu kleiden, zu tanzen und die Cither zu spielen, bekannt
zu seyn —vermessen genug waren, nach einer durchgeschwärmten
Nacht aus den Armen einer Buhlerin in die Versammlung
des Volks zu hüpfen, und, von Salben triefend, mit
einer tändelhaften Geschwätzigkeit über die Gebrechen des Staats
und die Fehler der öffentlichen Verwaltung zu plaudern.Endlich ereignete sich ein Fall, wo das Interesse eines
Freundes, den ich vorzüglich liebte, alle meine Bedenklichkeiten
überwog. Eine mächtige Cabale hatte seinen Untergang geschworen.
Er war unschuldig; aber die Anscheinungen waren
gegen ihn. Die Gemüther waren wider ihn eingenommen;
und die Furcht, sich den Unwillen seiner Feinde zuzuziehen,
hielt die Wenigen, welche besser von ihm dachten, zurück, sich
seiner öffentlich anzunehmen. In diesen Umständen stellte ich
mich als seinen Vertheidiger dar. Da ich von seiner Unschuld
überzeugt war, so wirkten alle diese Betrachtungen, wodurch
sich seine übrigen Freunde abschrecken ließen, bei mir gerade
das Widerspiel. Ganz Athen wurde aufmerksam, da es bekannt
wurde, daß Agathon, des Stratonikus Sohn, auftreten würde,
die Sache des schon zum voraus verurtheilten Lysias zu führen.
Die Zuneigung, welche das Volk zu mir trug, veränderte auf
einmal die Meinung, die man von dieser Sache gefaßt hatte.
Die Athener fanden eine Schönheit, von der sie ganz bezaubert
wurden, in der Großmuth und Herzhaftigkeit, womit ich (wie
sie sagten) mich für einen Freund erklärte, den alle Welt verlassen
und der Wuth und Uebermacht seiner Feinde Preis gegeben
hätte. Man that nun die eifrigsten Gelübde, daß ich den
Sieg davon tragen möchte; und der Enthusiasmus. womit
einer den andern ansteckte, wurde so groß, daß die Gegenpartei
sich genöthiget sah, den Tag der Entscheidung weiter hinaus zu
setzen, um die erhitzten Gemüther sich wieder abkühlen zu lassen.
Sie sparten inzwischen keine Kunstgriffe sich des Ausgangs zu
versichern; allein der Erfolg vereitelte alle ihre Maßnehmungen.
Die Zujauchzungen, womit ich von einem großen Theile des
Volkes empfangen wurde, munterten mich auf. Ich sprach
mit einem gesetztern Muth, als man von einem Jüngling
erwarten konnte, der zum ersten Male vor einer so zahlreichen
und Ehrfurcht gebietenden Versammlung redete, und vor einer
Versammlung, wo der geringste Handwerksmann sich für einen
Kenner und rechtmäßigen Richter der Beredsamkeit hielt, und
vielleicht auch dafür gelten konnte. Die Wahrheit that auch
hier die Wirkung, welche sie allemal thut, wenn sie in ihrem
eigenen Lichte und mit derjenigen Lebhaftigkeit, so die eigene
Ueberzeugung des Redners gibt, vorgetragen wird: sie überwältigte
alle Gemüther. Lysias wurde losgesprochen, und Agathon,
der nunmehr der Held der Athener war, im Triumphe
nach Hause begleitet.Von dieser Zeit an erschien ich oft in den öffentlichen Versammlungen.
Die Liebe meiner Mitbürger, und der Beifall,
der mir, so oft ich redete, entgegen flog, machten mir Muth,
nun auch an den allgemeinen Angelegenheiten Theil zu nehmen.
Das Glück schien beschlossen zu haben, mich nicht eher zu verlassen,
bis es mich auf den Gipfel der republicanischen Größe
erhoben hätte. Ich machte also in dieser neuen Laufbahn so
schnelle Schritte, daß in kurzem die Gunst, worin ich bei dem
Volke stand, dem Ansehen der Mächtigsten zu Athen das
Gleichgewicht hielt. Meine heimlichen Feinde selbst sahen sich,
um dem Volk angenehm zu seyn, genöthigt, öffentlich die Zahl
meiner Bewunderer zu vermehren.Der Tod meines Vaters, der um diese Zeit erfolgte, beraubte
mich eines Freundes und Führers, dessen Klugheit mir
in dem gefahrvollen Ocean des politischen Lebens unentbehrlich
war. Ich wurde dadurch in den Besitz eines großen Vermögens
gesetzt, bei welchem er dem Neide seiner Mitbürger
nur durch die große Bescheidenheit, womit er es gebrauchte,
entgangen war. Ich war nicht so vorsichtig. Zwar der Gebrauch,
den ich davon machte, war an sich selbst edel und löblich:
ich verschwendete es um Gutes zu thun. Ich unterstützte
alle Arten von Bürgern, welche ohne ihre Schuld in Unglück
gerathen waren. Mein Haus war der Sammelplatz der Gelehrten,
der Künstler und der Fremden. Mein Vermögen
stand jedem zu Diensten, der dessen benöthiget war. Aber
eben dieß war es, was in der Folge meinen Fall beförderte.
Man würde mir eher zu gut gehalten haben, wenn ich es mit
Gastmählern, mit Buhlerinnen und mit einer steten Abwechslung
prächtiger und ausschweifender Lustbarkeiten durchgebracht
hätte.Indessen stand es doch eine geraume Zeit an, bis die
Eifersucht, welch ich durch eine solche Lebensart in den Gemüthern
der Angesehensten erregte, sich sichtbare Ausbrüche erlauben
durfte. Das Volk, welches mich vorhin geliebt hatte,
fing nun an mich zu vergöttern. Der Ausdruck, den ich hier
gebrauche, ist nicht zu stark. Denn da ein gewisser Dichter, der
sich meines Tisches zu bedienen pflegte, sich einst einfallen
ließ, in einem großen und elenden Gedichte mir den Apollo
zum Vater zu geben: so fand diese lächerliche Schmeichelei
bei dem Pöbel (dem ohnehin das Wunderbare allemal besser
als das Natürliche einleuchtet) so großen Beifall, daß sich
nach und nach eine Art von Sage befestigte, welche meiner
Mutter die Ehre beilegte, den Gott zu Delphi für ihre Reizungen
empfindlich gemacht zu haben. So ausschweifend dieser
Wahn war, so wahrscheinlich schien er meinen Gönnern
aus der untersten Classe. Dadurch allein glaubten sie die
außerordentlichen Vollkommenheiten, die sie mir zuschrieben,
erklären, und die ungereimten Hoffnungen, welche sie sich von
mir machten, rechtfertigen zu können. Denn das Vorurtheil
des großen Haufens ging weit genug, daß viele öffentlich sagten:
Athen könne durch mich allein zur Gebieterin des Erdbodens
gemacht werden, und man könne nicht genug eilen,
mir eine einzelne und unumschränkte Gewalt zu übertragen.
Eine Sache, von welcher sie sich nichts Geringeres als die Wiederkehr
der goldenen Zeit, die gänzliche Aufhebung des verhaßten
Unterschieds zwischen Armen und Reichen, und einen
seligen Müßiggang mitten unter allen Wollüsten und Ergötzlichkeiten
des Lebens versprachen.Bei diesen Gesinnungen, womit in größerm oder kleinerm
Grade der Schwärmerei das ganze Volk zu Athen für mich
eingenommen war, brauchte es nur eine Gelegenheit, um
sie dahin zu bringen, die Gesetze selbst zu Gunsten ihres
Lieblings zu überspringen. Diese zeigte sich, da Euböa und
einige andre Inseln sich des Joches, welches ihnen die Athener
aufgelegt hatten, zu entledigen, einen Aufstand erregten,
worin sie von den Spartanern heimlich unterstützt wurden.
Man konnte (die unzulängliche Theorie, welche man zu Hause
erwerben kann, ausgenommen) des Kriegswesens nicht unerfahrner
seyn als ich es war. Ich hatte das Alter noch nicht
erreicht, welches die Gesetze zu Bekleidung eines öffentlichen
Amtes erforderten. Wir hatten keinen Mangel an geschickten
und geübten Kriegsleuten. Ich selbst wandte mein ganzes
Ansehen an, um einen davon, den ich seines sittlichen Charakters
wegen vorzüglich hochschätzte, zum Feldherrn gegen die
Empörten erwählen zu machen. Aber das alles half nichts
gegen die warme Einbildungskraft des lebhaftesten und leichtsinnigsten
Volks in der Welt. Agathon, welchem man alle
Talente zutraute, und von welchem man sich berechtigt hielt
Wunder zu erwarten, war allein tauglich die Ehre des Athenischen
Namens zu behaupten, und den hochfliegenden Träumen
der politischen Müßiggänger zu Athen (die bei diesem
Anlaß in die Wette eiferten, wer die lächerlichsten Projecte
machen könne) Wirklichkeit zu geben. Diese Art von Leuten
war so geschäftig, daß es ihnen gelang, den größten Theil
des Volks mit ihrer Thorheit anzustecken. Jede Nachricht,
daß sich wieder eine andere Insel aufzulehnen anfange, verursachte
eine allgemeine Freude. Man würde es gern gesehen
haben, wenn das ganze Griechenland an dieser Sache Antheil
genommen hätte. Auch fehlte es nicht an Zeitungen, welche
das Feuer größer machten als es war, und endlich sogar den
König von Persien in den Aufstand von Euböa verwickelten;
alles bloß um dem Agathon einen desto größern Schauplatz
zu geben, die Athener durch Heldenthaten zu belustigen und
durch Eroberungen zu bereichern. Ich wurde also, so sehr ich
mich sträubte, mit unumschränkter Gewalt über die Armee,
über die Flotten und über die Schatzkammer, zum Feldherrn
gegen die abtrünnigen Inseln ernannt.—————
Zweites Capitel.Agathons Glück und Ansehn in der Republik erreicht seinen höchsten
Gipfel.Da ich einmal genöthigt war dem Eigensinn meiner Mitbürger
nachzugeben: so beschloß ich, es mit einer guten Art zu
thun, und die Sache von derjenigen Seite anzusehen, welche
mir eine erwünschte Gelegenheit zu geben schien, den Anfang
zur Ausführung meiner eigenen Entwürfe zu machen. Ich
wußte, daß die Insulaner gerechte Klagen gegen Athen zu
führen hatten. Wie hätten sie eine Regierung lieben können,
von der sie unterdrückt, ausgesogen und mit Füßen getreten
wurden? Ich gründete also meinen ganzen Plan ihrer Beruhigung
und Wiederbringung — auf den Weg der Güte, auf
Abstellung der Mißbräuche, wodurch sie erbittert worden
waren, auf eine billige Mäßigung der Abgaben, welche man,
gegen ihre Freiheiten und über ihr Vermögen, von ihnen erpreßt
hatte, und auf ihre Wiedereinsetzung in alle Rechte und Vortheile,
deren sie sich als Griechen und als Bundsgenossen, vermöge
vieler besondern Verträge, zu erfreuen haben sollten.
Allein ehe ich von Athen abreisen konnte, war es nöthig, die
Gemüther vorzubereiten, und auf einen Ton zu stimmen, der
mit meinen Grundsätzen und Absichten überein käme; desto
nöthiger, da ich sah, wie lebhaft die ausschweifenden Projecte,
womit die Eitelkeit des Alcibiades sie ehmals bezaubert hatte,
bei dieser Gelegenheit wieder aufgewacht waren.Ich versammelte also das Volk, und wandte alle Kräfte
der Redekunst, welche bei keinem Volke der Welt so viel vermag
als bei den Athenern, dazu an, sie von der Gründlichkeit
meiner Entwürfe zu überzeugen, wiewohl ich sie nur so viel
davon sehen ließ, als zu Erreichung meiner Absicht nöthig
war. Nachdem ich ihnen die Größe und den Wohlstand, wozu
die Republik, vermöge ihrer natürlichen Vortheile und innerlichen
Stärke, gelangen könne, mit den reizendesten Farben
abgemalt hatte, bemühte ich mich zu beweisen: "daß weitläufige
Eroberungen (außer der Gefahr, womit sie durch die
Unbeständigkeit des Kriegsglücks verbunden sind) den Staat
endlich nothwendiger Weise unter der Last seiner eigenen
Größe erdrücken müßten. Daß es einen weit sicherern und
kürzern Weg gebe, Athen zur Königin des Erdbodens zu machen,
weil allezeit diejenige Nation den übrigen Gesetze vorschreiben
werde, welche zu gleicher Zeit die klügste und die
reichste sey. Daß der Reichthum allezeit Macht gebe, so wie
die Klugheit den rechten Gebrauch der Macht lehre. Daß
Athen in beidem allen andern Völkern überlegen seyn werde,
wenn sie auf der einen Seite fortfahre die Pflegemutter der
Wissenschaften und der Künste zu seyn, auf der andern alle
ihre Bestrebungen darauf richte, die Herrschaft über das Meer
zu behaupten; nicht in der Absicht Eroberungen zu machen,
sondern sich in eine solche Achtung bei den Auswärtigen zu setzen,
daß jedermann ihre Freundschaft suche, und niemand es wagen
dürfe ihren Unwillen zu reizen. Daß für einen am Meere
gelegenen Freistaat ein gutes Vernehmen mit allen übrigen
Völkern, und eine so weit als möglich ausgebreitete Handelschaft,
der natürliche und unfehlbare Weg sey, nach und nach
zu einer Größe zu gelangen, deren Ziel nicht abzusehen sey;
daß aber hierzu die Erhaltung seiner eigenen Freiheit, und
zu dieser die Freiheit aller übrigen, sonderheitlich der benachbarten,
oder wenigstens ihre Erhaltung bei ihrer alten und
natürlichen Form und Verfassung, nöthig sey. Daß Bündnisse
mit den Nachbarn, und eine Freundschaft, wobei sie eben
sowohl ihren Vortheil finden als wir den unsrigen, einem solchen
Staate weit mehr Macht, Ansehen und Einfluß auf die
allgemeine Verfassung des politischen Systems der Welt geben
müßten, als die Unterwerfung derselben; weil ein Freund allezeit
mehr werth ist als ein Sklave. Daß die Gerechtigkeit der
einzige Grund der Macht und Dauer eines Staats, so wie
das einzige Band der menschlichen Gesellschaft sey. Daß diese
Gerechtigkeit fordre, eine jede politische Gesellschaft (sie möge
groß oder klein seyn) als unsersgleichen anzusehen, und ihr
eben die Rechte zuzugestehen, welche wir für uns selbst fordern;
und daß ein nach diesen Grundsätzen eingerichtetes Betragen
das gewisseste Mittel sey, sich allgemeines Zutrauen zu erwerben,
und, anstatt einer gewaltsamen, mit allen Gefahren der
Tyrannei verknüpften Oberherrschaft, ein freiwillig eingestandenes
Ansehen zu behaupten, welches in der That von allen
Vortheilen der erstern begleitet sey, ohne die verhaßte Gestalt
und schlimmen Folgen derselben zu haben."Nachdem ich alle diese Wahrheiten, in ihrer besondern Anwendung
auf Griechenland und Athen, in das stärkste Licht
gesetzt, und bei dieser Gelegenheit die Thorheit der Projecte
des Alcibiades und andrer eifersüchtiger Schwindelköpfe ausführlich
erwiesen hatte, bemühte ich mich darzuthun: "Daß
der Aufstand der Inseln, welche bisher unter dem Schutz der
Athener gestanden, in neueren Zeiten aber durch Schuld einiger
böser Rathgeber der Republik als unterworfene Sklaven
behandelt worden seyen, die glücklichste Gelegenheit anbiete, zu
gleicher Zeit das ganze Griechenland von der gerechten und
edelmüthigen Denkungsart der Athener zu überzeugen, und
durch eine ansehnliche Vermehrung der Seemacht (wovon die
Unkosten durch die größere Sicherheit und Erweiterung der
Handelschaft reichlich ersetzt wurden) sich in ein solches Ansehen
zu setzen, daß niemand jenes gelinde und großmüthige Verfahren,
mit dem mindesten Schein, einem Mangel an Vermögen
sich Genugthuung zu verschaffen, werde beimessen können."
Ich unterstützte diese Vorschläge mit allen den Gründen,
welche auf die warme Einbildungskraft meiner Zuhörer den
stärksten Eindruck machen konnten, und hatte das Vergnügen,
daß meine Rede mit dem lautesten Beyfall aufgenommen
wurde. In der That ließen sich die Athener eben so leicht
von Wahrheit und gesunden Grundsätzen einnehmen, als von
den Blendwerken einer falschen Staatskunst, wofern ihnen jene
nur in einem eben so reizenden Lichte gezeigt und mit eben so
lebhaften Farben vorgemalt wurden; auch war es ihnen ganz
gleichgültig, durch was für Mittel Athen zu der Größe, die
das Ziel aller ihrer Wünsche war, gelangen möchte, wenn es
nur dazu gelangte. Ja ein großer Theil der Bürger, dem der
Friede mehr Vortheil brachte als der Krieg, ließ sich's vielmehr
wohl gefallen, wenn dieses Ziel seiner Eitelkeit auf eine mit
seinem Privatnutzen mehr übereinstimmende Weise erhalten
werden könnte.Meine heimlichen Feinde, welche nicht zweifelten, daß
dieser Kriegszug auf eine oder andere Art Gelegenheit zu
meinem Falle geben würde, waren weit entfernt meinen
Maßnehmungen öffentlich zu widerstehen, aber (wie ich in
der Folge erfuhr) unter der Hand desto geschäftiger, ihren
natürlichen Erfolg zu hemmen, Schwierigkeiten aus Schwierigkeiten
hervor zu spinnen, und die mißvergnügten Insulaner
durch geheime Aufstiftungen übermüthig und zu billigen
Bedingungen abgeneigt zu machen. Die Verachtung, womit
man anfangs diesen Aufwand zu Athen angesehen hatte, das
anwesende Beispiel und die Ränke andrer Griechischen Städte,
welche die Obermacht der Athener mit eifersüchtigen Augen
ansahen, hatten zuwege gebracht, daß indessen auch die Attischen
Colonien und der größte Theil der Bundesgenossen kühn
genug worden waren, sich einer Unabhängigkeit anzumaßen,
deren schädliche Folgen sie sich selbst unter dem reizenden
Namen der Freiheit verbargen. Es war die höchste Zeit, einer
allgemeinen Empörung und Zusammenverschwörung gegen
Athen zuvorzukommen; und meine Landsleute —welche bei
Annäherung einer Gefahr, die ihnen in der Ferne nur Stoff
zu witzigen Einfällen gegeben hatte, sehr schnell von der leichtsinnigsten
Gleichgültigkeit zur übermäßigsten Kleinmüthigkeit
übergingen —vergrößerten sich selbst das Uebel so sehr, daß
ich genöthiget wurde unter Segel zu gehen, ehe die Zurüstungen
noch zur Hälfte fertig waren.Ich hatte die Vorsichtigkeit gebraucht, meinen Freund,
über welchen mir die Gunst des Volks einen so unbilligen
Vorzug gegeben hatte, als Unterbefehlshaber mitzunehmen.
Die Bescheidenheit, womit ich mich des Ansehens, welches
mir meine Commission über ihn gab, bediente, kam einer
Eifersucht zuvor, die den Erfolg unsrer Unternehmung hätte
vereiteln können. Wir handelten aufrichtig und ohne Nebenabsichten
nach einem gemeinschaftlich abgeredeten Plane, und
das Glück begünstigte uns so sehr, daß in weniger als zwei
Jahren alle Inseln, Colonien und Schutzverwandte der Athener
nicht nur beruhiget und in die Schranken zurück gebracht,
sondern durch die Abstellung alles dessen, wodurch sie unbilliger
Weise beschweret worden waren, und durch die Bestätigung
ihrer alten Freiheiten, mehr als jemals geneigt gemacht
wurden, unsre Freundschaft allen andern Verbindungen vorzuziehen.
In allem diesem folgte ich, ohne besondere Verhaltungsbefehle
einzuholen, meiner eigenen Denkungsart mit
desto größrer Zuversicht, da ich den ehmaligen Mißvergnügten
nichts zugestanden hatte, was sie nicht sowohl nach dem
Naturrecht als kraft älterer Verträge zu fordern vollkommen
berechtiget waren; hingegen durch diese Nachgiebigkeit neue und
sehr beträchtliche Vortheile für die Athener erkaufte: Vortheile,
die dem ganzen gemeinen Wesen zuflossen, anstatt daß
aller Nutzen von ihrer Unterdrückung lediglich in die Cassen
einiger Privatleute und ehmaligen Günstlinge des Volks geleitet
worden war.Ich kehrte also mit dem Vergnügen recht gethan zu haben,
mit dem Beifall und der lebhaftesten Zuneigung aller
Colonien und Bundesgenossen, und mit der vollen Zuversicht,
die Belohnung, die ich verdient zu haben glaubte, in der Zufriedenheit
meiner Mitbürger zu finden, an der Spitze einer
dreimal stärkern Flotte, als womit ich ausgelaufen war, nach
Athen zurück. Ich schmeichelte mir, daß ich mir durch eine
so schleunige Beilegung einer Unruhe, welche so weit aussehend
und gefährlich geschienen, einiges Verdienst um mein Vaterland
erworben hätte. Ich hatte aus unsern Feinden Freunde
und aus unsichern Unterthanen zuverlässige Bundesgenossen
gemacht, deren Treue desto weniger zweifelhaft schien, da
ihre Sicherheit und ihr Wohlstand durch unzertrennliche Bande
mit dem Interesse von Athen verknüpft worden war. Ich
hatte, des gemeinen Schatzes zu schonen, mein eignes Vermögen
zugesetzt, und durch mehr als hundert ausgerüstete
Galeeren, die ich von dem guten Willen der beruhigten Jnsulaner
erhielt, unsrer Seemacht eine ansehnliche Verstärkung
gegeben. Ich hatte das Ansehen der Republik befestiget, ihre
Neider abgeschreckt, und ihrer Handlung einen Ruhestand verschafft,
dessen Fortdauer nunmehr, wenigstens auf lange
Zeiten, bloß von unserm eigenen Betragen abhing. Das Vergnügen,
welches sich über mein Gemüth ausbreitete, wenn
ich alle diese Vortheile meiner Verrichtung überdachte, war so
lebhaft, daß ich mir, außer dem Beifall und Zutrauen meiner
Mitbürger, keine höhere Belohnung denken konnte. Aber die
Athener waren, im ersten Anstoß ihrer Erkenntlichkeit, keine
Leute, welche Maß zu halten wußten. Ich wurde im Triumph
eingeholt, und mit allen Arten von Ehrenbezeugungen in die
Wette überhäuft. Die Bildhauer mußten sich Tag und Nacht
an meinen Statuen müde arbeiten. Alle Tempel, alle öffentlichen
Plätze und Hallen wurden mit Denkmälern meines Ruhms
ausgeziert. Diejenigen, die in der Folge mit der größten
Hitze an meinem Verderben arbeiteten, waren itzt die eifrigsten,
übermäßige und zuvor nie erhörte Belohnungen vorzuschlagen,
welche das Volk, in dem Feuer seiner brausenden
Zuneigung, gutherziger Weise bewilligte, ohne daran zu denken,
daß mir diese Ausschweifungen seiner Hochachtung in
kurzem von ihm selbst zu eben so vielen Verbrechen gemacht
werden würden.Da ich sah, daß alle meine Bescheidenheit nicht zureichte,
den reißenden Strom der popularen Dankbarkeit aufzuhalten:
so glaubte ich am besten zu thun, wenn ich mich eine Zeit lang
entfernte, und, bis die Athenische Lebhaftigkeit durch irgend
eine neue Komödie, einen fremden Gaukler, oder eine frisch
angekommene Tänzerin, einen andern Schwung bekommen
haben würde, auf meinem Landgute zu Korinth in Gesellschaft
der Musen einer Ruhe zu genießen, welche ich durch die Arbeiten
einiger Jahre verdient zu haben glaubte. Ich dachte
wenig daran, daß ich in einer Stadt, deren Liebling ich zu
seyn schien, Feinde hätte, welche, indessen ich mit aller Sorglosigkeit
der Unschuld die Vergnügungen des Landlebens und
der geselligen Freiheit kostete, einen eben so boshaften als
künstlich ausgesonnenen Plan zu meinem Untergang anzulegen
beschäftiget waren.Alles, womit ich, bei der schärfsten Prüfung meines öffentlichen
und Privatlebens in Athen, mir bewußt bin, mein
Unglück, wo nicht verdient, doch befördert zu haben, ist Unvorsichtigkeit,
oder Mangel an derjenigen Klugheit, welche
nur die Erfahrung geben kann. Ich lebte nach meinem Geschmack
und nach meinem Herzen, weil ich gewiß wußte daß
beide gut waren, ohne zu bedenken, daß man mir andre Absichten
bei meinen Handlungen andichten könne als ich wirklich
hatte. Ich that jedermann Gutes, weil ich meinem Herzen
dadurch ein Vergnügen verschaffte, welches ich allen andern
Freuden vorzog. Ich beschäftigte mich mit dem gemeinen Bejahen
der Republik, weil ich zu dieser Beschäftigung geboren
war, weil ich Tüchtigkeit dazu in mir fühlte, und durch die
Zuneigung meiner Mitbürger in den Stand gesetzt zu werden
hoffte, meinem Vaterland und der Welt nützlich zu seyn. Ich
hatte keine andern Absichten, und würde mir eher haben träumen
lassen, daß man mich beschuldigen werde, nach der
Krone des Königs von Persien, als nach der Unterdrückung
meines Vaterlandes zu streben. Da ich mir bewußt war niemands
Haß verdient zu haben, so hielt ich einen jeden für
meinen Freund, der sich dafür ausgab. Und warum hätt' ich
es nicht thun sollen? Kaum war ein Bürger in Athen, dem
ich nicht Diente geleistet hatte. Aus dem nämlichen Grunde
dachte ich gleich wenig daran, wie ich mir einen Anhang machen,
als wie ich die geheimen Anschläge von Feinden, die mir
unsichtbar waren, vereiteln wolle. Denn ich glaubte nicht,
daß die Freimüthigkeit, womit ich ohne Galle oder Uebermuth
meine Meinung bei jeder Gelegenheit sagte, eine Ursache seyn
könne mir Feinde zu machen. Mit Einem Wort, ich wußte
noch nicht, daß Tugend, Verdienste und Wohlthaten gerade
dasjenige sind, wodurch man gewisse Leute zu dem tödtlichsten
Haß erbittern kann. Eine traurige Erfahrung konnte mir
allein zu dieser Einsicht verhelfen; und es ist billig, daß ich sie
werth halte, da sie mir nicht weniger als mein Vaterland, die
Liebe meiner Mitbürger, meine schönsten Hoffnungen, und
das glückselige Vermögen vielen Gutes zu thun und von niemand
abzuhangen, gekostet hat.—————
Drittes Capitel.Agathon wird als ein Staatsverbrecher angeklagt.Der Zeitpunkt meines Lebens, auf den ich nunmehr gekommen
bin, führt allzu unangenehme Erinnerungen mit sich,
als daß ich nicht entschuldiget seyn sollte, wenn ich so schnell
davon wegeile, als es die Gerechtigkeit zulassen wird, die ich
mir selbst schuldig bin. Es mag seyn, daß einige von meinen
Feinden aus Beweggründen eines republicanischen Eifers gegen
mich aufgestanden sind, und sich durch meinen Sturz eben
so verdient um ihr Vaterland zu machen geglaubt haben, als
Harmodius und Aristogiton durch die Ermordung des Pisistratiden
Hipparchus. Aber es ist doch gewiß, daß diejenigen,
welche die Sache mit der größten Wuth betrieben, keinen andern
Beweggrund hatten, als die Eifersucht über das Ansehen,
welches mir die allgemeine Gunst des Volkes gab, und welches
sie nicht ohne Ursache für ein Hinderniß ihrer eigenen ehrgeizigen
und gewinnsüchtigen Absichten hielten. Die meisten glaubten
auch, daß sie Privatbeleidigungen zu rächen hätten. Einige
nährten noch den alten Groll, den sie bei meinem ersten Auftritt
in der Republik gegen mich faßten, da ich meinen rechtschaffenen
Freund den Wirkungen ihrer Verfolgung entriß.
Andere schmerzte es, daß ich ihnen bei der Wahl eines Befehlshabers
gegen die empörten Inseln vorgezogen worden war.
Viele waren durch den Verlust der Vortheile, welche sie von
den ungerechten Bedrückungen derselben gezogen hatten, beleidiget
worden. Bei diesen allen half mir nichts, daß ich keine
Absicht sie zu beleidigen hatte, und daß es nur zufälliger Weise
dadurch geschehen war, weil ich, meiner Ueberzeugung gemäß,
meine Pflicht thun wollte. Sie beurtheilten meine Handlungen
aus einem ganz andern Gesichtspunkte, und es war bei ihnen
ein ausgemachter Grundsatz, daß derjenige kein ehrlicher Mann
seyn könne, der ihren Privatabsichten Schranken setzte. Zum
Unglück für mich, machten diese Leute einen großen Theil von
den Vornehmsten und Reichsten in Athen aus. Hierzu kam
noch, daß ich meiner immer fortdauernden Liebe zu Psyche die
vortheilhaftesten Verbindungen, welche mir angeboten worden
waren, aufgeopfert, und mich dadurch der Unterstützung und
des Schutzes beraubet hatte, den ich mir von der Verschwägerung
mit einem mächtigen Geschlechte hätte versprechen können.
Ich hatte nichts, was ich den Ränken und der vereinigten
Gewalt so vieler Feinde entgegen setzen konnte, als meine Unschuld,
einige Verdienste und die Zuneigung des Volks;
schwache Brustwehren, welche noch nie gegen die Angriffe des
Neides, der Arglist und der Gewaltthätigkeit ausgehalten
haben. Die Unschuld kann verdächtig gemacht, Verdiensten
durch ein falsches Licht das Ansehen von Verbrechen gegeben
werden; und was ist die Gunst eines schwärmerischen Volkes,
dessen Bewegungen immer seinen Ueberlegungen zuvorkommen;
welches mit gleichem Uebermaß liebt und haßt, und, wenn es
einmal in eine fieberische Hitze gesetzt worden, gleich geneigt
ist dieser oder einer entgegengesetzten Richtung, je nachdem es
gestoßen wird, zu folgen? Was konnte ich mir von der Gunst
eines Volkes versprechen, welches den großen Beschützer der
Griechischen Freiheit im Gefängniß hatte verschmachten lassen?
welches den tugendhaften Aristides, bloß darum weil er den
Beinamen des Gerechten verdiente, verbannt, und in einer
von seinen gewöhnlichen Launen sogar den weisen Sokrates
zum Giftbecher verurtheilt hatte? Diese Beispiele sagten mir,
bei der ersten Nachricht, die ich von dem über mir sich zusammen
ziehenden Ungewitter erhielt, zuverlässig vorher, was
ich von den Athenern zu erwarten hätte. Sie machten, daß
ich ihnen nicht mehr zutraute als sie leisteten; und sie trugen
nicht wenig dazu bei, daß ich ein Unglück mit Standhaftigkeit
ertrug, in welchem ich so vortreffliche Männer zu Vorgängern
gehabt hatte.Derjenige, den meine Feinde zu meinem Ankläger auserkoren
hatten, war einer von den witzigen Schwätzern, deren
feiles Talent gleich fertig ist Recht oder Unrecht zu verfechten.
Er hatte in der Schule des berüchtigten Gorgias gelernt,
durch die Zaubergriffe der Redekunst den Verstand seiner Zuhörer
zu blenden, und sie zu bereden, daß sie sähen was sie
nicht sahen. Er bekümmerte sich wenig darum, zu beweisen
was er mit der größten Dreistigkeit behauptete; aber er wußte
die Schwäche seiner einzelnen Sätze und Beweisgründe durch
eine zwar willkürliche, aber desto künstlichere Verbindung so
geschickt zu verbergen, daß man, sogar mit einer gründlichen
Beurtheilungskraft, auf seiner Hut seyn mußte, um nicht
von ihm überrascht zu werden. Der hauptsächlichste Vorwurf
seiner Anklage war die schlimme Verwaltung, deren ich mich,
als Oberbefehlshaber in der Angelegenheit der empörten
Schutzverwandten, schuldig gemacht haben sollte. Er bewies
mit großem Wortgepränge, daß ich in dieser ganzen Sache
nichts gethan hätte, das der Rede werth wäre; daß ich vielmehr,
anstatt die Empörten zu züchtigen und zum Gehorsam
zu bringen, ihren Sachwalter abgegeben, sie für ihren Aufruhr
belohnt, ihnen noch mehr, als sie selbst zu fordern die Verwegenheit
gehabt, zugestanden, und durch diese unbegreifliche
Art zu verfahren ihnen Muth und Kräfte gegeben hätte, bei
der ersten Gelegenheit sich von Athen gänzlich unabhängig zu
machen. Er bewies alles dieß nach den Grundsätzen einer
Politik, welche das Widerspiel von der meinigen war, aber,
wie es scheint, immer die beliebteste und gangbarsten seyn wird,
weil sie den Leidenschaften der Gewalthaber im Staate allzu
sehr schmeichelt, um nicht Eingang zu finden. Er hatte noch
die Bosheit, nicht entscheiden zu wollen, ob ich aus Unverstand
oder geflissentlich so gehandelt hatte; doch erhob er auf
der einen Seite meine Fähigkeiten so sehr, und legte so viel
Wahrscheinlichkeiten in die andere Wagschale, daß sich der
Ausschlag von selbst geben mußte. Dieses führte ihn zu dem
zweiten Theil seiner Anklage, welcher in der That (ob er es
gleich nicht gestehen wollte) das Hauptwerk davon ausmachte.
Und hier wurden Beschuldigungen auf Beschuldigungen gehäuft,
um mich dem Volk als einen Ehrsüchtigen abzumalen,
der sich einen Plan gemacht habe sein Vaterland zu unterdrücken,
und, unter dem Scheine der Großmuth, der Freigebigkeit
und der Popularität, sich zum unumschränkten Herrn
desselben aufzuwerfen. Eine jede meiner Tugenden war die
Maske eines Lasters, welches im Verborgenen am Untergang
der Freiheit und Glückseligkeit der Athener arbeitete. In der
That hatte die Beredsamkeit meines Anklägers hier ein schönes
Feld sich zu ihrem Vortheil zu zeigen, und seinen Zuhörern
das republikanische Vergnügen zu machen, eine Tugend, welche
mir allzu große Vorzüge vor meinen Mitbürgern zu geben
schien, herunter gesetzt zu sehen. Indessen, ob er gleich keinen
Theil meines Privatlebens (so untadelhaft es ehemals meinen
Gönnern geschienen hatte) unbeschmitzt ließ: so mochte er doch
besorgen, daß die Kunstgriffe, deren er sich dazu bedienen
mußte, zu stark in die Augen fallen möchten. Er raffte also
alles zusammen, was nur immer fähig seyn konnte mich in ein
verhaßtes Licht zu stellen; und da es ihm an Verbrechen, die
er mir mit einiger Wahrscheinlichkeit hätte aufbürden können,
mangelte, so legte er mir fremde Thorheiten und selbst die
ausschweifenden Ehrenbezeugungen zur Last, welche mir, in der
Flut meines Glückes und meiner Gunst bei dem Volk, aufgedrungen
worden waren. Ich mußte jetzt sogar für die elenden
Verse Rechenschaft geben, womit einige Dichterlinge mir
die Dankbarkeit ihres Magens auf Unkosten ihres Ruhms und
des meinigen zu beweisen gesucht hatten. Man beschuldigte
mich im ganzen Ernste, daß ich übermüthig und gottlos genug
gewesen sey, mich für einen Sohn Apollo's auszugeben; und
mein Ankläger ließ diese Gelegenheit nicht entgehen, über
meine wahre Geburt Zweifel zu erregen, und, unter vielen
scherzhaften Wendungen, die Meinung derjenigen wahrscheinlich
zu finden, welche (wie er sagte) benachrichtigt zu seyn glaubten,
daß ich mein Daseyn den verstohlenen Liebeshändeln irgend
eines Delphischen Priesters zu danken hätte.In dieser ganzen Rede ersetzte ein von Bosheit beseelter
Witz den Abgang gründlicher Beweise. Aber die Athener waren
schon lange gewohnt, sich Witz für Wahrheit verkaufen zu
lassen, und sich einzubilden, daß sie überzeugt würden, wenn
im Grunde bloß ihr Geschmack belustigt und ihre Ohren gekitzelt
wurden. Sie machte also den ganzen Eindruck, den
meine Feinde sich davon versprochen hatten. Die Eifersucht,
welche sie in den Gemüthern anblies. verwandelte die übermäßige
Zuneigung, deren Gegenstand ich einige Jahre lang
gewesen war, in den bittersten Haß. Die guten Athener erschracken
vor dem Abgrund, an dessen Rand sie sich durch ihre
Verblendung für mich unvermerkt hingezogen sahen. Sie erstaunten,
daß sie meine Unfähigkeit zur Staatsverwaltung,
meine Begierde nach einer unumschränkten Gewalt, meine
weit aussehenden Absichten, und mein heimliches Verständniß
mit ihren Feinden, nicht eher wahrgenommen hätten. Und,
da es nicht natürlich gewesen wäre, die Schuld davon auf sich
selbst zu nehmen, so schrieben sie es lieber einer Bezauberung
zu, wodurch ich ihre Augen eine Zeit lang zu verschließen gewußt
hätte. Ein jeder glaubte nun, durch meine verderblichen
Anschläge gegen die Republik von der Dankbarkeit vollkommen
losgezählt zu seyn, die er mir für Dienste oder Wohlthaten
schuldig seyn mochte, welche nun als die Lockspeise angesehen
wurden, womit ich die Freiheit, und mit ihr das Eigenthum
meiner Mitbürger wegzuangeln getrachtet hätte. Kurz, eben
dieses Volk welches vor wenig Monaten mehr als menschliche
Vollkommenheiten an mir bewunderte, war itzt unbillig genug,
mir nicht das geringste Verdienst übrig zu lassen; und eben
diejenigen, die auf den ersten Wink bereit gewesen wären, mir
die Oberherrschaft in einem allgemeinen Zusammenlauf aufzubringen,
waren itzt begierig, mich einen nie gefaßten Anschlag
gegen die Freiheit, deren sie sich in diesem Augenblicke selbst
begaben, mit meinem Blute büßen zu sehen. Als mir die gewöhnliche
Frist zur Verantwortung gegeben wurde, war meine
Verurtheilung durch die Mehrheit der Stimmen schon beschlossen:
und das Vergnügen, womit ich von einer unzählbaren
Menge Volks ins Gefängniß begleitet wurde, würde vollkommen
gewesen seyn, wenn die Gesetze gestattet hätten, mich
ohne weitere Proceßförmlichkeiten zum Richtplatze zu führen.—————
Viertes Capitel.Ein Verwandter seines Vaters macht dem Agathon sein Geburts- und
Erbrecht streitig. Sein Gemüthszustand unter diesen Widerwärtigkeiten.So glücklich meinen Feinden ihr Anschlag von Statten
gegangen war, so glaubten sie doch, sich meines Untergangs
noch nicht genugsam versichert zu haben. Sie fürchteten die
Unbeständigkeit eines Volkes, von welchem sie allzu wohl wußten,
wie leicht es von Liebe zu Haß und von Haß zu Mitleiden
überging. Es blieb möglich, daß ich mit der bloßen Verbannung
auf einige Jahre durchwischen konnte; und dieß ließ eine
Veränderung der Scene besorgen, bei welcher weder ihr Groll
gegen mich, noch ihre eigene Sicherheit ihre Rechnung fanden.
Man mußte also noch eine andere Mine springen lassen, durch
die mir, wenn ich einmal aus Athen vertrieben wäre, alle Hoffnung
jemals wieder zurück zu kommen abgeschnitten würde.
Man mußte beweisen, daß ich kein Bürger von Athen sey; daß
meine Mutter keine Bürgerin, und Stratonikus nicht mein
Vater gewesen; daß er mich, in Ermangelung eines Erben von
seinem eignen Blute, aus bloßen Haß gegen denjenigen, der
es den Gesetzen nach gewesen wäre, angenommen und untergeschoben
habe; und daß also die Gesetze mir kein Recht an seine
Erbschaft zugeständen. Da es zu Athen niemals an Leuten
fehlt, welche, gegen eine angemessene Belohnung, alles gesehen
und gehört haben was man will, und da von denjenigen, die
der Wahrheit das beste Zeugniß hätten geben können, niemand
mehr am Leben war; so hatten meine Gegner wenig Mühe,
alles dieß eben so gut zu beweisen, als sie meine Staatsverbrechen
bewiesen hatten. Es wurde also eine neue Klage
angestellt. Derjenige, der sich zum Kläger wider mich aufwarf,
war ein Neffe von meinem Vater, durch nichts als die liederliche
Lebensart bekannt, wodurch er sein Erbgut schon vor einigen
Jahren verpraßt hatte. Seine Unverbesserlichkeit hatte ihn
endlich der Freundschaft meines Vaters, so wie der Achtung
aller rechtschaffenen Leute, beraubt; und dieses Umstands bediente
er sich nun, mich um eine Erbschaft zu bringen, die er,
bevor noch von mir die Rede war, als der nächste Verwandte,
in seinen Gedanken schon verschlungen hatte. Die Geschicklichkeit
des Redners, dessen Dienste zur Ausübung seines Bubenstücks
erkaufte, der mächtige Beistand meiner Feinde, die Umstände
selbst, in denen er mich unvermuthet überfiel, und vornehmlich
die Gefälligkeit seiner Zeugen, alle die Unwahrheiten
zu beschwören, die er zu seiner Absicht nöthig hatte: alles das
zusammen genommen versicherte ihm den glücklichen Ausgang
seiner Verrätherei; und die Reichthümer, die ihm dadurch zufielen,
waren, in den Augen eines gefühllosen Elenden wie er,
wichtig genug, um mit Verbrechen, die ihm so wenig kosteten,
erkauft zu werden.Dieser letzte Streich, der vollständigste Beweis, auf was
für einen Grad die Wuth meiner Feinde gestiegen war, und
wie gewiß sie sich des Erfolgs hielten, ließ mir keine Hoffnung
übrig, die ihrige zu Schanden zu machen. Denn alle
meine vermeinten Freunde, bis auf wenige, deren guter
Wille ohne Vermögen war, hatten, sobald sie mich vom Glück
verlassen sahen, mich auch verlassen. Andere, welche zwar
von dem Unrecht, das mir angethan wurde, überzeugt waren,
hatten gleichwohl nicht Muth genug, sich für eine fremde
Sache in Gefahr zu setzen; und der einzige, dessen Charakter,
Ansehen und Freundschaft mir vielleicht hatte zu Statten
kommen können, Plato, befand sich seit einiger Zeit am
Hofe des jungen Dionysius zu Syrakus.Ich gestehe, daß ich, so lange die ersten Bewegungen
dauerten, mein Unglück in seinem ganzen Umfang fühlte. Für
ein redliches und dabei noch wenig erfahrnes Gemüth ist es
entsetzlich, zu fühlen, daß man sich in seiner guten Meinung
von den Menschen betrogen habe, und sich zu der abscheulichen
Wahl genöthiget zu sehen, entweder in einer beständigen Unsicherheit
vor der Schwäche der einen und der Bosheit der andern
zu leben, oder sich gänzlich aus ihrer Gesellschaft zu verbannen.
Aber die Kleinmüthigkeit, welche eine Folge meiner
ersten melancholischen Betrachtungen war, dauerte nicht lange.
Die Erfahrungen, die ich seit meiner Versetzung auf den
Schauplatz einer größern Welt in so kurzer Zeit gemacht hatte,
weckten die Erinnerungen meiner glücklichen Jugend in Delphi
mit einer Lebhaftigkeit wieder auf, worin sie sich mir unter
dem Getümmel des städtischen und politischen Lebens niemals
dargestellt hatten. Die Bewegung meines Gemüths, die
Wehmuth, wovon es durchdrungen war, die Gewißheit, daß
ich in wenigen Tagen von allen den Gunstbezeugungen, womit
mich das Glück so schnell und mit solchem Uebermaß
überschüttet hatte, nichts als die Erinnerung, die uns von
einem Traum übrig bleibt, und von allem, was ich mein genannt
hatte, nichts als das Bewußtseyn meiner Redlichkeit
aus Athen mit mir nehmen würde, —setzten mich auf einmal
wieder in jenen seligen Enthusiasmus, worin wir fähig
sind dem Aeußersten, was die vereinigte Gewalt des Glücks
und der menschlichen Bosheit gegen uns vermag, ein standhaftes
Herz und ein heitre Gesicht entgegen zu stellen, Der
unmittelbare Trost, den meine Grundsätze über mein Gemüth
ergossen, die Wärme und neu beseelte Stärke, die sie meiner
Seele gaben, überzeugten mich von neuem von ihrer Wahrheit.
Ich verwies es der Tugend nicht, daß sie mir den Haß
und die Verfolgungen der Bösen zugezogen hatte: ich fühlte
daß sie sich selbst belohnt. Das Unglück schien mich nur desto
stärker mir ihr zu verbinden, so wie uns eine geliebte Person
desto theurer wird, je mehr wir um ihrentwillen leiden. Die
Betrachtungen, auf welche mich diese Gesinnungen leiteten,
lehrten mich, wie geringhaltig auf der Wage der Weisheit
alle diese schimmernden Güter sind, die ich im Begriff war
dem Glücke wieder zu geben; und wie wichtig diejenigen seyen,
welche mir keine republicanische Cabale, kein Decret des Volks
zu Athen, keine Macht in der Welt nehmen konnte. Ich verglich
meinen Zustand in der höchsten Flut meines Glückes mit
der seligen Ruhe des contemplativen Lebens, worin ich, in
glücklicher Unwissenheit des glänzenden Elends und der wahren
Beschwerden einer mit Unrecht beneideten Größe, meine schuldlose
Jugend hinweg gelebt hatte; worin ich meines Daseyns
und der innern Reichthümer meines Geistes, meiner Gedanken,
meiner Empfindungen, der eigenthümlichen und von aller
äußerlichen Gewalt unabhängigen Wirksamkeit meiner Seele,
froh geworden war; —und ich glaubte, bei dieser Vergleichung,
alles gewonnen zu haben, wenn ich mich, mit freiwilliger
Hingabe der Vortheile die mir indessen zugefallen waren, wieder
in einen Zustand zurück kaufen könnte, den mir meine Einbildungskraft
mit ihren schönsten Farben, und in diesem überirdischen
Lichte, worin er dem Zustande der himmlischen Wesen
ähnlich schien, vormalte. Der Gedanke, daß diese Seligkeit
nicht an die Haine von Delphi gebunden sey —daß die Quellen
davon in mir selbst lägen — daß eben diese vermeintlichen
Güter, welche mir mitten in ihrem Genusse so viele Unruhe
und Zerstreuung zugezogen, die einzigen Hindernisse meines
wahren Glücks gewesen — diese Gedanken setzten mich in eine
innerliche Freude, die mich gegen alle Bitterkeiten meines
Schicksals unempfindlich machte; und dieß ging zuletzt so weit,
daß ich nach dem Tage meiner Verurtheilung ganz ungeduldig
ward.Allein eben diese Denkart, welche mir so viel Gleichgültigkeit
gegen den Verlust meines Ansehens und Vermögens gab,
machte, daß ich das Betragen der Athener aus einem moralischen
Gesichtspunkt ansah, aus welchem es mir Abscheu und
Ekel erweckte. Meine Feinde schienen mir durch die Leidenschaften,
von denen sie getrieben wurden, einigermaßen entschuldiget
zu seyn: aber das Volk, das bei meinem Umsturz
nichts gewann, das so viele Ursachen hatte mich zu lieben, mich
wirklich so sehr geliebt hatte, und itzt, durch eine bloße Folge
seiner Unbeständigkeit und Schwäche, ohne selbst recht zu wissen
warum, sich dummer Weise zum Werkzeuge fremder Leidenschaften
und Absichten machen ließ, dieses Volk ward mir so
verächtlich, daß ich kein Vergnügen mehr an dem Gedanken
fand, ihm Gutes gethan zu haben. Diese Athener, die auf
ihre Vorzüge vor allen andern Nationen der Welt so eitel
waren, stellten sich meiner beleidigten Eigenliebe als ein abschätziger
Haufe blöder Thoren dar, die sich von einer kleinen
Rotte verschmitzter Spitzbuben bereden ließen, Weiß für Schwarz
anzusehen; die — bei aller Feinheit ihres Geschmacks, wenn
es darauf ankam, über die Versification eines Trinklieds oder
die Füße einer Tänzerin zu urtheilen, weder Kenntniß noch
Gefühl von Tugend und wahrem Verdienst hatten; die, bei
der heftigsten Eifersucht über ihre Freiheit, niemals größere
Sklaven waren, als wenn sie ihr chimärisches Palladium am
tapfersten behauptet zu haben glaubten; die sich jederzeit der
Führung ihrer übelgesinntesten Schmeichler mit dem blindesten
Vertrauen überlassen, und nur in ihre tugendhaftesten Mitbürger,
in ihre zuverlässigsten Freunde, das größte Mißtrauen
gesetzt hatten. Sie verdienen es, sagte ich zu mir selbst, daß
sie betrogen werden! Aber den Triumph sollen sie nicht erleben,
daß Agathon sich vor ihnen demüthige. Sie sollen fühlen,
was für ein Unterschied zwischen ihm und ihnen ist! Sie
sollen fühlen, daß er nur desto größer ist, wenn sie ihm alle
diese Flittern wieder abnehmen, womit sie ihn, wie Kinder
eine auf kurze Zeit geliebte Puppe, umhängt haben; und eine
zu späte Reue wird sie vielleicht in kurzem lehren, daß Agathon
ihrer leichter als sie Agathons entbehren können!Die siehest, schöne Danae, daß ich mich nicht scheue, dir
auch meine Schwachheiten zu gestehen. Dieser Stolz hatte
ohne Zweifel einen guten Theil von eben der Eitelkeit in sich,
welche ich den Athenern zum Verbrechen machte; aber vielleicht
gehört er auch unter die Triebfedern, "womit die Natur edle
Gemüther versehen hat, um dem Druck widerwärtiger Zufälle
mit gleich starker Zurückwirkung zu widerstehen, und sich dadurch
in ihrer eigenen Gestalt und Größe zu erhalten." Die
Athener rühmten ehmals meine Bescheidenheit und Mäßigung,
zu einer Zeit, da sie alles thaten, um mich dieser Tugenden
zu berauben. Aber diese Bescheidenheit floß mit dem Stolze,
der ihnen itzt so anstößig an mir war, aus einerlei Quelle.
Ich war mir eben so wohl bewußt, daß ich ihre Mißhandlungen
nicht verdiente, wie ich ehmals fühlte, daß die Achtung,
die sie mir bewiesen, übertrieben war; desto bescheidener, je
mehr sie mich erhoben; desto stolzer und trotziger, je mehr sie
mich heruntersetzen wollten.—————
Fünftes Capitel.Wie Agathon sich vor den Athenern vertheidigt. Er wird verurtheilt,
und auf immer aus Griechenland verbannt.Meine wenigen Freunde hatten sich inzwischen in der
Stille so eifrig zu meinem Besten verwandt, daß sie mir Hoffnung
machten, alles könne noch gut gehen, wenn ich mich nur
entschließen könnte, meine Vertheidigung nach dem Geschmack
und der Erwartung des Volks einzurichten. Ich sollte mich
zwar so vollständig rechtfertigen als es immer möglich wäre,
sagten sie; aber am Ende sollt' ich mich doch den Athenern
auf Gnade oder Ungnade zu Füßen werfen. Meinen Feinden
dürfte ich nach aller Schärfe des Selbstvertheidigungs- und
Wiedervergeltungsrechts begegnen: aber den Athenern sollte
ich schmeicheln, und, anstatt ihre Eigenliebe durch den mindesten
Vorwurf zu beleidigen, bloß ihr Mitleiden zu erregen
suchen. Vermuthlich würde der Erfolg diesen Rath meiner
Freunde, der sich auf die Kenntniß des Charakters eines freien
Volks gründete, gerechtfertiget haben; wenigstens ist gewiß,
daß die ersten Bewegungen dieser Unbeständigen bereits angefangen
hatten, dem Mitleiden und den Regungen ihrer vormaligen
Liebe zu weichen. Ich las es, da ich das Gerüste,
von welchem ich zu dem Volke reden sollte, bestieg, in vieler
Augen, sah, wie sie nur darauf warteten, daß ich ihnen einen
Weg zeigen möchte, mit guter Art, und ohne etwas von ihrer
demokratischen Majestät zu vergeben, wieder zurück zu kommen.
Aber sie fanden sich in dieser Erwartung sehr betrogen.
Die Verachtung, womit mein Gemüth beim Anblick eines
Volkes erfüllt wurde, welches mich vor wenigen Tagen mit
so ausschweifender Freude ins Gefängniß begleitet hatte, und
das Gefühl meines eignen Werthes, waren beide zu lebhaft.
Die Begierde ihnen Gutes zu thun, welche die Seele aller
meiner Handlungen und Entwürfe gewesen war, hatte aufgehört.
Ich würdigte sie nicht, eine Schutzrede zu halten, die
ich für eine Beschimpfung meines Charakters und Lebens gehalten
hätte; aber ich wollte ihnen zum letztenmal die Wahrheit
sagen. Ehmals, wenn es darum zu thun gewesen war,
sie von ihren eignen wahren Vortheilen zu überzeugen, hatte
ich alle meine Beredsamkeit aufgeboten. Aber itzt, da die
Rede bloß von mir selbst war, verschmähte ich den Beistand
einer Kunst, worin der Ruf mir einige Geschicklichkeit
zuschrieb. In diesem Stücke blieb ich meinem gefaßten Vorsatze
getreu; aber nicht der Kürze und Gelassenheit, die ich mir
vorgeschrieben hatte. Der Affect, in den ich unvermerkt gerieth,
machte mich weitläufig und zuweilen bitter. Meine Rede
enthielt eine zusammen gezogene Erzählung meines ganzen Lebenslaufs
in Athen, der Grundsätze, welchen ich in der Republik
gefolgt war, und meiner Gedanken von dem wahren Interesse
der Athener. Ich ging bei dieser Gelegenheit ein wenig
streng mit ihren Urtheilen und Lieblingsprojecten um. Ich sagte
ihnen, daß ich in der Sache der Schutzverwandten eine Probe
gegeben hätte, nach was für Maximen ich jederzeit in Verwaltung
des Staats gehandelt haben würde: allein da diese Maximen
so weit von ihrer Gemüthsbeschaffenheit und Denkart
entfernt wären, so würden sie sehr weislich handeln, einen
Menschen aus ihrem Mittel zu verbannen, welcher nicht gesonnen
sey, den Pflichten eines allgemeinen Freundes der Menschen
zu entsagen, um ein guter Bürger von Athen zu seyn.Der Schluß meiner Rede liegt mir noch so lebhaft im Gedächtniß,
daß ich ihn, als eine Probe des Ganzen, wörtlich
wiederholen will. "Die Götter (sage ich) haben mich zu einer
Zeit, da ich es am wenigsten hoffte, meinen Vater finden lassen.
Sein Ansehen und seine Reichthümer gaben mir weniger
Freude, als die Entdeckung, daß ich mein Leben einem rechtschaffenen
Manne zu danken hätte. Athen wurde durch ihn
mein Vaterland. Ich sah es als den Platz an, den mir die
Götter angewiesen das Beste der Menschen zu befördern. Die
Vortheile dieser einzelnen Stadt waren in meinen Augen ein
zu kleiner Gegenstand, um dem allgemeinen Besten der
Menschheit vorgesetzt zu werden; aber ich sah beides so genau
mit einander verknüpft; daß ich nur alsdann gewiß seyn konnte,
jene wirklich zu erhalten, wenn ich dieses beförderte. Nach diesen
Grundsätzen habe ich in meinem öffentlichen Leben gehandelt,
und diese Handlungen haben mir euern Unwillen zugezogen.
Die Athener wollen auf Unkosten des menschlichen Geschlechts
groß seyn; und sie werden es so lange seyn wollen, bis sie, in
Ketten, welche sie sich selbst schmieden, und deren sie würdig
sind sobald sie über Sklaven gebieten wollen, allen ihren Ehrgeiz
auf den rühmlichen Vorzug einschränken werden, die besten
Sprecher und die gelenkigsten Pantomimen in der Welt zu
seyn. Aber von Agathon erwartet nicht, daß er euern Lauf
auf diesem Wege, den die Gefälligkeit eurer Redner mit Blumen
bestreut, beschleunigen helfe. Mein Privatleben hat euch
bewiesen, daß die Grundsätze, nach welchen ich eure öffentlichen
Handlungen zu leiten gewünscht hätte, die Maßregeln meines
eigenen Verhaltens waren. Mein Vermögen hat mehr zum
Gebrauch eines jeden unter euch, als zu meinem eigenen gedienet.
Ich habe mir Undankbare verbindlich gemacht, und
diese Erfahrung lehrt mich, Güter mit Gleichgültigkeit zurückzulassen,
welche ich übel anwandte, da ich sie am besten anzuwenden
glaubte. Dieß, ihr Athener, ist alles, was ich euch
zu meiner Vertheidigung zu sagen habe. Ihr seyd nun, weil
euch die Menge eurer Arme zu meinem Herrn macht, Meister
über meine Umstände, und, wenn ihr wollt, über mein Leben.
Verlangt ihr meinen Tod, so meldet mir nur, was ich in
eurem Namen dem weisen und guten Sokrates sagen soll, zu
dem ihr mich schicken werdet. Begnügt ihr euch aber mich
aus euern Augen zu verbannen: so werde ich, mit dem letzten
Blicke nach einem einst geliebten Vaterland, eine Thräne auf
das Grab eurer Glückseligkeit fallen lassen; und, indem ich
aufhöre ein Athener zu seyn, in jedem Winkel der Welt, worin
Tugend sich verbergen darf, ein besseres Vaterland finden."Es ist leicht zu vermuthen, schöne Danae, daß eine Apologie
aus diesem Tone nicht geschickt war, mir ein günstiges
Urtheil auszuwirken. Die Erbitterung, welche dadurch in den
Gemüthern erregt wurde, die sich an dem angenehmen Schauspiel,
mich vor ihnen gedemüthiget zu sehen, zu weiden gehofft
hatten, war auf allen Gesichtern ausgedrückt. Demungeachtet
sah ich niemals eine größere Stille unter dem Volk, als da
ich aufgehört hatte zu reden. Sie fühlten, wie es schien, wider
ihren Willen, daß die Tugend Ehrfurcht einprägt. Aber
eben dadurch wurde sie ihnen desto verhaßter, je stärker sie den
Vorzug fühlten, den sie dem beklagten, verlassenen und von
allen Auszierungen des Glücks entblößten Agathon über die
Herren seines Schicksals gab. Ich weiß selbst nicht wie es zuging,
daß mir mein guter Genius aus dieser Gefahr heraus
half. Genug, als die Stimmen gesammelt waren, fand sich,
daß die Richter, gegen die Hoffnung meiner Ankläger, sich begnügten,
mich auf ewig aus Griechenland zu verbannen, die
Hälfte meiner Güter zum gemeinen Wesen zu ziehen, und die
andre Hälfte meinen Verwandten zuzusprechen. Die Gleichgültigkeit,
womit ich mich diesem Urtheil unterwarf, wurde in
diesem fatalen Augenblicke, der alle meine Handlungen in ein
falsches Licht setzte, für einen Trotz aufgenommen, welcher mich
alles Mitleidens unwürdig machte. Gleichwohl erlaubte man
meinen Freunden, sich um mich zu versammeln, mir ihre
Dienste anzubieten, und mich aus Athen zu begleiten; welches
ich, ungeachtet mir eine längere Frist gegeben worden war,
noch in eben der Stunde mit so leichtem Herzen verließ, als
ein Gefangener den Kerker verläßt, aus dem er unverhofft in
Freiheit gesetzt wird. Die Thränen der wenigen, die mein Fall
nicht von mir verscheucht hatte, und meiner guten Hausgenossen
waren das einzige, was, bei einem Abschiede, den wir auf
ewig von einander nahmen, mein Herz erweichte; und ihre
guten Wünsche alles, was ich von den Anerbietungen ihrer
mitleidigen und dankbaren Vorsorge nahm.Ich befand mich nun wieder ungefähr in eben den Umständen,
worin ich, vor einigen Jahren, unter dem Cypressenbaum
im Vorhofe meines noch unbekannten Vaters zu Korinth
gelegen hatte. Die großen Veränderungen, die mannichfaltigen
Scenen von Reichthum, Ansehen, Gewalt, und äußerlichem
Schimmer, durch welche mich das Glück in dieser kurzen Zwischenzeit
herum gedreht hatte, waren nun wie ein Traum vorüber.
Aber die wesentlichen Vortheile, die von allen diesen
Begegnissen in meinem Geist und Herzen zurück geblieben waren,
überzeugten mich, daß ich nicht geträumt hatte. Ich
fand mich um eine Menge nützlicher und schöner Kenntnisse,
um die Entwicklung und Uebung meiner Fähigkeiten, um das
Bewußtseyn vieler guter Handlungen, und um eine Reihe
wichtiger Erfahrungen, reicher als zuvor. Ich hatte den Geist
der Republiken, den Charakter des Volks, die Eigenschaften
und Wirkungen einiger mir vorher unbekannten Leidenschaften
kennen gelernt, und Gelegenheit genug gehabt, vieler irrigen
Einbildungen los zu werden, welche man sich von der Welt zu
machen pflegt, wenn man sie nur von ferne, und ohne selbst
in ihre Geschäfte eingeflochten zu seyn, betrachtet. Zu Delphi
hatte man mich (zum Exempel) gelehrt, daß sich das ganze
Gebäude der repulicanischen Verfassung auf die Tugend gründe.
Die Athener lehrten mich hingegen, daß die Tugend an sich
selbst nirgends weniger geschätzt wird als in einer Republik,
den Fall ausgenommen, da man ihrer vonnöthen hat; und in
diesem Falle wird sie unter einem Despoten eben so hoch
geschätzt und nicht selten besser belohnt.Ueberhaupt hatte mein Aufenthalt in Athen die erhabene
Theorie von der Vortrefflichkeit und Würde der menschlichen
Natur, wovon ich eingenommen war, schlecht bestätiget: und
dennoch fand ich mich darum nicht geneigter von ihr zurück zu
kommen. Ich legte alle Schuld auf die Ansteckung allzu großer
Gesellschaften, auf die Mängel der Gesetzgebung, auf das
Privatinteresse, welches bei allen policirten Völkern, durch ein
unbegreifliches Versehen ihrer Gesetzgeber, in einem beständigen
Streite mit dem gemeinen Besten liegt. Kurz, ich dachte
darum nicht schlimmer von der Menschheit, weil sich die Athener
unbeständig, ungerecht und undankbar gegen mich bewiesen
hatten. Aber ich faßte einen desto stärkern Widerwillen
gegen eine jede andre Gesellschaft, als eine solche, welche sich
auf übereinstimmende Grundsätze, Tugend und Bestrebung
nach sittlicher Vollkommenheit gründet. Der Verlust meiner
Güter und die Verbannung aus Athen schien mir die wohl
thätige Veranstaltung einer für mich besorgten Gottheit zu
seyn, welche mich dadurch meiner wahren Bestimmung habe
wieder geben wollen. Es ist sehr vermuthlich, daß ich durch
Anwendung gehöriger Mittel, durch das Ansehen meiner auswärtigen
Freunde, und selbst durch die Unterstützung der Feinde
der Athener, welche mir gleich zu Anfang meines Processes
heimlich angeboten worden war, vielleicht in kurzem wieder
Wege gefunden haben könnte, meine Gegner in dem Genuß
der Früchte ihrer Bosheit zu stören, und triumphirend nach
Athen zurückzukehren. Allein solche Anschläge und solche Mittel
schickten sich nur für einen Ehrgeizigen, welcher regieren
will um seine Leidenschaften zu befriedigen. Mir fiel es nicht
ein, die Athener zwingen zu wollen, daß sie sich von mir
Gutes thun lassen sollten. Ich glaubte durch einen Versuch,
der mir durch ihre eigene Schuld mißlungen war, meiner Pflicht
gegen die bürgerliche Gesellschaft ein Genüge gethan zu haben,
und nun vollkommen berechtigt zu seyn, die natürliche Freiheit,
welche mir meine Verbannung wieder gab, zum Vortheil
meiner eigenen Glückseligkeit anzuwenden. Ich beschloß also,
den Vorsatz, den ich zu Delphi schon gefaßt hatte, nunmehr
ins Werk zu setzen, und die Quellen der morgenländischen
Weisheit, die Magier, und die Gymnosophisten in Indien zu
besuchen, in deren geheiligten Einöden ich die wahren Gottheiten
meiner Seele, die Weisheit und die Tugend (von
welchen, wie ich glaubte, nur unwesentliche Phantomen
unter den übrigen Menschen herumschwärmten) zu finden
hoffte.Aber eh' ich auf die Zufälle komme, durch welche ich an
der Ausführung dieses Vorhabens gehindert und in Gestalt
eines Sklaven nach Smyrna gebracht wurde, muß ich meiner
jungen Freundin wieder erinnern, die wir seit meiner Versetzung
nach Athen aus dem Gesichte verloren haben.—————
Sechstes Capitel.Agathon endigt seine Erzählung.Die Veränderung, welche mit mir vorging, da ich aus
den Hainen von Delphi auf den Schauplatz der geschäftigen
Welt, in das Getümmel einer volkreichen Stadt, in die
unruhigen Bewegungen einer zwischen Demokratie und Aristokratie
hin und her treibenden Republik, und in das moralische
Chaos der bürgerlichen Gesellschaft trat, worin Leidenschaften
mit Leidenschaften, Absichten mit Absichten, in einem
allgemeinen und ewigen Streit gegen einander rennen, und
nichts beständig, nichts gewiß, nichts das ist was es scheint,
noch die Gestalt behält die es hat, —diese Veränderung war
so groß, daß ich ihre Wirkung auf mein Gemüth durch nichts
anders zu bezeichnen weiß, als durch die Vergleichung mit der
Betäubung, worin (nach meinem Freunde Plato) unsre Seele
eine Zeit lang, von sich selbst entfremdet, liegen bleibt, nachdem
sie aus dem Ocean des reinen ursprünglichen Lichts, der
die überhimmlischen Räume erfüllt, plötzlich in den Schlamm
des groben irdischen Stoffes herunter gestürzet worden ist.
Die Menge der neuen Gegenstände, welche von allen Seilen
auf mich eindrang, verschlang die Erinnerung derjenigen,
welche mich vierzehn Jahre lang umgeben hatten. Ich hat hatte
Mühe mich selbst zu überreden, daß ich eben derjenige sey, der
im Tempel zu Delphi den Fremden die Merkwürdigkeiten desselben
gewiesen und erklärt hatte. Sogar das Andenken meiner
geliebten Psyche wurde eine Zeit lang von diesem Nebel,
der meine Seele umzog, verdunkelt.Allein dieß dauerte nur so lange, bis ich des neuen Elements,
worin ich itzt lebte, gewohnt worden war. Denn nun
vermißte ich ihre Gegenwart desto lebhafter wieder, je größer
das Leere war, welches die Beschäftigungen und selbst die
Ergötzungen meiner neuen Lebensart in meinem Herzen ließen.
Die Schauspiele, die Gastmähler, die Tänze, die Musikübungen,
konnten mir jene seligen Nächte nicht ersetzen,
die ich in den Entzückungen einer zauberischen Begeisterung
an ihrer Seite zugebracht hatte. Aber, so groß auch meine
Sehnsucht nach diesen verlornen Freuden war, so beunruhigte
mich doch weit mehr die Vorstellung des unglücklichen Zustandes,
in welchen die rachgierige Eifersucht der Pythia meine
Freundin vermuthlich versetzt hatte. Den Ort ihres Aufenthalts
ausfindig zu machen, schien beinahe eine Unmöglichkeit.
Denn entweder hatte die Priesterin sie fern genug von Delphi,
um uns alle Hoffnung des Wiedersehens zu benehmen, verkaufen,
oder sie gar an irgend einer entlegenen barbarischen
Küste aussetzen und dem Zufalle Preis geben lassen. Allein,
da der Liebe nichts unmöglich ist, so gab ich auch die Hoffnung
nicht auf, meine Psyche wieder zu finden. Ich belud alle
meine Freunde, alle Fremden die nach Athen kamen, alle Kaufleute,
Reisende und Seefahrer mit dem Auftrage, sich allenthalben
wohin sie kämen nach ihr zu erkundigen; und damit sie
weniger verfehlt werden könnte, ließ ich eine unzählige Menge
Copien ihres Bildnisses machen, welches ich selbst, oder vielmehr
der Gott der Liebe durch meine Hand, in der vollkommensten
Aehnlichkeit, nach dem gegenwärtigen Original gezeichnet
hatte, da wir noch in Delphi waren. Ich gestehe dir
sogar, daß das Verlangen meine Psyche wieder zu finden
(anfänglich wenigstens) der hauptsächlichste Beweggrund war,
warum ich mich in der Republik hervorzuthun suchte. Denn
nachdem mir alle andern Mittel fehl geschlagen waren, schien
mir nichts übrig zu bleiben, als meinen Namen so bekannt
zu machen, daß er ihr zu Ohren kommen müßte, sie möchte
auch seyn wo sie wollte. Dieser Weg war in der That etwas
weitläufig. Ich hatte zwanzig Jahre in Einem fort größere
Thaten thun können als Hercules und Theseus, ohne daß die
Hyrkanier, die Massageten, die Hibernier oder die Lästrigonen,
in deren Hände sie inzwischen hätte gerathen können, mehr
von mir gewußt hätten als die Einwohner des Mondes. Zu
gutem Glücke fand der Schutzgeist unsrer Liebe einen kürzern
Weg uns zusammen zu bringen, wiewohl in der That nur,
um uns Gelegenheit zu geben, auf ewig von einander Abschied
zu nehmen.Hier fuhr Agathon fort, der schönen Danae die Begebenheiten
zu erzählen, die ihm auf seiner Wanderschaft bis auf
die Stunde, da er mit ihr bekannt wurde, zugestoßen, und
wovon wir dem Leser bereits im ersten und zweiten Buche
dieser Geschichte Rechenschaft gegeben haben: und nachdem er
sich auf Unkosten des weisen Hippias ein wenig lustig gemacht
hatte, entdeckte er seiner schönen Freundin (welche seine ganze
Erzählung nirgends weniger langweilig fand als an dieser
Stelle) alle-, was von dem ersten Anblies , da er sie gesehen, in
seinem Herzen vorgegangen war. Er überredete sie, mit eben
der Aufrichtigkeit, womit er selbst es zu empfinden glaubte:
"daß sie allein dazu gemacht gewesen sey, seine Begriffe von
idealischen Vollkommenheiten und einem überirdischen Grade
von Glückseligkeit zu realisiren; daß er, seitdem er sie liebe
und von ihr geliebt sey, ohne seiner ehemaligen Denkungsart
ungetreu zu werden, nur von dem was darin übertrieben und
chimärisch gewesen, und zwar bloß dadurch zurückgekommen
sey, weil er bei ihr alles dasjenige gefunden, wovon er sich
vorher nur in der höchsten Begeisterung seiner Einbildungskraft
einige unvollkommene Schattenbegriffe habe machen können;
und weil es natürlich sey, daß die Einbildungskraft zu
wirken aufhöre, sobald der Seele nichts mehr zu thun übrig
sey, als anzuschauen und zu genießen."Mit Einem Worte, Agathon hatte vielleicht in seinem
Leben nie so sehr geschwärmt, als itzt, da er sich, im höchsten
Grade der verliebten Bethörung, einbildete, daß er alles was
er der leichtgläubigen Danae vorsagte, eben so gewiß und unmittelbar
sehe und fühle, als er ihre schönen, vom Geiste der
Liebe und von aller seiner berauschenden Wollust trunknen
Augen auf ihn geheftet sah, oder das Klopfen ihres Herzens
unter seinen brennenden Lippen fühlte. Er endigte damit:
"Er hoffe durch seine ganze Erzählung ihr begreiflich gemacht
zu haben, warum, nachdem er schon so oft, bald von den
Menschen, bald vom Glücke, bald von seinen eigenen Einbildungen
betrogen worden, es entsetzlich für ihn seyn würde,
wenn er sich jemals in der Hoffnung betrogen fände, so vollkommen
und beständig von ihr geliebt zu werden, als es zu
seiner Glückseligkeit nöthig sey." Er gestand ihr, mit einer
Offenherzigkeit, welche vielleicht nur eine Danae ertragen
konnte, daß eine lebhafte Erinnerung an die Zeiten seiner
ersten Liebe, begleitet von der Vorstellung aller der seltsamen
Zufälle, Veränderungen und Katastrophen, die er in einem Alter
von fünf und zwanzig Jahren bereits erfahren, ihn auf eine
Reihe melancholischer Gedanken gebracht habe, worin es ihm
schwer gewesen sey, seine gegenwärtige Glückseligkeit für etwas
mehr als für ein abermaliges Blendwerk seiner Phantasie zu
halten. "Gerade das Uebermaß derselben, sagte er, ist es,
was mich befürchten machte, aus einem so schönen Traum
aufzuwachen. Kannst du es mir verdenken, liebenswürdige
Danae, — o du, die durch die Reizungen deines Geistes,
auch ohne diese Liebe-athmende Gestalt, ohne diese Schönheit,
deren Anschauen himmlische Wesen dir gegenüber anzufesseln
vermögend wäre, durch die bloße Schönheit deiner Seele
und den magischen Reiz eines Geistes, der alle Vorzüge, alle
Gaben, alle Grazien in sich vereinigt, meinen Geist aus dem
Himmel selbst zu dir herunter ziehen würdest! — Könntest
du mir verdenken, daß ich vor der bloßen Möglichkeit deine
Liebe jemals verlieren zu können, wie vor der Vernichtung
meines ganzen Wesens, erzittere? —Laß mich, laß mich die
Gewißheit, daß es nie geschehen könne, immer in deinen
Augen lesen, immer von deinen Lippen hören, und in deinen
Armen fühlen! Und wenn diese vergötternde Bezauberung
jemals aufhören soll: so nimm im letzten Augenblick alle deine
Macht zusammen, und laß mich vor Entzücken und Liebe
zu deinen Füßen sterben!"Von der Antwort, womit Danae diese Ergießungen einer
glühenden Zärtlichkeit erwiederte, läßt sich das Wenigste mit
Worten ausdrücken; und dieß kann, nach allem was wir bereits
von ihren Gesinnungen für unsern Helden gesagt haben,
der kaltsinnigste von unsern Lesern sich so gut vorstellen als
wir es ihm sagen könnten. Daß sie ihm übrigens sehr höflich
für die Erzählung seiner Geschichte gedankt, und große Freude
darüber empfunden habe, in diesem Sklaven, der die Alcibiaden
und den liebenswürdigen Cyrus selbst aus ihrem Herzen
ausgelöscht hatte, den ruhmvollen Agathon, den Jüngling,
den das Gerüchte zum Wunder seiner Zeit gemacht
hatte, zu finden; und daß sie ihm hierüber viel Schönes gesagt
haben werde, —versteht sich von selbst. Dieß und alles,
was eine jede andre, die keine Danae gewesen wäre, in den
vorliegenden Umständen auch gesagt hätte, wollen wir (so wie
alle die feinen Anmerkungen und Scherze, wodurch sie in gewissen
Stellen seine Erzählung unterbrochen hatte) überhüpfen,
um zu andern Dingen, die in ihrem Gemüthe vorgingen,
zu kommen, welche der größte Theil unserer Leserinnen
(wir besorgen es, oder hoffen es vielmehr) nicht aus sich selbst
errathen hätte, und welche wichtig genug sind, ein eigenes
Kapitel zu verdienen.—————
Neuntes Buch.Fortsetzung der Geschichte Agathons und der schönen
Danae bis zur heimlichen Entweichung des erstern
aus Smyrna.Erstes Capitel.Ein starker Schritt zur Entzauberung unsers HeldenDie vertrauliche Erzählung, welche Agathon seiner zärtlichen
Freundin von seinem ganzen Lebensläufe gemacht, die
Offenherzigkeit, womit er ihr die innersten Triebfedern seiner
Seele aufgedeckt, und die vollständige Kenntniß, welche sie
dadurch von einem Liebhaber, an dessen Erhaltung ihr so viel
gelegen war, empfangen hatte, ließen sie gar bald einsehen, daß
sie vielleicht mehr Ursache habe über die Beständigkeit seiner
Liebe beunruhigt zu seyn, als er über die Dauer der ihrigen.
So schmeichelhaft es für ihre Eitelkeit war von einem Agathon
geliebt zu seyn, so hätte sie doch für die Ruhe ihres Herzens
lieber gewollt, daß er keine so schimmernde Rolle in der Welt
gespielt haben möchte. Sie besorgte nicht unbillig, daß es
äußerst schwer seyn würde, einen jungen Helden, der durch so
seltene Gaben und Tugenden zu den edelsten Auftritten des
geschäftigen Lebens bestimmt schien, immer in den Blumenfesseln
der Liebe und eines wollüstigen Müßiggangs gefangen
zu halten. Zwar schien die Art seiner Erziehung, der sonderbare
Schwung den seine Einbildungskraft dadurch erhalten,
seine herrschende Neigung zur Unabhängigkeit und Ruhe des
speculativen Lebens (welche durch die Streiche, die ihm das
Glück in einer so großen Jugend bereits gespielt, neue Stärke
bekommen hatte), nebst dem Hang zum Vergnügen, der, im
Gleichmaße mit der außerordentlichen Empfindlichkeit seines
Herzens, die Ruhmbegierde bei ihm nur zu einer subalternen
Leidenschaft machte —alles dieß schien ihr zwar zu dem Vorhaben,
ihn der Welt zu rauben und für sich selbst zu behalten,
nicht wenig beförderlich zu seyn. Aber eben diese schwärmerische
Einbildungskraft, eben diese Lebhaftigkeit der Empfindungen,
waren auf einer andern Seite mit einer gewissen natürlichen
Unbeständigkeit verbunden, von welcher sie alles zu befürchten
hatte. Konnte sie, mit aller Eitelkeit, wozu das Bewußtseyn
ihrer selbst und der allgemeine Beifall sie berechtigte, sich selbst
bereden, daß sie diese idealische Vollkommenheit wirklich besitze,
welche die begeisterten Augen ihres Liebhabers an ihr
sahen? Und da nicht sie selbst, sondern diese idealische Vollkommenheit
der eigentliche Gegenstand seiner Liebe war: auf
was für einem unsichern Grund beruhete eine Hoffnung, welche
voraussetzte, daß die Bezauberung immer dauern werde!Diese letzte Betrachtung machte sie zittern; — denn sie
fühlte mit einer immer zunehmenden Stärke, daß Agathon
zu ihrer Glückseligkeit unentbehrlich geworden war. Aber (so
ist die betrügliche Natur des menschlichen Herzens!) eben
darum, weil der Verlust ihres Liebhabers sie elend gemacht
haben würde, hatten alle Vorstellungen, die ihr mit seinem
beständigen Besitz schmeichelten, doppelte Kraft, ein Herz zu
überreden, welches nichts anders suchte als getäuscht zu werden.
Sie bildete sich also ein, daß der Hang zu demjenigen, was
man Wollüstigkeit der Seele nennen könnte, den wesentlichsten
Zug von der Gemüthsbeschaffenheit unsers Helden ausmache.
Seine Philosophie selbst schien sie in dieser Meinung zu bestätigen,
und (bei aller ihrer Erhabenheit über den groben Materialismus
des größten Haufens der Sterblichen) in der That
mit den Grundsätzen des Aristippus, welche vormals ihre eigenen
gewesen waren, in Einem Punkte zusammen zu laufen.
Der ganze Unterschied lag, wie ihr däuchte, bloß darin, daß
dieser die Wollust, die er zum letzten Ziele der Weisheit machte,
mehr in angenehmer Bewegung der Sinnen, in den Befriedigungen
eines geläuterten Geschmacks, und in den Ergötzlichkeiten
eines von allen unruhigen Leidenschaften befreiten geselligen
Lebens, —Agathon hingegen diese feinere Wollust, wovon
er in den stillen Hainen des Delphischen Tempels sich ein
so liebenswürdiges Phantom in den Kopf gesetzt hatte, mehr
in den Vergnügungen der Einbildungskraft und des Herzens
suchte. Eine Philosophie, bei welcher er (nach der scharfsinnigen
Beobachtung unsrer Schönen) sogar von Seiten der sinnlichen
Lust mehr gewann als verlor; indem diese von den verschönernden
Einflüssen einer begeisterten Einbildung und den
zärtlichen Rührungen und Ergießungen eines gefühlvollen
Herzens ihren mächtigsten Reiz erhält. Dieß als gewiß
vorausgesetzt, glaubte sie von der Unbeständigkeit, welche sie,
nicht ohne Grund, als eine Eigenschaft einer allzu geschäftigen
und hochgespannten Einbildungskraft ansah, nichts zu besorgen
zu haben, so lange es ihr nicht an Mitteln fehlen würde, seinen
Geist und sein Herz zugleich, und mit einer solchen Abwechslung
und Mannichfaltigkeit zu vergnügen, daß eine weit längere
Zeit, als die Natur dem Menschen zum Genießen angewiesen
hat, nicht lang genug wäre, ihn eines so angenehmen
Zustandes überdrüssig zu machen. Sie hatte Ursache, dieses
umso mehr zu glauben, da sie aus Erfahrung wußte, daß die
Energie der Einbildungskraft desto mehr abnimmt, je weniger
Leeres der Genuß wirklicher Vergnügungen im Herzen zurück
läßt, und je weniger ihr Zeit gelassen wird, etwas Angenehmeres
als das Gegenwärtige zu wünschen.Es ist noch nicht Zeit über diese Grundsätze der schönen
Danae unsere eigenen Gedanken zu sagen. Sie mochten, von
einer gewissen Seite betrachtet, richtig genug seyn; aber wir
besorgen sehr, daß sie sich in dem Gebrauch der Mittel, wodurch
sie ihren Zweck zu erhalten hoffte, betrogen finden werde.
In der That liebte sie zu aufrichtig und zu heftig um gute
Schlüsse zu machen; und ihr Herz führte sie nach und nach,
ohne daß sie es gewahr wurde, weit über die Gränzen der
Mäßigung weg, bei welcher sie sich anfangs so wohl befunden
hatte. Vielleicht mochte auch eine geheime Eifersucht über die
gute Psyche sich mit ins Spiel gemischt und sie begierig gemacht
haben, sogar die Erinnerung an die Freuden seiner
ersten Liebe aus seinem Gedächtniß auszulöschen. So viel ist
gewiß, daß sie, — vor lauter Begierde unsern Helden mit
Glückseligkeiten zu überschütten, ihm eine gränzenlose Liebe zu
zeigen, und ihn einen solchen Grad von Wonne, über welchem
dem Herzen nichts zu wünschen und der Phantasie nichts zu
ersinnen übrig bliebe, erfahren zu machen, — einen Weg
einschlug, auf dem sie ihres Zweckes nothwendig verfehlen
mußte.Agathon, nachdem er (dem neuen Plane seiner mehr
zärtlichen als behutsamen Geliebten zufolge) etliche Wochen
lang alles was die Liebe Süßes und Entzückendes hat genossen
hatte, verfiel unvermerkt in eine gewisse Mattigkeit der Seele,
welche wir nicht kürzer zu beschreiben wissen, als wenn wir
sagen: daß vollkommen das Widerspiel von der Begeisterung
war, worin wir ihn bisher gesehen haben. Man würde sich
irren, wenn man diese Entgeisterung einer so unedeln Ursache
beimessen wollte, als diejenige war, welche den verachtenswürdigen
Helden des Petronius nöthigte, seine Zuflucht zu
den Beschwörungen und Brennnesseln der alten Enothea zu
nehmen. Wir finden weit wahrscheinlicher, daß die wahre
Ursache davon in seiner Seele lag; daß sie aus einer Ueberfüllung
mit Vergnügen, auf welche nothwendig eine Art von
Betäubung folgen mußte, ihren Ursprung nahm. Die menschliche
Natur scheint nur eines gewissen Maßes von Vergnügen
fähig zu seyn, und einen anhaltenden Zustand von Entzückung
eben so wenig ertragen zu können, als eine lange Dauer des
äußersten Schmerzens. Beides spannt endlich die Nerven ab,
und bringt uns zu einer Art von Ohnmacht, in welcher wir
gar nichts mehr zu empfinden fähig sind.Was indessen auch die Ursache einer für die Absichten der
Danae so nachtheiligen Veränderung gewesen seyn mag, dieß
ist gewiß, die Wirkungen derselben nahmen in kurzer Zeit so
sehr zu, daß Agathon Mühe hatte sich selbst zu erkennen, oder
zu begreifen wie es mit dieser seltsamen Verwandlung zugegangen
sey. Ein magischer Nebel schien von seinen erstaunten
Augen abzufallen. Die ganze Natur zeigte sich ihm in einer
andern Gestalt, verlor diesen reizenden Firniß, womit sie der
Geist der Liebe überzogen hatte. Diese Gärten, vor wenigen
Tagen der Aufenthalt aller Freuden und Liebesgötter, diese
elysischen Haine, diese irrenden Rosengebüsche, worin die lauschende
Wollust sich so gerne verborgen hatte, um desto gewisser
erhascht zu werden, — erweckten itzt durch ihren Anblick
nichts mehr, als jeder andre schattige Platz, jedes andre Gebüsche.
Die Luft, die er athmete, war nicht mehr dieser
süße Athem der Liebe von dem jeder Hauch die Flammen
seines Herzens stärker aufzuwehen schien. Die schöne Danae
sank unvermerkt von der idealischen Vollkommenheit zu dem
gewöhnlichen Werth einer jeden schönen Frau herab; und er
selbst, der vor kurzem sich an Wonne den Göttern gleich geschadet
hatte, fing an sehr starke Zweifel zu bekommen, ob
er in dieser weibischen Gestalt, in welche ihn die Liebe verkleidet
hatte, den Namen eines Mannes verdiene?Man wird nicht zweifeln, daß in diesem Zustande die Erinnerungen
dessen, was er ehemals gewesen war, — der
wundervolle Traum, den er je länger je mehr für das Werk
irgend eines wohlthätigen Geistes, vielleicht des abgeschiedenen
Schattens seiner geliebten Psyche, zu halten bewogen war, —
die Stimme der Tugend, die er einst angebetet, welcher er
alles aufgeopfert, und die Vorwürfe, die sie ihm schon vor
einiger Zeit über ein unrühmlich in träger Wollust dahin
schmelzendes Leben zu machen angefangen, —gute Gelegenheit
hatten, sein Herz, dessen beste Neigungen schon auf
ihrer Seite waren, mit vereinigter Stärke anzugreifen. Sie
hatten es beinahe gänzlich wieder eingenommen, als er erst
deutlich gewahr wurde, wohin ihn die Betrachtungen, denen er
sich überließ, nothwendig führen mußten. Er erschrak, da er
sah, daß nichts als die Flucht von einer allzu reizenden Zaubrerin
ihm seine vorige Gestalt wieder geben könne. —Sich
von Danae zu trennen! trennen! auf ewig zu trennen! — dieser Gedanke
benahm seiner Seele auf einmal alle die Stärke wieder,
welche sie wieder in sich zu fühlen anfing, weckte alle Erinnerungen,
alle Empfindungen seiner entschlummerten Leidenschaft
wieder auf. Sie, die ihn so inbrünstig liebte, —sie,
die ihn so glücklich gemacht hatte, — zu verlassen, — für
alle ihre Liebe, für alles was sie für ihn gethan hatte, auf
eine so verbindliche, so edle Art gethan hatte, sie den Qualen
einer mit Undank belohnten Liebe Preis zu geben! —"Nein,
zu einer so niederträchtigen, so häßlichen That konnte sich
sein Herz nicht entschließen. Die Tugend selbst, welcher er
seine eigene Befriedigung aufzuopfern bereit war, konnte ein
so undankbares und grausames Verfahren nicht gut heißen."Wir überlassen es der Entscheidung kälterer Sittenlehrer,
ob die Tugend das konnte oder nicht. Genug, unser Held
war von dem letztern so lebhaft überzeugt, daß er, —anstatt
auf Gründe zu denken, womit er die Sophistereien der Liebe
hätte vernichten können, — in vollem Ernst auf Mittel
bedacht war, das Interesse seines Herzens und die Tugend
welche ihm nicht unverträglich zu seyn schienen, auf immer
mit einander zu vereinigen.Danae hatte inzwischen, wie leicht zu erachten ist, die
Veränderung, die in seiner Seele vorgegangen war, im ersten
Augenblicke, da sie merklich wurde, wahrgenommen. Allein
die gute Frau war weit entfernt, seinem Herzen die Schuld
davon beizumessen. Sie betrog sich selbst über die wahre Ursache,
und glaubte, die Veränderung des Orts und eine kleine
Entfernung würden ihm in kurzem alle die Lebhaftigkeit der
Empfindung wieder geben, die er verloren zu haben schien.
Die Wiederkehr in die Stadt, wo sie einander nicht immer
sehen würden, wo ihre Liebe sich zu verbergen genöthiget seyn,
und dadurch den Reiz eines geheimen Verständnisses erhalten
würde; die Zerstreuungen des Stadtlebens, die Gesellschaft,
die Lustbarkeiten, würden ihn (glaubte sie) bald genug wieder
so feurig als jemals in ihre Arme zurückführen. Sie überredete
ihn also ihr nach Smyrna zurück zu folgen, wiewohl
die schöne Jahreszeit noch nicht ganz zu Ende war. Hier
wußte sie (ohne daß es schien, daß sie Hand dabei habe) eine
Menge Gelegenheiten zu veranstalten, wodurch sie einander
seltner wurden. Wenn sie sich wieder allein befanden, flog
sie ihm zwar eben so zärtlich in die Arme als jemals; aber
sie vermied alles, was zu jener allzu wollüstigen Berauschung
(in welche sie ihn, so oft sie wollte, durch einen einzigen Blick
setzen konnte) geführt hatte, und that es mit einer so guten
Art, daß er keinen besondern Vorsatz dabei gewahr werden
konnte. Kurz, sie wußte die feurigste Liebe unvermerkt so
geschickt in die zärtlichste Freundschaft zu verwandeln, daß Agathon
(welcher weder Kunst noch Absicht unter ihrem Betragen
argwöhnte) ganz treuherzig in die Schlinge fiel, und in kurzem
wieder so zärtlich und dringend wurde, als ob er erst
anfangen müßte sich um ihr Herz zu bewerben. Zwar war
es nicht in ihrer Gewalt, ihm jene Begeisterung mit allem
ihrem zauberischen Gefolge wieder zu geben, welche, wenn sie
einmal verschwunden ist, nicht wieder zu kommen pflegt.
Aber die Lebhaftigkeit, womit ihre Reizungen auf seine Sinnen,
und die Empfindungen der Dankbarkeit und Freundschaft
auf sein Herz wirkten, brachten doch ungefähr die nämlichen
Erscheinungen hervor; und da man gewohnt ist gleiche Wirkungen
gleichen Ursachen zuzuschreiben, so ist es nicht unbegreiflich,
wie beide sich eine Zeit lang hierin betrügen konnten,
ohne nur zu vermuthen, daß sie betrogen würden.Es ist sehr zu vermuthen, daß es bei dieser schlauen
Mäßigung, wodurch die schöne Danae die Folgen ihrer vorigen
Unvorsichtigkeit wieder gut zu machen wußte, um unsern
Helden geschehen gewesen wäre; und daß seine Tugend unter
diesem zweifelhaften Streit mit seiner Leidenschaft, bei welchem
wechselweise bald die eine, bald die andere die Oberhand
behielt, endlich gefällig genug geworden wäre, sich mit ihrer
schönen Feindin in einen unrühmlichen Vergleich einzulassen:
wofern nicht Danae, durch den unglücklicheren Zufall, der ihr
mit einem so sonderbaren Mann als Agathon nur immer begegnen
konnte, auf einmal mit seiner Hochachtung alles, was
sie bisher noch im Besitz seines Herzens erhielt, verloren
hätte. Eine einst geliebte Person behält (auch wenn das
Fieber der Liebe vorbei ist) noch immer eine große Gewalt über
unser Herz, so lange sie unsere Hochachtung nicht verloren
hat. Agathon war zu edelmüthig, die schöne Danae für ihre
Schwachheit gegen ihn selbst dadurch zu bestrafen, daß er ihr
darum das mindeste von der seinigen entzogen hätte. Aber
so bald es dahin gekommen war, daß er sich in seiner Meinung
von ihrem Charakter und moralischen Werthe betrogen
zu haben glaubte; sobald er sich gezwungen sah sie zu verachten,
hörte sie auf Danae für ihn zu seyn; und durch eine
ganz natürliche Folge wurde er in dem nämlichen Augenblicke
wieder Agathon.—————
Zweites Capitel.Vorbereitung zum Folgenden. Neue Anschläge des Sophisten Hippias.Hippias nannte sich einen Freund der schönen Danae,
oder hatte sich wenigstens vermöge einer Bekanntschaft von
mehr als zehn Jahren in den Besitz aller Vorrechte eines
Freundes gesetzt. Die Gewohnheit einander zu sehen, die
Unterhaltung, die eines in des andern Umgang fand, gewisse
Uebereinstimmungen ihrer Denkungsart, vielleicht auch die
besondere Gunst, worin er (der gemeinen Meinung nach)
ehemals bei ihr gestanden: alles dieß hatte diese Art von Vertraulichkeit
unter ihnen hervorgebracht, welche von den Weltleuten
für Freundschaft gehalten wird, und auch in der That
alle Freundschaft ist, deren die meisten von ihnen fähig sind;
wiewohl im Grunde nichts Besseres als eine stillschweigende
Uebereinkommniß, einander so lange gewogen zu seyn, als es
dem einen oder andern Theile gelegen seyn werde; daher sie
auch ordentlicher Weise gerade so lange und keinen Augenblick
länger dauert, als — bis sie auf die Probe gesetzt wird.Es ist wahr, Hippias hatte einen guten Theil von ihrer
Hochachtung und also zugleich von ihrem Vertrauen verloren,
seitdem die Liebe so sonderbare Veränderungen in ihrem Charakter
gewirkt hatte. Je mehr Agathon gewann, je mehr
mußte Hippias verlieren. Aber eben darum, weil dieß so
natürlich war, hatte sie es nicht an sich selbst bemerkt; und
daher kam es, daß sie, unbesorgt, er möchte tiefer in ihr Herz
hinein schauen als sie selbst, sich nicht einfallen ließ die mindeste
Vorsicht gegen ihn zu gebrauchen. Wir schließen dieß daraus,
weil sie, anstatt ihm bei ihrem Liebhaber schlimme Dienste zu
thun, sich vielmehr Mühe gab, ihn bei demselben in bessere
Achtung zu setzen. Dieß war ihr auch, da es der Sophist auf
seiner Seite nicht fehlen ließ, so wohl gelungen, daß Agathon
eine günstigere Meinung von seiner Sinnesart zu fassen anfing,
und sich unvermerkt Vertrauen genug von ihm abgewinnen ließ,
sich sogar über die Angelegenheiten seines Herzens mit ihm zu
unterhalten.Unsre Liebenden verliefen sich also, mit der sorglosesten
Unvorsichtigkeit, welche Hippias nur wünschen konnte, in die
Fallstricke, die er ihnen legte, und dachten an nichts weniger,
als daß er Absichten haben könne, eine Verbindung wieder zu
vernichten, welche gewissermaßen sein eigenes Werk war.
Diese Sorglosigkeit könnte desto tadelhafter scheinen, da beiden
so wohl bekannt seyn mußte, nach was für Grundsätzen er
handelte. Allein es ist eine Beobachtung, die man alle Tage
zu machen Gelegenheit hat, daß edle Gemüther mit Leuten
von dem Charakter unsers Sophisten betrogen werden müssen,
sie mögen es angehen wie sie wollen. Sie mögen die Denkensart
solcher Personen noch so gut kennen, noch so viele Proben
haben, daß derjenige, dessen Neigungen und Handlungen allein
durch das Interesse seiner Leidenschaften bestimmt werden,
keines rechtschaffenen Betragens fähig ist: es wird ihnen doch
immer unmöglich bleiben, alle Krümmen und Falten seines
Herzens so genau auszuforschen, daß nicht in irgend einer
derselben noch eine geheime Schalkheit lauern sollte, deren man
sich, wenn sie zum Vorschein kommt, nicht versehen hatte.
Agathon und Danae, zum Beispiel, kannten den Hippias gut
genug, um überzeugt zu seyn, daß er sich, sobald sein Interesse
dem Vortheil ihrer Liebe entgegenstände, nicht einen
Augenblick bedenken würde, die Pflichten der Freundschaft seinem
Vortheil aufzuopfern. Denn was sind Pflichten für einen
Hippias? Aber was sie nicht begreifen konnten, war, was für
einen Vortheil es ihm bringen könnte, ihre Herzen zu trennen;
und dieß machte sie sicher. In der That hatte er keinen; auch
war eigentlich seine Absicht nicht, sie zu trennen. Aber er
hatte ein Interesse, ihnen einen Streich zu spielen, welcher,
dem Charakter des Agathons zufolge, nothwendig diese Wirkung
thun mußte. Und dieß war es, woran sie nicht dachten.Wir haben im vierten Buche dieser Geschichte die Absichten
entdeckt, welche den Sophisten bewogen, unsern Helden
mit der schönen Danae bekannt zu machen. Der Entwurf war
wohl ausgesonnen, und hätte, nach den Voraussetzungen die
dabei zum Grunde lagen, unmöglich mißlingen können, wenn
man auf irgend eine Voraussetzung Rechnung machen dürfte,
sobald sich die Liebe ins Spiel mischt. Dieses Mal war es
ihm gegangen, wie es gemeiniglich den Projectmachern geht;
er hatte an alles gedacht, nur nicht an den einzigen Fall, der
seine Absichten vereitelte. Wie hätte er auch glauben können,
daß eine Danae fähig seyn sollte, ihr Herz an einen Platonischen
Liebhaber zu verlieren? Ein gleichgültiger Philosoph
würde darüber betroffen gewesen seyn, ohne ungehalten zu
werden: aber es gibt sehr wenig gleichgültige Philosophen.
Hippias fand sich in seinen Erwartungen betrogen; seine Erwartungen
gründeten sich auf Schlüsse; seine Schlüsse auf seine
Grundsätze, und auf diese das ganze System seiner Ideen,
welches (wie man weiß) bei einem Philosophen den besten Theil
seines geliebten Selbsts ausmacht. Wie hätte er nicht ungehalten
werden sollen? Seine Eitelkeit fühlte sich beleidigt.
Agathon und Danae hatten die Gelegenheit dazu gegeben. Er
wußte zwar wohl, daß sie keine Absicht ihn zu beleidigen dabei
gehabt haben konnten: allein darum bekümmert sich kein Hippias.
Genug, daß sein Unwille gegründet war; daß er einen
Gegenstand haben mußte; und daß ihm nicht zuzumuthen war,
sich über sich selbst zu erzürnen. Leute von seiner Art würden
eher die halbe Welt untergehen sehen, ehe sie sich gestehen
würden gefehlt zu haben. Es war also natürlich, daß er darauf
bedacht war, sich durch das Vergnügen der Rache für den
Abgang desjenigen zu entschädigen, welches er sich von der
verhofften Bekehrung unsers Helden versprochen hatte.Agathon liebte die schöne Danae noch immer, weil sie,
selbst nachdem der höchste Grad der Bezauberung aufgehört
hatte, in seinen Augen noch immer die vollkommenste Person
war, die er kannte. Was für ein Geist! was für ein Herz!
was für seltene Talente! welche Anmuth in ihrem Umgang!
welche Mannichfaltigkeit von Vorzügen und Reizungen! Wie
hochachtungswerth mußte sie dieß alles ihm machen! Wie vortheilhaft
war ihr die Erinnerung an jeden Augenblick, von
dem ersten an da er sie gesehen, bis zu demjenigen, da sie,
von sympathetischer Liebe überwältigt, die seine glücklich
gemacht hatte! Kurz, alles was er von ihr wußte, war zu
ihrem Vortheil, und von allem, was seine Hochschätzung hätte
schwächen können, wußte er nichts.Man kann sich leicht vorstellen, daß sie so unvorsichtig
nicht gewesen seyn werde, sich selbst zu verrathen. Es ist
wahr, sie hatte sich nicht entbrechen können, die vertraute
Erzählung welche er ihr von seinem Lebenslauf gemacht, mit
Erzählung des ihrigen zu erwiedern; aber wir zweifeln sehr,
daß sie sich zu einer eben so gewissenhaften Vertraulichkeit
verbunden gehalten habe. Und woher wissen wir auch, daß
Agathon selbst, mit aller seiner Offenherzigkeit, keinen Umstand
zurückgehalten habe, von dem er vielleicht (wie ein guter
Maler oder Dichter) voraussah, daß er der schönen Wirkung
des Ganzen hinderlich seyn könnte? Wer ist uns Bürge
dafür, daß die verführerische Priesterin nicht mehr über ihn
erhalten habe als er eingestanden? — Wie dem auch sey, dieß
ist gewiß, daß Danae in der Erzählung ihrer Geschichte mehr
die Gesetze des Schönen und Anständigen, als die Pflichten
einer genauen historischen Treue, zu ihrem Augenmerke genommen,
und kein Bedenken getragen hatte, bald einen Umstand
zu verschönern, bald einen andern wegzulassen, so oft
es die besondere Absicht auf ihren Zuhörer erfordern mochte.
Denn für diesen allein, nicht für die Welt, erzählte sie; und
sie konnte sich also durch die strengen Forderungen, welche die
Welt (wiewohl vergebens) an die Geschichtschreiber macht,
nicht sehr gebunden halten. Wir wollen damit nicht sagen,
daß sie ihm irgend eine hauptsächliche Begebenheit ihres Lebens
gänzlich verschwiegen, oder, statt der wirklichen, ihn durch
erdichtete hintergangen habe. Sie sagte ihm alles. Allein es
gibt eine gewisse Kunst, dasjenige was einen widrigen Eindruck
machen könnte, aus den Augen zu entfernen; es kommt
so viel auf die Wendung an; ein einziger kleiner Umstand
gibt einer Begebenheit eine so verschiedene Gestalt von demjenigen,
was sie ohne diesen kleinen Umstand gewesen wäre,
daß man, ohne merkliche Veränderung dessen was den Stoff
der Erzählung ausmacht, tausend sehr bedeutende Treulosigkeiten
an der historischen Wahrheit begehen kann. Eine Betrachtung,
die uns (im Vorbeigehen zu sagen) die Geschichtschreiber
ihres eignen werthen Selbst (keinen Xenophon,
Cäsar, noch Markus Antoninus, ja den offenherzigen Montaigne
selbst nicht ausgenommen) noch verdächtiger macht, als
irgend eine andere Classe von Geschichtschreibern.Die schöne und kluge Danae hatte also ihrem Liebhaber
weder ihre Erziehung in Aspasiens Hause, noch ihre Bekanntschaft
mit dem Alcibiades, noch die glorreiche Liebe, welche sie
dem Prinzen Cyrus eingeflößt hatte, verhalten. Alle diese
und viele andre nicht so schimmernde Stellen ihrer Geschichte
machten ihr entweder Ehre, oder konnten doch, mit der Geschicklichkeit,
worin sie die zweite Aspasia war, auf eine solche
Art erzählt werden, daß sie ihr Ehre machten. Allein, was
diejenigen Stellen betraf, an denen sie alle Kunst, die man
auf ihre Verschönerung wenden möchte, für verloren hielt, es
sey nun, weil sie an sich selbst, oder in Beziehung auf den eigenen
Geschmack unsers Helden, in keiner Art von Einbildung,
Wendung oder Licht gefallen konnten: diese hatte sie klüglich
mit gänzlichem Stillschweigen bedeckt. Und daher kam es denn,
daß unser Held noch immer in der Meinung stand, er selbst
sey der erste gewesen, welchen sie sich durch Gunstbezeugunsen —
von derjenigen Art, womit er von ihr überhäuft worden war —
verbindlich gemacht hätte. Ein Irrthum, der nach seiner spitzfindigen
Denkungsart zu seinem Glücke so nothwendig war,
daß ohne denselben alle ihre Vollkommenheiten zu schwach gewesen
wären, ihn nur einen Augenblick in ihren Fesseln zu behalten.
Ihm diesen Irrthum zu benehmen, war der schlimmste
Streich, den man seiner Liebe und der schönen Danae spielen
konnte. Und dieß zu thun, war das Mittel, wodurch der Sophist
an beiden auf einmal eine Rache zu nehmen hoffte, deren
bloße Vorstellung sein boshaftes Herz in Entzückung setzte. Er
lauerte dazu nur auf eine bequeme Gelegenheit, und diese
pflegt einem bösen Vorhaben immer auf halbem Wege entgegen
zu kommen.Ob dieß letztere der Geschäftigkeit eines bösen Dämons
zuzuschreiben sey, oder ob es daher komme, weil die Bosheit,
ihrer Natur nach, eine lebhaftere Thätigkeit hervorbringe als
die Güte, ist eine Frage, welche wir andern zu untersuchen
überlassen. Es sey das eine oder das andere, so würde eine
ganz natürliche Folge dieser fast alltäglichen Erfahrungswahrheit
seyn: daß das Böse in einer immer wachsenden Progression
zunehmen, und (wenigstens in dieser sublunarischen Welt)
das Gute zuletzt gänzlich verschlingen würde; wenn nicht eine
eben so gemeine Erfahrung bekräftigte: "daß die Bemühungen
der Bösen, so glücklich sie auch in der Ausführung seyn mögen,
doch gemeiniglich ihren eigentlichen Zweck verfehlen, und
das Gute durch eben die Maßregeln und Ränke, wodurch es
hätte gehindert werden sollen, weit besser befördern, als wenn
sie sich ganz gleichgültig dabei verhalten hätten."—————
Drittes Capitel.Hippias wird zum Verräther an seiner Freundin Danae.Unter andern Eigenschaften, welche den Charakter der
Danae schätzbar machten, war auch diese, daß sie eine vortreffliche
Freundin war. So gleichgültig, bis auf die Zeit, da
Agathon sich ihres Herzens bemeisterte, gegen den Vorwurf
der Unbeständigkeit der Liebe, so zuverlässig und standhaft war
sie jederzeit in der Freundschaft gewesen. Sie liebte ihre
Freunde mit einer Zärtlichkeit, welche von Leuten, die bloß
nach dem äußerlichen Ausdruck urtheilen, leicht einem eigennützigen
Affect beigemessen werden konnte. Denn diese Zärtlichkeit
stieg bis zur thätigsten Leidenschaft, sobald es darauf
ankam, einem unglücklichen Freunde Dienste zu leisten. Es
gibt kein Vergnügen, welches sie nicht in einem solchen Falle
den Pflichten der Freundschaft aufgeopfert hätte.Eine Veranlassung von dieser Art war es, was sie auf einige
Tage von Smyrna abgerufen hatte. Agathon mußte zurück
bleiben, und die gutherzige Danae, zufrieden mit dem Beweise
seiner Liebe den ihr sein Schmerz beim Abschied gab, versüßte
sich ihren eigenen durch die Vorstellung, daß eine kurze
Trennung ihm den Werth seiner Glückseligkeit weit lebhafter
zu fühlen geben werde, als eine ununterbrochene Gegenwart.
Ruhig über den Besitz seines Herzens, empfahl sie ihm, sich,
während ihrer Abwesenheit, kein Vergnügen, so ihm das reiche
und das wollüstige Smyrna verschaffen konnte, zu versagen;
und empfahl es ihm desto eifriger, je gewisser sie war, daß
sie von dergleichen Zerstreuungen nichts zu besorgen habe.Allein Agathon hatte bereits angefangen den Geschmack
an diesen Lustbarkeiten zu verlieren. So lebhaft, so mannichfaltig,
so berauschend sie seyn mögen, so sind sie doch nicht
fähig, einen edlern Geist lange einzunehmen. Als eine Beschäftigung
betrachtet, können sie es nur für Leute seyn, die
sonst zu nichts taugen: und Vergnügungen bleiben sie nur, so
lange sie neu sind. Je lebhafter sie sind, desto eher erfolgen
Sättigung und Ermüdung; alle ihre anscheinende Mannichfaltigkeit
kann bei einem fortgesetzten Gebrauch das Einförmige
nicht verbergen, wodurch sie endlich selbst der verdienstlosesten
Classe der Weltmenschen ekelhaft werden. Die Abwesenheit
der Danae benahm ihnen vollends noch den einzigen Reiz, den
sie für ihn hätten haben können, das Vergnügen an dem
Antheil den sie daran genommen hätte. Er brachte also beinahe
die ganze Zeit ihrer Abwesenheit in einer Einsamkeit zu, von
welcher ihn das beschäftigte Leben zu Athen und die wollüstige
Muße zu Smyrna schon etliche Jahre entwöhnet hatten. Hier
ging es ihm anfangs wie denen, welche aus einem stark erleuchteten
Ort auf einmal ins Dunkle kommen. Seine Seele
fühlte sich leer, weil sie allzu voll war. Er schrieb dieß der
Abwesenheit seiner Freundin zu. Er fühlte, daß sie ihm mangelte;
und dachte nicht daran, daß er sie weniger vermißt
haben würde, wenn die Nerven seines Geistes durch die Gewohnheit
einer wollüstigen Leidsamkeit nicht eingeschläfert worden
waren.Die ersten Tage schlichen für ihn in einer Art von zärtlicher
Melancholie vorbei, welche nicht ohne Anmuth war.
Danae war beinahe der einzige Gegenstand, womit seine in
sich selbst zurückgezogene Seele sich beschäftigte. Oder, wenn
seine Erinnerung auch in ältere Zeiten zurück ging, wenn
sie ihm das Bild seiner Psyche, oder die glänzenden Auftritte
seines republikanischen Lebens vorhielt: so war es nur, um den
Werth der unvergleichlichen Danae und die ruhige Glückseligkeit
eines allein der Liebe, der Freundschaft, den Musen und
den Göttinnen der Freude geweihten Privatlebens in ein höheres
Licht zu setzen. Seine Liebe belebte sich auf's neue. Sie
verbreitete wieder diese begeisternde Wärme durch sein Wesen,
welche die Triebfedern des Herzens und der Einbildungskraft
so harmonisch zusammen spielen macht. Er entwarf sich
die Idee einer Lebensart, welche mehr das Leben eines Gottes
als eines Sterblichen schien. Danae glänzte darin aus einem
Himmel von lachenden Bildern der Freude und Glückseligkeit
hervor. Entzückt von diesen angenehmen Träumen, beschloß
er bei sich selbst, sein Schicksal auf immer mit dem ihrigen
zu vereinigen. Er hielt sie für würdig, diesen Agathon glücklich
zu machen, welcher zu stolz gewesen wäre, das schimmerndste
Glück aus der Hand eines Königs anzunehmen.
Dieser Entschluß, der bei tausend andern eine nur sehr zweideutige
Probe der Liebe seyn würde, war in der That, nach
seiner Art zu denken, der Beweis, daß die seinige auf den
höchsten Grad gestiegen war.In einem für Danae's Absichten so günstigen Gemüthszustande
befand er sich, als Hippias ihm einen Besuch machte,
um sich auf eine freundschaftliche Art über die Einsamkeit zu
beklagen, worin er seit der Entfernung seiner schönen Freundin
lebte. Danae sollte zufrieden seyn, sagte er in scherzhaftem
Tone, den liebenswürdigen Kallias für sich allein zu behalten
wenn sie gegenwärtig sey: aber ihn auch in ihrer Abwesenheit
der Welt zu entziehen, dieß sey zu viel, und müsse endlich die
Folge haben, die Schönen zu Smyrna zu einer allgemeinen
Zusammenverschwörung gegen sie zu reizen. Agathon beantwortete
diesen Scherz in gleichem Tone. Unvermerkt wurde
das Gespräch interessant, ohne daß der Sophist eine besondere
Absicht merken ließ. Er bemühte sich seinem Freunde zu beweisen,
er habe Unrecht der Gesellschaft zu entsagen, um sich
mit den Dryaden von seiner Liebe zu besprechen, und die
Zephyrn mit Seufzern und Botschaften an seine Abwesende zu
beladen. Er malte ihm die Vergnügungen vor, deren er sich
beraube, und vergaß auch das Lächerliche nicht, welches er sich
durch eine so seltsame Laune in den Augen der Schönen gebe.
Seiner Meinung nach, sollte ein Kallias sich an einer einzigen
Eroberung, wie glänzend sie auch immer seyn möchte, nicht
begnügen lassen: er, dem seine Vorzüge das Recht gäben,
seinem Ehrgeiz in dieser Sphäre keine Gränzen zu setzen, und
der nur zu erscheinen brauche um zu siegen. Er bewies die
Wahrheit dieser Schmeichelei mit den besondern Ansprüchen,
welche einige der berühmtesten Schönheiten zu Smyrna auf
ihn machten. Seinem Vorgeben nach lag es nur an Agathon,
seine Eitelkeit, seine Neubegier und seinen Hang zum Vergnügen
zu gleicher Zeit zu befriedigen, und auf eine so mannichfaltige
Art glücklich zu seyn, als sich die verzärteltste Einbildung
nur immer wünschen könne.Agathon hatte auf alle diese schönen Vorspiegelungen nur
Eine Antwort — seine Liebe zu Danae. Der Sophist fand
sie unzulänglich. Eben diese Ursachen, welche seine Liebe zu
Danae hervorgebracht hatten, sollten ihn auch für die Reizungen
andrer Schönen empfindlich machen. Seiner Meinung
nach, machte die Abwechselung der Gegenstände das größte
Glück der Liebe aus. Er behauptete diesen Satz durch eine
sehr lebhafte Ausführung der besondern Vergnügungen, welche
mit der Besiegung einer jeden besondern Classe von Schönen
verbunden sey. Die Unwissende und die Erfahrne, die Geistreiche
und die Blöde, die Schöne und die Häßliche, die
Kokette, die Spröde, die Tugendhafte, die Schwärmerin, —
kurz, jeder besondere Charakter beschäftige den Geschmack,
die Einbildung, und sogar die Sinne (denn von dem Herzen
war bei ihm die Rede nicht) auf eine eigene Weise, erfordre
einen andern Plan, setzte andre Schwierigkeiten entgegen,
und mache auf eine andre Art glücklich. Das Ende dieser
feinen Ausführung war, daß es unbegreiflich sey, wie man so
viel Vergnügen in seiner Gewalt haben, und es sich nur
darum versagen könne, um die einförmigen Freuden einer
einzigen, mit romanhafter Treue in gerader Linie sich fortschleppenden
Leidenschaft bis auf die Hefen zu erschöpfen.Agathon gab zu, daß die Abwechselung, wozu ihn
Hippias aufmuntere, ganz angenehm für einen müßigen
Wollüstling seyn möge, der aus dieser Art von Zeitvertreib
das Geschäfte seines Lebens mache. Er behauptete aber, daß
solche Personen niemals erfahren haben müßten was wahre
Liebe sey. Er überließ sich sodann der ganzen Schwärmerei
seines Herzens, um dem Hippias eine Abschilderung von
demjenigen zu machen, was er von dem ersten Anblick an
bis auf diese Stunde für die schöne Danae empfunden hatte.
Er beschrieb eine so wahre, so zärtliche, so vollkommene
Liebe; er breitete sich mit einer so begeisterten Entzückung
über die Vortrefflichkeiten seiner Freundin, über die Sympathie
ihrer Seelen, und über die Wonne, die er in ihrer Liebe
genieße, aus: daß man entweder die Bosheit eines Hippias,
oder die freundschaftliche Hartherzigkeit eines Mentors haben
mußte, um fähig zu seyn, ihn einem so beglückenden Irrthume
zu entreißen.Die Reizungen der schönen Danae sind zu bekannt, versetzte
der Sophist, und ihre Vorzüge in diesem Stücke werden
sogar von ihrem eigenen Geschlecht so allgemein eingestanden,
daß Lais selbst —Sie, welche den Ruhm hat, daß die edelsten
Griechen und die Fürsten ausländischer Nationen den Preis
ihrer Nächte in die Wette steigern — lächerlich seyn würde,
wenn sie sich einfallen lassen wollte, ihr den Vorzug der Liebenswürdigkeit
streitig zu machen. Aber daß sie jemals die
Ehre haben würde, eine so ehrwürdige, so metaphysische, so
über alles was sich denken läßt erhabene Liebe einzuflößen;
daß der Macht ihrer Reizungen noch dieses Wunder, das
einzige, welches ihr noch fehlte, aufbehalten sey; dieß hätte sich
in der That niemand träumen lassen können, ohne sich selbst
über einen solchen Einfall zu belachen.Hier ging unserm Helden, der die boshafte Vergleichung
mit einer Korinthischen Hetäre schon äußerst ärgerlich gefunden
hatte, die Geduld gänzlich aus. Er setzte den Sophisten,
mit aller Hitze eines in dem Gegenstande seiner Anbetung
beleidigten Liebhabers, wegen des zweideutigen Tons zur
Rede, womit er sich anmaße, von einer Person wie Danae
zu sprechen. Aber sein Unwille sowohl als seine Verwirrung
stieg auf den höchsten Grad, da er sah, daß ein satyrmäßiges
Gelächter die ganze Antwort des Hippias war.Es ist so leicht vorauszusehen, was für einen Ausgang
diese Scene nehmen mußte, daß wir, nach allem, was von
den Absichten des Sophisten bereits gesagt worden ist, den
Leser seiner eigenen Einbildung überlassen können. Ungeduldige
Fragen auf der einen, Ausflüchte und schalkhafte Wendungen
auf der andern Seite; bis sich Hippias auf vieles Zureden
endlich das Geheimniß des wahren Standes der schönen
Danae, und derjenigen Anekdoten, welche wir unsern Lesern
schon im vierten Kapitel des vierten Buches verrathen haben,
mit einer Gewalt, welcher seine vorgebliche Freundschaft für
Agathon nicht widerstehen könne, abnöthigen ließ.Wir haben schon bemerkt, wie viel bei Erzählung einer
Begebenheit auf die Absicht des Erzählers ankomme. Danae
erzählte ihre Geschichte mit der unschuldigen Absicht zu gefallen.
Sie sah natürlicher Weise ihre Aufführung, ihre
Schwachheiten ihre Fehltritte selbst, in einem mildern, und
(lasset uns die Wahrheit sagen) in einem wahrern Licht als
die Welt; welche auf der einen Seite von allen den kleinen
Umständen, die uns rechtfertigen, oder wenigstens unsere
Schuld vermindern, nicht unterrichtet, und auf der andern
boshaft genug ist, um ihres größern Vergnügens willen das
Gemälde unsrer Thorheiten mit tausend Zügen zu überladen,
um welche es zwar weniger wahr, aber desto komischer wird.
Unglücklicher Weise für sie erforderte die Absicht des Hippias,
daß er diese schalkhafte Kunst, eine Begebenheit ins Häßliche
zu malen, so weit treiben mußte, als es die Gesetze der
Wahrscheinlichkeit nur immer erlauben konnten.Unser Held glich während dieser Entdeckung mehr einer
Bildsäule oder einem Todten, als sich selbst. Kalte Schauer
und fliegende Gluth fuhren wechselsweise durch seine Adern.
Seine von den widerwärtigsten Leidenschaften auf einmal
bestürmte Brust athmete so langsam, daß er in Ohnmacht
gefallen wäre, wenn nicht Eine davon plötzlich die Oberhand
behalten, und durch den heftigsten Ausbruch dem gepreßten
Herzen Luft gemacht hätte. Das Licht, worin ihm Hippias
seine Göttin zeigte, machte mit demjenigen, worin er sie zu
sehen gewohnt war, einen so beleidigenden Contrast, der
Gedanke, sich so sehr betrogen zu haben, war so unerträglich,
daß es ihm unmöglich fallen mußte, dem Sophisten Glauben
beizumessen. Der ganze Sturm, der seine Seele schwellte,
brach also über den Verräther aus. Er nannte ihn einen
falschen Freund, einen Verläumder, einen Nichtswürdigen —
reif alle rächenden Gottheiten gegen ihn auf —schwor, wofern
er die Beschuldigungen, womit er die Tugend der schönen
Danae zu beschmieren sich erfrechte, nicht bis zur unbetrüglichsten
Evidenz erweisen werde, ihn als ein das Sonnenlicht
befleckendes Ungeheuer zu vertilgen, und seinen verfluchten
Rumpf unbegraben den Vögeln des Himmels Preis zu
geben.Hippias sah diesem Sturme mit der Gelassenheit eines
Menschen zu, der die Gewalt der Leidenschaften kennt; so
ruhig, wie einer, der vom sichern Ufer dem wilden Aufruhr
der Wellen zusieht, denen er glücklich entgangen ist. Ein
mitleidiger Blick, dem ein schalkhaftes Lächeln seinen zweideutigen
Werth vollends benahm, war alles was er dem
Zorne des aufgebrachten Liebhabers entgegen setzte. Agathon
stutzte darüber. Ein schrecklicher Zweifel warf ihn auf einmal
auf die entgegengesetzte Seite. Rede, Grausamer, rief er
aus, rede! Beweise deine hassenswürdigen Anklagen so klar
als Sonnenschein; oder bekenne, daß du ein verrätherischer
Elender bist, und vergeh' vor Scham!Bist du bei Sinnen, Kallias? antwortete der Sophist
mit dieser verruchten Gelassenheit, welche in solchen Umständen
der triumphirenden Bosheit eigen ist — Komm erst zu dir
selbst; sobald du fähig seyn wirst, Vernunft anzuhören, will
ich reden.Agathon schwieg; denn was kann derjenige sagen, der
nicht weiß was er denken soll?Wahrhaftig, fuhr Hippias fort, ich begreife nicht, was
für eine Ursache du zu haben glaubst, den rasenden Ajax mit
mir zu spielen. Wer redet von Beschuldigungen? Wer klagt
die schöne Danae an? Ist sie vielleicht weniger liebenswürdig,
weil du weder der erste bist der sie gesehen, noch der erste
der sie empfindlich gefunden hat? Was für Launen sind das?
Glaube mir, jeder andre als du hätte nichts weiter nöthig
gehabt, als sie zu sehen, um meine Nachrichten glaubwürdig
zu finden. Ihr bloßer Anblick ist ein Beweis. Aber du forderst
einen stärkern? Du sollst ihn haben, Kallias. Was
sagtest du, wenn ich selbst einer von denen gewesen wäre,
welche sich rühmen können, die schöne Danae empfindlich gesehen
zu haben?Du? rief Agathon mit einem unglaubigen Erstaunen,
welches eben nicht schmeichelhaft für die Eitelkeit des Sophisten
war.Ja, Kallias, ich; ich, wie du mich hier siehest, zehn
oder zwölf Jahre abgerechnet, um welche ich damals geschickter
seyn mochte, den Beifall einer schönen Dame zu erhalten.
Du glaubst vielleicht ich scherze; aber ich bin überzeugt, daß
deine Göttin selbst zu edel denkt, um dir, wenn du sie mit
guter Art fragen wirst, eine Wahrheit verhalten zu wollen,
von welcher ganz Smyrna zeugen könnte.Hier fuhr der barbarische Mensch fort, ohne das geringste
Mitleiden mit dem Zustande, worein er den armen Agathon
durch seine Prahlereien setzte, die genossenen Glückseligkeiten
von Stück zu Stück, in einem Tone von Wahrheit und mit
einer Munterkeit zu beschreiben, welche seinen Zuhörer beinahe
zur Verzweiflung brachte. Es ist vorbei! fiel er endlich
dem Sophisten mit einer so heftigen Bewegung in die Rede,
daß er in diesem Augenblicke mehr als ein Mensch zu seyn
schien — Es ist vorbei! O Tugend, du bist gerochen! —
Hippias, du hast mich unter der lächelnden Maske der
Freundschaft mit einem giftigen Dolche durchbohrt —aber ich
danke dir! — Deine Bosheit leistet mir einen wichtigern
Dienst, als alles was deine Freundschaft für mich hätte thun
können. Sie öffnet mir die Augen — zeigt mir auf einmal in
den Gegenständen meiner Hochachtung und meines Zutrauens,
in dem Abgott meines Herzens und in meinem vermeinten
Freunde, die verächtlichsten Gegenstände, womit jemals meine
Augen sich besudelt haben. — Götter! die Buhlerin eines
Hippias! Kann etwas unter diesem untersten Grade der
Entehrung seyn? — Mit dieser Apostrophe warf er den verachtungsvollesten
Blick, der jemals aus einem menschlichen
Auge geblitzt hat, auf den betroffenen Sophisten und ging
davon.—————
Viertes Capitel.Folgen des Vorhergehenden. Agathon entfernt sich heimlich aus
Smyrna.Die menschliche Seele ist vielleicht keines heftigern
Schmerzens fähig, als derjenige ist, den Gegenstand unserer
zärtlichsten Gesinnungen verachten zu müssen. Alles was man
davon sagen kann, ist zu schwach, die Feuerpein auszudrücken,
die durch eine so gewaltsame Zerreißung in einem
gefühlvollen Herzen verursacht wird. Wir wollen also lieber
gestehen, daß wir uns unvermögend finden, den Tumult der
Leidenschaften, welche, in den ersten Stunden nach einer so
grausamen Unterredung, in dem Gemüthe Agathons wütheten,
abzuschildern, als durch eine frostige Beschreibung zu
gleicher Zeit unsre Vermessenheit und unser Unvermögen zu
verrathen.Das erste was er that, sobald er seiner selbst wieder
mächtiger wurde, war, daß er alle seine Kräfte anstrengte, sich
zu überreden, daß ihn Hippias betrogen habe. War es zu
viel, das Schlimmste von einem so ungeheuern Bösewicht zu
denken, als dieser Sophist nunmehr in seinen Augen war? Was
für eine Gültigkeit konnte ein solcher Zeuge gegen eine Danae
haben? —Oder vielmehr, was für einen mächtigen Vertheidiger
hattest du, schöne Danae, in dem Herzen deines Agathon! Was
hätte Hyperides selbst, ob er gleich beredt genug war die Athener
von der Unschuld einer Phryne zu überzeugen, Stärkeres und
Scheinbareres zu deiner Vertheidigung sagen können, als was
Agathon sich selbst sagte? Vermuthlich würde die Vernunft
allein von dieser sophistischen Beredsamkeit der Liebe überwältiget
worden seyn: aber die Eifersucht, welche ihr zu Hülfe kam, gab
den Ausschlag. Unter allen Leidenschaften ist keine, welcher die
Verwandlung des Möglichen ins Wirkliche weniger kostet als
dieser. In dem zweifelhaften Lichte, welches sie über seine
Seele ausbreitete, wurde Vermuthung zu Wahrscheinlichkeit,
und Wahrscheinlichkeit zu Gewißheit; nicht anders, als ob er,
mit der spitzfindigen Delicatesse eines Julius Cäsars, die schöne
Danae schon darum schuldig gefunden hätte, weil sie bezichtiget
wurde. Er verglich ihre eigene Erzählung mit des Hippias
seiner, und glaubte nun, da das Mißtrauen sich seines Geistes
einmal bemächtiget hatte, hundert Spuren in der ersten wahrzunehmen,
welche die Wahrheit der letztern bekräftigten. Hier
hatte sie einem Umstand eine gekünstelte Wendung geben müssen;
dort war sie (wie er sich zu erinnern glaubte) verlegen gewesen,
was sie aus einem andern machen sollte, der ihr unversehens
entschlüpft war. Mit einem eben so schielenden Auge durchging
er ihr ganzes Betragen gegen ihn. Wie deutlich glaubte er itzt
zu sehen, daß sie, von dem ersten Augenblick an, Absichten auf
ihn gehabt habe! In tausend kleinen Umständen, welche ihm
damals ganz gleichgültig gewesen waren, fand er itzt die Merkmale
einer geheimen Bedeutung. Er besann sich, er verglich
und verknüpfte so lange, bis ihm nichts so glaublich vorkam, als
daß alles, was von seinem ersten Besuche bis zu seinem Uebergang
in ihre Dienste vorgegangen, die Folgen eines zwischen
ihr und dem Sophisten abgeredeten Plans gewesen sey. Wie
sehr vergiftete dieser Gedanke alles was sie für ihn gethan hatte!
Wie gänzlich benahm er ihren Handlungen diese Schönheit und
Grazie, die ihn so sehr bezaubert hatte! Er sah nun in diesem
vermeinten Urbilde jeder idealischen Vollkommenheit nichts mehr
als eine schlaue Kokette, die durch eine große Fertigkeit in der
Kunst die Männer zu bestricken den Vortheil über seine Unschuld
erhalten hatte. Wie verächtlich kamen ihm itzt diese Gunstbezeugungen
vor, die ihm so kostbar gewesen waren, so lang er sie
für Ergießungen eines für ihn allein empfindlichen Herzens angesehen
hatte! Wie verächtlich diese Freuden, die ihn in jenem
glücklichen Stande der Bezauberung den Göttern gleich gemacht!
Wie zürnte er itzt über sich selbst, daß er thöricht genug habe
seyn können, in ein so sichtbares, so handgreifliche Netz sich
verwickeln zu lassen!Das Bild der liebenswürdigen Psyche konnte sich ihm zu
keiner ungelegnern Zeit für Danae darstellen als itzt. Aber es
war natürlich, daß es sich darstellte; und wie blendend war das
Licht, worin es ihm itzt erschien! Wie wurde sie durch die verdunkelten
Vorzüge ihrer unglücklichen Nebenbuhlerin heraus
gehoben! Himmel! wie war es möglich, daß die Beischläferin
eines Alcibiades, eines Hippias, eines jeden andern der ihr
gefiel, fähig seyn konnte, diese liebenswürdige Unschuld auszulöschen,
deren keusche Umarmungen, anstatt seine Tugend
in Gefahr zu setzen, ihr neues Leben, neue Stärke gegeben
hatten?Er trieb die Vergleichung so weit sie gehen konnte. Beide
hatten ihn geliebt. Aber welcher Unterschied in der Art zu lieben!
Welcher Unterschied zwischen dieser Nacht (an die er sich
itzt mit Abscheu erinnerte), wo Danae, nachdem sie alle ihre
Reizungen, alles was die schlaueste Verführungskunst erfinden
kann, zugleich mit den magischen Kräften der Musik aufgeboten,
seine Sinne zu berauschen und sein ganzes Wesen in Begierden
aufzulösen, sich selbst mit zuvorkommender Güte in seine Arme
geworfen hatte: — und jenen Elysischen Nächten, die ihm, an
Psychens Seite, in der reinen Wonne entkörperter Geister, wie
ein einziger himmlischer Augenblick, vorüber geflossen waren! —
Die arme Danae! Sogar die Reizungen ihrer Figur verloren
bei dieser Vergleichung einen Vorzug, den ihnen nur das parteilichste
Vorurtheil absprechen konnte. Diese Gestalt der
Liebesgöttin, bei deren Anschauung seine entzückte Seele in
Wollust zerflossen war, sank itzt, mit der jungfräulichen Geschmeidigkeit
der jungen Psyche verglichen, in seiner gramsüchtigen
Einbildung zu der üppigen Schönheit einer Bacchantin herab;
der Wuth eines weintriefenden Satyrs würdiger, als der zärtlichen
Entzückungen, die er sich itzt schämte, in einer unverzeihlichen
Bethörung an sie verschwendet zu haben.Ohne Zweifel werden unsere tugendhaften Leserinnen, welche
den Fall unsers Helden (nicht ohne gerechten Unwillen gegen die
feinen Buhlerkünste der schönen Danae) betrauert haben, von
Herzen erfreut seyn, die Ehre der Tugend, und gewissermaßen
das Interesse ihres ganzen Geschlechts, an dieser Verführerin
gerochen zu sehen. Wir nehmen selbst vielen Antheil an dieser
ihrer Freude; aber wir können uns doch, mit ihrer Erlaubniß,
nicht entbrechen zu sagen: daß Agathon in der Vergleichung
zwischen Danae und Psyche eine Strenge bewies, welche wir
nicht allerdings billigen können, so gern wir ihn auch von einer
Leidenschaft zurück kommen sehen, deren längere Dauer ihn
untauglich gemacht haben würde, der Held gegenwärtiger
Geschichte zu seyn.Danae mag wegen ihrer Schwachheit gegen ihn so tadelswürdig
seyn als man will, so war es doch offenbar unbillig, sie
zu verurtheilen, weil sie nicht Psyche war; oder, um bestimmter
zu reden, weil sie in ähnlichen Umständen sich nicht vollkommen
so wie Psyche betragen hatte. Wenn Psyche unschuldiger
gewesen war, so war es weniger ein Verdienst, als ein physischer
Vorzug, eine natürliche Folge ihrer großen Jugend und ihrer
Umstände. Danae war es vermuthlich auch, als sie, mit aller
Naivetät eines Landmädchens von vierzehn Jahren, bei den
Gastmählern zu Athen nach der Flöte tanzte, oder den Alkamenen,
für die Gebühr, das Modell zu dem halb aufgeblühten
Busen einer Hebe vorhielt. War es ihre Schuld, daß sie nicht
zu Delphi erzogen worden war? oder, daß sich die ersten Empfindungen
ihres jugendlichen Herzens für einen Alcibiades,
und nicht für einen Agathon entfaltet hatten? —Psyche liebte
unschuldiger; wir geben's zu; aber die Liebe bleibt doch in
ihren Wirkungen allezeit sich selbst ähnlich. Sie erweitert ihre
Forderungen so lange, bis sie im Besitz aller ihrer Rechte ist;
und die gutherzige Unerfahrenheit ist am wenigsten im Stande,
ihr diese Forderungen streitig zu machen. Es war glücklich für
die Unschuld der zärtlichen Psyche, daß ihre nächtlichen Zusammenkünfte
unterbrochen wurden, ehe diese auf eine so geistige
Art sinnliche Schwärmerei, worin beide Liebende so starke
Schritte zu machen angefangen hatten, ihren höchsten Grad erreichte.
Vielleicht noch wenige Tage, oder auch später (wenn
ihr wollt), aber desto gewisser, würden die guten Kinder, von
einer unschuldigen Ergießung des Herzens zur andern, von einem
immer noch zu schwachen Ausdruck ihrer unaussprechlichen Empfindungen
zum andern, sich endlich, zu ihrer eigenen großen
Verwunderung, da gefunden haben, wo die Natur sie erwartet
hätte; und wo würde dann der wesentlichste Vorzug der Unschuld
geblieben seyn? — Ein anderer Umstand, worin Psyche,
glücklicher Weise für sie, den Vortheil über Danae hatte, war
dieser, daß ihr Liebhaber eben so unschuldig war als sie selbst,
und bei aller seiner Zärtlichkeit nicht den Schatten eines Gedankens
hegte, ihrer Tugend nachzustellen. Wissen wir, wie sie sich
verhalten hätte, wenn sie auf die Probe gestellt worden wäre?
Sie würde widerstanden haben, daran ist kein Zweifel: aber
doch nur so lang es ihr möglich gewesen wäre. Denn daß sie
Stärke genug gehabt hätte, ihn zu fliehen, ihn gar nicht mehr
zu sehen, dieß ist nicht zu vermuthen. Sie würde also doch
endlich von den süßen Verführungen der Liebe überschlichen worden
seyn, wie weit sie auch den Augenblick ihrer Niederlage hätte
zurückstellen mögen. Man kann noch einwenden: gesetzt auch,
sie würde die Probe nicht ausgehalten haben, so hätte sie doch
widerstanden. Danae hingegen habe ihren Fall nicht nur vorausgesehen
und beschleunigt, sondern er sey sogar das Werk
ihrer eigenen Veranstaltung gewesen; und wenn sie ihn aufgeschoben
habe, so sey es allein zum Vortheil ihrer Liebe und
ihres Vergnügens, nicht aus Tugend, geschehen. Alles dieß
ist nicht zu läugnen. Allein vorausgesetzt, daß sie sich endlich
doch ergeben haben würde (welches auf eine oder die andere Art
doch allemal der stillschweigende Vorsatz einer jeden ist, die sich
in eine Liebesangelegenheit wagt), wozu würde ein langwieriger
eigensinniger Widerstand gedient haben, als sich selbst und ihrem
Liebhaber unnöthige Qualen zu verursachen? Und glauben wir
etwan, daß sie sich keine Gewalt habe anthun müssen, einen
Liebhaber, dessen außerordentlicher Werth die Heftigkeit ihrer
Neigung so gut rechtfertigte, so lange schmachten zu lassen?
Oder daß die Selbstverläugnung, welche hierzu erfordert wurde,
einer Person, deren Einbildungskraft mit den Vergnügungen
der Liebe schon so bekannt war, nicht zum wenigsten eben so
viel gekostet habe, als einer noch Unerfahrenen der ernstlichste
Widerstand?Wir sagen dieß alles nicht, um die schöne Danae zu rechtfertigen,
sondern nur, zu zeigen, daß Agathon in der Hitze des
Affects zu streng über sie geurtheilet habe. Es war unbillig,
ihr eine Gültigkeit zum Verbrechen zu machen, welche ihn eben
so glücklich gemacht hatte, als er elend gewesen seyn würde,
wenn sie schlechterdings darauf beharret wäre, die heftige Leidenschaft,
von welcher er verzehrt wurde, bloß durch die ruhigen
Gesinnungen der Freundschaft erwiedern zu wollen. Allein
das Vorurtheil, von welchem er nun eingenommen war, machte
ihn unfähig ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Der Gedanke,
daß sie einen Hippias eben so begünstiget habe als ihn,
machte ihm alles verdächtig, was ihn hätte überzeugen können,
daß er wenigstens der erste gewesen sey, der ihr Herz wahrhaftig
gerührt habe. Kurz, er sah nun nichts in ihr als eine Buhlerin,
welche, in dem Lichte worin sie ihm itzt erschien, vor den übrigen
ihrer Classe keinen andern Vorzug hatte, als daß sie gefährlicher
war.Indessen konnte sein Unwille gegen sie nicht so heftig
seyn, ohne sich gegen sich selbst zu kehren. Die Vorstellung,
daß er die Stelle eines Hippias, eines Hyacinths, bei ihr vertreten
habe, machte ihn in seinen eigenen Augen zum verächtlichsten
Sklaven. Er schämte sich vor seinem ehmaligen besseren
Selbst, wenn er an die Rechenschaft dachte, welche er sich von
seinem Aufenthalt zu Smyrna schuldig sey. Würde er, sogar
wenn Danae wirklich diejenige gewesen wäre, wofür er sie in
der Trunkenheit der Leidenschaft gehalten hatte, vor dem Gerichtsstuhl
der Tugend haben bestehen können? Was wollte
er denn nun antworten, da er sich selbst anklagen mußte, eine
so lange Zeit, ohne irgend eine lobenswürdige That, verloren
für seinen Geist, verloren für die Tugend, verloren für sein eigenes
und das allgemeine Beste, in unthätigem Müßiggang, und,
was noch schlimmer war, in der verächtlichen Bestrebung den
wollüstigen Begierden einer Danae zu fröhnen, unrühmlich verschwendet
zu haben? Er trieb die Vorwürfe, die er bei diesen
gelbsüchtigen Vorstellungen sich selbst machte, so weit als sie
der Affect einer allzu feurigen, aber mit angeborner Liebe zur
Tugend durchdrungenen Seele nur immer treiben kann; und
die Schmerzen, wovon sein Gemüth dadurch zerrissen wurde,
waren unaussprechlich.Das Mißvergnügen über uns selbst ist (wie wir schon bemerkt
haben) ein allzu schmerzhafter Zustand, als daß ihn die
Seele lang' ertragen könnte. Die Selbstliebe beut alle ihre
Kräfte auf, um sich Linderung zu verschaffen. Und, bedenken
wir, wie wenig Gutes ein anhaltendes Gefühl von Scham und
Verachtung seiner selbst schaffen kann und wie schädlich im Gegentheil
Gram und Kleinmuth der wiederkehrenden Tugend
seyn müssen: so haben wir vielleicht Ursache, die Geschäftigkeit
der Eigenliebe, uns gegen uns selbst zu entschuldigen, für eine
von den nöthigsten Springfedern unsrer Seele, in diesem Stande
des Irrthums und der Leidenschaften worin sie sich in gegenwärtigem
Leben befindet, anzusehen. Die Reue ist zu nichts
gut, als uns einen tiefen Eindruck von der Häßlichkeit eines
thörichten oder unsittlichen Verhaltens, dessen wir uns schuldig
gemacht haben, zu geben. Hat sie diese Wirkung gethan, so soll
sie aufhören. Ihre Dauer würde uns nur die Kräfte benehmen,
uns in einen bessern Zustand empor zu arbeiten, und dadurch
eben so schädlich werden, als eine allzu große Furcht, die uns
dem Uebel nur desto gewisser ausliefert, welchem wir behutsam
entfliehen, oder muthig widerstehen sollten.Agathon hatte desto mehr Ursache, diesen wohlthätigen Eingebungen
der Eigenliebe Gehör zu geben, da ihm seine fast immer
gar zu warme Einbildungskraft seine Vergehungen und den
Gegenstand derselben wirklich in einem häßlichern Lichte gezeigt
hatte, als die gelassene Vernunft gethan haben würde. Durch
eine natürliche Folge brachte die Begierde, sich selbst vor seinen
eigenen Augen zu rechtfertigen, ihn unvermerkt dahin, auch der
schönen Danae etwas mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
"Es war schwer, sehr schwer (würde ein Sokrates gesagt haben),
den Reizungen eines so schönen Gegenstandes, den Verführungen
so vieler vereinigter Zauberkräfte zu widerstehen. Die
Flucht war das einzige sichere Rettungsmittel. Freilich war es
beinahe gleich schwer, zu fliehen oder zu widerstehen: aber das
Vermögen zum Fliehen war, wenigstens anfangs, in deiner
Gewalt; und es war unvorsichtig an dir, nicht zu denken, daß
eine Zeit kommen würde. da du keine Kräfte zum Fliehen mehr
haben würdest." — So möchte derjenige gesprochen haben,
der den Kritobulus, weil er den schönen Sohn des Alcibiades
geküßt hatte, einen Wagehals nannte, und dem jungen Xenophon
rieth, vor einem schönen Gesichte so behende wie vor einer
Schlange davon zu laufen. Allein so bescheiden und aufrichtig
klang die Sprache der Eigenliebe nicht. Es war unmöglich
(sagte sie) so mächtigen Reizungen zu widerstehen; es war unmöglich
zu entfliehen. Sie nahm die ganze Lebhaftigkeit seiner
Einbildungskraft zu Hülfe, ihm die Wahrheit dieser tröstlichen
Versicherungen zu beweisen: und wenn sie es nicht so weit
brachte, ein gewisses innerliches Gefühl, welches ihr widersprach
(und welches vielleicht das gewisseste Merkmal der Freiheit
unsers Willens ist), gänzlich zu betäuben; so gelang es ihr doch
unvermerkt, den Gram aus seinem Gemüthe zu verbannen, und
dieses sanfte Licht wieder darin auszubreiten, worin wir ordentlicher
Weise alles, was zu uns selbst gehört, zu sehen gewohnt
sind.Indessen gewann Danae wenig bei dieser ruhigern Verfassung
seines Herzens. Ihre Vollkommenheiten rechtfertigten
zwar die hohe Meinung, die er von ihrem Charakter gefasset
hatte, und beides die Größe seiner Leidenschaft. Er vergab
sich selbst, sie so sehr geliebt zu haben, so lang' er die Schönheit
ihrer Seele für eben so ungemein gehalten hatte, als es die
Reizungen ihrer Person waren. Aber sie verlor mit dem Recht
an seine Hochachtung alle Gewalt über sein Herz. Der Entschluß
sie zu verlassen war die natürliche Folge davon; und dieser
kostete ihm, da er ihn faßte, auch nicht einen Seufzer; so tief
war die Verachtung, wovon er sich gegen sie durchdrungen fühlte.
Die Erinnerung dessen, was er gewesen war, das Gefühl dessen,
was er wieder seyn könne sobald er wolle, machte ihm den Gedanken
unerträglich, nur einen Augenblick länger der Sklave
einer andern Circe zu seyn, die durch eine schändlichere Verwandlung,
als irgend eine welche die Gefährten des Ulysses erdulden
mußten, den Helden der Tugend in einen müßigen
Wollüstling verwandelt hatte.Bei so bewandten Umständen war es nicht rathsam ihre
Wiederkunft zu erwarten, welche nach ihrem Berichte, längstens
in dreien Tagen erfolgen sollte. Denn sie hatte keinen Tag
vorbeigehen lassen, ohne ihm zu schreiben; und die Nothwendigkeit,
ihr eben so regelmäßig zu antworten, setzte ihn, nach der
großen Veränderung, die in seinem Gemüthe vorgegangen, in
eine desto größere Verlegenheit, da er zu aufrichtig und zu lebhaft
war, Empfindungen vorzugeben, die sein Herz verläugnete.
Seine Briefchen wurden dadurch so kurz, und verriethen so
vielen Zwang, daß Danae auf einen Gedanken kommen mußte,
der zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber doch der natürlichste
war, der ihr einfallen konnte. Sie vermuthete, ihre Abwesenheit
könnte eine von den Schönen zu Smyrna verwegen genug
gemacht haben, ihr einen so beneidenswürdigen Liebhaber entführen
zu wollen. Wenn ihr Stolz zu einem so vermessenen
Vorhaben lächelte, so liebte sie doch zu zärtlich, um so ruhig
dabei zu seyn, als man aus der muntern Art, womit sie über
seine Erkältung scherzte, hätte schließen sollen. Gleichwohl behielt
das Bewußtseyn ihrer Vorzüge die Oberhand, und ließ
ihr keinen Zweifel, daß ihre Gegenwart alle Eindrücke, welche
eine Nebenbuhlerin auf die Oberfläche seines Herzens gemacht
haben könnte, wieder auslöschen würde. Und wenn sie dessen
auch weniger gewiß gewesen wäre, so war sie doch zu klug, ihn
merken zu lassen, daß sie ein Mißtrauen in sein Herz setze, oder
fähig sey, ihm jemals durch eine grillenhafte Eifersucht beschwerlich
zu fallen. Bei allem dem beschleunigte dieser Umstand
ihre Zurückkunft, und vermuthlich würde sie ihren Ungetreuen
noch zu rechter Zeit überrascht haben, wenn ihm der Schutzgeist
seiner Tugend die Nothwendigkeit der schleunigsten Flucht nicht
so dringend vorgestellet hatte, daß er sich, sobald der Bote der
Danae abgefertigt war, nach dem Hafen begab, um ein Fahrzeug
zu miethen, welches ihn noch an dem nämlichen Tage von
Smyrna entfernen sollte.—————
Fünftes Capitel.Eine kleine Abschweifung.Unsere Leser, wenn sie diese Geschichte mit etwas weniger
Flüchtigkeit als einen ephemerischen Roman zu lesen würdigen,
werden vielleicht bemerkt haben, daß die Wiederherstellung
unsers Helden aus einem Zustande, worin er diesen Namen
allerdings nicht verdient, eigentlich weder seiner Vernunft noch
seiner Liebe zur Tugend zuzuschreiben sey. Bei aller guten
Meinung, welche wir von beiden hegen, müssen wir gestehen,
daß Agathon, wenn es auf sie allein angekommen wäre, noch
lange in den Fesseln der schönen Danae hätte liegen können.
Ja wir haben Ursache zu glauben, daß jene gefällig genug gewesen
wäre, durch tausend schöne Vorspiegelungen und Schlüsse
diese nach und nach gänzlich einzuschläfern, oder vielleicht gar
zu einem gütlichen Vergleich mit der Wollust, ihrer natürlichen
und gefährlichsten Feindin, zu bewegen. Wir leugnen hiermit
nicht, daß auch sie das Ihrige zur Befreiung unsers Freundes
beigetragen haben. Indessen ist doch gewiß, daß Eifersucht und
beleidigte Eigenliebe das Meiste dabei thaten, und daß also, ohne
die wohlthätigen Einflüsse zweier so verworrener Leidenschaften,
der ehmals so weise, so tugendhafte Agathon ein glorreich angefangenes
Leben, allem Anschein nach, zu Smyrna unter den
Rosen der Venus unrühmlich hinweg getändelt haben würde.Wir wollen durch diese Bemerkung dem großen Haufen der
Moralisten eben nicht zugemuthet haben, die Vorurtheile gegen
die Leidenschaften fahren zu lassen, welche sie von ihren Vorgängern,
und diese (wenn wir bis zur Quelle hinaufsteigen
wollen) von dem Einsamen, womit die Morgenländer jederzeit
angefüllt gewesen sind, durch eine dem Fortgange der gesunden
Vernunft nicht sehr günstige Ueberlieferung, geerbt zu haben
scheinen. Hingegen würde uns sehr erfreulich seyn, wenn die
gegenwärtige Geschichte die glückliche Veranlassung geben könnte,
irgend einen von den ächten Weisen unserer Zeit aufzumuntern,
mit der Fackel des Genie's in gewisse dunkle Gegenden der
Moralphilosophie einzudringen, welche, zu beträchtlichem Abbruch
des allgemeinen Besten, noch manches Jahrtausend unbekanntes
Land bleiben werden, wenn es auf die vortrefflichen
Leute ankommen sollte, durch deren unermüdeten Eifer seit geraumen
Jahren die deutschen Pressen unter einem in alle möglichen
Formen gegossenen Mischmasch unbestimmter und nicht
selten willkürlicher Begriffe, schwärmerischer Empfindungen, andächtiger
Wortspiele, grotesker Charakter und schwülstiger Declamationen
zu seufzen gezwungen werden. Diejenigen, welche
unsern wohl gemeinten Wunsch zu erfüllen geschickt sind, haben
nicht vonnöthen, daß wir uns darüber deutlicher erklären, oder
ihnen den Weg zur Entdeckung dieser moralischen Terra incognita
genauer andeuten, als es hier und da in der gegenwärtigen
Geschichte geschehen ist. Wir lassen es also bei diesem kleinen
Winke bewenden, und begnügen uns, da wir nunmehr, allein
Ansehen nach, unsern Helden aus der größten der Gefahren,
worin seine Tugend jemals geschwebt hat, oder künftig gerathen
mag, glücklich herausgeführt haben, einige Betrachtungen anzustellen.Doch was für Betrachtungen könnten wir anstellen, daß
nicht diejenigen, welche Agathon selbst (sobald er Muße dazu
hatte) über seine Abenteuer machte, um so viel natürlicher und
interessanter seyn sollten, da er sich wirklich in dem Falle befand,
in welchen wir uns erst durch Hülfe der Einbildungskraft
setzen müßten, und die Gedanken sich ihm freiwillig darboten,
ja wohl wider Willen aufdrangen, welche wir erst aufsuchen
müßten?Wir wollen also warten, bis er sich in der Gemüthsverfassung
befinden wird, worin die sich selbst wieder gegebene
Seele aufgelegt ist, das Vergangene mit prüfendem Auge zu
übersehen. Nur mög' es uns erlaubt seyn, eh' wir unsere
Erzählung fortsetzen, zum Besten unsrer jungen Leser einige
Anmerkungen zu machen, für welche wir keinen schicklicheren
Platz wissen, und welche diejenigen, die, wie Schach Baham,
keine Liebhaber vom Moralisiren sind, füglich überschlagen, oder
sich indessen die Zeit vertreiben können — womit sie wollen.Was würdet ihr also dazu sagen, meine gefühlvollen jungen
Freunde, wenn ich euch, mit der Miene eines gedungnen
Sittenlehrers, in geometrischer Methode beweisen würde, daß
ihr zu einer vollkommnen Unempfindlichkeit gegen diese liebenswürdigen
Geschöpfe verbunden seyet, für welche eure Augen,
euer Herz, eure Einbildungskraft sich vereinigen, euch einen
Hang einzuflößen, der, so lang' er in einem unbestimmten
Gefühl besteht, euch immer beunruhiget, und sobald er
einen besondern Gegenstand bekommt, die Seele aller eurer
übrigen Triebe wird?Daß wir einen solchen Beweis führen könnten, und (was
noch ein wenig grausamer ist) daß wir euch die Verbindlichkeit
aufdringen könnten, keines dieser anmuthsvollen Geschöpfe, so
vollkommen es immer in euern bezauberten Augen seyn möchte,
eher zu lieben, bis es euch befohlen wird, daß ihr sie lieben
sollt, — ist eine Sache, die euch nicht unbekannt seyn kann.
Aber eben deßwegen, weil es so oft bewiesen wird, können wir
es als etwas Ausgemachtes voraussetzen; und uns däucht, die
Frage ist nun allein, wie es anzufangen sey, um euer ungelehriges
Herz mit einer Pflicht auszusöhnen, gegen welche ihr
tausend wichtige Einwendungen zu machen glaubt, wenn ihr
uns am Ende doch nichts anders gesagt habt, als ihr habet
keine Lust sie auszuüben.Die Auflösung dieser Frage däucht uns eine von den
Schwierigkeiten zu seyn, worin uns die Moralisten mit einer
Gleichgültigkeit stecken lassen, welche desto grausamer ist, da
wohl wenige unter ihnen sind, die nicht auf eine oder die andere
Art erfahren haben sollten, daß es nicht so leicht sey, einen
Feind zu schlagen, als zu beweisen, daß er geschlagen werden
sollte. Wir schmeicheln uns keineswegs, das sicherste, kräftigste
und ausführbarste Mittel, eine mit so vielen Schwierigkeiten
umringte Sache zu bewerkstelligen, gefunden zu haben.
Inzwischen erkühnen wir uns, euch vor der Hand (bessern
Vorschlägen unnachtheilig) einen Rath zu geben, der zwar weder
allgemein noch ohne alle Ungelegenheiten ist, aber doch,
alles wohl überlegt, bis zu Erfindung eines bessern, in mehr
als Einer Absicht von gutem Nutzen seyn könnte.Wir setzen hierbei zwei gleich gewisse Erfahrungssätze voraus.
Der erste ist: daß die meisten jungen Leute (und vielleicht
auch ein guter Theil der alten) entweder zur Zärtlichkeit,
oder wenigstens zur Liebe im popularen Sinn dieses Wortes,
einen stärkern Hang als zu irgend einer andern natürlichen
Leidenschaft haben. Der andere: daß Sokrates, in der Stelle,
deren in dem vorigen Kapitel erwähnt worden, die schädlichen
Folgen der Liebe, insofern sie eine heftige Leidenschaft für
irgend einen einzelnen Gegenstand ist (denn von dieser Art von
Liebe ist hier allein die Rede), nicht höher getrieben habe, als
die tägliche Erfahrung beweiset. "Du Unglückseliger, sprach
er zu dem jungen Xenophon (welcher nicht begreifen konnte,
daß es eine so gefährliche Sache sey, einen schönen Knaben,
oder nach unsern Sitten zu sprechen, ein schönes Mädchen zu
küssen, und leichtsinnig genug war zu bekennen, daß er sich alle
Augenblicke getraute dieses halsbrechende Abenteuer zu wagen)
was meinst du, daß die Folgen eines solchen Kusses seyn würden?
Glaubst du, du würdest deine Freiheit behalten, oder
nicht vielmehr ein Sklave dessen werden, was du liebest? Wirst
du nicht vielen Aufwand auf schädliche Wollüste machen? Meinst
du, es werde dir viel Muse übrig bleiben, dich um irgend
etwas Großes und Nützliches zu bekümmern? oder du werdest
nicht vielmehr gezwungen seyn, deine Zeit auf Beschäftigungen
zu wenden, deren sich sogar ein Unsinniger schämen würde!"—
Man kann die Folgen dieser Art von Liebe in so wenigen
Worten nicht vollständiger beschreiben. Was half' es uns,
meine Freunde, wenn wir uns selbst betrügen wollten? Sogar
die unschuldigste Liebe, diejenige, welche in jungen enthusiastischen
Seelen so schön mit der Tugend zusammen zu stimmen
scheint, führt ein schleichendes Gift bei sich, dessen Wirkungen
nur desto gefährlicher sind, weil es langsam und durch unmerkliche
Grade wirkt. Was ist also zu thun?Der Rath des alten Cato, oder der, welchen Lukrez nach
den Grundsätzen seiner Secte gibt, ist, in jeder Betrachtung,
weit schlimmer als das Uebel selbst, dem dadurch abgeholfen
werden soll. Sogar die Grundsätze und das eigne Beispiel
des weisen Sokrates sind in diesem Stücke nur unter gewissen
Umständen thulich; und (wenn wir nach unsrer Ueberzeugung
reden sollen) wir wünschten, aus wahrer Wohlmeinenheit gegen
das Beste der Menschheit, nichts weniger, als daß es jemals
einem Sokrates gelingen möchte, den Amor völlig zu entgöttern,
ihn seiner Schwingen zu berauben, und aus der Liebe
eine bloße regelmäßige Stillung eines physischen Bedürfnisses
zu machen. Der Dienst, welcher der Welt dadurch geleistet
würde, müßte nothwendig einen Theil der schlimmen Folgen
haben, welche auf eine allgemeine Unterdrückung der Leidenschaften
in der menschlichen Gesellschaft erscheinen würden. Hier
ist also unser Rath!"Meine jungen Freunde, Aegisthus machte sich bloß deßwegen
ein Geschäft daraus, die schöne Klytämnestra zu verführen,
weil er weder Verstand noch Muth genug hatte etwas
Löbliches zu thun. Beschäftigt euch, meine Freunde! Müßiggang
ist euer gefährlichster Feind. Beschäftigt euch mit den
Vorbereitungen zu eurer Bestimmung, oder mit ihrer wirklichen
Erfüllung. Bewerbet euch um die Verdienste, von denen
die Hochachtung der Vernünftigen und der Nachwelt die Belohnung
ist, und um die Tugend, welche allein den innerlichen
Wohlstand unsers Wesens ausmacht."Haltet ein, Herr Sittenlehrer, rufet ihr; dieß ist's nicht,
was wir von euch hören wollten. Alles das hat uns Claville
besser gesagt, als ihr es könntet, und Abbt besser als Claville.
Euer Mittel gegen die Liebe?"Mittel gegen die Liebe? Davor behüte uns der Himmel! —
oder, wenn ihr dergleichen wollt, so findet ihr sie bei
allen moralischen Quacksalbern, und — in allen Apotheken.
Unser Rath geht gerade auf das Gegentheil. Wenn ihr ja
lieben wollt oder müßt, nun, so kommt alles, glaubet mir, auf
den Gegenstand an. Findet ihr eine Aspasia, eine Leontion,
eine Ninon, so bewerbet euch, wenn ihr könnt, um ihre Freundschaft.
Die Vortheile, die ihr daraus für euern Kopf, für
euern Geschmack, für eure Sitten — ja, meine Herren, für
eure Sitten — und selbst für die Pflichten eurer Bestimmung,
von einer solchen Verbindung ziehen werdet, werden euch für
die Mühe belohnen." — Gut! Aspasien! Ninons! wo sollen
wir diese aufsuchen? —"Auch rath' ich euch nicht sie zu suchen;
die Rede ist nur von dem Falle, wenn ihr sie fändet." —
Aber, wenn wir keine finden? — So suchet die vernünftigste,
tugendhafteste und liebenswürdigste Frau auf, die ihr finden
könnet. Hier erlauben wir euch zu suchen, nur nicht (um euch
einen Umweg zu ersparen) unter den schönsten. Ist sie liebenswürdig,
so wird sie euch desto stärker einnehmen; ist sie tugendhaft,
so wird sie euch nicht verführen; ist sie klug, so wird sie
sich von euch nicht verführen lassen. Ihr könnet sie also ohne
Gefahr lieben." — Aber dabei finden wir unsre Rechnung
nicht; die Frage ist, wie wir es anstellen sollen, um von ihr
wieder geliebt zu werden. — "Allerdings; dies wird eben die
Kunst seyn! Ich wehre euch nicht, den Versuch zu machen;
und ich stehe euch dafür, wenn sie und ihr jedes das Seinige
thut, so werdet ihr euern Roman zehn Jahre durch ohne sonderlichen
Schaden fortführen, und, wofern ihr euch nicht etwan
einfallen laßt, ihn in eben so viel Bänden herauszugeben, so
wird die Welt wenig dagegen zu erinnern haben."—————
Sechstes Capitel.Agathon wird von einem Rückfall bedroht. Ein unverhoffter Zufall
bestimmt seine Entschließung.Wir kommen zu unserm Helden zurück, den wir zu Ende
des vierten Kapitels auf dem Wege nach dem Hafen von
Smyrna verlassen haben.Man konnte nicht entschlossener seyn, als er war, das erste
Fahrzeug, das zum Auslaufen fertig liegen würde, zu besteigen,
und hätte es ihn auch zu den Antipoden führen sollen. Allein
— so groß ist die Schwäche des menschlichen Herzens! — da
er angelanget war, und eine Menge von Schiffen vor den
Augen hatte, welche nur auf das Zeichen den Anker zu heben
warteten: so hätte wenig gefehlt, daß er wieder umgekehrt
wäre, um, anstatt vor der schönen Danae zu fliehen, ihr mit
aller Sehnsucht eines entflammten Liebhabers in die Arme zu
fliegen.Wir wollen billig seyn — eine Danae verdiente wohl,
daß ihm der Entschluß, sie zu verlassen, mehr als einen flüchtigen
Seufzer kostete; und es war sehr natürlich, daß er, im
Begriff seinen tugendhaften Vorsatz ins Werk zu setzen, einen
Blick ins Vergangene zurückwarf, und sich diese Glückseligkeiten
lebhafter vorstellte, denen er nun freiwillig entsagen
wollte, um sich von neuem, als ein im Ocean der Welt herumtreibender
Verbannter, den Zufällen einer ungewissen Zukunft
auszusehen.Dieser letzte Gedanke machte ihn stutzen; aber er wurde
bald von andern Vorstellungen verdrängt, die ein Herz wie
das seinige weit stärker rühren müßten, als alles was ihn
allein und unmittelbar anging. Er setzte sich an die Stelle
der Danae. Er malte sich ihren Schmerz vor, wenn sie bei
ihrer Wiederkunft seine Flucht erfahren würde. Sie hatte
ihn so zärtlich geliebt! Alles Böse, was ihm Hippias von ihr
gesagt, alles was er selbst hinzu gedacht hatte, konnte in diesem
Augenblicke die Stimme des Gefühls nicht übertäuben, welches
ihn überzeugte, daß er wahrhaftig geliebt worden war. Wenn
die Größe unsrer Liebe das natürliche Maß unsrer Schmerzen
über den Verlust des Geliebten ist, wie unglücklich mußte
Danae werden! Das Mitleiden, welches diese Vorstellung in
ihm erregte, machte sie wieder zu einem interessanten Gegenstande
für sein Herz. Ihr Bild stellte sich ihm wieder mit
allen den Reizungen dar, deren Zaubergewalt er so oft erfahren
hatte. Was für Erinnerungen! Er konnte sich nicht
erwehren, ihnen etliche Augenblicke nachzuhängen; und mit
jedem fühlte er weniger Kraft, sich wieder loszureißen. Seine
schon halb überwundene Seele widerstand noch, aber immer
schwächer. Amor, um desto gewisser zu siegen, verbarg sich
unter die rührende Gestalt des Mitleidens, der Großmuth,
der Dankbarkeit. —Wie? er sollte eine so inbrünstige Liebe mit
so schnödem Undank erwiedern? einer Geliebten, in dem
Augenblicke, da sie in die getreuen Arme eines Freundes zurück
zu eilen glaubt, einen Dolch in diesen Busen stoßen, welcher
sich, von Zärtlichkeit überwallend, an den seinigen drücken will?
sie verlassen, sich heimlich von ihr wegstehlen? Würde sie den
Tod von seiner Hand, in Vergleichung mit einer solchen
Grausamkeit, nicht als eine Wohlthat angenommen haben?
So würde ihm zu Muthe gewesen seyn, wenn er sich an ihren
Platz setzte; und dieß thut die Leidenschaft allezeit — wenn sie
ihren Vortheil dabei findet.Allen diesen zärtlichen Bildern stellte sein gefaßter Entschluß
zwar die Gründe, welche wir kennen, entgegen: aber
diese Gründe hatten von dem Augenblick an, da sich sein Herz
wieder auf die Seite der schönen Feindin seiner Tugend neigte,
die Hälfte von ihrer Stärke verloren. Die Gefahr war dringend:
jede Minute entscheidend. Denn die Wiederkunft der
Danae war ungewiß; und es ist nicht zu zweifeln, daß sie,
wofern sie noch zu rechter Zeit angelangt wäre, Mittel gefunden
hätte, alle die widrigen Eindrücke der Verrätherei des
Sophisten aus einem Herzen auszulöschen, welches so viel Vortheil
dabei hatte sie unschuldig zu finden.Ein glücklicher Zufall — Doch, warum wollen wir dem
Zufall zuschreiben, was uns beweisen sollte, daß eine unsichtbare
Macht ist, welche sich immer bereit zeigt, der sinkenden
Tugend die Hand zu reichen? — Eine wohlthätige Schickung
also fügte es, daß Agathon in diesem zweifelhaften Augenblick,
unter dem Gedränge der Fremden, welche die Handelschaft
von allen Weltgegenden her nach Smyrna führte, einen
Mann erblickte, den er zu Athen vertraulich gekannt und durch
beträchtliche Dienstleistungen sich zu verbinden Gelegenheit gehabt
hatte. Es war ein Kaufmann von Syrakus, der mit
den Geschicklichkeiten seiner Profession einen rechtschaffenen Charakter,
und (was bei den Griechen weniger selten war als bei
uns) mit beiden die Liebe der Musen verband; eine Eigenschaft,
welche ihn dem Agathon desto angenehmer, so wie sie
ihn desto fähiger gemacht hatte, den Werth Agathons zu
schätzen. Der Syrakuser bezeigte die lebhafteste Freude über
eine so unverhoffte Zusammenkunft, und bot unserm Helden
seine Dienste mit derjenigen Art an, welche beweist, daß man
begierig ist sie angenommen zu sehen; denn Agathons Verbannung
von Athen war eine bekannte Sache, als daß sie in irgend
einem Theile von Griechenland hätte unbekannt seyn können.Nach einigen Fragen und Gegenfragen, wie sie unter
Freunden gewöhnlich sind, die sich nach einer geraumen Trennung
unvermuthet zusammen finden, berichtete ihm der Kaufmann
als eine Neuigkeit, welche die Aufmerksamkeit aller
Europäischen Griechen beschäftigte, die außerordentliche Gunst,
worin Plato bei dem jüngern Dionysius zu Syrakus stehe; die
philosophische Bekehrung dieses Prinzen, und die großen Erwartungen,
mit welchen Sicilien den glückseligen Zeiten entgegen
sehe, die eine so wundervolle Veränderung verspreche.
Er endigte damit, daß er den Agathon einlud, wofern ihn
nichts Wichtigeres in Smyrna zurück hielte, ihn nach Syrakus
zu begleiten, welches im Begriff sey, ein Sammelplatz der
Weisesten und Tugendhaftesten zu werden; und dabei meldete
er ihm, daß sein Schiff bereit sey noch diesen Abend abzusegeln.Ein Funke, der in eine Pulvermine fällt, richtet keine
plötzlichere Entzündung an, als die Revolution war, die bei
dieser Nachricht in unserm Helden vorging. Seine ganze
Seele loderte, wenn wir so sagen können, in einen einzigen
Gedanken auf. Aber was für ein Gedanke war das! —Plato,
ein Freund des Dionysius! —Dionysius, berüchtiget durch die
ausschweifendste Lebensart, in welche sich eine durch unumschränkte
Gewalt übermüthig gemachte Jugend dahin stürzen
kann, Dionysius der Tyrann, ein Liebhaber der Philosophie,
ein Lehrling der Tugend! — und Agathon sollte die Blüthe
seines Lebens in müßiger Wollust verderben lassen? Sollte
nicht eilen, dem göttlichen Weisen, dessen erhabene Lehren
er zu Athen so rühmlich auszuüben angefangen hatte, das
glorreiche Werk vollenden zu helfen, einen zügellosen Tyrannen
in einen guten Fürsten zu verwandeln, und die Glückseligkeit
einer ganzen Nation zu befestigen? — Was für Arbeiten! was
für Aussichten für eine Seele wie die seinige! Sein ganzes
Herz wallte ihnen entgegen. Er fühlte wieder, daß er Agathon
war; fühlte diese moralische Lebenskraft wieder, die uns
Muth und Begierden gibt, uns zu einer edeln Bestimmung
geboren zu glauben, und diese Achtung für sich selbst, welche
eine von den stärksten Schwingfedern der Tugend ist. Nun
bedurfte es keines Kampfes, keiner gewaltsamen Anstrengung
mehr, sich von Danae loszureißen, um mit allem Feuer eines
Liebhabers, der nach einer langen Trennung zu seiner Geliebten
zurück eilt, sich wieder in die Arme der Tugend zu werfen.
Sein Freund von Syrakus hatte keine Ueberredungen vonnöthen;
Agathon nahm sein Anerbieten mit der lebhaftesten Freude an.
Da er von allen Geschenken, womit ihn die freigebige Danae
überhäuft hatte, nichts behalten wollte, als was zu den nöthigsten
Bedürfnissen seiner Reise unentbehrlich war, so brauchte
er wenig Zeit, um reisefertig zu seyn. Die günstigsten Winde
schwellten die Segel, welche ihn aus dem verderblichen Smyrna
entfernten; und so herrlich war der Triumph, den die Tugend
in dieser glücklichen Stunde über ihre Gegnerin erhielt, daß er
die anmuthsvollen Asiatischen Ufer aus seinen Augen verschwinden
sah, ohne den Abschied, den er auf ewig von ihnen nahm,
nur mit einer Thräne zu zieren."So? — Und was wurde nun (hören wir irgend eine
junge Schöne fragen, der ihr Herz sagt, daß sie es der Tugend
nicht verzeihen würde, wenn sie ihr ihren Liebhaber so
unbarmherzig entführen wollte)— was wurde nun aus der
armen Danae?" — Ach! von dieser war itzt die Rede nicht
mehr! — "Und der tugendhafte Agathon bekümmerte sich so
wenig darum, ob seine Untreue ein Herz, welches ihn glücklich
gemacht hatte. in Stücken brechen werde oder nicht?" — Aber,
meine schöne Freundin, was hätte er thun sollen, nachdem er
nun einmal entschlossen war? Um nach Syrakus zu gehen,
mußte er Smyrna verlassen; und nach Syrakus mußte er doch
gehen, wenn Sie alle Umstände unparteiisch in Betrachtung
ziehen. Oder wollten Sie lieber, daß ein Agathon sein ganzes
Leben am Busen der zärtlichen Danae hatte hinwegbuhlen
sollen? Und sie nach Syrakus mitzunehmen, war aus mehr
als Einer Ursache nicht zu rathen, gesetzt auch, daß sie um
seinetwillen Smyrna hätte verlassen wollen. Oder meinen
Sie vielleicht, er hätte warten und erst die Einwilligung seiner
Freundin zu erhalten suchen sollen? Dieß wäre alles gewesen
was er hätte thun können, wenn er die Absicht gehabt hätte, da
zu bleiben. Alles wohl überlegt, konnte er also, däucht uns,
weder mehr noch weniger thun als er that. Er hinterließ ein
Briefchen, worin er ihr sein Vorhaben mit einer Aufrichtigkeit
entdeckte, welche zugleich die Rechtfertigung desselben ausmacht.
Er spottete ihrer nicht durch Liebesversicherungen, welche der
Widerspruch mit seinem Betragen beleidigend gemacht hätte;
hingegen erinnerte er sich dessen, was sie um ihn verdient
hatte, zu wohl, um sie durch Vorwürfe zu kränken. Gleichwohl
entwischte ihm beim Schluß ein Ausdruck, den er vermuthlich
großmüthig genug gewesen wäre wieder auszulöschen,
wenn er Zeit gehabt hätte sich zu bedenken. Denn er endigte
sein Briefchen damit, daß er ihr sagte: "er hoffe, die Hälfte
der Stärke des Gemüths, womit sie den Verlust eines Alcibiades
ertragen und den Armen eines Hyacinths sich entrissen
habe, werde mehr als hinlänglich seyn, ihr seine Entfernung
in kurzem gleichgültig zu machen. Wie leicht (setzte er hinzu)
kann Danae einen Liebhaber missen, da es nur von ihr abhängt,
mit einem einzigen Blicke so viele Sklaven zu machen, als sie
haben will!" — Dieß war allerdings ein wenig grausam!
Aber die Gemüthsverfassung, worin er sich damals befand,
war nicht ruhig genug, um ihn fühlen zu lassen, wie viel er
damit sagte.Und so endigte sich denn die Liebesgeschichte des Agathon
und der schönen Danae. — Und so, holde Leserinnen, so haben
sich noch alle Liebesgeschichten geendigt, und werden sich
auch künftig alle endigen, welche —so angefangen haben!—————
Siebentes Capitel.Betrachtungen, Schlüsse und Vorsätze.Wer aus den Fehlern, welche von andern vor ihm gemacht
worden oder noch täglich um ihn her gemacht werden,
die Kunst lernte, selbst keine zu machen, würde unstreitig
den Namen des weisesten unter den Menschen mit größerm
Rechte verdienen, als Confucius, Sokrates oder König Salomon;
welcher letzte, wider den gewöhnlichen Lauf der Natur,
seine größten Thorheiten in einem Alter beging, worin die
meisten von den ihrigen zurückkommen. Unterdessen bis diese
Kunst erfunden seyn wird, däucht uns, man könne denjenigen
immer für weise selten lassen, der die wenigsten Fehler macht,
am ersten davon zurückkommt, und sich gewisse Maßregeln
für zukünftige Fälle daraus zieht, mittelst deren er hoffen
kann künftig weniger zu fehlen.Ob und inwiefern Agathon dieses Prädicat verdiene, mögen
unsre Leser zu seiner Zeit selbst entscheiden. Wir unsers
Ortes haben in keinerlei Absicht einiges Interesse, ihn besser
zu machen, als er in der That war; wir geben ihn für das
was er ist; wir werden mit der bisher beobachteten historischen
Treue fortfahren seine Geschichte zu erzählen, und versichern
ein-für allemal, daß wir nichts dafür können, wenn er nicht
allemal so handelt, nie wir vielleicht selbst hätten wünschen
mögen, daß er gehandelt hätte.Er hatte während einer Ueberfahrt nach Sicilien, welche
durch keinen widrigen Zufall beunruhiget wurde, Zeit genug,
Betrachtungen über das, was zu Smyrna mit ihm vorgegangen
war, anzustellen. ,Wie? rufen hier einige Leser, schon
wieder Betrachtungen?' Allerdings: in seiner Lage würde es
ihm nicht zu vergeben gwesen seyn, wenn er keine angestellt
hätte. Desto schlimmer für euch, wenn ihr, bei gewissen
Gelegenheiten, nicht so gerne mit euch selbst redet als Agathon! —
Ihr würdet sehr wohl thun, ihm diese kleine Gewohnheit
abzulernen.Es ist für einen Agathon nicht so leicht als für manchen
andern, die Erinnerung einer begangenen Thorheit von sich
abzuschütteln. Braucht es mehr als einen einzigen Fehltritt,
um den Glanz des schönsten Lebens zu verdunkeln? Wie verdrießlich
ist es schon, wenn wir an einem Meisterstücke der
Kunst, an einem Gemälde oder Gedichte zum Exempel, Fehler
finden, welche sich nicht verbessern lassen ohne das Ganze
zu vernichten! Wie viel verdrießlicher, wein es nur ein einziger
Fehler ist, der dem schönen Ganzen die Ehre der Vollkommenheit
raubt! Ein Gefühl von dieser Art war schmerzhaft
genug, um unsern Mann zu vermögen, über die Ursachen
seines Falles schärfer nachzudenken. Wie erröthete er itzt vor
sich selbst, da er sich der allzu trotzigen Herausforderung erinnerte,
wodurch er ehmals den Hippias gereizt, und gewissermaßen
berechtiget hatte, den Versuch an ihm zu machen, ob
es eine Tugend gebe, welche die Probe der stärksten und schlauesten
Verführung aushalte! Was machte ihn damals so zuversichtlich?
Die Erinnerung des Sieges, den er über die
Priesterin zu Delphi erhalten hatte? Oder das gegenwärtige
Bewußtseyn der Gleichgültigkeit, worin er bei den
Reizungen der jungen Cyane geblieben war? Die Erfahrung,
daß die Versuchungen, welche seiner Unschuld im Hause
des Sophisten auf allen Seiten nachstellten, ihn weniger versucht
als empört hatten; der Abscheu vor den Grundsätzen des
Hippias, und das Vertrauen auf die eigenthümliche Stärke
der seinigen? — Aber, war es eine Folge, daß derjenige,
der etliche Mal gesiegt hatte, niemals überwunden werden
könne? War nicht eine Danae möglich, welche das auszuführen
geschickt war, was die Pythia, was die Thracischen Bacchantinnen,
was Cyane, und vielleicht alle Schönen im Harem
des Königs von Persien nicht vermocht hätten? — Und was
für Ursache hatte er, sich auf die Stärke seiner Grundsätze zu
verlassen? — Auch in diesem Stücke schwebte er in einem
subtilen Selbstbetrug, den ihm vielleicht nur die Erfahrung
sichtbar machen konnte. Entzückt von der Idee der Tugend,
ließ er sich nicht träumen, daß das Gegentheil dieser intellectuellen
Schönheit jemals Reize für seine Seele haben könnte.
Die Erfahrung mußte ihn belehren, wie betrüglich unsere
Ideen sind, wenn wir sie unvorsichtig realisiren. Betrachtet
die Tugend an sich selbst, in ihrer höchsten Vollkommenheit,
so ist sie göttlich, ja (nach dem kühnen aber richtigen Ausdruck
eines vortrefflichen Schriftstellers) die Gottheit selbst. Aber
welcher Sterbliche ist berechtigt, auf die allmächtige Stärke
dieser idealen Tugend zu trotzen? Es kommt bei einem jeden
darauf an, wie viel die seinige vermag. — Was ist häßlicher
als die Idee des Lasters? Agathon glaubte sich auf die Unmöglichkeit,
es jemals liebenswürdig zu finden, verlassen zu
können, und betrog sich, — weil er nicht daran dachte, daß
es ein zweifelhaftes Licht gibt, worin die Gränzen der Tugend
und der Untugend schwimmen; worin Schönheit und Grazien
dem Laster einen Glanz mittheilen, der seine Häßlichkeit übergüldet,
der ihm sogar die Farbe und Anmuth der Tugend gibt;
und daß es allzu leicht ist, in dieser verführerischen Dämmerung
sich aus dem Bezirke der letztern in eine unmerkliche Spirallinie
zu verlieren, deren Mittelpunkt ein süßes Vergessen
unserer selbst und unsrer Pflichten ist.Von dieser Betrachtung, welche unsern Helden die Nothwendigkeit
eines behutsamen Mißtrauens in die Stärke guter
Grundsätze lehrte, ging er zu einer andern über, die ihn von
der wenigen Sicherheit überzeugte, welche sich unsre Seele in
jenem Zustand eines herrschenden moralischen Enthusiasmus
versprechen kann, wie derjenige war, worin die seinige in
dem fein gewebten Netze der schönen Danae gefangen wurde.
Er rief alle Umstände in sein Gemüth zurück, welche zusammen
gekommen waren, ihm diese reizungsvolle Schwärmerei so
natürlich zu machen, und erinnerte sich der verschiedenen Gefahren,
denen er sich dadurch ausgesetzt gesehen hatte. Zu
Delphi fehlte wenig, daß sie ihn den Nachstellungen eines verkappten
Apollo Preis gegeben hätte. Zu Athen hatte sie ihn
seinen arglistigen Feinden wirklich in die Hände geliefert.
Doch, aus diesen beiden Gefahren hatte er seine Tugend davon
gebracht; ein unschätzbares Kleinod, dessen Besitz ihn gegen
den Verlust alles andern, was ein Günstling des Glückes
verlieren kann, unempfindlich gemacht hatte. Aber durch eben
diesen Enthusiasmus unterlag sie endlich zu Smyrna den Verführungen
seines eignen Herzens, eben sowohl als den Kunstgriffen
der schönen Danae. War nicht dieses zauberische Licht,
welches seine Einbildungskraft gewohnt war über alles, was
mit seinen Ideen übereinstimmte, auszubreiten; war nicht
diese unvermerkte Unterschiebung des Jdealen an die Stelle
des Wirklichen die wahre Ursache, warum Danae einen so
außerordentlichen Eindruck auf sein Herz machte? War es
nicht diese begeisterte Liebe zum Schönen, unter deren schimmernden
Flügeln verborgen, die Leidenschaft mit sanft schleichendem
Fortgang sich endlich durch seine ganze Seele ausbreitete?
War es nicht die lange Gewohnheit sich mit süßen Empfindungen
zu nähren, was sie unvermerkt dermaßen erweichte,
daß sie desto schneller an einer so schönen Flamme dahin schmelzen
mußte? Dieser Hang zu phantasirten Entzückungen, so
geistig auch immer ihre Gegenstände seyn mochten, mußte er
ihn nicht endlich nach denjenigen lüstern machen, von welchen
ihm ein unbekanntes, verworrenes, aber desto lebhafteres
innerliches Gefühl den wirklichen Genuß jener vollkommensten
Wonne versprach, wovon bisher nur vorüberblitzende Ahnungen
seine Einbildung berührt, aber ihn selbst durch diese
leichte Berührung schon außer sich selbst gesetzt hatten?Hier erinnerte sich Agathon der Einwürfe, welche ihm
Hippias gegen diesen Enthusiasmus, und diejenige Art von
Philosophie, die ihn hervorbringt und unterhält, gemacht
hatte; und er befand sie jetzt mit seiner Erfahrung so übereinstimmend,
als sie ihm damals falsch und ungereimt vorgekommen
waren. Er fand sich desto geneigter, der Meinung des
Sophisten, von dem Ursprung und der wahren Beschaffenheit
dieser hochfliegenden Begeisterung, Beifall zu geben; da er
sich, seitdem er sie in den Armen der schönen Danae verloren
hatte, so wenig wieder in sie hinein zu setzen vermochte, daß
selbst das wieder erwachte Gefühl für die Tugend weder seinen
sittlichen Ideen den ehmaligen Glanz wieder geben, noch die
dichterische Metaphysik der Orphischen Secte wieder in die
vorige Achtung bei ihm setzen konnte. Er glaubte durch die
Erfahrung überwiesen zu seyn, daß dieses innerliche Gefühl,
durch dessen Zeugniß er die Schlüsse des Sophisten zu entkräften
vermeint hatte, nur ein sehr zweideutiges Kennzeichen
der Wahrheit sey. Hippias könnte vielleicht eben so viel Recht
haben seinen thierischen Materialismus und seine verderbliche
Moral, als die Theosophen ihre geheimnißvolle Geisterlehre,
durch die Stimme innerlicher Gefühle und Erfahrungen zu autorisiren;
und vielleicht sey es allein dem verschiednen Schwung
unserer Einbildungskraft beizumessen, wenn wir uns zu einer
Zeit geneigter fühlen, uns mit den Göttern, zu einer andern
mit den Thieren verwandt zu glauben; — wenn uns zu einer
Zeit alles sich in einem ernsthaften und schwärzlichen, zu einer
andern alles in einem fröhlichen Lichte darstellt; — wenn wir
itzt kein wahres und gründliches Vergnügen kennen, als uns,
mit stolzer Verschmähung der irdischen Dinge, in die unbekannten
Gegenden jenseit des Grabes und in die grundlosen Tiefen
der Ewigkeit hinein zu senken, — ein andermal kein reizenderes
Gemälde einer beneidenswürdigen Wonne, als den jungen
Bacchus, wie er, sein epheubekänztes Haupt in den
Schooß der schönsten Nymphe zurückgelehnt, und mit dem
einen Arm ihre blendenden Hüften umfassend, den andern
nach der düftenden Trinkschale ausstreckt, die sie ihm lächelnd
mit einem Nektar füllt, den ihre eignen schönen Hände aus
strotzenden Trauben frisch ausgepreßt haben; indessen die Faunen
und die fröhlichen Nymphen mit den Liebesgöttern muthwillig
um ihn her hüpfen, oder durch Rosengebüsche sich jagen,
oder, müde von ihren Scherzen, in stillen Grotten zu neuen
Scherzen ausruhen.Der Schluß, den er aus allen diesen Betrachtungen zog,
war dieser: daß die erhabnen Lehrsätze der Zoroastrischen und
Orphischen Theosophie — vielleicht (denn gewiß getraute er
sich über diesen Punkt noch nichts zu behaupten) nicht viel mehr
Realität haben könnten, als die lachenden Bilder, unter
welchen die Maler und Dichter die Wollüste der Sinnen vergöttert
hätten. Daß jene zwar der Tugend günstiger zu seyn
und das Gemüthe zu einer mehr als menschlichen Hoheit, Reinigkeit
und Stärke zu erheben schienen; in der That aber der
wahren Bestimmung des Menschen vielleicht nicht weniger nachtheilig
seyn dürften, als die letztern; theils, weil es ein widersinniges
und vergebliches Unternehmen scheine, sich besser machen
zu wollen als uns die Natur zu seyn gestattet, oder, auf
Unkosten des halben Theils unsers Wesens, nach einer Art
von Vollkommenheit zu trachten, die mit der Anlage desselben
im Widerspruch steht; theils, weil solche Menschen, wenn
es ihnen auch gelänge, sich selbst zu Halbgöttern und Intelligenzen
umzuschaffen, eben dadurch zu jeder gewöhnlichen Bestimmung
des geselligen Lebens desto untauglicher würden.
Aus diesem Gesichtspunkte däuchte ihn der Enthusiasmus des
Theosophen zwar unschädlicher als das System des Wollüstlings,
aber der menschlichen Gesellschaft eben so unnützlich, indem
der erste sich dem gesellschaftlichen Leben entweder gänzlich
entzieht (welches wirklich das Beste ist was er thun kann),
oder, dafern er von dem beschaulichen Leben ins wirksame übergeht,
durch Mangel an Kenntniß einer ihm ganz fremden
Welt durch abgezogene Begriffe, welche nirgends zu den wirklichen
Gegenständen passen wollen, durch übertriebene moralische
Zärtlichkeit und tausend andre Ursachen, welche ihren Grund
in seiner vormaligen Lebensart haben, andern wider seine Absicht
öfters, sich selbst aber allezeit schädlich wird.In wie fern diese Sätze richtig seyen, oder vielleicht in
besondern Fällen einige Ausnahmen zulassen, zu untersuchen,
würde uns hier zu weit von unserm Vorhaben abfuhren. Genug
für uns, daß sie dem Agathon begründet genug schienen, um
sich selbst desto leichter zu vergeben, daß er (wie der Homerische
Ulysß in der Insel der Kalypso) sich auf dem bezauberten Grunde
der Wollust hatte abhalten lassen, sein erstes Vorhaben, die
Schüler des Zoroasters und die Priester zu Sais zu besuchen,
sobald als ihm Danae seine Freiheit wieder geschenkt hatte, ins
Werk zu setzen. Kurz, seine Erfahrungen machten ihm die
Wahrheit seiner ehmaligen Denkungsart verdächtig, ohne ihm
einen gewissen geheimen Hang zu seinen alten Lieblingsideen
benehmen zu können. Seine Vernunft konnte in diesem Stücke
mit seinem Herzen, und sein Herz mit sich selbst nicht recht
einig werden; und er war nicht ruhig genug, seine nunmehrigen
Begriffe in ein System zu bringen, wodurch beide hätten
befriedigt werden können. In der That ist ein Schiff eben nicht
der bequemste Ort, ein solches Werk, wozu die Stille eines
dunkeln Hains kaum stille genug ist, zu Stande zu bringen.
Agathon mag daher zu entschuldigen seyn, daß er diese Arbeit
verschob, ob es gleich eine von denen ist, welche sich so wenig
aufschieben lassen, als die Ausbesserungen eines baufälligen Gebäudes.
Denn so wie dieses mit jedem Tage dem gänzlichen
Einsturze näher kommt, so pflegen auch die Lücken in unsern
moralischen Begriffen und die Mißhelligkeiten zwischen dem
Kopf und dem Herzen immer größer und gefährlicher zu werden,
je länger wir aufschieben, sie mit der erforderlichen Aufmerksamkeit
zu untersuchen, um Eintracht und Harmonie zwischen
den Theilen und dem Ganzen herzustellen.Doch in dem besondern Falle, worin sich Agathon befand,
war die Gefahr dieses Aufschubs desto geringer, da er, von
der Schönheit der Tugend und der unauflöslichen Verbindlichkeit
ihrer Gesetze mehr als jemals überzeugt, eine auf das
wahre allgemeine Beste gerichtete Wirksamkeit für die Bestimmung
aller Menschen, oder (wofern ja einige Ausnahme zu
Gunsten der bloß contemplativen Geister zu machen wäre)
doch gewiß für die seinige hielt. Vormals war er nur zufälliger
Weise, und gegen seine Neigung, in das thätige Leben
verflochten worden; jetzt war es eine Folge seiner nunmehrigen
(wie er glaubte) geläuterten Denkungsart, daß er
sich dazu entschloß. Ein sanftes Entzücken, welches ihm den
süßesten Berauschungen der Wollust unendlich vorzuziehen schien,
ergoß sich durch sein ganzes Wesen bei dem Gedanken, der
Mitarbeiter an der Wiedereinsetzung Siciliens in die unendlichen
Vortheile der Freiheit und eines durch weise Gesetze
und Anstalten verewigten Wohlstandes zu seyn. Seine immer
verschönernde Phantasie malte ihm die Folgen seiner Bemühungen
in tausend reizende Bilder von öffentlicher Glückseligkeit
aus. Er fühlte mit Entzücken die Kräfte zu einer so edlen
Arbeit in sich; und sein Vergnügen war desto vollkommener,
da er zugleich empfand, daß Herrschsucht und eitle Ruhmbegierde
keinen Antheil daran hatten; daß es die tugendhafte
Begierde, in einem weiten Umfang Gutes zu thun, war, deren
gehoffte Befriedigung ihm diesen Vorschmack des göttlichsten
Vergnügens gab, dessen die menschliche Natur fähig ist. Seine
Erfahrungen, so viel sie ihm auch gekostet hatten, schienen
ihm itzt nicht zu theuer erkauft, da er dadurch desto tüchtiger
zu seyn hoffte, die Klippen zu vermeiden, an denen die Klugheit
oder die Tugend derjenigen, welche sich den öffentlichen
Angelegenheiten unterziehen, zu scheitern pflegt. Er setzte sich
fest vor, sich durch keine zweite Danae mehr irre machen zu
lassen. Er glaubte sich in diesem Stücke desto besser auf sich
selbst verlassen zu können, da er stark genug gewesen war,
sich von der ersten loszureißen, und es mit gutem Fug für
unmöglich halten konnte, jemals auf eine noch gefährlichere
Probe gesetzt zu werden. Ohne Ehrgeiz, ohne Habsucht, immer
wachsam auf die schwache Seite seines Herzens, die er
kennen gelernt hatte, dachte er nicht, daß er von andern Leidenschaften,
welche vielleicht noch in seinem Busen schlummerten,
etwas zu befürchten haben könne. Keine übelweissagenden
Ahnungen störten ihn in dem unvermischten Genusse der
Hoffnungen, die ihn wachend und selbst in Träumen beschäftigten.
Diese Hoffnungen waren der vornehmste Inhalt seiner
Gespräche mit dem Syrakusischen Kaufmanne: sie machten ihm
die Beschwerden der Reise unmerklich, und entschädigten ihn
überflüssig für den Verlust der ehmals geliebten Danae; einen
Verlust, der mit jedem neuen Morgen kleiner in seinen Augen
wurde. Und so führten ihn günstige Winde und ein geschickter
Steuermann, nach einer kurzen Verweilung in einigen Griechischen
Seestädten, glücklich in den Hafen zu Syrakus, um an
dem Hof eines Fürsten zu lernen: "daß auf dieser schlüpfrigen
Höhe die Tugend entweder der Klugheit aufgeopfert
werden muß, oder die behutsamste Klugheit nicht hinreichend
ist den Sturz des Tugendhaften zu verhindern."—————
Achtes Capitel.Eine oder zwei Abschweifungen.Wir wünschen uns Leserinnen zu haben (denn diese Geschichte,
wenn sie auch weniger wahr wäre als sie ist, gehört
nicht unter die Romanen, von welchen der Verfasser des gefährlichsten
und lehrreichsten Romans in der Welt die Jungfrauen
zurück schreckt); und wir sehen es also nicht gern, daß
einige unter ihnen, welche noch Geduld genug gehabt haben,
dieses neunte Buch zu durchblättern — in der Meinung, daß
nun nichts Interessantes mehr zu erwarten sey, nachdem Agathon
durch einen Streich von der verhaßtesten Art, durch eine
heimliche Flucht, der Liebe den Dienst aufgesagt habe — den
Verfolg seiner Geschichte kaltsinnig aus ihren schönen Händen
entschlüpfen lassen, und vielleicht den Sopha, oder die allerliebste
kleine Puppe des Herrn Bibiena ergreifen, um die
Vapeurs zu zerstreuen, die ihnen die Untreue und die Betrachtungen
unsers Helden verursacht haben.Woher es wohl kommen mag, meine schönen Freundinnen,
daß die meisten unter Ihnen geneigter sind, uns alle
Thorheiten, wozu die Liebe nur immer verleiten kann, zu verzeihen,
als die Wiederherstellung in den natürlichen Stand
unsrer gesunden Vernunft? Gestehen Sie, daß wir Ihnen desto
mehr gefallen, je mehr wir durch die Schwachheiten, wozu
Sie uns bringen können, die Obermacht Ihrer Reizungen über
die eingebildete Stärke unsers Verstandes beweisen! Was fur
ein interessantes Gemälde ist nicht eine Dejanira, mit der
Löwenhaut ihres nervigen Liebhabers umgeben, und mit seiner
Keule auf der Schulter, wie sie einen triumphirend-lächelnden
Seitenblick auf den Bezwinger der Riesen und Drachen wirft,
der, in ihre langen Kleider vermummt, im Cirkel ihrer Sklavinnen
mit ungelenksamer Faust die weibische Spindel dreht!
—Wir kennen einige, auf welche diese kleine Apostrophe gar
nicht zu passen scheint. Aber wenn wir ohne Schmeichelei
reden sollen (welches freilich nicht geschehen würde, wenn
wir die Klugheit zu Rathe zögen), so zweifeln wir, ob die
Weiseste unter allen, zu eben der Zeit, da sie sich bemüht den
Thorheiten ihres Liebhabers Schranken zu setzen, sich erwehren
könne, ganz leise in sich selbst darüber zu frohlocken, daß sie
liebenswürdig genug ist, einen Mann seines eignen Werths
vergessen zu machen.Hingegen mögen wir unsern besagten Leserinnen zu einiger
Vergütung eine kleine Anekdote aus dem Herzen unsers Helden
nicht verhalten, wenn er auch gleich dadurch in Gefahr kommen
sollte, die Hochachtung wieder zu verlieren, in die er sich
bei den ehrwürdigen Damen, welche nie geliebt haben, und,
Dank sey dem Himmel! nie geliebt worden sind, wieder zu
setzen angefangen hat.So vergnügt Agathon über die Entweichung aus seiner
angenehmen Gefangenschaft in Smyrna, und in diesem Stücke
mit sich selbst war; so wenig die Bezauberung, unter welcher
wir ihn gesehen haben, die Liebe der Tugend in ihm zu ersticken
vermocht hatte; so aufrichtig die Gelübde waren, die er that,
ihr künftig nicht wieder untreu zu werden; so groß und wichtig
die Gedanken waren, welche seine Seele schwellten; so sehr er
(um alles mit Einem Worte zu sagen) wieder Agathon war:
so hatte er doch Stunden, wo er sich selbst gestehen mußte, daß
er mitten in der Schwärmerei der Liebe und in den Armen der
schönen Danae —glücklich gewesen sey. Es mag immer viel
Verblendung, viel Ueberspanntes und Chimärisches in der Liebe
seyn, sagte er zu sich selbst, aber gewiß ihre Freuden sind doch
keine Einbildung! Ich fühlte es, und fühl' es noch, so wie ich
mein Daseyn fühle, daß es wahre Freuden sind, so wahr in
ihrer Art, als die Freuden der Tugend! Und warum sollt'
es unmöglich seyn, Liebe und Tugend mit einander zu verbinden? —
Sie beide zugleich zu genießen, o! das würde
erst vollkommne Glückseligkeit seyn!Zu Verhütung eines besorglichen Mißverstandes scheint uns
hier eine kleine Parenthese vonnöthen zu seyn, um denen, die
keine andern Sitten kennen, als die Sitten des Landes oder
Ortes, worin sie geboren sind, zu sagen: daß ein vertrauter
Umgang mit Frauenzimmern von einer gewissen Classe, das ist
(um nicht so Französisch, aber weniger zweideutig zu reden),
welche mit dem, was man etwas uneigentlich Liebe zu nennen
pflegt, ein Gewerbe treiben, bei den Griechen eine so erlaubte
Sache war, daß die strengsten Väter sich lächerlich gemacht haben
würden, wenn sie ihren Söhnen, so lange sie unter ihrer Gewalt
standen, eine Liebste aus der bemeldeten Classe hätten verwehren
wollen. Frauen und Jungfrauen genossen, wie aller Orten,
des besondern Schutzes der Gesetze, und waren durch die Sitten
und Gebräuche dieses Volks vor Nachstellungen ungleich besser
gesichert, als sie es bei den heutigen Europäern sind. Ein Anschlag
auf ihre Tugend war so schwer zu bewerkstelligen, als die
Bestrafung eines solchen Verbrechens streng war. Ohne Zweifel
geschah es, um diese in den Augen der Griechischen Gesetzgeber geheiligten
Personen, die Mütter der Bürger, und diejenigen,
welche zu dieser Ehre bestimmt waren, den Unternehmungen
einer unbändigen Jugend desto gewisser zu entziehen, —daß
der Stand der Phrynen und Laiden geduldet wurde. So ausgelassen
und schmutzig die Gemälde sind, welche uns der genievollste,
witzigste und verständigste aller Possenschreiber, Aristophanes,
von den Frauen zu Athen macht: so ist doch gewiß,
daß die Weiber und Töchter der Griechen überhaupt sehr sittsame
Geschöpfe waren, und daß, ordentlicher Weise, die Sitten
einer Vermählten und einer Buhlerin bei ihnen eben so stark
von einander abstachen, als man dermalen in einigen Hauptstädten
von Europa bemüht ist, sie mit einander zu vermengen.Ob jene Einrichtung in allen Stücken löblich war, ist eine
andre Frage, von der hier die Rede nicht seyn soll, wir führen
sie bloß deßwegen an, damit man nicht glaube, als ob die Neue
und die Gewissensbisse Agathons aus dem Begriff entstanden
seyen, daß es unerlaubt sey mit einer Danae der Liebe zu
pflegen. In diesem Stücke dachte er wie alle andern Griechen
seiner Zeit. Bei seiner Nation (die Spartaner vielleicht allein
ausgenommen) durfte man, wenigstens in seinem Alter, die
Nacht mit einer Tänzerin oder Flötenspielerin zubringen, ohne
sich deßwegen einen Vorwurf zuzuziehen, insofern nur die Pflichten
seines Standes nicht darunter leiden mußten, und eine
gewisse Mäßigung beobachtet wurde, welche, nach den Begriffen
dieser Heiden, die Gränzlinie der Tugend und des Lasters ausmachte.
Wenn man dem Alcibiades übel genommen hatte, daß
er sich im Schooß der schönen Nemea, wie vom Siege ausruhend,
malen ließ, oder daß er den Liebesgott mit Jupiters
Blitzen bewaffnet in seinem Schilde führte (und Plutarch sagt
uns, daß nur die ältesten und ernsthaftesten Athener sich darüber
aufgehalten; Leute, deren Eifer gegen die Thorheiten der
Jugend öfters nicht sowohl die Liebe der Tugend als die Verdrießlichkeit
des Alters zur Quelle hat); wenn man, sage ich,
dem Alcibiades diese Ausschweifungen übel nahm: so war es
nicht sein Hang zu den Ergötzungen, oder seine Vertraulichkeit
mit einer Person, welche durch Stand und Profession dem Vergnügen
des Publicums gewidmet war; sondern der Uebermuth,
der daraus hervorleuchtete, die Verachtung der Gesetze des
Wohlstandes und einer gewissen Gravität, welche man in freien
Staaten mit Recht gewohnt ist von den Vorstehern der Republik,
wenigstens außerhalb dem Cirkel des Privatlebens, zu
fordern. Man würde ihm, so gut als einem Perikles oder Cimon,
seine Schwachheiten, oder seine Ergötzungen übersehen haben:
aber man vergab ihm nicht, daß er damit prahlte; daß er sich
seinem Hang zur Fröhlichkeit und Wollust bis zur unbändigsten
Ausgelassenheit überließ; daß er, von Wein und Salben triefend,
mit dem vernachlässigten und abgematteten Ansehen eines Menschen,
der eine Winternacht durchschweift hatte, noch warm von
den Umarmungen einer Tänzerin, in die Rathsversammlungen
gehüpft kam, und, so übel vorbereitet, sich doch überflüssig tauglich
hielt, die Angelegenheiten Griechenlands zu besorgen, und
den grauen Vätern der Republik zu sagen, was sie zu thun
hätten. Dieß war es, was sie ihm nicht vergeben konnten, und
was ihm die schlimmen Händel zuzog, von denen der Wohlstand
Athens und er selbst endlich das Opfer wurde.Ueberhaupt ist es eine längst ausgemachte Sache, daß die
Griechen von der Liebe ganz andere Begriffe hatten als die heutigen
Europäer. Sie ehrten, wie alle polizirten Völker, die
eheliche Freundschaft: aber von dieser romantischen Leidenschaft,
von dieser Liebe, welche von einer ganzen Folge von Romanschreibern
in Spanien, Wälschland, Frankreich und England zu
einer Heldentugend erhoben worden ist; von dieser wußten sie
eben so wenig als von der weinerlich-komischen, der abenteuerlichen
Hirngeburt einiger neueren weiblichen Scribenten, welche
noch über die Begriffe der ritterlichen Zeiten raffinirt, und uns
durch ganze Bände eine Liebe gemalt haben, die sich von stillschweigendem
Anschauen, von Seufzern und Thränen nährt,
immer unglücklich und, selbst ohne einen Schimmer von Hoffnung,
immer gleich standhaft ist. Von einer so abgeschmackten, so
unmännlichen, mit dem Heldenthum, womit man verbinden
will, so lächerlich abstechenden Liebe wußte diese geistreiche Nation
nichts, aus deren schöner und lachender Einbildungskraft die
Göttin der Liebe, die Grazien und so viele andre Götter der
Freude hervorgegangen waren. Sie kannten nur die Liebe,
welche glücklich macht; (oder richtiger zu reden) diese allein schien
ihnen, unter gewissen Einschränkungen, der Natar gemäß, anständig
und unschuldig. Diejenige, welche sich mit allen Symptomen
eines fieberischen Paroxysmus der ganzen Seele bemächtiget,
war in ihren Augen eine von den gefährlichsten
Leidenschaften, eine Feindin der Tugend, die Störerin der
häuslichen Ordnung, die Mutter der verderblichsten Ausschweifungen
und der häßlichsten Laster. Wir finden wenige Beispiele
davon in ihrer Geschichte; und diese Beispiele sehen wir
auf ihrem tragischen Theater mit Farben geschildert, welche
den allgemeinen Abscheu erwecken mußten; so wie hingegen
ihre Komödie keine andre Liebe kennt, als den natürlichen
Instinct, welchen Geschmack, Gelegenheit und Zufall für einen
gewissen Gegenstand bestimmen; der, von den Grazien und
nicht selten auch von den Musen verschönert, das Vergnügen
zum Zweck hat, nicht besser noch erhabner seyn will als er ist,
und ihnen, im Ganzen betrachtet, noch immer weniger schädlich
zu seyn däuchte, als jene tragische Art zu lieben, die vielmehr
von der Fackel der Furien als des Liebesgottes entzündet,
eher die Wirkung der Rache einer erzürnten Gottheit
als dieser süßen Bethörung gleich zu seyn schien, welche sie
(wie den Schlaf und die Gaben des Bacchus) für ein Geschenk
der wohlthätigen Natur ansahen, um uns die Beschwerden
des Lebens zu versüßen, und zu den Arbeiten
desselben muntrer zu machen.Ohne Zweifel würden wir diesen Theil der Griechischen
Sitten noch besser kennen, wenn nicht (durch ein Unglück,
welches die Musen immer beweinen werden) die Komödien
eines Alexis, Menander, Diphilus, Philemon, Apollodorus,
und andrer berühmter Dichter aus dem schönsten Zeitalter
der Attischen Musen, ein Raub der mönchischen und saracenischen
Barbarei geworden wären. Allein es bedarf dieser
Urkunden nicht, um das, was wir gesagt haben, zu rechtfertigen.
Sehen wir nicht den ehrwürdigen Solon noch in seinem hohen
Alter, in Versen, deren sich der alte Dichter auf dem Berge
Krapak nicht zu schämen hätte, von sich selbst gesehen: "daß
er sich aller andern Beschäftigungen begeben habe, um den
Rest seines Lebens in Gesellschaft der Venus, des Bacchus
und der Musen auszuleben?" Sehen wir nicht den weisen
Sokrates kein Bedenken tragen, in Begleitung seiner jungen
Freunde der schönen und gefälligen Theodota einen Besuch zu
machen, um über ihre Schönheit, welche einer aus der Gesellschaft
als unbeschreiblich angepriesen hatte, den Augenschein
einzunehmen? Sehen wir nicht, daß er seiner Weisheit nichts
zu vergeben glaubte, indem er diese Theodota auf eine scherzhafte
Art in der Kunst Liebhaber zu fangen unterrichtet?
War er nicht ein Freund und Bewunderer, ja, wenn Plato
nicht zu viel gesagt hat, ein Schüler der berühmten Aspasia,
deren Haus (ungeachtet der Vorwürfe, welche ihr von der
zaumlosen Frechheit der damaligen Komödie gemacht wurden)
der Sammelplatz der schönsten Geister von Athen war? So
enthaltsam er selbst in Absicht dieses Artikels gewesen zu
seyn scheint, so finden wir doch seine Grundsätze über die
Liebe mit der allgemeinen Denkungsart seiner Nation ziemlich
übereinstimmend. Er unterschied das Bedürfniß von der Leidenschaft,
das Werk der Natur von dem Werke der Phantasie.
Er warnte vor dem letztern, wie wir schon anderwo im Vorbeigehen
bemerkt haben, und rieth zu Befriedigung der ersten
(nach Xenophons Bericht) eine solche Art von Liebe an, an
welcher die Seele so wenig als möglich Antheil nehme. Ein
Rath, welcher zwar seine Einschränkungen leidet, aber doch
auf die gemeine Erfahrung gegründet ist: daß die Liebe, welche
sich der Seele bemächtiget, sie gemeiniglich aller Gewalt über
sich selbst beraubt, und zu allen edlen Anstrengungen untüchtig
macht.Nach den gewöhnlichen Begriffen der Zeit, in welcher
Agathon lebte, wäre es demnach so schwer nicht gewesen, Liebe
und Tugend mit einander zu verbinden. Aber Agathon hatte
größere und feinere Begriffe von der Tugend. Eine gewisse
ideale Vollkommenheit war zu sehr mit den Grundzügen seiner
Seele verwebt, als daß er sie jemals ganz verlieren konnte.
Was ist einer empfindsamen Seele Liebe ohne Schwärmerei?
ohne diese Zärtlichkeit der Empfindungen, diese Sympathie,
welche ihre Freuden vervielfältiget, verfeinert, veredelt? Was
sind die Wollüste der Sinnen ohne Grazien und Museum? —
Agathon hätte also diese Art zu lieben, wie er die schöne
Danae geliebt hatte und von ihr geliebt worden war, gern
mit seinem erhabenen Begriffe von der Tugend verbinden
mögen; und von diesem Wunsche sah er alle seine Schwierigkeiten
ein.Endlich däuchte ihn, es komme alles auf die Beschaffenheit
des Gegenstandes an; und nun erinnerte ihn sein Herz wieder
an Psyche. Er erröthete vor ihrem Bilde, wie er vor der gegenwärtigen
Psyche selbst erröthet seyn würde; aber er empfand
zu gleicher Zeit, daß sein Herz, ohne nur mit einem einzigen
Faden noch an Danae zu hangen, wieder zu seiner ersten Liebe
zurückkehrte. Seine wieder ruhige Phantasie spiegelte ihm,
wie ein klarer tiefer Brunnen, die Erinnerungen der reinen,
tugendhaften und mit keiner andern Lust zu vergleichenden
Freuden vor, die er durch die zärtliche Vereinigung ihrer
Seelen in jenen Elysischen Nächten erfahren hatte. Er empfand
itzt zu dem, was er ehemals für sie empfunden, noch alle die
Liebe, welche ihm Danae eingeflößt hatte; aber so sanft, so
geläutert durch die moralische Schönheit des veränderten Gegenstandes,
daß es nicht mehr eben dieselbe schien. Er stellte
sich vor, wie glücklich ihn eine unzertrennliche Verbindung mit
dieser Psyche machen würde, welche ihm eine Liebe eingehaucht,
die seiner Tugend sowenig gefährlich war, daß sie ihr vielmehr
Schwingen angesetzt hatte. Er versetzte sich in Gedanken mit
Psyche in den Ruheplatz der Diana zu Delphi, und ließ den
Gott der Liebe, den Sohn der himmlischen Venus, das überirdische
Gemälde ausmalen. Eine süße weissagende Hoffnung
breitete sich durch seine Seele aus. Es war ihm, als ob eine
geheime Stimme ihm zulisple, daß er sie in Sicilien finden
werde. Psyche paßte ganz vortrefflich in den Plan, den er sich
von seinem bevorstehenden Leben gemacht hatte. Was für
Aussichten stellte ihm die Verbindung seiner häuslichen Glückseligkeit
mit der öffentlichen vor, welcher er alle seine Kräfte
zu widmen entschlossen war! Aber erst wollte er verdienen
glücklich zu seyn! —Doch, ohne den Leser mit seinen Gesinnungen
und Vorsätzen länger aufzuhalten, eilen wir, ihn auf
einen Schauplatz zu versetzen, wo er sich uns durch Handlungen
zu erkennen geben kann.—————
Zehntes Buch.Darstellung des Syrakusischen Hofes, und des Merkwürdigsten,
was sich kurz zuvor, ehe Agathon zu Syrakus
auftrat, an demselben begeben hatte.Erstes Capitel.Charakter der Syrakuser, des Dionysius und seines Hofes.Aber, ehe wir unsern Helden selbst wieder auftreten lassen,
wird es nöthig seyn, dem Leser sowohl den Schauplatz und die
Zuschauer, auf welchem und für welche Agathon eine der merkwürdigsten
Rollen spielen wird, als die Scene, und einige der
vornehmsten Personen, die theils mit und neben ihm, theils
gegen ihn agiren werden, so umständlich, als es zu unserer
Absicht und zu besserm Verständniß seiner Geschichte nöthig
ist, vorher bekannt zu machen.Syrakus, die alte Hauptstadt Siciliens, verdiente in vielerlei
Betrachtungen den Namen eines zweiten Athen. Nichts
kann ähnlicher seyn als der Charakter ihrer Einwohner, Beide
waren im höchsten Grad eifersüchtig über eine Freiheit, in
welcher sie sich niemals lange zu erhalten wußten, weil sie
Müßiggang und Lustbarkeiten immer noch mehr liebten als die
Freiheit; auch muß man gestehen, daß sie ihnen, durch den
schlechten Gebrauch den sie von ihr machten, mehr Schaden gethan
hat als alle ihre Tyrannen. Die Syrakuser hatten, wie die
Athener, das Genie der Künste und der Musen; sie waren lebhaft,
sinnreich und zum spottenden Scherz aufgelegt; heftig
und ungestüm in ihren Bewegungen, aber so unbeständig, daß
sie in einem Zeitmaße von wenig Tagen vom äußersten Grade
der Liebe zum äußersten Haß, und vom thätigsten Enthusiasmus
zur kältesten Gleichgültigkeit übergehen konnten. Lauter Züge,
durch welche sich, wie man weiß, auch die Athener vor allen
andern Griechischen Völkern ausnahmen. Beide empörten sich
mit eben soviel Leichtsinn gegen die gute Regierung eines einzigen
Gewalthabers, als sie fähig waren, mit der niederträchtigsten
Feigheit sich an das Joch des schlimmsten Tyrannen gewöhnen
zu lassen. Beide kannten niemals ihr wahres Interesse,
und kehrten ihre Stärke immer gegen sich selbst. Muthig und
heroisch in der Widerwärtigkeit, allezeit übermüthig im Glück,
und, gleich dem Aesopischen Hund im Nil, immer durch schimmernde
Entwürfe verhindert, von ihren gegenwärtigen Vortheilen
den rechten Gebrauch zu machen. Durch ihre Lage, Verfassung
und den Geist der Handelschaft der Spartanischen
Gleichheit unfähig, aber eben so ungeduldig, an einem Mitbürger
große Vorzüge von Verdienst, Ansehn oder Reichthum zu
ertragen. Daher immer mit sich selbst im Streit, immer von
Parteien und Rotten zerrissen: bis, nach einem langwierigen
umwechselnden Uebergang von Freiheit zu Sklaverei und von
Sklaverei zu Freiheit, beide zuletzt die Fesseln der Römer
geduldig tragen lernten, und sich weislich mit der Ehre begnügten,
Athen die Schule, Syrakus die Kornkammer dieser
majestätischen Gebieterin des Erdbodens zu seyn.Nach einer Reihe von sogenannten Tyrannen (das ist, von
Beherrschern, welche sich der einzelnen und willkürlichen Gewalt
über den Staat bemächtiget hatten, ohne auf einen Beruf von
den Bürgern zu warten) war Syrakus, und ein großer Theil
Siciliens mit ihr, endlich in die Hände des Dionysius gefallen;
und von diesem, nach einer langwierigen Regierung, unter welcher
die Syrakuser gezeigt hatten, was sie zu leiden fähig
seyen, seinem Sohne, Dionysius dem Zweiten, erblich zugekommen.
Das Recht dieses jungen Menschen an die königliche
Gewalt, deren er sich nach seines Vaters Tod anmaßte, war
noch weniger als zweideutig; denn wie konnte ihm sein Vater
ein Recht hinterlassen, das er selbst nicht hatte? Aber eine starke
Leibwache, eine wohl befestigte Citadelle, und eine durch die
Beraubung der reichsten Sicilier angefüllte Schatzkammer, ersetzten
den Abgang eines Rechts, welches ohnehin alle seine
Stärke von der Macht zieht, die es geltend machen muß, und
eben darum dessen leicht entbehren kann. Hierzu kam noch, daß
in einem Staate, worin der Geist der politischen Tugend schon
erloschen ist, und gränzenlose Begierde nach Reichthümern, und
nach der schmeichelhaften Freiheit alles zu thun was die Sinne
gelüstet, die Oberhand gewonnen haben; daß, sage ich, in einem
solchen Staat eine ausgelassene und allein auf Befriedigung ihrer
Leidenschaften erpichte Jugend sich von der unumschränkten Regierung
eines Einzigen ihrer Art unendlich mehr Vortheile
verspricht, als von der Aristokratie, deren sich die Aeltesten und
Verdienstvollesten bemächtigen, oder von der Demokratie, worin
man ein abhängiges und ungewisses Ansehen mit einer Menge
Beschwerlichkeiten, Gefahren und Aufopferungen theurer erkaufen
muß, als es sich der Mühe zu verlohnen scheint.Der junge Dionysius setzte sich also, durch einen Zusammenfluß
günstiger Umstände, in den ruhigen Besitz der höchsten
Gewalt zu Syrakus; und es ist leicht zu erachten, wie ein übel
erzogner, vom Feuer seines Temperaments zu allen Ausschweifungen
der Jugend hingerissener Prinz, unter einem Schwarme
von schmeichelnden Höflingen, dieser Macht sich bedient haben
werde. Ergötzungen, Gastmähler, Liebeshändel, Feste welche
ganze Monate dauerten, kurz eine stete Berauschung von Schwelgerei,
machten die Beschäftigungen eines Hofes von thörichten
Jünglingen aus, welche nichts Angelegeneres hatten, als durch
Erfindung neuer Wollüste sich in der Zuneigung ihres Prinzen
festzusetzen, und ihn zu gleicher Zeit zu verhindern, jemals
zu sich selbst zu kommen und den Abgrund gewahr zu werden,
an dessen blumichtem Rand er sorglos herumtanzte.Man kennt die Staatsverwaltung wollüstiger Prinzen aus
ältern und neuern Beispielen zu gut, als daß wir nöthig haben
sollten, uns darüber auszubreiten. Was für eine Regierung
ist von einem jungen Unbesonnenen zu erwarten, dessen Leben
ein immerwährendes Bacchanal ist? Der, mit jeder großen
Pflicht seines Berufs unbekannt, die Kräfte, die er zu ihrer
Erfüllung anstrengen sollte, bei nächtlichen Schmäusen und in
den Armen üppiger Buhlerinnen verzettelt? Der, unbekümmert
um das Beste des Staats, sogar seinen Privatvortheil so
wenig einsieht, daß er das wahre Verdienst, welches ihm
verdächtig ist, hasset, und Belohnungen an diejenigen verwendet,
die, unter der Maske der eifrigsten Ergebenheit und gänzlicher
Aufopferung, seine gefährlichsten Feinde sind? Von einem Prinzen,
bei dem die wichtigsten Stellen auf die Empfehlung einer
Tänzerin, oder der Sklaven die ihn aus- und ankleiden, vergeben
werden? Der sich einbildet, daß ein Hofschranze, der
gut tanzt, ein Nachtessen wohl anzuordnen weiß, und ein überwindendes
Talent hat sich bei den Weibern in Gunst zu setzen,
unfehlbar auch das Talent eines Ministers oder eines Feldherrn
haben werde? oder, daß man zu allem in der Welttüchtig sey,
sobald man die Gabe habe ihm zu gefallen? — Was ist von
einer solchen Regierung zu erwarten, als Verachtung der Gesetze,
Mißbrauch der Formalitäten der Gerechtigkeit, Gewaltsamkeiten,
üble Haushaltung, Erpressungen, Geringschätzung
und Unterdrückung der Tugend, allgemeine Verdorbenheit der
Sitten? — Und was für eine Staatskunst wird da Platz haben,
wo Leidenschaften, Launen, vorüberfahrende Anstöße von lächerlichem
Ehrgeiz, wo die kindische Begierde von sich reden zu
machen, die Convenienz eines Günstlings oder die Intriguen
einer Maitresse, die Triebfedern der Staatsangelegenheiten, der
Verbindung und Trennung mit auswärtigen Mächten, und des
öffentlichen Betragens sind? Wo, ohne die wahren Vortheile
des Staats oder seine Kräfte zu kennen, ohne Plan, ohne Abwägung
und Verbindung der Mittel —Doch, wir gerathen
unvermerkt in den Ton der Declamation, welcher bei einem
längst erschöpften und doch so alltäglichen Stoffe nicht zu verzeihen
wäre. Möchte niemand der dieß liest, gus der Erfahrung
seines eignen Vaterlandes wissen, wie einem Volke mitgespielt
wird, welches das Unglück hat, der Willkür eines Dionysius
Preis gegeben zu seyn!Man wird sich, nach allem was wir gesagt haben, diesen
Fürsten als einen der schlimmsten Tyrannen, womit der Himmel
jemals eine mit geheimen Verbrechen belastete Nation
gegeißelt habe, vorstellen; und so schildern ihn auch die Geschichtschreiber.
Allein, ein aus lauter schlimmen Eigenschaften
zusammengesetzter Mensch ist ein Ungeheuer, das nicht
existiren kann. Eben dieser Dionysius würde Fähigkeit genug
gehabt haben ein guter Fürst zu werden, wenn er so glücklich
gewesen wäre, zu seiner Bestimmung gebildet zu werden. Aber
es fehlte so viel, daß er die Erziehung, die sich für einen
Prinzen schickt, bekommen hätte, daß ihm nicht einmal diejenige
zu Theil ward, die man jedem jungen Menschen von
mittelmäßigem Stande gibt. Sein Vater, der feigherzigste
Tyrann, den vielleicht die Geschichte kennt, ließ ihn, von aller
guten Gesellschaft abgesondert, unter niedrigen Sklaven aufwachsen;
und der präsumtive Thronfolger hatte kein anderes
Mittel sich die lange Weile zu vertreiben, als daß er kleine
Wagen, hölzerne Leuchter, Schemel und andere dergleichen
Kunstwerke verfertigte. Man würde Unrecht haben, wenn
man diese selbst gewählte Beschäftigung für einen Wink der
Natur halten wollte; es war vielmehr der Mangel an Gegenständen
und Modellen, welche dem angebornen Trieb aller
Menschen, Witz und Hände zu beschäftigen, eine andere Richtung
hätten geben können. Er würde eben so gut Verse gemacht
haben, und vielleicht bessere als sein Vater (der unter
andern Thorheiten auch die Wuth hatte, ein Poet seyn zu
wollen), wenn man ihm einen Homer in seine Zelle gegeben
hätte. Wie manche Prinzen hat man gesehen, die mit der
Anlage zu Augusten und Trajanen, aus Schuld derjenigen,
die über ihre Erziehung gesetzt waren, oder durch die Unfähigkeit
eines mit klösterlichen Vorurtheilen angefüllten Mönchs,
dem sie auf Discretion überlassen wurden, in Neronen und
Elogabalen ausgeartet sind!Eine genaue und ausführliche Entwicklung, wie dieses zugehe,
und wie es unter gewissen gegebenen Umständen nicht
anders möglich sey, als daß durch eine so fehlerhafte Veranstaltung
das beste Naturell in ein moralisches Mißgeschöpf
verzerrt werden müsse, wäre, wie uns däucht, ein sehr nützlicher
Stoff, welchen wir der Bearbeitung irgend eines Mannes
von Genie empfehlen, der bei philosophischen Einsichten
hinlängliche Kenntniß der Welt besäße. Unsre aufgeklärten
und verfeinerten Zeiten sind weder dieses noch jenes in so
hohem Grade, daß ein solches Werk überflüssig seyn sollte;
und wenn die Ausführung der Würde des Stoffes zusagte,
so zweifeln wir nicht, daß es glücklich genug werden könnte,
von mancher Provinz die lange Folge von Plagen abzuwenden,
welche ihr vielleicht durch die fehlerhafte Erziehung ihrer
noch ungebornen Beherrscher im nächsten Jahrhundert bevorstehen.Zweites Capitel.Charakter des Dion. Anmerkungen über denselben.Die Syrakuser waren des Jochs schon zu gewohnt, um
einen Versuch zu machen, es nach dem Tode des alten Dionysius
abzuschütteln. Es war nicht einmal so viel Tugend unter
ihnen übrig, daß einige von denen, welche besser dachten als
der große Haufen und die verächtliche Brut der Parasiten, den
Muth gehabt hätten, sich bis zum Ohre des jungen Prinzen
zu drängen, um ihm Wahrheiten zu sagen, von denen seine
eigne Glückseligkeit eben sowohl abhing, als die Wohlfahrt
von Sicilien. Ganz Syrakus hatte nur Einen Mann, dessen
Herz groß genug hierzu war. Aber auch dieser würde sich vielleicht
in die sichere, wiewohl unrühmliche Dunkelheit in welche
ehrliche Leute unter einer Unglück weissagenden Regierung sich
zu verbergen pflegen, eingehüllt haben, wenn ihn seine Geburt
nicht berechtigt und sein Interesse genöthigt hätte, sich
um die Staatsverwaltung zu bekümmern.Dieser Mann war Dion, ein Bruder der Stiefmutter des
jungen Dionysius und der Gemahl seiner Schwester, der
Nächste nach ihm im Staat, und der Einzige, der sich durch
seine großen Fähigkeiten, sein Ansehen bei dem Volke, und
die unermeßlichen Reichthümer die er besaß, furchtbar und
eines Anschlags verdächtig machen konnte, sich entweder an
die Stelle des jungen Fürsten zu setzen, oder die republicanische
Verfassung wieder herzustellen. Wenn wir den Geschichtschreibern,
insonderheit dem tugendhaften und gutherzigen
Plutarch, einen unumschränkten Glauben schuldig wären,
so würden wir den Dion unter die wenigen Helden der Tugend
zählen müssen, welche sich (um dem Plato einen Ausdruck
abzuborgen) zu der Würde und Größe guter Dämonen
oder beschützender Genien und Wohlthäter des Menschengeschlechts
emporgeschwungen haben — Männer, welche fähig
sind, aus dem erhabenen Beweggrunde einer reinen Liebe der
sittlichen Ordnung und des allgemeinen Besten zu handeln;
und, über dem Bestreben andere glücklich zu machen, sich selbst
aufopfern, weil sie unter ihrer sterblichen Hülle ein edleres
Selbst fühlen, welches seine angeborne Vollkommenheit desto
herrlicher entfaltet, je mehr jenes thierische Selbst unterdrückt
wird — die, im Glück und Unglück gleich groß, durch dieses
nicht verdunkelt werden, und von jenem keinen Glanz entlehnen,
sondern, immer sich selbst genugsam, Herren ihrer Leidenschaften,
und, über die Bedürfnisse gemeiner Seelen erhaben,
eine Art sublunarischer Götter sind. Ein solcher
Charakter fällt allerdings gut in die Augen, ergötzt den moralischen
Sinn, und erweckt den Wunsch, daß er mehr als
eine schöne Chimäre seyn möchte. Aber wir gestehen, daß
wir, aus erheblichen Gründen, mit zunehmender Erfahrung,
immer mißtrauischer gegen die menschlichen, — warum also
nicht auch gegen die übermenschlichen Tugenden werden.Es ist wahr, wir finden in dem Leben Dions Beweise
großer Fähigkeiten, besonders einer gewissen Erhabenheit und
Stärke des Gemüths, die man gemeiniglich mit gröbern,
weniger reizbaren Fibern und derjenigen Art von Temperament
verbunden sieht, welches ungesellig, ernsthaft, stolz und
spröde zu machen pflegt. An jede Art von Temperament
gränzen, wie man weiß, gewisse Tugenden. Fügt es sich, daß
die Entwicklung der Anlage zu denselben durch günstige Umstände
befördert wird, so ist nichts natürlicher, als daß sich
daraus ein Charakter bildet, der durch gewisse hervorstechende
Tugenden blendet, welche eben darum zu einer völligern
Schönheit gelangen, weil kein innerlicher Widerstand sich ihrem
Wachsthum entgegen gesetzt. Diese Art von Tugenden finden
wir bei Dion in hohem Grade. Aber ihm ein Verdienst daraus
zu machen, wäre eben so viel, als einem Athleten die
Elasticität seiner Sehnen, oder einem gesunden blühenden
Mädchen ihre gute Farbe, als Verdienste anzurechnen, die
ihnen ein Recht an die allgemeine Hochachtung geben sollten.
Ja, wenn Dion sich durch diejenigen Tugenden vorzüglich
unterschieden hätte, zu denen er von Natur nicht aufgelegt
war; und wenn er es so weit gebracht hatte, sie mit eben
der Leichtigkeit und Grazie auszuüben, als ob sie ihm angeboren
wären! Aber wie viel daran fehlte, daß er der Philosophie
seines Lehrers und Freundes Platon so viel Ehre gemacht
hätte, davon finden wir in den eigenen Briefen dieses
Weisen und in dem Betragen Dions in den wichtigsten Auftritten
seines Lebens die zuverlässigsten Beweise. Niemals
konnte er es dahin bringen, oder vielleicht gefiel es ihm nicht
den Versuch zu machen (und beides läuft auf Eines hinaus),
diese Austerität, diese Unbiegsamkeit, diese wenige Gefälligkeit
im Umgang, welche die Herzen von ihm zurückstieß, zu überwinden.
Vergeblich ermahnte ihn Plato den Grazien zu
opfern: Dion bewies durch seine Ungelehrigkeit über diesen
Punkt, daß die Philosophie, ordentlicher Weise, uns nur die
Fehler vermeiden macht, zu denen wir keine Anlage haben,
und uns nur in solchen Tugenden befestiget, zu denen wir
ohnehin geneigt sind.Indessen war er nichtsdestoweniger derjenige, auf welchen
ganz Sicilien die Augen gerichtet hatte. Die Weisheit seines
Betragens, seine Abneigung vor allen Arten der sinnlichen
Ergötzungen, seine Mäßigung, Nüchternheit und gute Haushaltung,
erwarben ihm desto mehr Hochachtung, je stärker sie
von der zügellosen Schwelgerei und Verschwendung des Tyrannen
abstachen. Man sah, daß er allein im Stande sey, dem
Dionysius das Gegengewicht zu halten; und man erwartete
das Beste von ihm, es sey nun daß er sich der Regierung
für sich selbst, oder für die jungen Söhne seiner Schwester
bemächtigen, oder daß er sich begnügen würde, der Mentor
des Dionysius zu seyn.Die natürliche Unempfindlichkeit Dions gegen die Reizungen
der Wollust, welche den Syrakusern so viel Vertrauen
zu ihm gab, blendete in der Folge auch die Griechen des festen
Landes, zu denen er sich vor dem Tyrannen zu flüchten genöthiget
wurde. Selbst die Akademie zu Athen, diese damals
so berühmte Schule der Weisheit, scheint stolz darauf gewesen
zu seyn, einen so nahen Verwandten des (wiewohl unrechtmäßigen)
Beherrschers von Sicilien unter ihre Pflegsöhne zählen
zu können. Die königliche Pracht, welche er zu Athen in
seiner Lebensart affectirte, war in ihren Augen (so gewiß ist
es, daß auch weise Augen manchmal durch die Eitelkeit verfälscht
werden) der Ausdruck der innern Majestät seiner Seele.
Sie schlossen ungefähr nach eben der Logik, welche einen Verliebten
von den Reizungen seiner Dame auf die Güte ihres
Herzens schließen macht. Sie sahen nicht, oder wollten nicht
sehen, daß eben dieser von den republicanischen Sitten so weit
entfernte Pomp ein sehr deutliches Zeichen war, daß es weniger
einer Erhabenheit über die gewöhnlichen Schwachheiten der
Großen und Reichen, als einem Mangel an Begierden zuzuschreiben
sey, wenn derjenige gegen die Vergnügungen der
Sinne gleichgültig war, welcher Eitelkeit genug hatte, durch
ein Gepränge mit Reichthümern, deren er sich, als der Früchte
seiner Verbindung mit der Familie des Tyrannen, vielmehr
zu schämen hatte, sich unter einem freien Volke unterscheiden
zu wollen.Doch indem ich diese Gelegenheit ergreife, die übertriebenen
Lobsprüche zu mäßigen, welche an die Günstlinge des
Glückes verschwendet zu werden pflegen, sobald sie einigen
Schimmer der Tugend von sich werfen, läugne ich keinesweges,
daß Dion, so wie er war, einen Thron eben so würdig
erfüllt haben würde, als wenig er sich schickte, mit einem
durch lange Gewohnheit der Fesseln entnervten Volke — in
dem Mittelstande zwischen Sklaverei und Freiheit, worein er
dasselbe in der Folge durch die Vertreibung des Dionysius
setzte —so sanft und behutsam umzugehen, als es hatte geschehen
müssen, wenn seine Unternehmung für die Syrakuser
und ihn selbst glücklich hätte ausschlagen sollen. Plutarch
vergleicht dieses Volk, in dem Zeitpunkte, da es das Joch
der Tyrannei abzuschütteln anfing, sehr glücklich "mit Leuten,
die von einer langwierigen Krankheit wieder aufstehen, und,
ungeduldig sich der Vorschrift eines klugen Arztes in Absicht
ihrer Diät zu unterwerfen, sich zu früh wie gesunde Leute
betragen wollen." Aber darin können wir nicht mit ihm einstimmen,
daß Dion dieser geschickte Arzt für sie gewesen sey.
Sehr wahrscheinlich hat die Platonische Philosophie selbst, von
deren idealischer Sitten-'und Staatslehre er ein großer Bewunderer
war, dazu beigetragen, daß er weniger als ein
andrer zum Arzt eines äußerst verdorbenen Volks geeigenschaftet
war. Vielfältige Erfahrungen zu verschiedenen Zeiten
und unter verschiedenen Völkern haben es erwiesen, daß die
Dion, die Cato, die Brutus, die Algernon Sidney allemal
unglücklich seyn werden, wenn sie einen von alten bösartigen
Schaden entkräfteten und zerfressenen Staatskörper in den
Stand der Gesundheit wieder herzustellen versuchen. Zu einer
solchen Operation gehören viele Gehülfen; und Männer von
einer so außerordentlichen Art sind unter einer Million
Menschen allein. Es ist genug, wenn das Ziel (wie Solon
von seinen Gesetzen sagte) das beste ist, das in den vorliegenden
Umständen zu erreichen seyn mag; und sie wollen immer
das beste, das sich denken läßt. Alle Mittel, welche zugleich
am gewissesten und ehesten zu diesem Ziele führen, sind die
besten; und sie wollen keine andern gebrauchen, als welche,
nach den strengsten Regeln einer oft allzuspitzfindigen Gerechtigkeit
und Güte, rechtmäßig und gut sind. Löblich, vortrefflich,
göttlich! — rufen die schwärmerischen Bewunderer
der heroischen Tugend. Wir wollten gern mitrufen, wenn
man uns nur erst zeigen wollte, was jene überspannte Tugend
dem menschlichen Geschlecht jemals geholfen habe. — Dion,
zum Exempel, von den erhabenen Ideen seines Lehrmeisters
eingenommen, wollte dem befreiten Syrakus eine Regierungsform
geben, welche so nah als möglich an die Platonische
Republik gränzte, — und verfehlte darüber, zu seinem eignen
Untergang, die Mittel, ihr diejenige zu geben, deren sie
fähig war. Brutus half den größten der Sterblichen, den
fähigsten eine ganze Welt zu regieren, der jemals geboren
worden ist, ermorden, bloß weil ihm, in Rücksicht auf die
Mittel wodurch er zur höchsten Gewalt gelanget war, die
Definition eines Tyrannen zukam. Brutus wollte die Republik
wieder herstellen. Noch einen Dolch für den Marcus
Antonius (wie es der nicht so erhaben, aber richtiger denkende
Cassius verlangte), so wären Ströme von Blut, so wäre das
edelste Blut von Rom, das Leben der besten Bürger gesparet
worden, und der glückliche Ausgang der ganzen Unternehmung
versichert gewesen! Hätte sich derjenige, der dem
vermeinten allgemeinen Besten seines Vaterlandes ein so
großes Opfer gebracht hatte als Cäsar war, ein Bedenken
machen sollen, seinem majestätischen Schatten einen Antonius
nachzuschlagen? —Dieß hätte er thun müssen, um eine That,
— welche (weil sie unglücklich war) bei seinen Zeitgenossen ein
verabscheuungswürdiger Meuchelmord hieß, und der unparteiischern
Nachwelt (im gelindesten Lichte betrachtet) wahnsinniger
Enthusiasmus scheinen muß, — zu einer so glorreichen
Unternehmung zu machen, als jemals die große
Seele eines Römers geschwellt hatte. Aber Brutus hatte
Bedenklichkeiten, welche ihm eine unzeitige Güte eingab; sein
Ansehen entschied; Antonius bedankte sich für sein Leben,
und begrub den Platonischen Brutus unter den Trümmern
der auf ewig umgestürzten Republik.Wir haben uns vielleicht zu lange bei dieser Betrachtung
aufgehalten; aber die Beobachtung, die uns dazu verleitet
hat, so alt sie ist, scheint uns wichtig und an praktischen
Folgerungen fruchtbar, deren Nutzbarkeit sich über alle Stände
ausbreiten, und besonders bei denjenigen, welche mit der
Regierung und moralischen Disciplinirung der Menschen beschäftiget
sind, sich vorzüglich äußern würde, wenn sie besser
eingesehen und mit eben so viel Redlichkeit als Klugheit angewendet
würden. Vielleicht würden die Augen derjenigen,
die weder durch einen Nebel, noch durch gefärbte Gläser
sehen, mit dem weinerlich-lächerlichen Schauspiel von so vielen
ehrlichen Leuten verschont bleiben, die aus allen Kräften und
mit der feierlichsten Ernsthaftigkeit leeres Stroh dreschen, und,
wenn sie ihr Leben lang gedroschen haben, sich sehr verwundern,
daß nichts als Stroh auf der Tenne liegt. Der patriotische
Phlegon würde sich mit dem allzuhitzigen Eifer, seine in
allen Theilen verdorbene Republik durch eben so hitzige Mittel
wieder gesund zu machen, nicht so viel Verdruß zuziehen,
und durch diesen Verdruß und die Vergeblichkeit seiner undankbaren
Bemühungen nicht veranlasset werden, sich zu Tode —
zu trinken. Der redliche Makrin würde sich nicht, auf Unkosten
seiner Freiheit und vielleicht seines Lebens, in den
Kopf setzen, aus einem Caligula einen Marc Aurel zu machen.
Der wohlmeinende Diophant würde einsehen, wie wenig Hoffnung
er sich zu machen habe, Leute, die noch sehr weit entfernt
sind erträgliche Menschen zu seyn, in eine Engel-ähnliche
Vollkommenheit hinein zu declamiren. — Doch genug von
einer Materie, welche, um gehörig ausgeführt zu werden,
eine eigene Abhandlung erforderte!—————
Drittes Capitel.Ein Beispiel, daß die Philosophie so gut zaubern kann als
die Liebe.Dion sah die Ausschweifungen des Dionysius mit der
Verachtung eines kaltsinnigen Philosophen an, der keine Lust
hatte daran Theil zu nehmen, und mit dem Verdruß eines
Staatsmannes, der sich in Gefahr sah, durch einen Schwarm
junger Wollüstlinge, Lustigmacher, Pantomimen und Narren,
von dem Ansehen und dem Antheil an der Regierung, die
ihm gebührten, nach und nach verdrängt zu werden. Bei
solcher Bewandtniß hatte der Patriotismus das schönste Spiel.
Der große Beweggrund des allgemeinen Wohls, die uneigennützige
Betrachtung der verderblichen Folgen, welche aus einer
so schlimmen Beschaffenheit des Hofes über den ganzen Staat
sich verbreiten mußten, wurden durch jene geheimern Triebfedern
so kräftig unterstützt, daß er den festen Entschluß faßte,
alles zu versuchen um seinen Verwandten auf einen bessern
Weg zu bringen.Er urtheilte, den Grundsätzen Platons zufolge, daß
die Unwissenheit des Dionysius, und die Gewohnheit unter
dem niedriggesinntesten Pöbel (es waren gleichwohl junge Herren
von sehr gutem Adel darunter) zu leben, die Hauptquelle
seiner verdorbenen Neigungen sey. Diesemnach hielt er sich
seiner Verbesserung versichert, wenn er die beste Gesellschaft
um ihn her versammeln, und ihm diese edle Wissensbegierde
einflößen könnte, welche bei denen, die von ihr begeistert
sind, die animalischen Triebe, wo nicht gänzlich zu unterdrücken,
doch gewiß zu dämmen und zu mäßigen pflegt. Er
ließ also keine Gelegenheit vorbei (und die unzähligen Fehler,
welche täglich in der Staatsverwaltung gemacht wurden, ließen
ihm daran keinen Mangel) dem Tyrannen die Nothwendigkeit
vorzustellen, Männer von einem großen Ruf der Weisheit um
sich zu haben. Er unterstützte diese Vorstellung mit so vielen
Beweggründen, daß unter einer Menge sehr erhabener, die
an einem Dionysius verloren gingen, sich endlich einer fand,
der seine Eitelkeit interessirte. Doch selbst dieser schlüpfte nur
leicht an den Ohren des jungen Fürsten hin; und, wiewohl
er gewohnt war seinem beschwerlichen Oheim immer Recht
zu geben, so würde doch schwerlich jemals mit Ernst an die
Sache gedacht worden seyn, wenn nicht ein kleiner physischer
Umstand dazu gekommen wäre, der den Vorstellungen des
weisen Dion eine Stärke gab, die nicht ihre eigene war.Dionysius hatte (wir wissen nicht aus welcher Veranlassung)
seinem Hofe ein Fest gegeben, welches, nach der Versicherung
der Geschichtschreiber, drei Monate in Einem fort
dauerte. Die ausschweifendste Einbildungskraft kann nicht
weiter gehen, als Pracht und Schwelgerei bei diesem langwierigen
Bacchanal getrieben wurden. Denn diesen Namen
verdiente es um so mehr, weil, nachdem alle andern Erfindungen
erschöpft waren, die letzten Tage des dritten Monats,
welche in die Weinlese fielen, zu einer Vorstellung des
Triumphes des Bacchus und seiner ganzen poetischen Geschichte
angewandt wurden. Dionysius, der durch eine Anspielung
auf seinen Namen den Bacchus (Dionysos) vorstellte, suchte
einen besondern Ruhm darin, sein Urbild selbst, wo möglich,
hinter sich zurückzulassen. Die Quellen der Natur wurden
erschöpft, und die ohnmächtige Begierde ihre Gränzen zu erweitern —
Doch, wir wollen kein Gemälde machen, das bei
Gegenständen dieser Art die Absicht, Abscheu zu erwecken,
verfehlen könnte. Genug, daß Dionysius mit den Silenen,
Nymphen, Faunen und Satyrn, seinen Gehülfen, die Tiberen
und Neronen der spätern Zeiten in die Unmöglichkeit setzte,
etwas mehr als bloße Copisten von ihm zu seyn.Wer sollte sich vorstellen, daß aus einer so schlammigen
Quelle die heftige Liebe der Philosophie, und eine Reformation,
welche ganz Sicilien und Griechenland in Erstaunen setzte,
habe entspringen können? — Aber im Himmel und auf Erden
sind eine Menge Dinge, wovon kein Wort in unserm Compendium
steht, —sagt Shakespeare's Hamlet zu seinem Schulfreunde
Horatio, — und sagt eine große Wahrheit!Das unbändigste Temperament kann, so wie es Dionysius
anfing, zu Paaren getrieben werden. Der neue Bacchus,
von der Unmäßigkeit, womit er eine so lange Zeit den Göttern
der Freude geopfert hatte, erschöpft, sah sich endlich genöthigt
aufzuhören. Zum erstenmale seit dem berauschenden Augenblicke,
da er sich im Besitz der Gewalt, allen seinen Leidenschaften
den Zügel zu lassen, sah, fühlte er ein Leeres in sich,
in welches er mit Grauen hinein schaute. Zum erstenmal
fühlte er sich geneigt, Betrachtungen anzustellen, wenn er —
das Vermögen dazu gehabt hätte. Aber mit einem lebhaften
Unwillen über sich selbst und alle diejenigen, die ihn zu einem
Thiere zu machen geholfen hatten, erfuhr er itzt, daß er
nichts in sich habe, was er dem Ekel vor allen Vergnügungen
der Sinne, und der langen Weile, die ihn verzehrte, entgegen
stellen könnte. Was er indessen sehr lebhaft fühlte, war
dieses: daß er mitten unter Gegenständen, die ihm eine
scheinbare Größe und Glückseligkeit ankündigten, sich selbst
gegenüber eine sehr elende Figur mache. Kurz, alle Fibern
seines Wesens hatten so sehr nachgelassen, daß er in eine
Art von dummer Schwermuth verfiel, aus welcher ihn alle
seine Höflinge nicht heraus lachen, und alle seine Tänzerinnen
nicht heraus tanzen konnten.In diesem kläglichen Zustande, den die natürliche Ungeduld
seines Temperaments unerträglich machte, warf er sich in die
Arme Dions, welcher während der letzten drei Monate in ein
entferntes Landgut sich zurückgezogen hatte. Er hörte seine
Vorstellungen mit einer Aufmerksamkeit an, deren er sonst
niemals fähig gewesen war, und ergriff mit Verlangen die
Vorschläge, welche ihm dieser Weise that, um so groß und
glückselig zu werden, als er itzt in seinen eigenen Augen verächtlich
und elend war. Man kann sich also vorstellen, daß
er nicht die mindesten Schwierigkeiten machte, den Plato unter
allen Bedingungen, welche Dion in dessen Namen nur immer
fordern konnte, an seinen Hof zu berufen; er, der in dem Zustande,
worin er war, sich von dem ersten besten Priester der
Cybele hätte überreden lassen, mit Aufopferung des werthern
Theils seiner selbst, in den Orden der Korybanten zu treten.Dion wurde, bei so starken Anscheinungen zu einer vollkommenen
Sinnesänderung des Tyrannen, von seiner Philosophie
nicht wenig betrogen. Er schloß zwar sehr richtig, daß
die Rasereien des letzten Festes Gelegenheit dazu gegeben hätten.
Aber darin irrte er sehr, daß er, gewohnt, die Seele,
und was in ihr vorgeht, allzu sehr von der Maschine, in welche
sie eingeflochten ist, abzusondern, nicht gewahr wurde, daß die
guten Dispositionen des Dionysius ganz allein von einem körperlichen
Ekel vor den Gegenständen, worin er bisher sein einziges
Vergnügen gesucht hatte, herrührten. Er hielt die natürlichen
Folgen der Ueberfüllung für Wirkungen der Ueberzeugung,
worin er nunmehr stehe, daß die Freuden der Sinne
nicht glücklich machen könnten. Er setzte voraus, daß eine
Menge Veränderungen in seiner Seele vorgegangen seyen,
woran Dionysens Seele weder gedacht hatte, noch zu denken
vermögend war. Kurz, er beurtheilte (wie wir meistens zu
thun pflegen) die Seele eines andern nach seiner eigenen, und
gründete auf diese Voraussetzung ein Gebäude von Hoffnungen,
welches zu seinem großen Erstaunen zusammenfiel, sobald
Dionysius — wieder Nerven hatte.Die Berufung des Plato war eine Sache, an welcher schon
geraume Zeit gearbeitet worden war. Allein der Philosoph
hatte große Schwierigkeiten gemacht, und würde (ungeachtet
des Zuspruchs seiner Freunde, der Pythagoräer in Italien,
welche die Bitten Dions unterstützten) auf seiner Verweigerung
bestanden seyn, wenn die erfreulichen Nachrichten, welche Dion
von der glücklichen Gemüthsverfassung des Tyrannen gab, und
die dringenden Einladungen, die in desselben Namen an ihn
ergingen, ihm nicht Hoffnung gemacht hätten, der Schutzgeist,
Siciliens, und vielleicht der Stifter einer neuen Republik (nach
dem Modell derjenigen die er uns in seinen Schriften hinterlassen
hat) werden zu können.Plato erschien also am Hofe zu Syrakus mit aller Majestät
eines Weisen, der sich durch die Größe seines Geistes berechtiget
hält, die Großen der Welt für etwas weniger als seinesgleichen
anzusehen. Denn, ob es gleich damals noch keine
Stoiker gab, so pflegten doch die Philosophen von Profession
bereits sehr bescheiden zu verstehen zu geben, daß sie in ihren
eigenen Augen eine höhere Classe von Wesen ausmachten, als
die übrigen Erdenbewohner. Dieses Mal hatte die Philosophie
das Glück eine Figur zu machen, deren Glanz der hohen Einbildung
ihrer Günstlinge gemäß war. Plato wurde wie ein
Gott aufgenommen, und wirkte durch seine bloße Gegenwart
eine Veränderung, welche, in den Augen der erstaunten Syrakuser,
nur ein Gott hervorzubringen mächtig genug schien. In
der That glich das neue Schauspiel, welches sich allen. die diesen
Hof vor wenigen Wochen gesehen hatten, darstellte, einem
Werke der Zauberei. Aber — O! wie natürlich finden wir
auch das Außerordentlichste, sobald wir die wahren Triebräder
davon kennen!Der erste Schritt, welchen der göttliche Plato in den Palast
des Dionysius that, wurde durch ein feierliches Opfer, und die
erste Stunde, worin sie sich mit einander besprachen, durch
eine Verbesserung, die sich sogleich über den ganzen Hof ausbreitete,
bezeichnet. In wenigen Tagen glaubte plato in seiner
Akademie zu Athen zu seyn, so bescheiden und eingezogen
sah alles in dem Hause des Prinzen aus. Die Asiatische Verschwendung
machte auf einmal der philosophischen Einfalt Platz.
Die Vorzimmer, welche kurz zuvor von schimmernden Gecken
und allen Arten lustig machender Personen gewimmelt hatten,
stellten itzt akademische Säle vor, wo man nichts als langbärtige
Weise sah, welche einzeln und paarweise, mit gesenktem
Haupt und gerunzelter Stirne, in sich selbst und in ihre Mäntel
eingehüllt, auf und ab schritten, bald alle zugleich, bald gar
nichts, bald nur mit sich selbst sprachen, und, wenn sie vielleicht
gerade am wenigsten dachten, eine so wichtige Miene
zogen, als ob der geringste unter ihnen mit nichts Kleinerm
umginge, als die beste Gesetzgebung zu erfinden, oder den Gestirnen
einen regelmäßigern Lauf anzuweisen. Die üppigen
Bankette, bei denen Komus und Bacchus mit tyrannischem
Scepter die ganze Nacht durch geherrschet hatten, verwandelten
sich in Pythagorische Mahlzeiten, wo man sich an Gesprächen
über die erhabensten Gegenstände des menschlichen Verstandes
sättigte. Statt frecher Pantomimen und wollüstiger
Flöten, ließen sich Hymnen zum Lob der Götter und der Tugend
hören; und, um den Gaumen zum Reden anzufeuchten,
trank man aus kleinen Sokratischen Bechern Wasser mit Wein
vermischt.Dionysius faßte eine Art von Leidenschaft für den Philosophen.
Plato mußte immer um ihn seyn, ihn aller Orten
begleiten, zu allem seine Meinung sagen. Die begeisterte Einbildungskraft
dieses sonderbaren Mannes, welche, vermöge der
natürlichen Ansteckungskraft des Enthusiasmus, sich auch seinen
Zuhörern mittheilte, wirkte so mächtig auf die Seele des
Prinzen, daß er ihn nie genug hören konnte. Die Stunden
däuchten ihn kürzer, wenn Plato sprach, als ehemals in der
Gesellschaft der kunsterfahrensten Buhlerinnen. Alles, was
der Weise sagte, war so schön, so erhaben, so wunderbar! erhob
den Geist so weit über sich selbst! warf Strahlen von so
göttlichem Licht in das Dunkel der Seele! In der That
konnte es nicht anders seyn, da die gemeinsten Ideen der Philosophie
für Dionysen den frischesten Reiz der Neuheit hatten.
Und nehmen wir zu allem diesem noch, daß er das Wenigste
recht verstand (ob er gleich, wie viele andere seinesgleichen, zu
eitel war es merken zu lassen), noch alles verstehen konnte,
weil der begeisterte Plato sich in der That zuweilen selbst nicht
allzu wohl verstand; bedenken wir die erstaunliche Gewalt, die
ein in schimmernde Bilder eingekleidetes mystisches Räthsel
über die Unwissenden zu haben pflegt: so werden wir begreifen,
daß niemals etwas natürlicher war, als der außerordentliche
Geschmack, welchen Dionysius an dem Gott der Philosophen
(wie ihn Cicero betitelt) fand; zumal da er noch überdieß
ein seiner stattlicher Mann war, und sehr wohl zu leben
wußte.Ohne daß sich die Ueberredungskraft des göttlichen Plato,
oder die Contagion der philosophischen Schwärmerei darein
mischte, theilte sich die plötzliche Wissensbegierde des Dionysius,
sobald man sah daß es ihm Ernst war, allen seinen
Höflingen mit. Nicht, als ob ihnen viel daran gelegen gewesen
wäre, ihre kleinen Affenseelen nach dem göttlichen Modell der
Ideen umzubilden, oder als ob sie sich darum bekümmert hätten,
was in den überhimmlischen Räumen zu sehen sey: aber
sie thaten doch dergleichen. Der Ton der Philosophie war
nun einmal Mode. Man mußte Metaphysik in geometrischen
Ausdrücken reden, um sich dem Fürsten angenehm zu machen.
Man trug also am ganzen Hofe keine andern als philosophische
Mäntel; alle Säle des Palasts waren, nach Art der Gymnasien,
mit Sande bestreut, um mit allen den Dreiecken, Vierecken,
Pyramiden, Achtecken und Zwanzigecken überschrieben zu
werden, aus welchen Plato seinen Gott diese schöne Welt zusammensetzen
läßt; alle Leute, bis auf die Köche, sprachen
Philosophie, hatten ihr Gesicht in irgend eine geometrische
Figur verzogen, und disputirten über Materie und Form, über
das was ist und was nicht ist, über die beiden Enden des
Guten und Bösen, und über die beste Republik.Alles dieß machte freilich ein ziemlich seltsames Aussehen,
und konnte den Verdacht erwecken, als ob Plato an dem Syrakusischen
Hofe vielmehr die Rolle eines aufgeblasenen Pedanten
unter einem Haufen unbärtiger Schüler, als die Rolle eines
Weisen gespielt habe, der sich einen großen Zweck vorgesetzt
hat, und die Mittel dazu nach den Umständen des Orts, der
Zeit und der Personen klüglich zu bestimmen weiß. Aber man
würde sich irren. Er hatte an den lächerlichen Ausschweifungen
der Hofleute wenig Antheil; ob er gleich ganz gern sah,
daß diese unnützen Hummeln, welche er nicht auf einmal austreiben
konnte, auf solche Spielwerke verfielen, die doch immer
als eine Art von Vorübungen angesehen werden konnten, wodurch
sie unvermerkt von ihren vorigen Gewohnheiten abgezogen,
und durch den Geschmack an Wissenschaft zu der allgemeinen
Verbesserung, welche er zu bewirken hoffte, vorbereitet wurden.
Allein seine eigenen hauptsächlichsten Bemühungen bezogen
sich unmittelbar auf den Dionysius selbst; und indem er ihn
durch die Reizungen seines Umgangs und seiner Beredsamkeit
zu humanisiren und an sich zu gewöhnen suchte, trachtete er,
ohne es allzu deutlich zu erkennen zu geben, dahin, ihm die
Verachtung seines vorigen Zustandes, die Liebe der Tugend,
Begierden nach ruhmwürdigen Thaten, kurz, solche Gesinnungen
einzuflößen, welche ihn, durch unmerkliche Grade, von
sich selbst auf den Gedanken bringen würden, ein unrechtmäßiges
Diadem von sich zu werfen, und sich an der Ehre, der
Erste unter seinesgleichen zu seyn, genügen zu lassen.Die Anscheinungen ließen ihn den vollkommensten Erfolg
hoffen. Dionys schien in wenigen Tagen nicht mehr der vorige
Mann zu seyn. Seine Wissensbegierde, seine Gelehrigkeit
gegen die Räthe des Philosophen, das Sanfte und Ruhige in
seinem ganzen Betragen übertraf alles, was sich Dion von
ihm versprochen hatte. Ganz Syrakus empfand sogleich die
Folgen dieser glücklichen Veränderung. Er ging mit einer unglaublichen
Behendigkeit von dem höchsten Grade des tyrannischen
Uebermuths zu der Popularität eines Athenischen Archonten
über. Er setzte alle Tage einige Stunden aus, um jedermann
mit einnehmender Leutseligkeit anzuhören, nannte sie
Mitbürger, wünschte sie alle glücklich machen zu können, fing
sogar wirklich an verschiedene gute Anordnungen zu machen,
und erweckte, durch so viele günstige Vorzeichen, die allgemeine
Erwartung einer glückseligen Revolution, welche nun auf
einmal der Gegenstand aller Wünsche und der Inhalt aller
Gespräche unter dem Volke wurde.Es könnte genug seyn, gegen diejenigen, die eine so große
und schnelle Verwandlung eines Fürsten, den wir als ein
kleines Ungeheuer von Lastern und Ausschweifungen geschildert
haben, unglaublich finden möchten, uns auf die einhellige Aussage
der Geschichtschreiber zu berufen. Aber wir können noch
mehr thun; es ist leicht, die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit
derselben begreiflich zu machen. Aufmerksame Leser, welche
einige Kenntniß des menschlichen Herzens besitzen, werden die
Gründe hiezu in unsrer bisherigen Erzählung schon von selbst
enthebt haben. In einem Gemüthszustande, worin die Leidenschaften
schweigen, wo uns vor den Ergötzungen der Sinne
ekelt, und der Mangel an angenehmen Eindrücken uns in einen
beschwerlichen Mittelstand zwischen Seyn und Nichtseyn versenkt, —
in einem solchen Zustande ist die Seele begierig,
jeden Gegenstand zu umfassen, der sie aus diesem unleidlichen
Stillstand ihrer Kräfte ziehen kann, und am besten aufgelegt,
den Reiz sittlicher und intellectueller Schönheiten zu empfinden.
Freilich würde ein trockner Zergliederer metaphysischer
Begriffe sich nicht dazu geschickt haben, solche Gegenstände für
einen Menschen zuzurichren, der zu einer scharfen Aufmerksamkeit
eben so ungeduldig als unvermögend war. Allein die
Beredsamkeit des Homers der Philosophen wußte sie auf eine
so reizende Art für die Einbildungskraft zu verkörpern, wußte
die Leidenschaften und innersten Triebe des Herzens so geschickt
für sie ins Spiel zu setzen, daß sie nicht anders als gefallen
und rühren konnten. Hierzu kam noch die Jugend des Tyrannen,
welche seine noch nicht verhärtete Seele neuer Eindrücke fähig
machte. Warum sollte es also nicht möglich gewesen seyn, ihm
unter solchen Umständen auf etliche Wochen die Liebe der
Tugend einzuflößen, da hierzu weiter nichts nöthig war, als
seinen Neigungen unvermerkt andre Gegenstände an die Stelle
derjenigen, deren er überdrüssig war, unterzuschieben? In der
That war seine Bekehrung nichts andres, als daß er nunmehr,
anstatt irgend einer Wollust athmenden Nymphe, ein
schönes Phantom der Tugend umarmte, und, statt in Syrakusischem
Weine, sich in Platonischen Ideen berauschte. Eben
diese Eitelkeit, welche ihn vor weniger Zeit angetrieben hatte,
mit dem Bacchus und einer andern unnennbaren Gottheit in
die Wette zu eifern, kitzelte sich itzt durch die Vorstellung, als
Regent und Gesetzgeber den Glanz der berühmtesten Männer
vor ihm zu verdunkeln, die Augen der Welt auf sich zu heften,
sich von allen bewundert, und von den Weisen selbst vergöttert
zu sehen.Daß dieses Urtheil von der Bekehrung des Dionysius richtig
sey, hat sich in der Folge nur zu sehr bewiesen; auch hätte
man däucht uns, ohne die Gabe der Divination zu besitzen,
voraus sehen können, daß eine so plötzliche Veränderung keinen
Bestand haben werde. Aber wie sollten die in einer großen
Angelgenheit verwickelten Personen fähig seyn, so gelassen
und uneingenommen davon zu urtheilen, wie entfernte Zuschauer,
welche das Ganze bereits vor sich liegen haben, und,
bei einer kalten Untersuchung des Zusammenhangs aller Umstände,
sehr leicht mit vieler Zuverlässigkeit beweisen, daß es
nicht anders habe gehen können, als wie sie wissen daß es
gegangen ist?Plato selbst ließ sich von den Anscheinungen betrügen,
weil sie seinen Wünschen gemäß waren, und ihm zu beweisen
schienen wie viel er vermöge. Die voreilige Freude über einen
glücklichen Erfolg, dessen er sich schon versichert hielt, ließ
ihm nicht zu, sich alle die Hindernisse, die seine Bemühungen
vereiteln konnten, in der gehörigen Stärke vorzustellen,
und in Zeiten darauf bedacht zu seyn, wie er ihnen zuvorkommen
möchte. Gewohnt in den ruhigen Spaziergängen seiner
Akademie unter gelehrigen Schülern idealische Republiken
zu bauen, hielt er die Rolle, die er an dem Hofe zu Syrakus
zu spielen übernommen hatte, für leichter als sie in der That
war. Er schloß immer richtig aus seinen Prämissen; aber
seine Prämissen setzten immer mehr voraus als war; und er
bewies durch sein Exempel, daß keine Leute mehr durch den
Schein der Dinge hintergangen werden, als eben diejenigen,
welche ihr ganzes Leben damit zubringen, »inter silvas academî«
dem was wahrhaftig ist, nachzuspähen.In der That hat man zu allen Zeiten gesehen, diß es
den speculativen Geistern nicht geglückt ist, wenn sie sich aus
ihrem philosophischen Kreise heraus auf irgend einen großen
Schauplatz des großen thätigen Lebens gewagt haben. Und
wie könnte es anders seyn, da sie gewohnt sind, in ihren
Utopien und Atlantiden zuerst die Gesetzgebung zu erfinden,
und erst wenn sie damit fertig sind, sich sogenannte Renschen
zu schnitzeln, welche eben so richtig nach diesen Gesetzen handeln
müssen, wie ein Uhrwerk durch den innerlichen Zwang seines
Mechanismus die Bewegungen macht, welche der Künstler
haben will? Es ist leicht genug zu sehen, daß es in der wirklichen
Welt gerade umgekehrt ist. Die Menschen in derselben
sind nun einmal wie sie sind; und der große Punkt ist, diejenigen,
die man vor sich hat, nach allen Umständen und Verhältnissen
so lange zu studiren, bis man so genau als möglich
weiß, wie sie sind. Sobald man dieß weiß, so geben
sich die Regeln, wonach sie behandelt werden müssen, von
selbst; und dann erst ist es Zeit moralische Projecte zu machen! —
Aber, o ihr großen Lichter unsers aufgeklärtesten
Jahrhunderts, wann, glaubt ihr, daß diese Zeit für das
Menschengeschlecht kommen werde?—————
Viertes Capitel.Philistus und Timokrates.Während daß die Philosophie und die Tugend durch die
Beredsamkeit eines einzigen Mannes eine so außerordentliche
Veränderung der Scene an dem Hofe zu Syrakus hervorbrachen,
waren die ehemaligen Vertrauten des Dionysius sehr
weit davon entfernt, die Vortheile, welche sie von der vorigen
Sinnesart dieses Prinzen gezogen hatten, so willig hinzugeben,
als man es aus ihrem äußerlichen Bezeigen hatte
schließet sollen. Als schlaue Höflinge wußten sie zwar ihren
Unmuthüber die sonderbare Gunst, worin Plato bei demselben
stand, künstlich zu verbergen. Gewohnt sich nach dem Geschmacke
des Fürsten zu modeln, und alle Gestalten anzunehmen,
unter welchen sie ihm gefallen, oder zu ihren geheimen
Absichten gelangen konnten, hatten sie, sobald die neue
Laune ihres Herrn bekannt war, die ganze Außenseite des
philosophischen Enthusiasmus mit eben der Leichtigkeit angenommen,
womit sich eine Maske angezogen hätten. Sie waren
die ersten, die dem übrigen Hofe hierin mit ihrem Beispiele
vorgingen. Sie verdoppelten ihre Aufwartung bei dem Prinzen
Dion, dessen Ansehen seit Platons Ankunft sehr gestiegen
war. Sie waren die erklärten Bewunderer des Philosophen.
Sie lächelten ihm Beifall entgegen, sobald er nur den Mund
aufthat. Alle seine Vorschläge und Maßnehmungen hießen
ihnen bewundernswürdig. Sie wußten nichts daran auszusetzen;
oder, wenn sie ja Einwürfe machten, so war es nur
um sich belehren zu lassen, und, auf die erste Antwort, sich
einer höhern Weisheit überwunden zu geben. Sie suchen
seine Freundschaft mit einem Eifer, worüber sie den Fürsten
selbst zu vernachlässigen schienen; und besonders ließen sie sich
angelegen seyn, die Vorurtheile zu zerstreuen, die man, von
der vorigen Staatsverwaltung her, wider sie gefaßt haben
könnte.Durch diese Kunstgriffe erreichten sie zwar ihre Absicht,
den weisen Plato sicher zu machen, nicht so vollkommen, daß
er nicht immer einiges gerechtes Mißtrauen in die Aufrichtigkeit
ihres Bezeigens gesetzt hätte: allein, da sie gar nicht
zweifelten, daß er sie beobachten würde, so war es ihnen
leicht sich so zu betragen, daß er mit aller seiner Scharfsinnigkeit
— nichts sah. Sie vermieden alles, was ihrer Ausführung
einen Schein von Zurückhaltung, Zweideutigkeit und Geheimniß
hätte geben können, und nahmen ein so natürliches und
einfaches Wesen an, daß man entweder ihresgleichen seyn
oder betrogen werden mußte. Diese schöne Kunst ist eine von
denen, in welchen nur Hofleuten gegeben ist Meister zu seyn.
Man könnte die Tugend selbst herausfordern, in einem höhern
Grad und mit besserm Anstand Tugend zu scheinen, als diese
Leute es in ihrer Gewalt haben, die eigenste Miene, Farbe,
und äußerliche Grazie derselben an sich zu nehmen, —sobald
es ein Mittel zu ihren Absichten werden kann.Alles bisher Gesagte galt auf eine ganz vorzügliche Weise
von zwei Männern, welche bei dieser Veränderung des Tyrannen
am meisten zu verlieren hatten. Philias war bisher der
vertrauteste unter seinen Ministern, und Timokrates sein Liebling
gewesen. Beide hatten sich mit einer Eintracht, welche
ihrer Klugheit Ehre machte, in sein Herz, in die höchste Gewalt
(wozu er nur seinen Namen hergab) und in einen beträchtlichen
Theil seiner Einkünfte getheilt. Itzt zog die gemeinschaftliche
Gefahr das Band ihrer Freundschaft noch enger zusammen.
Sie entdeckten einander ihre Besorgnisse, ihre Bemerkungen,
ihre Anschläge. Sie redeten die Maßregeln mit
einander ab, die in so kritischen Umständen genommen werden
mußten: und, da sie die schwache Seite des Tyrannen besser
kannten, als irgend ein andrer, so gingen sie mit so vieler
Schlauheit zu Werke, daß es ihnen nach und nach glückte,
ihn gegen Platon und Dion einzunehmen, ohne daß er merkte,
was sie im Schilde führten.Wir haben schon erwähnt, daß die Syrakuser (vermöge
einer Eigenschaft, welche aller Orten das Volk charakterisirt)
der Hoffnung, durch Platons Vermittlung ihre alte Freiheit
wieder zu erlangen, sich mit einer so voreiligen Freude überließen,
daß die bevorstehende Staatsveränderung gar bald der
Inhalt aller Gespräche wurde.In der That ging die Absicht Dions bei Berufung seines
Freundes auf nichts Geringeres. Beide waren gleich erklärte
Feinde der Tyrannie und der Demokratie. Denn sie hielten
für ausgemacht (mit welchem Grunde wollen wir hier nicht
entscheiden), daß beide, wiewohl unter verschiedenen Gestalten
und durch verschiedene Wege, am Ende in Einem Punkte,
nämlich in Mangel der Ordnung und Sicherheit, in Unterdrückung
und Sklaverei, zusammen liefen, und daß der ganze
Unterschied am Ende darin bestehe, daß in der ersten nur ein
Einziger, in der andern hingegen der roheste, unverständigste
unb schlechteste Theil des Volks — der Tyrann sey. Sie waren
beide für diejenige Art der Aristokratie eingenommen,
worin das Volk zwar vor aller Unterdrückung hinlänglich sicher
gestellt, folglich die Gewalt der Edeln, oder (wie man bei den
Griechen sagte) der Besten, durch unzerbrechliche Ketten gefesselt
ist; hingegen die Staatsverwaltung in den Händen einer
kleinern Anzahl ist, welche dem ganzen aristokratischen Senat,
als dem Inhaber der höchsten Gewalt, eine genaue Rechenschaft
abzulegen haben. Es war also wirklich ihr Vorhaben,
die Tyrannie (oder, was man zu unsern Zeiten eine uneingeschränkte
Monarchie nennt) aus dem ganzen Sicilien zu verbannen,
und die Verfassung dieser Insel in die vorbemeldete
Form zu gießen. Dem Dionysius zu gefallen, oder vielmehr,
weil nach Platons Meinung die vollkommenste Staatsform
eine Zusammensetzung aus der Monarchie, Aristokratie und
Demokratie seyn mußte, wollten sie ihrer neuen Republik zwei
Könige geben, welche in derselben eben das vorstellen sollten,
was die Könige in Sparta; und Dionysius sollte einer von
denselben seyn. Dieses waren ungefähr die Grundlinien ihres
Entwurfs. Sie ließen keine Gelegenheit vorbei, dem Prinzen
die Vortheile einer gesetzmäßigen Regierung anzupreisen: aber
sie waren zu klug, von einer so kitzlichen Sache, als die Einführung
einer republicanischen Verfassung war, vor der Zeit zu
reden, und den Tyrannen, eh' ihn Plato vollkommen zahm und
bildsam gemacht haben würde, durch eine unzeitige Entdeckung
ihrer Absichten in seine natürliche Wildheit zurück zu schrecken.Unglücklicher Weise war das Volk so vieler Mäßigung
nicht fähig, und dachte auch ganz anders über den Gebrauch,
den es von seiner Freiheit machen wollte. Ein jeder hatte
dabei eine gewisse Absicht, die er noch bei sich behielt, und
die, wie gewöhnlich, auf irgend einen Privatvortheil ging.
Jeder hielt sich für mehr als fähig, dem gemeinen Wesen gerade
in dem Posten zu dienen, wozu er die wenigste Fähigkeit
hatte, oder hatte sonst seine kleinen Forderungen zu machen,
welche er schlechterdings bewilliget haben wollte. Die Syrakuser
verlangten also eine Demokratie; und da sie sich ganz
nahe bei dem Ziel ihrer Wünsche glaubten, so sprachen sie
laut genug davon, daß Philistus und seine Freunde Gelegenheit
bekamen, den Tyrannen aus seiner süßen Platonischen
Träumerei aufzuwecken, und zu sich selbst zurückzurufen.Das erste, was diese getreuen Anhänger der alten Verfassung
thaten, war, daß sie ihm die Gesinnungen des Volks,
und die zwar von außen noch nicht merklich in die Augen fallende,
aber innerlich desto stärker gährende Bewegung desselben,
mit sehr lebhaften Farben, und mit ziemlicher Vergrößerung
der Umstände. vormalten. Sie thaten dieß mit vieler
Vorsichtigkeit, in gelegenen Augenblicken, nach und nach, und
auf eine solche Art, daß es dem Dionysius scheinen mußte,
als ob ihm endlich die Augen von selbst aufgingen. Dabei versäumten
sie keine Gelegenheit, den Plato und den Prinzen
Dion bis in die Wolken zu erheben. Besonders sprachen sie
in Ausbrüten, welche von der schlauesten Bosheit gewählt
wurden, von der außerordentlichen Hochachtung, in welche
sich diese Männer bei dem Volke setzten. Um den Tyrannen
desto aufmerksamer zu machen, wußten sie es, durch tausend
geheime Wege, wobei sie selbst nicht zum Vorschein kamen,
dahin einzuleiten, daß häufige und zahlreiche Privatversammlungen
in der Stadt angestellt wurden, wozu Dion und Plato,
oder doch immer jemand von den besondern Vertrauten des
einen oder des andern, eingeladen wurde. Diese Versammlungen
waren zwar nur auf Gastmähler und freundschaftliche
Ergötzungen angesehen: aber sie gaben doch dem Philippus
und seinen Freunden Gelegenheit, so davon zu reden, daß
sie den Schein politischer Zusammenkünfte bekamen; und dieß
war alles was sie wollten.Durch diese und andre dergleichen Kunstgriffe gelang es
ihnen endlich, dem Dionysius Argwohn beizubringen. Er
fing an, in die Aufrichtigkeit seines neuen Freundes ein desto
größeres Mißtrauen zu setzen, da er über das besondere Verständniß,
welches er zwischen ihm und dem Dion wahrnahm,
eifersüchtig war. Um desto eher ins Klare zu kommen, hielt
er für das Sicherste, den seit einiger Zeit vernachlässigten
Timokrates wieder an sich zu ziehen, und, sobald er sich versichert
hatte, daß er wieder auf seine Ergebenheit zählen könne,
ihm seine Wahrnehmungen und geheimen Besorgniße zu entdecken.
Der schlaue Günstling stellte sich anfangs, als ob er
nicht glauben könne, daß die Syrakuser im Ernste mit einem
solchen Vorhaben umgehen sollten! "Wenigstens (sagte er mit
der ehrlichsten Miene von der Welt) könne er sich nicht vorstellen,
daß Plato und Dion den mindesten Antheil daran haben
sollten. Indessen müsse er freilich gestehen, daß, seitdem
der erste sich am Hofe befinde, die Syrakuser von einem seltsamen
Geiste getrieben, und zu den ausschweifenden Einbildungen,
welche sie sich zu machen schienen, vielleicht durch das
außerordentliche Ansehen verleitet würden, worin dieser Philosoph
bei dem Prinzen stehe. Es sey nicht unmöglich, daß
die Republicanischgesinnten sich Hoffnung machten, Gelegenheit
zu finden, während der Hof die Gestalt einer Akademie gewänne,
dem Staat unvermerkt die Gestalt einer Demokratie
zu geben. Indessen setze er doch nicht Vertrauen genug in seine
ergene Einsicht, seinem Herrn und Freunde in so schlüpfrigen
Umständen einen sichern Rath zu geben. Philistus, dessen
Treue dem Prinzen längst bekannt sey, würde durch seine
Erfahrenheit in Staatsgeschäften unendliche Mal geschickter
seyn, einer Sache von dieser Art auf den Grund zu sehen."Dionysius hatte wenig Lust, sich einer Gewalt zu begeben,
deren Werth er, so wie seine Fibern wieder elastischer wurden,
von Tag zu Tag wieder stärker zu empfinden begann. Die
Einstreuungen seines Günstlings thaten also ihre ganze Wirkung.
Er trug ihm auf, mit der nöthigen Vorsichtigkeit den
Philistus noch in der nämlichen Nacht in sein Cabinet zu führen,
um sich über diese Dinge mit ihm zu besprechen, und
die Gedanken desselben zu vernehmen. Es geschah. Philistus
vollendete was Timokrates angefangen hatte. Er entdeckte
dem Prinzen alles, was er beobachtet zu haben vorgab; nämlich
gerade so viel, als nöthig war, um ihn in den Gedanken
zu bestärken, daß eine geheime Verschwörung zu einer
Staatsveränderung im Werke sey, welche zwar noch nicht zur
Reife gekommen, aber doch so beschaffen sey, daß sie Aufmerksamkeit
verdiene. Und wer kann der Urheber einer solchen
Verschwörung seyn? fragte Dionysius.Hier stellte sich Philistus verlegen. "Er hoffe nicht, sagte
er, daß es schon so weit gekommen sey; Dion bezeige so gute
Gesinnungen für den Prinzen." — Rede aufrichtig, wie du
denkst, fiel ihm Dionysius ein; was hältst du von diesem
Dion? Keine Complimente! Du brauchst mich nicht daran
zu erinnern, daß er meiner Schwester Mann ist; ich weiß
es nur zu wohl, und ich traue ihm nichts desto besser. Er ist
ehrgeizig — "Das ist er" — Finster, zurückhaltend, in sich
selbst eingeschlossen — "In der That ist er das (nahm Philistus
das Wort), und wer ihn genau beobachtete, ohne vorhin
eine bessere Meinung von ihm gefaßt zu haben, würde
sich des Argwohns kaum erwehren können, daß er mißvergnügt
sey, und Gedanken in sich selbst ausarbeite, die er nicht
für gut befinde andern mitzutheilen." — Glaubst du das,
Philistus? (fiel der Prinz ein) Ich habe immer so von ihm
gedacht. Wenn Syrakus unruhig ist und mit Neuerungen
umgeht, so darfst du versichert seyn, daß Dion die Triebfeder
davon ist. Wir müssen ihn genauer beobachten! — "Wenigstens
ist es sonderbar (fuhr Philistus fort), daß er seit einiger
Zeit so eifrig ist sich der Freundschaft der angesehensten
Bürger zu versichern." (Hier führte er einige Umstände an,
welche, durch die Wendung die er ihnen gab, seine Wahrnehmung
bestätigen konnten.) "Wenn ein Mann von solcher
Wichtigkeit, wie Dion, sich herabläßt eine Popularität anzunehmen,
die so gänzlich wider seinen Charakter ist; so kann
man glauben, daß er Absichten hat: und wenn Dion Absichten
hat, so gehen sie gewiß auf keine Kleinigkeiten. Was es
aber auch seyn mag, so bin ich gewiß (setzte er mit einer
bedeutungsvollen Miene hinzu), daß Platon, ungeachtet der
engen Freundschaft, die zwischen ihnen obwaltet, zu tugendhaft
ist, um an heimlichen Anschlägen gegen einen Prinzen,
der ihn mit Ehre und Wohlthaten überhäuft, Theil zu nehmen."
— Soll ich dir sagen was ich denke? erwiederte der
Prinz. Diese Philosophen, von denen man so viel Wesens
macht, sind eine höchst unbedeutende Art von Geschöpfen.
In der That, ich sehe nicht, daß an ihren Speculationen so
viel gefährliches seyn sollte, als die Leute sich einbilden. Ich
liebe, zum Exempel, diesen Platon, weil er angenehm im
Umgang ist. Er hat sich seltsame Dinge in den Kopf gesetzt;
man könnte sich's nicht schnakischer träumen lassen; aber eben
das belustigt mich. Und bei allem dem muß man ihm den
Vorzug lassen, daß er schon spricht. Es hört sich ihm recht
angenehm zu, wenn er euch von der alten Insel Atlantis und
von den Sachen in der andern Welt eben so umständlich und
zuversichtlich spricht, als ob er mit dem nächsten Marktschiffe
aus dem Mond angkommen wäre. (Hier lachten die beiden
Vertrauten, als ob sie nicht aufhören könnten, über einen so
sinnreichen Einfall, und Dionysius lachte mit.) Ihr mögt
lachen so lang' ihr wollt, fuhr er fort; aber meinen Plato
sollt ihr mir gelten lassen! Er ist der gutherzigste Mensch von
der Welt; und wenn man seine Philosophie, seinen Bart und
seine hieroglyphische Physiognomie zusammen nimmt, so muß
man gestehen, daß das Ganze eine Art von Leuten macht,
womit man sich, in Ermangelung eines Bessern, die Zeit
ganz gut vertreiben kann.O göttlicher Platon! du, der sich einbildete, das Herz
dieses Prinzen in seiner Hand zu haben; du, der sich selbst
das große Wunderwerk zutraute, einen weisen und tugendhaften
Mann aus ihm zu machen! warum standest du nicht
in diesem Augenblick hinter einer Tapete, und hörtest diese
schmeichelhafte Apologie mit an, durch welche er seinen Geschmack
an dir in den Augen seiner Höflinge zu rechtfertigen
suchte!"In der That, sagte Timokrates, die Musen selbst können
nicht angenehmer reden als Plato, ich wüßte nicht, was er
einem nicht überreden könnte, wenn er sich's in den Kopf
gesetzt hätte." — Du willst vielleicht scherzen, fiel ihm der
Prinz ein; aber ich versichre dich, es hat wenig gefehlt, daß
er mich nicht dazu gebracht hätte, Sicilien fahren zu lassen,
und eine philosophische Reise nach Memphis zu den Pyramiden
und Gymnosophisten anzustellen, die seiner Beschreibung nach
eine seltsame Art von Creaturen seyn müssen. Wenn ihre
Weiber so schön sind, wie er sagt, so mag es keine schlimme
Partie seyn, den Tanz der Sphären mit ihnen zu tanzen;
denn sie leben im Stande der vollkommen schönen Natur und
treten dir, bloß in ihre eigenthümlichen Reizungen gekleidet,
mit einer so triumphirenden Miene unter die Augen, als die
schönste Syrakuserin in ihrem reichsten Putze.Dionysius war, wie man sieht, in einer Laune, die den
erhabenen Absichten seines Hofphilosophen nicht sehr günstig
war. Auch baute der schlaue Timokrates, der nur eines
Winkes hierzu bedurfte, stehenden Fußes auf diese Anlage ein
kleines Project, wovon er sich gute Wirkung versprach. Aber
der weiter sehende Philistus fand nicht für dienlich, seinen
Herrn in dieser leichtsinnigen Laune fortsprudeln zu lassen.
"Ihr scherzet über die Wirkungen der Beredsamkeit Platons,
sprach er: es ist nur allzu gewiß, daß er in dieser Kunst
seinesgleichen nicht hat. Aber eben dieses würde mir nicht
wenig Sorge machen, wenn er der rechtschaffne Mann nicht
wäre, für den ich ihn halte. Die Macht der Beredsamkeit
übertrifft alle andre Macht; sie ist fähig fünfzigtausend Arme
nach dem Gefallen eines einzigen wehrlosen Mannes in Bewegung
zu setzen oder zu enrnerven. Wenn Dion, wie es
scheint, irgend ein gefährliches Vorhaben brütete, und Mittel
fände, diesen überredenden Sophisten auf seine Seite zu
bringen: so besorg' ich, Dionysius könnte das Vergnügen seiner
sinnreichen Unterhaltung theuer bezahlen müssen. Man weiß
was die Beredsamkeit zu Athen vermag; und es fehlt den
Syrakusern nichts als ein paar solche Wortkünstler, die ihnen
den Kopf mit Figuren und Bildern warm machen, so werden
sie Athener seyn wollen, und der erste beste, der sich an ihre
Spitze stellt, wird aus ihnen machen was er will."Philistus sah, daß sein Herr bei diesen Worten auf einmal
tiefsinnig ward. Er schloß daraus, daß etwas in seinem
Gemüth arbeitete, und hielt ein. Was für ein Thor ich war!
rief Dionysius aus, nachdem er eine Weile mit gesenktem
Kopfe zu staunen geschienen hatte. Das war wohl der Genius
meines guten Glücks, der mir eingab, dich diesen Abend
zu mir rufen zu lassen! Die Augen gehen mir auf einmal
auf. Wozu mich diese Leute mit ihren Dreiecken und Schlußreden
nicht gebracht hätten! Kannst du dir wohl einbilden,
daß mich dieser Plato mit seinem glatten Geschwätze beinahe
überredet hätte, mein stehendes Kriegsheer und sogar meine
Leibwache nach Hause zu schicken? Ha! nun sehe ich, wohin
alle diese schönen Vergleichungen eines Fürsten mit einem Vater
im Schooße seiner Familie, und mit einem Säugling an der
Brust seiner Amme, und was weiß ich mit was noch mehr,
abgesehen waren! Die Verräther wollten mich durch diese
süßen Wiegenlieder erst einschläfern, hernach entwaffnen, und
zuletzt, wenn sie mich dahin gebracht hätten, daß ich weder
Arme noch Beine nach meinem Gefallen hätte rühren können,
würden sie mich im ganzen Ernst zu ihrem Wickelkinde, zu
ihrer Puppe, und wozu es ihnen eingefallen wäre, gemacht
haben! Aber sie sollen mir die Erfindung bezahlen! Ich
will diesem verrätherischen Dion —Bist du albern genug dir
einzubilden, daß es ihm darum zu thun sey, eure Spießbürger
von Syrakus in Freiheit zu setzen? Regieren will er, Philistus!
Das will er! und darum hat er diesen Sophisten an meinen
Hof kommen lassen, der mir, indeß jener das Volk zur Empörung
reizt und sich einen Anhang macht, so lange und so
viel von Gerechtigkeit und Wohlthun und goldnen Zeiten und
väterlicher Regierung vorschwatzen soll, bis er mich überredet
hätte, meine Galeeren zu entwaffnen, meine Trabanten zu
entlassen, und am Ende in Begleitung eines von den zottelbärtigen
Knaben, die er mitgebracht hat, als ein Neuangeworbener
nach Athen in die Akademie zu wandern, um unter
einem Schwarm junger Gecken darüber zu disputiren, ob
Dionysius recht oder unrecht gethan habe, sich in einer so
armseligen Mausfalle fangen zu lassen."Aber ist's möglich, fragte Philistus mit angenommener
Verwunderung, daß Plato den sinnlosen Einfall haben konnte,
meinem Prinzen solche Räthe zu geben?"Es ist möglich, weil ich dir sage, daß er's gethan hat.
Aber ich will eine Oelmühle drehen, wenn ich begreife, wie
ich mich von diesem Schwätzer bezaubern lassen konnte."Das soll sich Dionysius nicht verdrießen lassen, erwiederte
der gefällige Philistus. Plato ist in der That ein großer
Mann in seiner Art; ein vortrefflicher Mann, wenn es darauf
ankommt den Entwurf zu einer Welt zu machen, oder zu beweisen,
daß der Schnee nicht weiß ist. Aber seine Regierungsmaximen
sind, wie es scheint, ein wenig unsicher in der Ausübung.
In der That, das würde den Athenern was zu reden
gegeben haben: und es wäre wahrlich kein kleiner Triumph
für die Philosophie gewesen, wenn ein einziger Sophist ohne
Schwertschlag, durch die bloße Zauberkraft seiner Worte zu
Stande gebracht hätte, was seine Mitbürger durch große
Flotten und Kriegsheere vergeblich unternommen haben."Es ist mir unerträglich nur daran zu denken, sagte Dionysius.
Was für eine einfältige Figur ich ein paar Wochen
lang unter diesen Grillenfangern gemacht haben muß! Hab'
ich dem Dion nicht selbst Gelegenheit gegeben, mich zu verachten?
Was mußten sie von mir denken, da sie mich so
gelehrig fanden? — Aber sie sollen in kurzem sehen, daß sie
sich mit aller ihrer Wissenschaft der geheimnißvollen Zahlen
gewaltig überrechnet haben! Es ist Zeit, der Komödie ein
Ende zu machen!"Um Vergebung, Prinz, fiel Philistus ein; die Rede ist
noch von bloßen Vermuthungen. Vielleicht ist Plato, ungeachtet
seines nicht allzu wohl überlegten Rathes, unschuldig; vielleicht
ist es sogar Dion. Wenigstens haben wir noch keine Beweise
gegen sie. Sie haben Bewunderer und Freunde zu Syrakus.
Das Volk ist ihnen geneigt. Es möchte gefährlich seyn, sie
durch einen übereilten Schritt in die Nothwendigkeit zu setzen,
diesem Freiheit träumenden Pöbel sich in die Arme zu werfen.
Lassen wir sie noch eine Zeit lang in dem angenehmen Wahne,
den Dionysius gefangen zu haben! Geben wir ihnen durch
ein künstlich verstelltes Zutrauen Gelegenheit, ihre Gesinnungen
deutlicher heraus zu lassen! Wie, wenn Dionysius sich stellte,
als ob er wirklich Lust hätte die Monarchie aufzugeben, und
als ob ihn kein anderes Bedenken davon zurückhielte, als die
Ungewißheit, welche Regierungsform Sicilien am glücklichsten
machen könnte? — Eine solche Eröffnung wird sie nöthigen,
sich selbst zu verrathen; und, indeß wir sie mit akademischen
Fragen und Entwürfen aufhalten, werden sich Gelegenheiten
finden, den regiersüchtigen Dion in Gesellschaft seines Rathgebers
mit guter Art eine Reise nach Athen machen zu lassen;
wo sie in ungestörter Muße Republiken anlegen, und ihnen,
wenn sie wollen, alle Tage eine andere Form geben mögen."—————
Fünftes Capitel.Gemüthsverfassung des Dionysius. Unterredung mit Dion und Platon.
Folgen derselben.Dionysius war von Natur hitzig und ungestüm. Eine
jede Vorstellung, von der seine Einbildung getroffen wurde,
beherrschte ihn so sehr, daß er sich dem mechanischen Triebe,
den sie in ihm hervorbrachte, gänzlich überließ. Aber wer
ihn so genau kannte als Philistus, hatte wenig Mühe, seinen
Bewegungen oft durch ein einziges Wort eine andere Richtung
zu geben. Im ersten Anstoß seiner unbesonnenen Hitze
waren die gewaltsamsten Maßnehmungen immer die ersten,
auf die er fiel. Aber man brauchte ihm nur den Schatten
einer Gefahr dabei zu zeigen, so legte sich die auffahrende
Lohe wieder, und er ließ sich eben so schnell überreden die
sichersten Mittel zu erwählen, wenn sie gleich die niederträchtigsten
waren.Da wir die wahre Triebfeder seiner vermeinten Sinnesänderung
oben bereits entdeckt haben, wird sich niemand
wundern, daß er von dem Augenblick an, da sich seine Leidenschaften
wieder regten, in seinen natürlichen Zustand zurück
sank. Was man bei ihm für Liebe der Tugend angesehen,
was er selbst dafür gehalten hatte, war das Werk zufälliger
und mechanischer Ursachen gewesen. Daß er der Tugend zu
Liebe seinen Neigungen die mindeste Gewalt hätte thun sollen,
so weit ging sein Enthusiasmus für sie nicht. Die ungebundene
Freiheit, worin er zu leben gewohnt war, stellte sich
ihm wieder mit den lebhaftesten Reizungen dar. Nun sah
er in Plato bloß einen verdrießlichen Hofmeister, und verwünschte
sich selbst, daß er schwach genug habe seyn können,
sich von einem solchen Pedanten einnehmen und in eine seiner
eigenen so wenig ähnliche Gestalt umbilden zu lassen. Er
fühlte nur allzuwohl, daß er sich eine Art von Verbindlichkeit
aufgelegt hätte, in den Gesinnungen zu beharren, die er
diesem Sophisten (wie er ihn jetzt nannte) unbesonnener Weise
gezeigt hatte, und besorgte, nicht ohne Grund, daß Dion und
die Syrakuser die Erfüllung seines Versprechens, aus eine gesetzmäßige
Art zu regieren, als eine Schuldigkeit von ihm verlangen
würden. Diese Gedanken waren ihm unerträglich, und
hatten die natürliche Folge, seine ohnehin bereits erkaltete
Zuneigung zu dem Philosophen von Athen in Widerwillen zu
verwandeln, den Dion aber, den er nie geliebt hatte, ihm
doppelt verhaßt zu machen. Dieß waren die geheimen Dispositionen,
welche den Verführungen des Timokrates und Philistus
den Eingang in sein Gemüth erleichterten. Es war
schon so weit mit ihm gekommen, daß er vor diesen ehmaligen
Vertrauten sich der Person schämte, die er einige Wochen
lang, gleichsam unter Platons Vormundschaft, gespielt hatte;
und vermuthlich rührte es von dieser verderblichen Scham her,
daß er in so verkleinernden Ausdrücken von einem Manne,
den er anfänglich beinahe vergöttert hatte, sprach, und seiner
Leidenschaft für ihn einen so spaßhaften Schwung zu geben
suchte.Er ergriff also den Vorschlag des Philistus mit der Ungeduld
eines Menschen, der sich von dem Zwang einer verhaßten
Einschränkung je eher je lieber los zu machen wünscht; und
damit er keine Zeit verlieren möchte, machte er gleich des folgenden
Tages Anstalt, denselben ins Werk zu setzen. Er berief
den Dion und den Philosophen in sein Cabinet, und entdeckte
ihnen mit allen Anscheinungen des vollkommensten Zutrauens,
daß er gesonnen sey sich der Regierung zu entschlagen, und den
Syrakusern die Freiheit zu lassen, sich diejenige Verfassung zu
erwählen, die ihnen die angenehmste seyn würde.Ein so unerwarteter Vortrag machte die beiden Freunde
stutzen; aber sie faßten sich unverzüglich. Sie hielten ihn für
eine von den sprudelnden Aufwallungen einer noch ungeläuterten
Tugend, welche gern auf schöne Ausschweifungen zu verfallen
pflegt, und hofften daher, es werde ihnen leicht seyon, den
Prinzen auf reifere Gedanken zu bringen. Sie billigten zwar
seine gute Absicht; stellten ihm aber vor, daß er sie sehr schlecht
erreichen würde, wenn er das Volk, welches in politischer Hinsicht
immer als ein Unmündiger zu betrachten sey, zum Meister
über eine Freiheit machen wollte, die es allem Vermuthen nach,
zu seinem eignen Schaden mißbrauchen würde. Sie sagten
ihm hierüber alles was eine gesunde Staatskunst sagen kann.
Insonderheit bewies ihm Plato, der innere Wohlstand eines
Staats beruhe nicht auf der Form seiner Verfassung, sondern
auf der innerlichen Güte der Gesetzgebung, auf tugendhaften
Sitten und auf der Weisheit des Regenten, dem die Handhabung
der Gesetze anvertraut sey. Seine Meinung ging dahin:
Dionysius habe nicht nöthig sich der obersten Gewalt zu begeben,
da es nur von ihm abhange, durch vollkommene Beobachtung
aller Pflichten eines weisen und tugendhaften Fürsten die Tyrannie
in eine rechtmäßige Monarchie zu verwandeln; eine Regierungsart,
welcher die Völker sich desto williger unterwerfen
würden, da sie durch das Gefühl ihres Unvermögens, sich selbst
zu regieren, geneigt gemacht würden sich regieren zu lassen, ja
denjenigen als eine Gottheit zu verehren, welcher sie schütze und
für ihre Glückseligkeit arbeite.Dion stimmte hierin nicht gänzlich mit seinem Freunde
überein. Die Wahrheit war, daß er den Dionysius besser
kannte, und, weil er sich wenig Hoffnung machte, daß seine
guten Dispositionen von langer Dauer seyn würden, gern so
schnell als möglich einen solchen Gebrauch davon gemacht hätte,
wodurch ihm die Macht Böses zu thun, auf den Fall wenn ihm
der Wille dazu wieder ankäme, benommen worden wäre. Er
breitere sich also mit Nachdruck über die Vortheile einer wohl
geordneten Aristokratie vor der Regierung eines Einzigen aus,
und bewies, wie gefährlich es sey, den Wohlstand eines ganzen
Landes von dem zufälligen und wenig sichern Umstand, ob dieser
Einzige tugendhaft seyn wolle oder nicht, abhangen zu lassen.
Er behauptete sogar: von einem Menschen, der die höchste
Macht in Händen habe, zu verlangen, daß er sie niemalen
mißbrauchen solle, sey etwas gefordert, das über die Kräfte der
Menschheit gehe; denn es sey nichts Geringeres als —von einem
mit Mängeln und Schwachheiten beladenen Geschöpfe, weil
man ihm die Macht eines Gottes eingeräumt habe, auch die
Weisheit und Güte eines Gottes zu verlangen. Er billigte also
das Vorhaben des Dionysius, die königliche Gewalt aufzugeben,
im höchsten Grade. Jedoch stimmte er mit seinem Freunde
darin überein: daß, anstatt die Einrichtung des Staats in die
Willkür des Volks zu stellen, er selbst, mit Zuziehung einiger
verständiger Männer, die das Vertrauen des Volks hätten, sich
ungesäumt der Arbeit unterziehen sollte, eine dauerhafte und
zum möglichsten Grad der Vollkommenheit gebrachte Verfassung
zu entwerfen.Dionysius schien sich diesen Vorschlag gefallen zu lassen.
Er bat sie, ihre Gedanken über eine so wichtige Sache in einen
vollständigen Plan zu bringen, und versprach, sobald als sie
selbst über das, was man thun sollte, einig seyn würden, zur
Ausführung eines Werkes zu schreiten, welches ihm, wie er
vorgab, sehr am Herzen liege.Diese geheime Unterredung hatte bei dem Tyrannen eine
gedoppelte Wirkung. Sie vollendete seinen Haß gegen Dion,
und setzte den Platon aufs neue in Gunst bei ihm. Denn ob
er gleich nicht mehr so gern als anfangs von den Pflichten eines
guten Regenten sprechen hörte, so hatte er doch sehr gern gehört,
daß Plato sich als einen Gegner des popularen Regiments
und als einen Freund der Monarchie erklärt hatte. Er ging
aufs neue mit seinen Vertrauten zu Rathe. Es komme nun
allein darauf an, sagte er, sich den Dion vom Halse zu schaffen.
Philistus hielt dafür, eh ein solcher Schritt gewagt werden
dürfe, müßte das Volk beruhiget und das wankende Ansehen
des Prinzen wieder befestiget seyn. Er schlug die Mittel vor,
wodurch dieses am gewissesten geschehen könne. In der That
waren dabei keine großen Schwierigkeiten; denn er und Timokrates
hatten die vorgebliche Gährung in Syrakus weit gefährlicher
vorgestellt, als sie wirklich war. Dionysius fuhr, auf sein
Anrathen, fort, eine besondere Achtung für den Plato zu bezeigen;
einen Mann, der in den Augen des Volks eine Art
von Propheten vorstellte, welcher mit Göttern umgehe und Eingebungen
behalte. "Einen solchen Mann (sagte Philistus) muß
man zum Freunde behalten, so lange man ihn gebrauchen kann.
Plato verlangt nicht selbst zu regieren; er hat also nicht dasselbe
Interesse wie Dion. Seine Eitelkeit ist befriediget, wenn
er bei demjenigen, der die Regierung führt, in Ansehen steht,
und Einfluß zu haben glaubt. Es ist leicht, ihn, so lang' es
nöthig seyn mag, in dieser Meinung zu unterhalten; und das
wird zugleich ein Mittel seyn, ihn von einer genauern Vereinigung
mit dem Dion zurückzuhalten."Der Tyrann, der sich ohnehin von einer Art von Instinct
zu dem Philosophen gezogen fühlte, fand diesen Rath vortrefflich,
und befolgte ihn so gut, daß Plato dadurch hintergangen
wurde. Er affectirte ihn immer neben sich zu haben, wenn
er sich öffentlich sehen ließ, und bei allen Gelegenheiten, wo
es Eindruck machen konnte, seine Maximen im Munde zu
führen. Er stellte sich als ob es auf Einrathen des Philosophen
geschähe, wenn er dieß oder jenes that, wodurch er sich den
Syrakusern angenehm zu machen hoffte; ungeachtet alles die
Eingebungen des Philistus waren, welcher, ohne daß es in die
Augen fiel, sich wieder einer gänzlichen Herrschaft über sein
Gemüth bemächtiget hatte. Er zeigte sich ungemein leutselig
und liebkosend gegen das Volk. Er schaffte einige Auflagen
ab, welche die unterste Classe desselben am stärksten drückten.
Er belustigte es durch öffentliche Feste und Spiele. Er beförderte
einig, deren Ansehen am meisten zu fürchten war, zu
einträglichen Ehrenstellen, und ließ die übrigen mit Versprechungen
wiegen, die ihm nichts kosteten und dieselbe Wirkung
thaten. Er zierte die Stadt mit Tempeln, Gymnasien, und
andern öffentlichen Gebäuden. Und alles dieß bewerkstelligte
er, mit Hülfe seiner Vertrauten, auf eine so gute Art, daß
der betrogene Plato sein ganzes Ansehen dazu verwandte, einem
Prinzen, der so schöne Hoffnungen von sich erweckte, und seine
Eitelkeit mit so vielen öffentlichen Beweisen einer vorzüglichen
Hochachtung kitzelte, alle Herzen gewinnen zu helfen.Diese Maßnehmungen erreichten den vorgesetzten Zweck
vollkommen. Das Volk, dessen Vorstellungsart von politischen
Dingen immer vom Eindruck des Augenblicks abhängt, hörte
auf zu murmeln, verlor in kurzer Zeit den bloßen Wunsch
einer Veränderung, faßte eine heftige Zuneigung für seinen
Prinzen, erhob die Glückseligkeit seiner Regierung, bewunderte
die prächtige Uniform die er seinen Trabanten hatte machen
lassen, betrank sich auf seine Gesundheit, und war bereit, allem
was er unternehmen wollte, seinen dummen Beifall zuzuklatschen.—————
Sechstes Capitel.Kunstgriffe des Günstlings Timokrates. Bacchidion. Dion und Platon
werden entfernt.Philistus und Timokrates sahen sich durch diesen glücklichen
Ausschlag in der Gunst ihres Herrn aufs neue befestiget. Aber
sie wollten sie nicht länger mit Plato theilen, für welchen
Dionysius eine Art von Schwächelt behielt, die vielleicht der
natürlichen Obermacht eines großen Geistes über einen kleinen
zuzuschreiben war. Um auch diesen Sieg noch zu erhalten,
gerieth Timokrates auf einen Einfall, wozu ihm die geheime
Unterredung im Schlafzimmer des Dionysius den ersten Wink
gegeben hatte. Es war einer von den Einfällen, zu deren
Erfindung eben kein großer Aufwand von Witz erfordert
wird: aber die Vortheile, die er sich davon versprach, waren
desto beträchtlicher. Er hoffte dadurch, zu gleicher Zeit, sich
ein Verdienst um den Tyrannen zu machen, und das Ansehen
des Philosophen bei demselben zu untergraben; und er betrog
sich nicht in seiner Hoffnung.Dionysius hatte, von ihm aufgemuntert, angefangen, unvermerkt
wieder eine größere Freiheit bei seiner Tafel einzuführen.
Die Anzahl und die Beschaffenheit der Gäste, welche
dazu eingeladen wurden, gab den Vorwand dazu. Plato, der bei
aller Erhabenheit seiner Grundsätze einen kleinen Ansatz zum
Hofmanne hatte, machte es, wie es manche ehrwürdige Männer
in seinem Falle auch zu machen pflegen: er sprach bei
jeder Gelegenheit von den Vorzügen der Nüchternheit, und
aß und trank immer dazu wie ein andrer. Die kleine Erweiterung
der allzu engen Gränzen der akademischen Frugalität
(von welcher der Vater der Akademie selbst gestehen
mußte, daß sie sich für den Hof eines Fürsten nicht schicke)
erlaubte den vornehmsten Syrakusern, und jedem, der dem
Prinzen seine Ergebenheit bezeigen wollte, ihm prächtige
Feste zu geben; Feste, wo die Freude zwar ungebundener
herrschte, aber doch durch die Gesellschaft der Musen und
Grazien einen Schein von Bescheidenheit erhielt, welcher die
Strenge der Weisheit mit ihr aussöhnen konnte.Timokrates machte sich diesen Umstand zu nutze. Er lud
den Prinzen, den ganzen Hof und die Vornehmsten der Stadt
ein, auf seinem Landhause die Wiederkunft des Frühlings zu
begehen, dessen alles verjüngende Kraft (zum Unglück für den
ohnehin übel befestigten Platonismus des Dionysius) auch
diesem Prinzen die Begierden und die Kräfte der Jugend
wieder einzuhauchen schien. Die schlaueste Wollust, hinter
eine verblendende Pracht versteckt, hatte dieses Fest angeordnet.
Timokrates verschwendete seine Reichthümer mit
desto fröhlicherm Gesichte, da er sie eben dadurch doppelt
wieder zu bekommen versichert war. Alle Welt bewunderte die
Erfindungen und den Geschmack dieses Günstlings. Dionys
versicherte, sich niemals so wohl ergötzt zu haben. Und sogar
der göttliche Plato (der weder auf seinen Reisen zu den Pyramiden
und Gymnosophisten, noch zu Athen so etwas gesehen
hatte) wurde von seiner dichterischen Einbildungskraft so sehr
verrathen, daß er die Gefahren zu vergessen schien, die unter
den Bezauberungen dieses Orts, und unter dieser Verschwendung
von Reizungen zum Vergnügen lauerten. Der einzige
Dion erhielt sich bei seinem gewöhnlichen Ernste. Allein der
Contrast seines finstern Bezeigens mit der allgemeinen Fröhlichkeit
machte auf alle Gemüther Eindrücke, die nicht wenig
dazu beitrugen, seinen bevorstehenden Fall zu befördern. Indeß
schien niemand darauf Acht zu geben; und in der That
ließ die Vorsorge, welche Timokrates gebraucht hatte, daß jede
Stunde und beinahe jeder Augenblick ein neues Vergnügen
herbei führen mußte, wenig Muße Beobachtungen zu machen.Der schlaue Höfling hatte ein Mittel gefunden, dem Philosophen
selbst, bei einer Gelegenheit wo es so wenig zu vermuthen
war, auf eine keine Art zu schmeicheln. Dieß geschah
durch ein großes pantomimisches Ballet, worin die Geschichte
der menschlichen Seele, nach Platons Grundsätzen unter
Bildern, die er in einigen seiner Schriften an die Hand gegeben
hatte, allegorisch vorgestellt wurde. Timokrates hatte
die jüngsten und schönsten Figuren hierzu gebraucht, die er zu
Korinth und aus dem ganzen Griechenlande hatte zusammen
bringen können.Unter den Tänzerinnen schien Eine besonders dazu gemacht,
alles was der gute Plato in etlichen Monaten an dem
Gemüthe des Tyrannen gearbeitet hatte, in eben so vielen
Augenblicken wieder zu zerstören. Sie stellte unter den Personen
des Tanzes die Wollust vor; und wirklich paßten ihre
Figur, ihre Gesichtsbildung, ihre Blicke, ihr Lächeln, alles
so vollkommen zu dieser Rolle, daß das Anakreontische Beiwort
"wollustathmend" ausdrücklich für sie gemacht zu seyn schien.
Jedermann war von der schönen Bacchidion bezaubert; aber
niemand war es so sehr als Dionysius. Er dachte nicht einmal
daran, der Wollust Widerstand zu thun, welche eine so
verführerische Gestalt angenommen hatte, um seine erkaltete
Zuneigung zu ihr wieder anzufeuern. Kaum daß er noch so
viel Gewalt über sich behielt, um von demjenigen, was in
ihm vorging, nicht allzu deutliche Zeichen sehen zu lassen.
Denn er getraute sich noch nicht, wieder gänzlich Dionysius zu
seyn; ob ihm gleich von Zeit zu Zeit kleine Züge entwischten,
welche dem beobachtenden Dion bewiesen, daß er nur durch
einen Rest von Scham, den letzten Seufzer der sterbenden
Tugend, noch zurückgehalten werde.Timokrates triumphirte in sich selbst; seine Absicht war
erreicht. Die allzu reizende Bacchidion bemächtigte sich in kurzem
der Begierden, des Geschmacks und sogar des Herzens
des Tyrannen. Und da er den Timokrates zum Unterhändler
seiner Leidenschaft, die er eine Zeit lang geheim halten wollte,
vonnöthen hatte, so war der gefällige Höfling von diesem
Augenblick an wieder der nächste an seinem Herzen. Der gute
Plato, dem diese Intrigue nicht lange verborgen bleiben konnte,
bedauerte nun zu spät, daß er zu viel Nachsicht gegen den Hang
des Prinzen nach Ergötzungen getragen hatte. Erfühlte nur gar
zu wohl, daß die Gewalt seiner metaphysischen Bezauberungen
durch eine stärkere Macht aufgelöst worden sey. Weil er
nicht ohne Nutzen beschwerlich seyn wollte, sing er an, den Hof
seltner zu besuchen. Aber Dion ging noch weiter: er unterstand
sich, dem Dionysius wesen seines geheimen Verständnisses mit
der schönen Bacchidion Vorwürfe zu machen, und ihn seiner
Verbindlichkeiten mit einem Ernst zu erinnern, den der Tyrann
nicht mehr ertragen konnte. Dionysius antwortete im Ton
eines Asiatischen Despoten: Dion behauptete was er gesprochen
hatte, wie ein Mißvergnügter, der sich stark genug
fühlt, den Drohungen eines übermüthigen Despoten Trotz zu
bieten. Zwar wurde jener, da er schon im Begriff war seiner
Wuth den Zügel schießen zu lassen, von dem vorsichtigen
Philistus noch zurückgehalten: allein Dion fand sich so sehr
beleidigt, und die Sachen waren schon so weit gekommen, daß
ein schleuniger Entschluß gefaßt werden mußte. Der kleinste
Aufschub war gefährlich: aber ein öffentlicher Ausbruch war
es nicht minder. Man fand also, das Sicherste würde seyn,
den trotzigen Patrioten, welcher entschlossen schien, es aufs
Aeußerste ankommen zu lassen, heimlich auf die Seite zu
schaffen. Dion verschwand auf einmal; und erst nach einigen
Tagen machte Dionys bekannt: daß eine gefährliche Verschwörung
gegen seine Person und gegen die Ruhe des Staats,
an welcher Dion gearbeitet habe, seine Entfernung aus Sicilien
nothwendig gemacht habe. Es bedrängte sich auch wirklich,
daß Dion bei nächtlicher Weile unvermuthet in Verhaft
genommen, zu Schiffe gebracht, und in Italien ans Land
gesetzt worden war.Um die angebliche Verschwörung wahrscheinlich zu machen,
wurden verschiedene Freunde Dions, und eine noch größere
Anzahl von Anhängern des Philistus, welche gegen diesen
Prinzen zu reden bestochen waren, in Verhaft genommen.
Man unterließ nichts, was seinem Proceß das Ansehen der
genauesten Beobachtung der Justizformalitäten geben konnte;
und erst nachdem er durch die Aussage einer Menge von
erkauften Zeugen überwiesen worden war, wurde seine Verbannung
in ein förmliches Urtheil gebracht, und ihm bei Lebensstrafe
verboten, ohne besondere Erlaubniß des Dionysius Sicilien
wieder zu betreten. Der Tyrann stellte sich, als ob er dieses
Urtheil ungern, und bloß durch die Sorge für die Ruhe des
Staats gezwungen, unterzeichne; und, um eine Probe zu
geben, wie gern er eines Prinzen, den er allezeit besonders
boxgeschätzt habe, schonen möchte, verwandelte er die Strafe
der Confiscation aller seiner Güter in eine bloße Zurückhaltung
der Einkünfte von denselben. Aber niemand ließ sich durch
diese Vorspiegelungen hintergehen, da man bald darauf erfuhr,
daß er seine Schwester, die Gemahlin des Dion, gezwungen
habe, die Belohnung des unwürdigen Timokrates zu werden.Plato spielte bei dieser unerwarteten Veränderung eine
sehr demüthigende Rolle. Dionysius affectirte zwar noch immer,
ein großer Bewunderer seiner Wissenschaft und Beredsamkeit
zu seyn; aber sein Einfluß hatte so gänzlich aufgehört,
daß ihm nicht einmal erlaubt war, die Unschuld seines Freundes
zu vertheidigen. Er wurde täglich zur Tafel eingeladen; aber
nur, um mit eignen Ohren anzuhören, wie die Grundsätze
seiner Philosophie, die Tugend, und alles was einem gesunden
Gemüth ehrwürdig ist, zum Gegenstande leichtsinniger Scherze
gemacht wurden, welche sehr oft den ächten Witz nicht weniger
beleidigten als die Sitten. Und damit ihm alle Gelegenheit
benommen würde, die widrigen Eindrücke, welche man den
Syrakusern gegen Dion beibrachte, wieder auszulöschen, gab
man ihm, unter dem Schein einer besondern Ehrenbezeugung
eine Wache, die ihn wie einen Staatsgefangenen beobachtete
und eingeschlossen hielt.Der Philosoph hatte denjenigen Theil seiner Seele, welchem
er seinen Sitz zwischen der Brust und dem Zwerchfell angewiesen,
noch nicht so gänzlich gedändiget, daß ihn dieses Betragen
des Tyrannen nicht hatte erbittern sollen. Er fing an
im Tone eines freigebornen Atheners zu sprechen, und verlangte
unter verschiedenen Vorwänden seine Entlassung. Dionysius
stellte sich über dieses Begehren bestürzt an, und schien
alles anzuwenden, um einen so wichtigen Freund bei sich zu behalten.
Er bot ihm sogar die erste Stelle in seinem Reich,
und (wenn anders Plutarch nicht zu viel gesagt hat) alle seine
Schätze an, wofern er sich verbindlich machen wollte, ihn niemals
zu verlassen. Aber die Bedingung, welche hinzugesetzt
wurde, bewies, wie wenig man erwartete, daß diese glänzenden
Anerbietungen angenommen werden würden: denn man
verlangte, daß er dem Tyrannen seine Freundschaft für den
Dion aufopfern sollte. Plato verstand den stillschweigenden
Sinn dieser Zumuthung. Er beharrete also auf seiner Entlassung,
und erhielt sie endlich, nachdem er das Versprechen
von sich gegeben hatte, daß er wieder kommen wolle, sobald der
Krieg, welchen Dionysius mit Carthago anzufangen im Begriff
war, geendigt seyn würde.Der Tyrann machte sich eine große Angelegenheit daraus,
alle Welt zu überreden, daß sie als die besten Freunde von einander
schieden; und Platons Ehrgeiz (wenn es anders erlaubt
ist, eine solche Leidenschaft bei einem Philosophen vorauszusetzen)
fand seine Rechnung zu gut dabei, als daß er sich hätte
bemühen sollen, die Welt von dieser Meinung zu heilen. Er
gehe nur, sagte er, um Dion und Dionysius wieder zu Freunden
zu machen. Der Tyrann bezeigte sich sehr geneigt hierzu; er
hob sogar, zum Beweise seiner guten Gesinnung, den Beschlag
auf, den er auf die Einkünfte Dions gelegt hatte. Plato hingegen
machte sich zum Bürgen für seinen Freund, daß er nichts
Widriges gegen Dionysen unternehmen sollte. Der Abschied
machte eine so traurige Scene, daß die Zuschauer (außer den
wenigen, welche das Gesicht unter der Maske kannten) von
der Gutherzigkeit des Prinzen sehr gerührt wurden. Er begleitete
den Philosophen bis an seine Galeeren, erstickte ihn
beinahe mit Umarmungen, netzte seine ehrwürdigen Wangen
mit Thränen, und sah ihm so lange nach, bis er ihn aus den
Augen verlor.Und so kehrten beide, mit gleich erleichtertem Herzen,
Plato in seine geliebte Akademie, und Dionysius in die Arme
seiner Tänzerin zurück.—————
Siebentes Capitel.Ein merkwürdiger Vortrag des Philistus. Wozu ein großer Herr Philosophen
und witzige Köpfe brauchen kann. Dionysius stiftet eine
Akademie von schönen Geistern.Dionysius, dessen natürliche Eitelkeit durch die Discurse
des Athenischen Weisen zu einer heftigen Ruhmbegierde aufgeschwollen
war, hatte sich, unter andern Schwachheiten, in den
Kopf gesetzt, für einen Gönner der Gelehrten, für einen Kenner
und sogar für einen der schönen Geister seiner Zeit gehalten
zu werden. Er war sehr bekümmert, Plato und Dion
möchten den Griechen (denen er vorzüglich zu gefallen begierig
war) die gute Meinung wieder benehmen, welche man von
ihm zu fassen angefangen hatte; und diese Furcht scheint einer
von den stärkten Beweggründen gewesen zu seyn, warum er
den Philosophen bei der Trennung mit so vieler Freundschaft
überhäuft hatte. Er ließ es nicht dabei bewenden. Philistus
sagte ihm, daß Griechenland eine Menge gelehrter und nicht
allzu wohl genährter Müßiggänger habe, welche so berühmt als
Plato, und zum Theil geschickter seyen, einen Prinzen bei
Tische oder in verlornen Augenblicken zu belustigen, als dieser
seltsame Mann den die wunderliche Grille plage, ein lächerlich
ehrwürdiges Mittelding zwischen einem Aegyptischen Priester
und einem Staatsmanne vorstellen zu wollen. Er bewies ihm
mit den Beispielen seiner eigenen Vorfahren: daß ein Fürst
sich den Ruhm eines vortrefflichen Regenten nicht wohlfeiler
verschaffen könne, als indem er Philosophen und Poeten in
seinen Schutz nehme; Leute, welche, für die Ehre seine Tischgenossen
zu seyn, oder für einen mäßigen Gehalt, bereit seyen,
alle ihre Talente ohne Maß und Ziel zu seinem Ruhm und
zu Beförderung seiner Absichten zu verschwenden. —"Glauben
wir, sagte er, daß Hieron der wunderthätige Mann, der
Held, der Halbgott, das Muster aller fürstlichen, bürgerlichen
und häuslichen Tugenden gewesen sey, wofür ihn die Nachwelt
hält? Wir wissen was wir davon denken sollen. Er war, was
alle Prinzen sind, und lebte wie sie alle leben. Er that was
ich und ein jeder andrer thun würde, wenn wir zu unumschränkten
Herren einer so schönen Insel, wie Sicilien ist, geboren
wären. Aber er hatte die Klugheit, Simoniden und
Pindarn an seinem Hofe zu halten. Sie lobten ihn in die
Wette, weil sie wohl gefüttert und bezahlt wurden. Alle Welt
erhob die Freigebigkeit des Prinzen, und doch kostete ihm dieser
Ruhm nicht halb so viel als seine Jagdhunde. Wer wollte ein
König seyn, wenn ein König das alles wirklich thun müßte,
was sich ein müßiger Sophist auf seinem Faulbette, oder
Diogenes in seiner Tonne, einfallen läßt ihm zu Pflichten zu
machen? Wer wollte regieren, wenn ein Regent allen Forderungen
und Wünschen seiner Unterthanen genug thun müßte?
Das Meiste, wo nicht alles, kommt auf die Meinung an, die
ein großer Herr von sich erweckt; nicht auf seine Handlungen
selbst, sondern auf die Gestalt und den Schwung, den er ihnen
zu geben weiß. Was er nicht selbst thun will oder thun kann,
das können widrige Köpfe für ihn thun. Halten Sie sich einen
Philosophen, der alles demonstriren, einen Schwätzer, der über
alles scherzen, und einen Poeten, der über alles Verse machen
kann! Der Nutzen, den Sie von dieser kleinen Ausgabe ziehen
werden, fällt zwar nicht sogleich in die Augen; wiewohl es an
sich selbst schon Vortheils genug ist, für einen Beschützer der
Musen gehalten zu werden. Denn dieß ist in den Augen von
neunundneunzig Hunderttheilen des menschlichen Geschlechts
ein untrüglicher Beweis, daß der Fürst selbst ein Herr von
großer Einsicht und Wissenschaft ist; und diese Meinung erweckt
Zutrauen und ein günstiges Vorurtheil für alles was er
unternimmt. Aber dieß ist der geringste Nutzen, den Sie von
Ihren witzigen Kostgängern ziehen. Setzen wir den Fall, es
sey nöthig eine neue Auflage zu machen. Braucht es mehr,
um in einem Augenblick ein allgemeines Murren gegen Ihre
Regierung zu erregen? Die Mißvergnügten (eine Art von
Leuten, welche die klügste Regierung niemals gänzlich ausrotten
kann) machen sich einen solchen Zeitpunkt zu Nutze. Sie setzen das
Volk in Gahrung, untersuchen die Aufführung des Fürsten, die
Verwaltung seiner Einkünfte und tausend Dinge, an welche
vorher niemand gedacht hatte. Die Unruhe nimmt zu: die
Repräsentanten des Volks versammeln sich: man übergibt dem
Hofe eine Vorstellung, eine Beschwerung um die andere.
Unvermerkt nimmt man sich heraus, die Bitten in Forderungen
zu verwandeln, und die Forderungen mit ehrfurchtsvollen
Drohungen zu unterstützen. Kurz, die Ruhe Ihres Lebens
ist, wenigstens auf einige Zeit, verloren. Sie befinden sich in
kritischen Umständen, wo der kleinste Fehltriit die schlimmsten
Folgen nach sich ziehen kann; und es braucht nur einen Dion,
der sich zu einer solchen Zeit einem mißvergnügten Pöbel an
den Kopf wirft, so haben wir einen Aufruhr in seiner ganzen
Größe. Hier zeigt sich der wahre Nutzen unsrer witzigen Köpfe.
Durch ihren Beistand können wir in etlichen Tagen allen diesen
Uebeln zuvorkommen. Lassen wir den Philosophen demonstriren,
daß diese Auflage zur Wohlfahrt des gemeinen Wesens
unentbehrlich ist; der Spaßvogel trage irgend einen lächerlichen
Einfall, irgend eine lustige Hofanekdote, oder ein boshaftes
Mährchen in der Stadt herum; und der Poet verfertige eilends
eine neue Komödie und ein paar Gassenlieder, um dem Pöbel
etwas zu sehen und zu singen zu geben; so wird alles ruhig
bleiben: und während die politischen Müßiggänger sich darüber
zanken werden, ob der Philosoph recht oder unrecht argumentirt
habe, indeß die kleine ärgerliche Anekdote und die neue
Komödie den Witz aller guten Gesellschaften in Athem erhält;
wird der Pöbel ein paar Flüche zwischen den Zähnen murmeln,
seinen Gassenhauer anstimmen, und — bezahlen! Solche
Dienste (setzte Philistus hinzu) sind doch wohl werth, etliche Leute
zu unterhalten, die ihren ganzen Ehrgeiz darein setzen, Worte
zierlich zusammenzusetzen, Sylben zu zählen, Ohren zu kitzeln
und Lungen zu erschüttern; Leute, deren äußerste Wünsche erfüllt
sind, wenn man ihnen so viel gibt, als sie brauchen, um
durch eine Welt, an die sie wenig Ansprüche machen, sorglos
hindurch zu schlendern, und nichts zu thun, als was der Wurm
im Kopfe, den sie ihren Genie nennen, ihnen zum größten Vergnügen
ihres Lebens macht."Dionysius fand diesen Rath seines würdigen Ministers
vollkommen nach seinem Geschmacke. Philistus übergab ihm
eine Liste von mehr als zwanzig Candidaten, aus denen er nach
Belieben auswählen könnte. Der Prinz glaubte, daß man so
nützlicher Leute nicht zu viel haben könne, und wählte alle. Die
sämmtlichen schönen Geister Griechenlands wurden unter blendenden
Verheißungen an seinen Hof eingeladen. In kurzer
Zeit wimmelte es in seinen Vorsalen von Philosophen und
Priestern der Musen. Alle Arten von Dichtern, epische, tragische,
komische und lyrische, welche ihr Glück zu Athen nicht
hatten machen können, zogen nach Syrakus, um ihre Leyern
und Flöten an den anmuthigen Ufern des Anapus zu stimmen,
und sich satt zu essen. Sie glaubten, daß es ihnen gar
wohl erlaubt seyn könne, die Tugenden des Dionysius zu besingen,
nachdem der göttliche Pindar sich nicht geschämt hatte,
die Maulesel des Hieron unsterblich zu machen. Sogar der
Sokratische Antisthenes ließ sich durch die Hoffnung herbeilocken,
daß ihn die Freigebigkeit dieses neuen Musageten in den Stand
setzen würde, die Vortheile der freiwilligen Armuth und der
Enthaltsamkeit mit desto mehr Gemächlichkeit zu studiren;
Tugenden, von deren Schönheit (nach dem stillschweigenden
Geständniß ihrer eifrigsten Lobredner) sich nach einer guten
Mahlzeit am beredtesten sprechen läßt. Kurz, Dionysius hatte
das Vergnügen, sich mitten an seinem Hofe eine Akademie für
seinen eignen Leib zu errichten, deren Vorsteher und Apollo er
selbst zu seyn würdigte, und in welcher über die Gerechtigkeit,
über die Gränzen des Guten und Bösen, über die Quelle der
Gesetze, über das Schöne. über die Natur der Seele, der Welt
und der Götter, und andere solche Gegenstände, die nach den gewöhnlichen
Begriffen der Weltleute zu nichts als zur Conversation
gut sind, mit so vieler Schwatzhaftigkeit und Subtilität,
und mit so wenig gesundem Menschenverstande disputirt
wurde, als es in irgend einer Schule der damaligen oder
folgenden Zeiten zu geschehen pflegte. Er hatte das Vergnügen,
sich bewundern, und wegen einer Menge von Tugenden
und Heldeneigenschaften lobpreisen zu hören, die er sich selbst
niemals zugetraut hätte. Seine Philosophen waren keine
Leute, die (wie Plato) sich herausgenommen hätten, ihn hofmeistern
und lehren zu wollen, wie er zuerst sich selbst, und
dann seinen Staat regieren müsse. Der strengste unter ihnen
war zu höflich, etwas an seiner Lebensart auszusetzen; und
alle waren bereit es einem jeden Zweifler sonnenklar zu beweisen,
daß ein Fürst, welcher Zueignungsschriften und Lobgedichte
so gut bezahlte, so gastfrei war, und seine getreuen
Unterthanen durch den Anblick so vieler Feste und Lustbarkeiten
glücklich machte, der würdigste unter allen Königen
seyn müsse.In diesen Umständen befand sich der Hof zu Syrakus,
als der Held unsrer Geschichte in dieser Stadt ankam; und
so war der Fürst beschaffen, welchem er, unter ganz andern
Voraussetzungen, seine Dienste anzubieten gekommen war.—————
Anmerkungen.Buch 7.S. 7. Z. 8. Dariken — Eine goldene Münze der damaligen Zeit. W.S. 8. Z. 7. Geheimnissen der Orphischen Philosophie —
Unter dem Namen Orpheus besassen die Griechen die ältesten
Entwilderer ihrer Nation, höchst wahrscheinlich regierende Priesterinstitute,
die aus dem Orient gekommen, und in Thrazien sich zuerst angesiedelt
hatten, wo sie blieben, bis sie von den Bacchischen Orgien verdrängt wurden.
Das Orpheus-Institut stand von Anfang an mit dem des Apollon
im Zusammenhange, wie schon die in beiden übliche Lyra beweist. Die
Beförderungsmittel der Humanität in dem alten Orpheus-Institut waren
Musik, Religion und geheime Weihungen, welche den Zweck hatten, von
der Blutschuld zu reinigen; denn die ganze Entwilderung ging aus und
mußte ausgehen von Abschreckung und Entwöhnung vom Menschenmorde,
Menschenopfern, und dem Genusse blutiger Thierspeisen. Daraus entsprang
das sogenannte Orphische Leben, zu welchem Enthaltung von thierischer
Kost und Kleidung, Enthaltsamkeit und eine gewisse äußere Würde
gehörten. Alles dieß wurde in späterer Zeit, hauptsächlich durch Einfluß
des Pythagorischen Ordens, feiner und künstlicher ausgebildet. Aus jenen
geheimen Weihungen waren die Mysterien entsprungen, eins der
merkwürdigsten Jnstitute des Alterthums, worin mit der Zeit auch der
Versuch gemacht wurde, die Volksreligion vernunftmäßig zu erklären,
ja an die Stelle von dieser eine Art von Vernunft-Religion zu setzen.
Eine solche, von Pythagoräern ausgebildete, der größern Ehrwürdigkeit
wegen aber auf des Orpheus altheiligen Namen zurückgeführte, Lehre ist
es, welche Wieland im Folgenden schildert. Es ist natürlich, daß die
Einbildungskraft an solch einer Lehre keinen geringen Antheil haben
mußte: in den Mysterien aber suchte man auch Ueberzeugung durch die
Sinne zu bewirken, denn die Feier der Mysterien bestand in einem heiligen
Drama, und die dramatische Illusion scheint auch in Beziehung
auf Maschinerie hier heimisch gewesen zu seyn, und mußte um so mehr
wirken, da sie noch Priestergeheimniß war. Göttererscheinungen waren
hier nöthig, und die Darstellung der Unterwelt ein Hauptgegenstand
dieser Mysterien, die zu einer Weihung des irdischen Lebens für ein
überirdisches wurden. Aus diesem wird erklärbar, was Wieland auch
in dem folgenden Kapitel erzählt.S. 13. Z. 22. glücklichen Inseln — Das Locale des Todtenreichs
wurde bei den Griechen von Homer und Hesiodus an sehr
verschieden gedichtet. Zu den Belohnungen vorzüglicher Menschen gehörte,
daß sie an die Tafel der Götter gezogen, oder auf die Inseln
der Seligen (Hesiodus Tage und Werke 177. Pindar olymp. Hymnen
2, 123, fgg), oder in die Elysischen Fluren versetzt wurden. Erweiterte
Erdkunde und dichterische Phantasie verursachten in der Bestimmung dieses
Locale eine große Mannichfaltigkeit.S. 45. Z. 11. Phädra — und deren Liebe zu ihrem Stiefsohn
Hippolytos, ist den meisten Lesern wohl wenigstens aus Schillers Uebersetzung
des Trauerspiels Phädra von Racine bekannt, in deren Vergleichung
mit der Phädra des Euripides A. W. Schlegel ein Meisterwerk
von Kritik geliefert hat.S. 62. Z. 19. Eine Athenische Bürgerin — Zu den mancherlei
Einschränkungen, wodurch Athens Gesetzgeber Solon die Erlangung
des Bürgerrechts erschwerte, gehörte auch, daß keine Ehe gesetzlich
gültig war, welche nicht zwischen Bürger und Bürgerin geschlossen
worden. Nur einem solchen zu Athen Gebornen kam das Bürgerrecht
zu, welcher von väterlicher und mütterlicher Seite ächt Attische Abkunft
beweisen konnte. Nicht ächt Attische Abkunft war daher ein Haupthinderniß
bei jeder Vermählung.Buch 8.S. 69. Z. 9. 10. den prächtigsten Städten —— Vorzug
streiten konnte — Agathon spricht hier, wie es sich für sein
Zeitalter, nicht für das unsrige schickt. Die Alten, und besonders die
Griechen, setzten die Schönheit einer Stadt in die Menge und Pracht
der Tempel, öffentlichen Gebäude und Denkmäler, Colonnaden, Gymnasien,
Theater, Bäder u. s. w., nicht in die Regelmäßigkeit der Bauart
und in die Größe, Pracht und Schönheit der Privatwohnungen. In
Rücksicht dieser letztern hat Herr von Pauw (in seinen Recherches sur
les Grecs) Recht zu behaupten, daß Athen, mit den größten Städten des
heutigen Europa's verglichen, keine schöne Stadt war, ungeachtet sie
seit der Staatsverwaltung des Perikles die schöne Athenä genannt zu werden
pflegte; woraus sich schließen läßt, daß man in dem freien Griechenlande
ganz andere, aus dem Geiste der Freiheit und Gleichheit natürlicher
Weise entspringende, Begriffe von der Schönheit einer Stadt hatte,
als wir, oder als die Römer unter den ersten Kaisern hatten.S. 71. Z. 18. Gorgias und Prodikus — sind zwei der
berühmtesten Sophisten aus der Zeit des Sokrates und Platon, so wie
Hippias, der in dem Agathon selbst aufgeführt wird. Zu dem, was Wieland
im Allgemeinen in der Einleitung über sie erklärt hat, ist es vielleicht
nicht ganz unnöthig, noch einiges hinzuzufügen, da nicht leicht in
der literarischen Welt ein Name so verrufen geworden als der Name der
Sophisten, unter denen man sich nur ein Pack schamloser, verabscheuungswürdiger
Charlatans, absichtliche Verdreher des Wahren und Guten, ja
selbst, von Platon irre geleitet, aufgeblasener Dummköpfe zu denken
pflegte. Wie aber wäre es denn wohl möglich gewesen, daß sie an einem
Orte wie Athen, in der höchsten Blüthe seiner Cultur, zu Ansehen und
Einfluß gelangt wären, ja die Bewunderung an sich gerissen hätten?
Im Gegentheil waren sie sehr gebildete Männer, gewandte, scharfsinnige
Köpfe, die auf Reisen sich einen großen Reichthum von Menschenkennzniß
erworben hatten, und die mit dem Talent des Umgangs einen feinen
äußern Anstand verbanden, durch den sie, wo es galt, weh! auch zu imponiren
wußten. Wüßten wir auch nur das Einzige von ihnen, daß
Sokrates die berühmte Dichtung von Herkules am Scheidewege dem
Sophisten Prodikus bloß nacherzählt hat, so würde das schon hinreichen,
von ihren Köpfen uns eine vortheilhafte Meinung einzuflößen. Man
hat aber auch nicht Ursache, bei ihrem ersten Auftreten einen schlimmen
Verdacht gegen ihre Absichten zu hegen, wenn gleich dieser in der Folge
nur zu gegründet wurde. Das war aber nicht ihre Schuld allein. Sie
waren Lehrer der Beredsamkeit, und mußten als solche zum Gegenstand
ihres tieferen Erforschens die Rhetorik machen, was nicht geschehen konnte,
ohne die Dialektik (als Wissenschaft und Kunst des Denkens, um durch
Aussprechen des Gedachten Ueberzeugung zu bewirken, immer mehr zu
begründen. Es ist nicht zu läugnen, da8 sie um beide sich bedeutende
Verdienste erworben haben, wie schon daraus erhellet, daß Platon selbst
seine bewunderte Beredsamkeit und zum Theil höchst spitzfindige Dialektik
in ihrer Schule erlernt hatte. Eben in dieser Dialektik aber lauerte
die verborgene Gefahr für sie, und hier war die Klippe, an welcher ihr
Charakter scheiterte. Der Anfang zu ihrer nachmaligen Verrufenheit
liegt darin, daß sise nicht Kraft genug hatten, über den Zeitgeist sich zu
erheben, sondern sich von dem Strome fortreißen ließen. Man bedenke,
worauf sie die Hauptanwendung von ihrer Dialektik machen mußten,
auf — Rechtsstreite, Processe, Politik. Jeder kam in der Absicht zu
ihnen, um durch sie gewinnen zu lernen. Freilich war dieß an sich unmöglich,
allein da man's gleichwohl verlangte, so machte man den Versuch,
jedes Ding von mehreren Seiten zu beleuchten, die eben vortheilhaftere
ins glänzendste Licht zu setzen, allenfalls auch durch Scheingrunde
tu blenden. Hiemit wurde der Weg gebahnt, überall eine Scheinwahrheit
zu erkünsteln, welches allerdings auf den Geist wie auf den Charakter
eine nur nachtheilige Wirkung haben konnte, denn die Geister mußten
dadurch gleichgültig werden für die Wahrheit, und dieß kann nicht
geschehen, ohne daß die Herren gleichgültig wurden für die Sittlichkeit. —
Diese Gleichgültigkeit entstand bei den Sophisten aus ihrer zu politischen
Disputirkunst, bei der es nur auf den Sieg ankam, gleichviel durch
welche Mittel er erlangt worden. Da nun alles, was von Ehrgeizigen
und Ruhmsüchtigen in Athen war, zu ihnen strömte, so zogen sie von
ihrer Wissenschaft und Kunst immer größeren Vortheil; Gewinnsucht
wurde ihr hervorstechender Charakterzug, und um diese desto besser zu befriedigen,
lehrten sie auch eine Weisheit, der es in einem frivolen Zeitalter
nicht an Anhängern fehlen konnte. Dadurch griffen sie die Humanität
an der Wurzel ihres Lebens an.S. 72. Z. — 4-6. Der Vorwurf, den sich Platon ——
zugezogen hatte — Nämlich den Vorwurf, mit allem seinem Haß
gegen die Sophisten selbst eine Art von Sophist zu seyn. W. —
(Dieser Vorwurf kann bei Platon nur insofern gültig seyn, als seine
Dialektik selbst zuweilen sehr spitzfindig ist, und man zweifelhaft bleibt,
ob er durch einen Scheingrund getauscht war oder täuschen wollte. Der
reinste Sinn für Wahrheit und Sittlichkeit, der stete Hinblick auf das
Göttliche, seine Achtung vor der Würde der Menschennatur erheben ihn
über jeden Vergleich mit den Sophisten, denen er nur Beredsamkeit und
Dialektik schuldig war)S. 88. Z. 1. Harmodius und Aristogiton — Des Tyrannen
Plästratos Nachfolger zu Athen waren seine Sohne Hipparchos und
Hippias (die Piststratiden) Hipparchos hatte des Harmodios Schwester
öffentlich beleidigt, und der Bruder verband sich mit Aristogiton zur
Rache an dem Tyrannen. An dem Feste der Panathenäen verbargen sie
unter Myrtenzweigen, welche die Feiernden trugen, die Schwerter der
Rache Hipparchos fiel unter ihren Schwertern, und dieß war das Signal
für die Freiheit Hippias mußte das Land verlassen, und fiel nachher
im Kampfe gegen sein Vaterland. Dem Harmodios und Aristogiton
errichtete man Bildsäulen, ihre Nachkommen wurden von allen Abgaben
befreit, keinem Sklaven durften ihre Namen beigelegt werden, und man
sang ihnen zu Ehren Lieder. Eins derselben, von Athenaos aufbewahrt,
welches den Geist jener Zeit charakterisirt, s. b. Herder Werke für Liter.
und Kunst Bd. 8 S. 163.S. 89. Z. 15. 16. Den großen Beschützer der Griechischen
Freiheit — Miltiades, der im Gefängniß starb, weil er eine
Geldstrafe, zu der er verurtheilt war, nicht bezahlen konnte. Die wahre
Ursache zu seiner Verurtheilung war die Furcht, er mochte durch sein
Uebergewicht die kaum gestürzte Tyrannie wieder stiften —— Sokrates
wurde, wie Wieland von Agathon erzählt, frei gesprochen worden seyn,
wenn er sich zu einer Vertheidigungsrede im Sinne des Volkes hätte erniedrigen
können.S. 94. Z. 13. Eine andre Mine springen lassen — ist
wohl ein in Agathons Munde sehr unpassender Ausdruck, der dem Dichter
hier entschlürft ist.S. 106. Z. 5. Gebäude der republicanischen Verfassung
auf Tugend gründe — Montesquieu im dritten Buch, wo er von
den Haupttriebfedern der drei Regierungsformen handelt, nennt als
die der republicanischen die Tugend, der monarchischen die Ehre, der
despotischen die Furcht. Ob nun Montesquieu oder Wieland Recht habe,
untersuche jeder selbst; ich bemerke dieß bloß um zu beweisen, wie treu
sich Wieland auch in seinen politischen Grundsätzen blieb, von denen zu
sprechen einem andern Orte vorbehalten bleibt.S. 110. Z. 17. Einwohner des Mondes — Die Einwohner
des Mondes, wiewohl wir Neuern erst durch Huygens und Fontenelle
mit ihnen in Bekanntschaft gekommen, sind in Agathons Munde nicht
unschicklich. Schon die alten Aegyptischen Priester hielten den Mond
für eine bewohnte Welt, und Orpheus brachte diese Lehre zu den
Griechen. W.Buch 9.S. 118. Z. 16. Helden des Petronius — Enkolys höchster
Grad der Erschlaffung, und die Zaubermittel der alten Enothea, einer
Priesterin des Priapus, gegen jenes Uebel, sind in einer der ärgerlichsten
Scenen des Satyrikon von Petronius geschildert.S. 135. Z. 22. Mentors — Die Göttin der Weisheit selbst
leitete den jungen Telemachos, als er seinen Vater Odysseus aufsuchte,
in der Gestalt eines Mannes, unter dem Namen Mentor, welcher Name
daher jedem Führer von Jünglingen gegeben wird, in dem man doch
Weisheit voraussetzt.S. 141. Z. 24. Hyperides — Ein Redner zu Athen, der viel
auf Hetären wendete, hatte einst die schönste derselben, Phryne, vor
Gericht zu vertheidigen. Da seine Beredsamkeit die Richter für die
Sache seiner Gelebten nicht hatte gewinnen können, so zerriß er ihren
Schleier und enthüllte ihren reizenden Busen. Die Richter sprachen die
schöne Priesterin der Venus frei, und damit ein ähnlicher Fall nicht
etwa wieder eintreten möchte, wurde das Gesetz gegeben, daß künftig kein
Beklagter bei dem Urtheilsspruch zugegen seyn solle.S. 142. Z. 9. Die spitzfindige Delicatesse eines Jul.
Cäsars — Dieser schied sich von seiner Gemahlin wegen des Verdachts
eines unerlaubten Umgangs derselben mit Clodius, denn, sagte
er, von Cäsars Gemahlin muß niemand auch nur solch einen Verdacht
haben.S. 150. Z. 3-4. Kritobulos — einen Wagehals —
Xenophons Denkwürdigkeiten des Sokrates, im dritten Kapitel des ersten
Buchs. W.S. 157. Z. 17. Der Rath des alten Cato — In der zweiten
Satire des Horaz, v. 31. u. s. W.S. 157. Z. 17. Oder Lucrez — Im vierten Buche de Rerum
Natura. W.S. 169. Z. 9-11, Die Tugend —— die Gottheit
selbst — Miaux en connoit la vertu, plus on l'aime: on se prosterneroit
devant elle, on l'adoreroit, ai elle étoit personifiée; et elle le
seroit aux yeux d'un mortel, à qui Dieu se rendroit visible. Les Moeurs,
P. I. ch. 1. W.S. 177. Z. 5. 6. Verf. des — lehrreichsten Romans. —
J. J. Rousseau in der Vorrede zu seiner neuen Heloise. W.S. 182. Z. 4. Daß die Griechen von der Liebe ganz
andere Begriffe hatten. — Die Griechen kannten und schätzten
die Liebe mehr von ihrer sinnlichen Seite. Im Mittelalter veränderte
sich das Verhältniß der Geschlechter zu einander durch die drei vereinigten
Ursachen des Cyristianismus, des Germanismus und des Ritterthums,
uns es entstand daraus die romantische Liebe, wie sie bei den
Troubadours, Minnesingern und den ältesten Dichtern des Romans gefunden
wird, bis sie den äußersten Punkt ihrer Höhe in Dante und Petrarca
erreichte. Die keusche Verehrung des Weibes wurde religiöse Ehrerbietung,
das Sinnliche vergeistigt: Einbildungskraft und Gemüth wirkten
dabei mit, wie sie bei den Griechen nicht gewirkt hatten, und daraus
entstand die den alten ganz unbekannte Sentimentalität der Liebe bei
den Neuern. Als schon längst beinah an allen Höfen jene romantische
Liebe in bloße Galanterie, Coutoisie (wovon der Ausdruck Courmachen
noch im Gebrauch ist) übergegangen war, suchten, aus leicht
begreiflichen Gründen, Frauen den Ton der feierlichen und ehrerbietigen
Liebe zu erhalten; die Marquise de Sablé bereitete vor, was die Fräulein
Scuderi vollendete, welche letztere Menage die Erfinderin de l'amour
de tendresse nennt.S. 184. Z. 25. Sokrates rieth — Liebe — an welcher
u. s. w. — Denkwürdigkeiten des Sokrates, s. Anmerkg. zu
Bd. XXV.Buch 10.S. 193. Z. 7. Elogabal — Gewöhnlich Heliogabalus genannt,
unter den ersten Römischen Kaisern an Verbrechen und Schändlichkeiten
vielleicht selbst über Nero. Seine Ausschweifungen vermag ein züchtiger
Geschichtschreiber kaum nachzuerzählen. Er wurde am Ende auf
dem heimlichen Gemach ermordet.S. 245. Z. 3. Simoniden und Pindare — Simonides,
geboren auf der Insel Keos 557 v. Chr. gehörte zu den vorzüglichsten
lyrischen Dichtern der Griechen; man rühmt ihn als gleich groß in
Siegsliedern, dithyrambischen Chorgesängen und Trauergesängen. —
Der gepriesenste von allen Griechischen Lyrikern ist jedoch Pindaros. Von
dessen Verhältnis zu Hiero s. Anm. zu Bd. XXV.
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